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Debatte 25

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Abschied von den Avantgarden (III) – NEUE LINKE<br />

«Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die «Marxisten» der II. Internationale und die<br />

«Kommunisten» des 20. Jahrhunderts genau das taten, was die Anarchisten bis heute<br />

Marx und Engels zu Unrecht vorwerfen: autoritär und staatsgläubig zu sein.»<br />

lution» erwähnte Absterben des Staates sich<br />

gar nicht vollziehen kann, weil die Avantgarde<br />

den Staat braucht, um weiterhin ihre<br />

Rolle als Avantgarde spielen zu können. Nur<br />

mit Hilfe des Staates kann sich die Avantgarde<br />

ihre Macht sichern, wenn sie sich allmählich<br />

zu einer neuen Elite entwickelt und<br />

als neue herrschende Klasse organisiert<br />

– oder eben wie Lenin bezeichnenderweise<br />

schreibt: «die Organisierung<br />

der Avantgarde der<br />

Unterdrückten zur herrschenden<br />

Klasse». Mit andern Worten: Die<br />

Avantgarde trägt den Keim der<br />

Staatsgewalt bereits in sich. Zu ähnlichen<br />

Schlussfolgerungen ist vermutlich<br />

auch Alain Bihr gekommen,<br />

wenn er schreibt: «Tatsächlich<br />

ist die Partei eine Form politischer<br />

Organisation, die sich ausschliesslich<br />

mit dem Ziel bildet, die Staatsmacht<br />

zu erobern und auszuüben.» 7<br />

Er fordert daher, dass sich «die<br />

Avantgarden weder Ziele noch<br />

Funktionsweisen der politischen<br />

Parteien aneignen» dürfen. Dennoch<br />

findet er, Avantgarden seien notwendig,<br />

«damit die Bewegung für die Emanzipation<br />

der Arbeiterklasse als Ganzes<br />

voranschreitet». Ohne «Vermittlung» der<br />

Avantgarde, behauptet er, drohe «jeder Teil<br />

oder jeder Sektor der Klasse» sich in «seine<br />

eigenen Besonderheiten zu verstricken».<br />

Aufstände gehorchen ihren eigenen<br />

Gesetzen...<br />

Die Notwendigkeit einer Vernetzung der<br />

einzelnen Kämpfe ist sicher unbestritten.<br />

Doch bedarf sie wirklich der Vermittlung einer<br />

Avantgarde? Nehmen wir als Beispiel<br />

die Aufstände in Nordafrika im 2011 und<br />

die Platzbesetzungen in verschiedenen<br />

Hauptstädten im gleichen Jahr. Es ist bekannt,<br />

dass sie sich aufeinander bezogen,<br />

doch durch welche «Avantgarde» sind sie<br />

«vermittelt» worden? Ganz offensichtlich gehorchen<br />

Aufstände und generell soziale Bewegungen<br />

ihren eigenen Gesetzen und warten<br />

nicht auf die Aufforderung<br />

irgendwelcher selbsternannten «Avantgarden»<br />

– oder ignorieren sie schlichtweg überall<br />

dort, wo die sozialen Verhältnisse und<br />

die Bewegung noch nicht reif dazu sind.<br />

Man halte sich beispielsweise die Platzbesetzungen<br />

in Spanien oder die Syntagma-<br />

Besetzung in Athen vor Augen und vergleiche<br />

sie mit den trotz monatelanger Vorbereitung<br />

erfolglosen Versuchen in Frankfurt.<br />

... und sind in sich gut organisiert<br />

Damit soll keineswegs eine vermeintliche<br />

Spontaneität der Kämpfe verherrlicht werden,<br />

die sich beim näheren Hinsehen als gut<br />

organisierte Bewegung entpuppt. Nehmen<br />

wir als Beispiel den Streik in der «Officina»<br />

von Bellinzona im März 2008. Der scheinbar<br />

spontan ausgebrochene «wilde Streik»<br />

stützte sich in Wirklichkeit auf langjährige<br />

betriebliche Widerstandsstrukturen. Im Verhältnis<br />

zur übrigen Arbeiterklasse in der<br />

Schweiz könnte man bei der Belegschaft der<br />

«Officina» von einer Art «Avantgarde» sprechen.<br />

Gleichwohl macht es wenig Sinn, den<br />

Begriff in diesem Zusammenhang zu verwenden.<br />

Es waren betriebliche Aktivisten,<br />

die das Vertrauen ihrer Kollegen genossen<br />

und aus diesem Grund den Streik organisieren<br />

konnten, und keine «Avantgarden».<br />

Noch vermessener wäre es, die externen Unterstützer_innen,<br />

die sich überwiegend aus<br />

Aktivist_innen politischer Organisationen<br />

zusammensetzten, als «Avantgarde» zu bezeichnen<br />

und sich womöglich einzubilden,<br />

dass ohne deren «Vermittlung» der Streik<br />

nicht stattgefunden hätte.<br />

In sozialen Kämpfen spielen<br />

«Avantgarden» keine<br />

zentrale Rolle<br />

Unter dem Motto «Schaffen wir<br />

zwei, drei, viele Officine» vernetzten<br />

sich im Anschluss an<br />

den Streik linke Politaktivist_innen<br />

aus der ganzen Schweiz<br />

(Leute also, die sich mehrheitlich<br />

mit dem klassischen Avantgarde-Begriff<br />

identifizieren) mit<br />

den betrieblichen Aktivisten aus<br />

Bellinzona. Es ist jedoch bis<br />

heute in keinem einzigen Fall<br />

gelungen, die Erfahrungen des<br />

Officina-Streiks an andere Belegschaften,<br />

die von Massenentlassungen<br />

und Betriebsschliessungen<br />

betroffen sind, zu übertragen. Die<br />

Gründe dafür müssten genauer untersucht<br />

werden, wobei die Vermutung nahe liegt,<br />

dass jeweils betriebliche Aktivist_innen, die<br />

bei der Belegschaft eine grössere Glaubwürdigkeit<br />

besitzen als die Gewerkschaftsspitzen,<br />

eine zentrale Rolle spielen. Sie bilden<br />

eine notwendige Voraussetzung für einen<br />

selbstermächtigten Arbeitskampf, die durch<br />

keine «Avantgarde» in Form von Politaktivist_innen<br />

ersetzt werden kann. Es ist daher<br />

unzutreffend und reines Wunschdenken,<br />

wenn Bihr behauptet, ohne Avantgarde wäre<br />

es nicht möglich, «den andern Sektoren<br />

der Arbeiterklasse die theoretischen und<br />

praktischen Lehren aus den eigenen Erfahrungen<br />

weiterzugeben».<br />

Hält man sich ausserdem vor Augen, welch<br />

unkritisches, mystifizierendes Verhältnis zu<br />

ihrer eigenen Geschichte all die selbsternannten<br />

«Avantgarden» in den letzten hundert<br />

Jahren an den Tag gelegt haben, fällt es<br />

schwer, darin die Notwendigkeit einer<br />

Avantgarde zu erkennen. Es ist eine Ironie<br />

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