„KEINER DIESER ORTE IST ZU FINDEN“ – ZUR ...
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<strong>„KEINER</strong> <strong>DIESER</strong> <strong>ORTE</strong> <strong>IST</strong> <strong>ZU</strong> <strong>FINDEN“</strong> <strong>–</strong><br />
<strong>ZU</strong>R GRENZAUFLÖSUNG UND LITERARISCHEN<br />
PROJEKTION AUF DEN OSTEUROPÄISCHEN RAUM<br />
BEI INGEBORG BACHMANN 1 Ramona TRUFIN,<br />
Universität Konstanz/Universitatea „Alexandru Ioan Cuza“ Iaşi<br />
„Es wurde wieder eine Heimat an der<br />
Grenze: zwischen Ost und West, zwischen einer<br />
großen Vergangenheit und einer dunklen Zukunft.“<br />
(Ingeborg Bachmann)<br />
Abstract: The present article will focus on Ingeborg Bachmann’s cultural<br />
and literary manner of transposing her interest for the East-European region into her<br />
fictional works, taking into consideration a series of biographical elements, Bachmann’s<br />
poetic correspondence with Paul Celan, as well as some of the most relevant academic<br />
contributions in this field.<br />
Key-words: East-European, borders, identity, real and imaginary, language<br />
Ingeborg Bachmanns Begegnung mit Paul Celan in Wien (1948) gilt als<br />
Referenzpunkt der literarisch-kritischen Debatten und ist eine reale<br />
Herausforderung für die Forschung, die Fragen nach den literarischen und<br />
persönlichen Korrespondenzen zwischen zwei der wichtigsten deutschsprachigen<br />
Dichter der Nachkriegszeit aufwirft, welche sie dann mittels elaborierten<br />
literaturwissenschaftlichen Methoden zu beantworten versucht 2 . Das<br />
Forschungsinteresse an der Beziehung zwischen Bachmann und Celan wird immer<br />
lebendiger, teilweise auch weil das so gut bewahrte „Geheimnis der Begegnung“ 3 ,<br />
trotz veröffentlichtem Briefwechsel 4 , sich jeglicher totalen Aufhellung entzieht.<br />
Auf Grund biographischer Informationen über Bachmanns Leben,<br />
ihrer poetischen und poetologischen Schriften und wichtiger<br />
Forschungsbeiträge zu ihrem poetischen Dialog mit Paul Celan, wird der<br />
vorliegende Beitrag einige Koordinaten der kulturellen und literarischen<br />
Projektion auf den osteuropäischen Raum bei Ingeborg Bachmann markieren.<br />
Gleichzeitig werden die Korrespondenzen zwischen dem biographischen<br />
Interesse der österreichischen Autorin an südöstlich liegenden Landschaften<br />
und den inneren, literarisierten (Sprach)Landschaften in ihrem Werk untersucht.<br />
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In einem Interview erwähnte der deutsche Komponist und Freund der<br />
Autorin, Hans Werner Henze, einen Scherz, den Bachmann auf der Zugfahrt<br />
machte, wenn sie nach ihrem Reiseziel gefragt wurde: „…wenn jemand fragte:<br />
'Und Sie, liebes Fräulein, was tun Sie? Wohin reisen Sie?' 'Ja, ich bin<br />
Angestellte bei Siemens und fahre nach Budapest', dabei fuhr sie eigentlich<br />
nach Wien oder München, oder in eine sonstig entgegengesetzte Richtung“ 5 .<br />
Die Anekdote beweist die bitter-ironische Haltung der Autorin gegenüber dem<br />
allgemeinen Desinteresse der „Asphalt-Kultur“ (Henze) an der osteuropäischen<br />
Landschaft aus einer primär geographischen Perspektive. Der Blick Bachmanns<br />
auf südöstlich liegende Orte - innerhalb oder außerhalb Europas - lässt sich<br />
anfangs mit ihrer Biographie in Zusammenhang bringen und erklären.<br />
Sie wurde 1926 in der österreichischen südöstlichsten Landeshauptstadt,<br />
in Klagenfurt, geboren. Ihre Mutter, Olga Bachmann, kam aus dem östlichsten<br />
Bundesland, das an „Böhmen“ und Ungarn grenzte; ihr Vater, Matthias Bachmann,<br />
stammte aus Obervellach bei Hermagor im Gailtal, im Dreiländereck Österreich-<br />
Italien-Slowenien. Die Heimat der Autorin konstituierte sich von vornherein an der<br />
Grenze, wie sie in der Prosaschrift „Biographisches“ versicherte: „Ich habe meine<br />
Jugend in Kärnten verbracht, im Süden, an der Grenze, in einem Tal, das zwei<br />
Namen hat - einen deutschen und einen slowenischen 6 . Aus dem ganzen Werk<br />
Bachmanns lässt sich feststellen, das Land ihrer realen Geburt und Kindheit sei<br />
nicht mit dem Land der imaginären Geburt oder Wiedergeburt der Dichterin<br />
verwechselbar, trotz der aufschlagenden biographischen Parallelität. Der Ort in dem<br />
Gedicht „Prag Jänner 64“, „wo zwischen der Moldau, der Donau/ und meinem<br />
Kindheitsfluss/ alles einen Begriff von mir hat“ oder „das erstgeborene Land“, wo<br />
die Dichterin zum Sehen erwacht wird: „Da fiel mir Leben zu“, sind nichts anders<br />
als imaginäre Orte. Utopische Elemente ziehen ihre Existenz durch, die auf eine<br />
neue, befreiende dichterische Sprache hinziehen: „Unter den berstenden Blöcken/<br />
meines, auch meines Flusses/ kam das befreite Wasser hervor.// Zu hören bis zum<br />
Ural“ („Prag Jänner 64“). Die literarische Projizierung auf ein geographisches<br />
Dreieck zwischen Prag-Wien-Kärnten (metonymisch ersetzt durch die Flüsse<br />
Moldau, Donau und Kindheitsfluss) und auf ein kulturelles „Dreispracheneck“<br />
zwischen Böhmisch-Deutsch-Slowenisch, deren Befreiung aus den Ketten der<br />
Differenziertheit als Voraussetzung für die wahre Sprache der Dichtung angestrebt<br />
wird, durchquert den ganzen europäischen geographischen Raum nach Osten,<br />
indem sie sich bis zum Ural über die Grenzen hinausstreckt. Sigrid Weigel spricht<br />
über „die Akzentuierung einer nach Süden und Osten orientierten europäischen<br />
Topographie“ 7 bei Bachmann, erstens in der frühen Lyrik der zwei Gedichtbände<br />
(„Die gestundete Zeit“ und „Anrufung des Großen Bären“) und später in den<br />
„Todesarten“-Prosaschriften. Bachmanns Landschaften sind kodiert, chiffriert, sie<br />
lassen sich einmal als innere Landschaften, ein anderes Mal als geschichtliche oder<br />
als literarisierte Sprachlandschaften erkennen. Ein paar Beispiele dafür:<br />
In dem unvollendeten Roman „Der Fall Franza“ sagt die Autorin in der<br />
Vorrede: „Die Schauplätze sind Wien, das Dorf Galicien und Kärnten, die Wüste,<br />
die arabische, lybische, die sudanische. Die wirklichen Schauplätze, die<br />
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inwendigen, von den äußeren mühsam überdeckt, finden woanders statt (sic!)“ 8 .<br />
Und sie führt diesen Gedanken im ersten Kapitel dann fort: „Und da sich beweisen<br />
lässt, dass es Wien gibt, man es aber mit einem Wort nicht treffen kann, weil Wien<br />
hier auf dem Papier ist und die Stadt Wien immerzu woanders, nämlich 48° 14’<br />
54’’ nördlicher Breite und 16° 21’ 42’’ östlicher Länge, und Wien hier also nicht<br />
Wien sein kann, weil hier nur Worte sind, die anspielen und insistieren auf etwas,<br />
das es gibt, und auf anderes, das es nicht gibt...“ 9 . Das am Meer gelegene Böhmen<br />
im Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ findet als fiktiver Ort auch keine<br />
Entsprechung in der Realität und trotzdem beansprucht Realität. Wenn man dem<br />
am Meer gelegenen Böhmen sein Recht zuerkennt, dann löst sich die<br />
Trennungslinie zwischen Wirklichkeit und Imagination einfach ab, indem sie<br />
flüssig wird. Die Titelgestalt aus der Erzählung „Undine geht“, „keine Frau, auch<br />
kein Lebewesen“ 10 , trägt die Grenzen zwischen zwei Welten - Wasser und Erde -<br />
in ihr, ohne ein Zwischenwesen zu sein, sondern, laut Renate Böschenstein, „das<br />
fließende Ich“ 11 . Die Auflösung der Grenze findet - paradoxerweise - in ihrem<br />
Wesen statt, es ist „die nasse Grenze zwischen mir und mir“ 12 . Entgegengesetzte<br />
Pole werden vereinigt und versöhnt, indem sie nicht mehr als Gegensätze gespürt<br />
werden. Die realgeographischen Räume werden von Bachmann in<br />
Erfahrungsräumen aufgespalten. Laut Marion Schmaus, „subjektive Erinnerungsund<br />
Wahrnehmungsspuren überschreiben den konkreten Ort, lassen ihn zu einer<br />
‚inneren Landschaft’ oder ‚imaginären Topographie’ werden“ 13 . Um die<br />
Möglichkeit einer auf solche Art und Weise konstruierten imaginären Topographie<br />
klar zu machen, führte Sigrid Weigel den Begriff der „télescopage“ ein, als „Figur<br />
einer Verschachtelung“ der Orte auf der geographischen Landkarte, indem<br />
„verschiedene Schauplätze ineinandergeschoben oder übereinander geblendet<br />
werden“, wie „die Überblendung von Wüste und Berlin, Galizien und<br />
Kindheitslandschaft, Wien und Ungargassenland“ 14 in Bachmanns „Todesarten“-<br />
Projektteilen „Ein Ort für Zufälle“, „Der Fall Franza“ und „Malina“.<br />
Die Verwischung der Trennungslinien zwischen Innen- und Außenwelt,<br />
Innen- und Außenraum wird in dem Roman „Malina“ (1971), dem ersten und<br />
einzigen vollendeten Roman Bachmanns, und in dessen Verfilmung von Werner<br />
Schroeter (1991) sichtbar. Die Straße in dem „Ungargassenland“ bildet sich als<br />
imaginärer Ort, „weil sie nur in mir ihren Bogen macht“, sagt das weibliche Ich<br />
am Anfang. Gerade in dieser Topographie gehen die äußere und innere Welt, die<br />
reale und imaginäre Landschaft ineinander. Die Ungargasse war in der<br />
Vergangenheit „die alte Hungargasse, in der die aus Ungarn einreisenden<br />
Kaufleute, Pferde-, Ochsen- und Heuhändler hier ihre Herbergen hatten, ihre<br />
Einkehrwirtshäuser“ 15 . Ivan, in den sich das weibliche Ich verliebt, wurde in<br />
Pécs/Ungarn geboren, hatte zwei Kinder - Belá und András - und wohnte in der<br />
Ungargasse, Nummer 9. Malina, der sogenannte männliche „Doppelgänger“ der<br />
weiblichen Figur, wurde von ihr ursprünglich „Eugenius“ genannt, er kam von<br />
der jugoslawischen Grenze, genau so wie das Ich und beide redeten manchmal<br />
auf Slowenisch oder Windisch. Sie bewohnten die gleiche Wohnung in der<br />
Ungargasse, Nummer 6. Es handelt sich um eine Projektion auf den<br />
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osteuropäischen Raum, in dem die (scheinbar) gegensätzlichen Charaktere sich<br />
zusammentreffen. De facto ist das Ich ein ganz zentraler Punkt, von dem andere<br />
Gestalten osteuropäischer Abstammung - Malina, Ivan - sich dissipieren,<br />
defragmentieren und durch den Bezug auf das weibliche Ich, lokalisiert in Wien,<br />
wieder vereinigen lassen. Ellen Summerfield sprach von der „Auflösung der<br />
Figur“ 16 im Roman, was das Verschwinden des Ich erklärt. Es geht hier aber nicht<br />
nur um die Auflösung der Figur, sondern auch um die Auflösung der Grenze<br />
zwischen Innen und Außen, Diesseits und Jenseits, Vergangenheit und<br />
Gegenwart, Ost und West, die im Mittelpunkt Europas stattfindet: in Wien.<br />
Nach Wien, wo die Grenze ursprünglich nicht aufgehört hatte, spürbar<br />
zu sein, kam Bachmann 1945: „Es wurde wieder eine Heimat an der Grenze:<br />
zwischen Ost und West, zwischen einer großen Vergangenheit und einer dunklen<br />
Zukunft“ 17 . In diesen frühen Wiener Jahren lernte die junge Philosophiestudentin<br />
Bachmann in dem Atelier des surrealistischen Malers Edgar Jené, den aus<br />
Czernowitz vertriebenen Dichter Paul Celan kennen, der auf seiner Durchreise<br />
von Rumänien (Bukarest) über Ungarn nach Frankreich (Paris), Station in Wien<br />
machte. Von Hans Werner Richter zur 10. Tagung der literarischen Gruppe 47<br />
eingeladen (1952), trat sie gemeinsam mit Paul Celan auf. Für die Autorin wurde<br />
Celan zu einem sehr geschätzten und speziellen Freund für mehr als fünfzehn<br />
Jahre. Seine Einreise von Rumänien über die ungarischen Steppen nach Paris,<br />
bedeutete für sie, so Lütz in seinem Aufsatz „Über den Celan-Bachmann<br />
Diskurs“, eine Orts-Chiffre seiner Herkunft, die sie später, vor allem in der<br />
Legende der Prinzessin von Kagran aus dem Roman „Malina“, in der Figur des<br />
Fremden - „Die Prinzessin und der Fremde begannen zu reden, wie von alters her,<br />
und wenn einer redete, lächelte der andere. Sie sagten sich Helles und Dunkles“ 18<br />
- und der ursprünglich grenzenlosen osteuropäischen Landschaft verarbeitet:<br />
„…das Land, in dem sie waren, an der Donau, war immer in Gefahr, und Grenzen<br />
gab es noch keine, wo später Raetien, Markomannien, Noricum, Moesien,<br />
Dacien, Illyrien und Pannonien waren. Es gab auch noch kein Cis- und<br />
Transleithanien, denn es war immer Völkerwanderung.“ 19 Eine wesentliche Rolle<br />
bei dem Prozess des Sich-Verbunden-Fühlens der zwei Autoren spielte auch die<br />
gemeinsame „österreichisch-ungarische Sprachherkunft und Geistestradition“ 20 .<br />
Die Sprache, in der sie schrieben, war dieselbe, aber nicht die gleiche. Für Celan<br />
war die deutsche Sprache seit der Ermordung der Eltern (1942, im KZ<br />
Michailowka, östlich des Bugs) nicht mehr die geliebte Muttersprache, sondern<br />
die „Sprache der Mörder“ 21 . Für Bachmann ist sie Ausgangspunkt für das<br />
„Treiben“ durch die Gesamtheit der Sprachen: „Ich mit der deutschen Sprache/<br />
dieser Wolke um mich/ die ich halte als Haus/ treibe durch alle Sprachen“<br />
(„Exil“), damit sie sich für das weibliche Ich am Ende als „Strafe“ definieren<br />
lässt: „…die Sprache ist die Strafe. In sie müssen alle Dinge eingehen und in ihr<br />
müssen sie wieder vergehen nach ihrer Schuld und dem Ausmaß ihrer Schuld“ 22 .<br />
Mittels der Verwendung von Fremdwörtern und Sätzen aus<br />
osteuropäischen Sprachen (Ausrufe und Flüche auf Ungarisch, Sätze auf<br />
Slowenisch), von dazugehörenden Assoziationen mit den „fremden“ Landschaften<br />
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Osteuropas (Ungarn - Pécs, Budapest, Jugoslawien - Belgrad, Polen - Galizien,<br />
Serbien, Bukowina - Czernowitz, Rumänien - der Ort „vor dem Schwarzen Meer“<br />
wo die Donau durch eine Delta einmündet, Bulgarien - Sofia, Russland - die<br />
Eremitage), Menschentypen- und Typologien (Ivan, Fanny Wischnewski, Marek,<br />
Lajos, Dr. Krawanja, Herr Bardos, Herr Sedlacek, Frau Senta Novak, Elfi Nemec)<br />
gelingt es Bachmann - erstens rein formal und dann auch inhaltlich - die anfangs<br />
erwähnte Grenze des „Dreiländerecks“, die Grenze „zwischen Ost und West“ und<br />
damit auch „die Grenze der Sprache“ zu überschreiten, um an einen Begegnungsort<br />
zu gelangen, der sich trotz aller Bemühungen nicht lokalisieren und fixieren lässt. In<br />
welcher Art der Ort in Bachmanns Werk mit der reinen historischen Realität des als<br />
Kind erlebten Zweiten Weltkriegs und des Anschlusses Österreichs am Nazi-<br />
Deutschland korrespondiert, war eine von den meist thematisierten<br />
Problemkonstanten der Bachmann-Forschung 23 . Wichtig scheint bei der<br />
österreichischen Dichterin die Suche nach dem Ort zu sein, der ausschließlich<br />
weder in einer belegbaren Realität noch in einer Irrealität oder Fiktion zu verorten<br />
ist, der nicht aus räumlichen und zeitlichen Dichotomien entsteht („Die Zeit fällt<br />
mit dem Ort zusammen“ in „Malina“), sondern diese Dichotomien durchquert und<br />
einen anderen Ort sucht, wo die Liebe zur Poesie und die Poesie der Liebe sich<br />
gegenseitig durchdringen und ineinander auflösen. Diesen Ort findet man nicht, wie<br />
es sich auch aus der Sicht Undines ergibt: „Die Welt ist schon finster, und ich kann<br />
die Muschelkette nicht anlegen. Keine Lichtung wird sein“ 24 .<br />
Wenn wir zur Suche Celans nach dem Ort seiner eigenen Herkunft<br />
und der absoluten Dichtung zurückkehren, mündet dieser Ort auch in Finsternis,<br />
wie es in der „Meridian“- Rede formuliert wurde: „Keiner dieser Orte ist zu<br />
finden“. Nur dass Celan selbst, so wie Bachmann, nicht aufhört, zu suchen und<br />
sogar „etwas - wie die Sprache - Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches,<br />
etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich Zurückkehrendes und dabei -<br />
heiterer weise - sogar die Tropen Durchkreuzendes -: (...) einen Meridian 25 “ zu<br />
finden. Die Sprache ist hier nicht nur als Vermittelndes, sondern zugleich als<br />
Vermitteltes zu verstehen, eine Sprache, die über die Sprache spricht, eine<br />
Metapoesie. Jedes einzelne Wort weist auf sich selbst hin, die Sprache ist<br />
rückbezüglich, reflexiv. Die Dichtung thematisiert sich selbst und führt zu<br />
einem neuen, höheren, symbolisch-abstrakteren Realitätsbezug, weshalb man<br />
bei Celan nicht von einem direkt zeigbaren Ort in der „Kartographie“ seiner<br />
Dichtung oder vom Gedicht als konkreten Ort des Geschehens, der Einlösung<br />
und Auflösung der Gegensätze sprechen kann, sondern vom Gedicht als „Ort,<br />
wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen“, von<br />
„Toposforschung (...) im Lichte der U-topie 26 .<br />
Für Ingeborg Bachmann bedeutet die dichterische Sprache eine<br />
Grenzüberschreitung zu einem weitentfernten Ort, zu einem Ort genau so wenig<br />
direkt definierbar wie bei Celan. Es ist der Ort der Dichtung, der sich bei Celan<br />
als „eine Art Heimkehr“ ohne konkreten Ort ergibt und bei Bachmann das<br />
„Ungetrennte“ und doch „Nichtvereinte“ ist.<br />
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1 Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung des Vortrags „Paul Celan-Ingeborg<br />
Bachmann“, 9. Juni 2005, Universität Konstanz.<br />
2 Nennenswerte Beiträge aus dem letzten Jahrzehnt zur Entschlüsselung der „poetischen<br />
Korrespondenzen“ zwischen Bachmann und Celan leisteten u.a. Gudrun Kohn-<br />
Waechter: Das Verschwinden in der Wand. Destruktive Moderne und Widerspruch<br />
eines weiblichen Ich in Ingeborg Bachmanns Malina, Stuttgart 1992; Bernhard<br />
Böschenstein / Sigrid Weigel (Hrsg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische<br />
Korrespondenzen, Frankfurt/Main 1997; Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann.<br />
Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien 1999; Hans Höllers<br />
Monographie Ingeborg Bachmann, Reinbek bei Hamburg 1999.<br />
3<br />
Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Gedichte III/Reden/Essays,<br />
Frankfurt/Main 1983. S. 198.<br />
4 Ingeborg Bachmann / Paul Celan (2008): Herzzeit. Briefwechsel. Frankfurt a. Main.<br />
5 Interview von Leslie Morris mit Hans Werner Henze. In: Monika Albrecht / Dirk<br />
Göttsche (Hrsg.): Über die Zeit schreiben 2. Literatur- und Kulturwissenschaftliche<br />
Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns, Würzburg 2000. S. 143.<br />
6 Ingeborg Bachmann: Werke 4, München 1993. S. 301.<br />
7<br />
Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des<br />
Briefgeheimnisses, Wien 1999. S. 354.<br />
8 Ingeborg Bachmann: Werke 3, München 1993. S. 342.<br />
9 Ebd. S. 345.<br />
10 Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, München 1983. S. 46.<br />
11 Renate Böschenstein: Undine oder das fließende Ich. In: Sehnsucht und Sirene.<br />
Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien, Pfaffenweiler 1992. S. 101.<br />
12 Ingeborg Bachmann: Werke 2, München 1993. S. 254.<br />
13 Marion Schmaus: Eine Poetologie des Selbstmordes. In: Monika Albrecht / Dirk<br />
Göttsche (Hrsg.): Über die Zeit schreiben, Würzburg 1998. S. 95f.<br />
14 Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann, Wien 1999. S. 358-60.<br />
15 Ingeborg Bachmann: Werke 3, München 1993. S. 15.<br />
16 Ellen Summerfield: Ingeborg Bachmann. Die Auflösung der Figur in ihrem Roman<br />
„Malina“, Bonn 1976.<br />
17 Ingeborg Bachmann: Werke 4, München 1993. S. 301.<br />
18 Ingeborg Bachmann: Werke 3, München 1993. S. 63.<br />
19 Ebd.<br />
20 Axel Gellhaus / Andreas Lohr (Hrsg.): Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans,<br />
Köln 1996. S. 62.<br />
21 Vgl. Theo Buck: Muttersprache, Mördersprache, Celan-Studien I, Aachen 1993.<br />
22 Ingeborg Bachmann: Werke 3, München 1993. S. 97.<br />
23 Wichtige Beiträge von Kurt Bartsch (Hrsg.): „Frühe Dunkelhaft“ und Revolte. Zu<br />
geschichtlicher Erfahrung und utopischen Grenzüberschreitungen in erzählender Prosa<br />
von Ingeborg Bachmann, Graz 1982; Hans Gehle: NS-Zeit und literarische Gegenwart<br />
bei Ingeborg Bachmann, Leverkusen 1995; Kirsten Krick-Aigner: Ingeborg Bachmanns<br />
Telling Stories: Fairy Tale Beginnings and Holocaust Endings, Riverside 2002 usw.<br />
24 Ingeborg Bachmann: Werke 2, München 1993. S. 262.<br />
25<br />
Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Gedichte III/Reden/Essays,<br />
Frankfurt/Main 1983. S. 202.<br />
26 Ebd. S. 199.<br />
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