Debatte 25
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Abschied von den Avantgarden (III) – NEUE LINKE<br />
«Nur in einem gleichberechtigten und solidarischen Kollektiv ist es nicht mehr notwendig,<br />
stärker, intelligenter, schöner, leistungsfähiger, besser als andere zu sein,<br />
weil das Individuum von allen getragen wird.»<br />
zen, zumal die nach 1968 geborenen Generationen<br />
nach meiner Beobachtung im Allgemeinen<br />
einen kritischeren Umgang mit<br />
Autoritäten aller Art haben. Sollte es jenen<br />
jedoch gelingen, ihre Herrschaft erneut zu<br />
festigen, wird es nicht an Stimmen fehlen,<br />
welche die Niederlage der sozialen Widerstandsbewegungen<br />
auf das Fehlen einer<br />
«straffen Organisation» zurückführen werden.<br />
...und die Gefahr eines Rückfalls in<br />
autoritäre Konzepte<br />
Diese Gefahr ist umso realer, als die Bourgeoise<br />
als Antwort auf die Krise wieder vermehrt<br />
auf ein autoritäres Gesellschaftsmodell<br />
setzt, bei dem ihr ein vom<br />
wirtschaftlichen Absturz bedrohter Mittelstand<br />
als soziale Basis dient: Hinter einer<br />
parlamentarisch-rechtsstaatlichen Fassade<br />
wird mit einer totalitären Ideologie, die alle<br />
gesellschaftlichen Bereiche einem betriebswirtschaftlichen<br />
Rentabilitätsdenken<br />
unterwirft, eine Politik der Ausgrenzung<br />
und eine repressive Armutsverwaltung betrieben,<br />
der nicht nur traditionelle bürgerliche<br />
Freiheitsrechte, sondern auch grundlegende<br />
gesellschaftliche Bedürfnisse wie<br />
Bildung, Gesundheit usw. zum Opfer fallen.<br />
Ob sich diese autoritäre «Krisenlösung» gegen<br />
die erstarkenden, weltweiten Protestbewegungen<br />
durchzusetzen vermag, bleibt offen.<br />
Vom Ausgang dieser Auseinandersetzung<br />
wird es ganz entscheidend abhängen, ob<br />
sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts in<br />
andern Formen wiederholen könnte, mit einer<br />
erneuten Brutalisierung und Militarisierung<br />
der ganzen Gesellschaft einerseits und<br />
einer nochmaligen Renaissance autoritärer<br />
«Avantgarden» andrerseits. In ihrer zumeist<br />
kümmerlichen Bedeutungslosigkeit als<br />
«Auslaufmodelle» des vergangenen Jahrhunderts<br />
haben sie bis heute überlebt. Sollten<br />
die sich anbahnenden Versuche zur Beseitigung<br />
der Lohnsklaverei scheitern, bekämen<br />
sie vermutlich wieder jenen Zulauf, der ihnen<br />
heute versagt bleibt, mit allen Formen<br />
von Zentralismus und Konspiration, welche<br />
eine illegale Tätigkeit erfordern würde, die<br />
ihnen unter repressiven gesellschaftlichen<br />
Verhältnissen dann selbstredend aufgezwungen<br />
wäre.<br />
So gesehen ist das Schicksal der proletarischen<br />
Bewegung untrennbar verbunden mit<br />
jenem der Bourgeoisie, solange deren Herrschaft<br />
nicht dauerhaft beseitigt ist. Wenn daher<br />
Alain Bihr von den Avantgarden verlangt,<br />
sich selbst allmählich überflüssig zu<br />
machen, so bleibt diese Forderung ein frommer<br />
Wunsch, solange Avantgarden sich als<br />
«Spitze der gesamten antikapitalistischen<br />
Bewegung» (Bihr) verstehen – und zwar weniger<br />
als Speerspitze, denn als Spitze einer<br />
hierarchischen Pyramide. Die geschichtliche<br />
Untersuchung hat gezeigt, dass Avantgarden<br />
den Keim der Staatsgewalt bereits in<br />
sich tragen. Die dabei wirkenden Kräfte sind<br />
unabhängig von den einzelnen Personen<br />
und werden – wie oben skizziert – von der<br />
jeweiligen geschichtlichen und gesellschaftlichen<br />
Dynamik bestimmt. Wir täten daher<br />
gut daran, all die elitären Avantgarde-Konzepte<br />
(auch solche in abgewandelter, gemässigter<br />
Form wie bei Bihr) rechtzeitig aus unseren<br />
Köpfen zu verbannen und uns<br />
endgültig von den Avantgarden zu verabschieden.<br />
_______________<br />
1 W.I. Lenin. Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht,<br />
in: W.I. Lenin. Für und wider die Bürokratie<br />
– Schriften und Briefe 1917-1923, Hg. von<br />
Günther Hillmann, Reinbek bei Hamburg, 1970,<br />
S. 48.<br />
2 Vgl. Julius Braunthal. Geschichte der Internationale,<br />
Band 1, Berlin 1978, S. 262.<br />
3 W.I. Lenin. Staat und Revolution. Dietz-Verlag,<br />
Berlin 1948, S. 45 f.<br />
4 Ebenda, S. 108.<br />
5 Ebenda, S. 93.<br />
6 Vgl. Teil IIdieser Untersuchung. Dass die Bolschewiki<br />
sich die Dienste der bürgerlichen Fachleute<br />
– wie Lenin selbst schreibt – «mit einer sehr<br />
hohen Bezahlung» erkauften und dass dies eine<br />
«demoralisierende Wirkung sowohl auf die Sowjetmacht<br />
(...) als auch auf die Arbeitermasse»<br />
hatte, sei nur am Rande erwähnt. (W.I. Lenin.<br />
Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, a.a.O.,<br />
S. 31 f.).<br />
7 <strong>Debatte</strong> Nr. 17, S. 22.<br />
8 Karl Marx. Der Bürgerkrieg in Frankreich.<br />
London, 30. Mai 1871.<br />
LITERARISCHER SPRENKEL<br />
Karl Marx 1983<br />
Wenn ich zweifle<br />
an dem<br />
der gesagt hat<br />
sein Lieblingsspruch sei<br />
«Man muss an allem zweifeln»<br />
dann folge ich ihm<br />
Und wie könnte sein Wort veralten<br />
dass «die freie Entwicklung<br />
eines jeden<br />
die Bedingung<br />
für die freie Entwicklung aller ist»?<br />
Was veraltet<br />
das sind die seiner Schüler<br />
die solche Worte<br />
immer wieder vergessen<br />
Von seinen Erkenntnissen<br />
sind weniger veraltet<br />
nach so langer Zeit<br />
als er selber erwartet hätte<br />
Die sein Werk totsagen<br />
und ihre Gründe<br />
es totzusagen<br />
beweisen nur<br />
wie lebendig es ist<br />
Und die Buchstabengläubigen<br />
die die Gültigkeit jedes Wortes<br />
beweisen wollen<br />
beweisen wie recht er hatte<br />
(und dadurch wie unrecht)<br />
als er spottete:<br />
«Je ne suis pas un Marxiste»<br />
Erich Fried (1921-1988)<br />
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