Dokumentation 12: Stimmen von Verfolgten vor und nach der NS-Zeit
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NEUE POLITIK<br />
Gärung<br />
Wer in unseren Tagen einigermaßen politisch interessiert ist <strong>und</strong> im Bewußtsein <strong>der</strong><br />
Schicksalsverb<strong>und</strong>enheit aller Stände das Wirken unserer Parteien <strong>und</strong> ihrer fuhrenden<br />
Männer beobachtet, <strong>der</strong> wird die Notwendigkeit einer <strong>von</strong> Gr<strong>und</strong> auf zu schaffenden politischen<br />
Erneuerung ohne weiteres bejahen.<br />
Das völlige Versagen <strong>der</strong> politischen Mächte, <strong>der</strong> unaufhaltsame Verfall alter, großer Parteien,<br />
die Zersplitterung des gesetzgebenden Volkswillens <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Unmöglichkeit,<br />
dem Willen des Volkes Ausdruck zu geben <strong>und</strong> Geltung zu verschaffen, zeigen,<br />
daß es „so nicht mehr weitergehen kann“. Dieser Gedanke hat die Massen heute bereits so<br />
durchsetzt, daß jede Bewegung, die verspricht, die politische Erneuerung zu bringen, allein<br />
auf Gr<strong>und</strong> dieses Versprechens Zulauf erhält. Doch immer <strong>und</strong> immer wie<strong>der</strong> stellt sich heraus,<br />
daß nur eine neue Partei ins Leben getreten ist, die in den meisten Fällen ihr Teil dazu<br />
beiträgt - die Schwierigkeiten zu mehren. Man ist sich allgemein <strong>der</strong> Sinnlosigkeit einer weiteren<br />
Zersplitterung durchaus bewußt, ohne daß jedoch dieses Bewußtsein die Zersplitterung<br />
zu verhin<strong>der</strong>n mag. Wie soll man nun diese seltsame Haltung unseres Volkes verstehen ?<br />
Die Erklärung, das deutsche Volk sei im Gr<strong>und</strong>e seines Wesens unpolitisch, kann nicht überzeugen,<br />
denn ihr steht die Tatsache gegenüber, daß gerade dieses Volk eine politische Regsamkeit<br />
entfaltet, wie kaum ein an<strong>der</strong>es. Es versucht, <strong>der</strong> Schwierigkeiten Herr zu werden,<br />
läßt sich durch Mißerfolge nicht entmutigen, neue Wege zu gehen, neuen Parteien zu folgen.<br />
Gewiß, im selben Maße, wie sich die Parteien mehren, schwindet die Aktionsfähigkeit <strong>der</strong><br />
schon bestehenden. Doch es fragt sich, ob das ein Schaden ist. Man stelle sich doch einmal<br />
<strong>vor</strong>, was die absolute Herrschaft einer Partei bedeuten würde, o<strong>der</strong> was damit gewonnen wäre,<br />
wenn wir, wie manche das für wünschenswert halten, nur drei Parteien hätten. Es wäre nichts<br />
damit gewonnen, denn die Reduzierung <strong>der</strong> Anzahl unserer Parteien vereinfacht noch nicht<br />
die Lösung <strong>der</strong> schwebenden Fragen (was ja auch daraus her<strong>vor</strong>geht, daß während <strong>der</strong> bekannten<br />
Beurlaubung des Parlaments nichts besser wurde). Vielleicht würden die Entscheidungen<br />
bei weniger Parteien rascher, bestimmter <strong>und</strong> klarer fallen; aber <strong>nach</strong> wie <strong>vor</strong> als Entscheidungen<br />
<strong>von</strong> Parteimehrheiten, denen sich die Min<strong>der</strong>heit wohl o<strong>der</strong> übel zu fügen hat.<br />
Wer solche Entscheidungen als „Lösung“ <strong>der</strong> politischen Fragen ansehen kann, <strong>der</strong> übersieht,<br />
daß all das, was bisher seine Mißbilligung fand, das Resultat einer solchen Lösung darstellte.<br />
Zwar wurde die Lösung in <strong>der</strong> Regel nicht schnell gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die Entscheidung nicht rasch<br />
getroffen; aber das hatte doch seinen Gr<strong>und</strong> in dem Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong>jenigen Parteien, die, wenn<br />
sie auch noch keine bessere Lösung wußten, <strong>der</strong> <strong>von</strong> <strong>der</strong> Mehrheit gef<strong>und</strong>enen, wie man sieht<br />
nicht ganz mit Unrecht, ablehnend gegenüberstanden. Diese Parteien brachten <strong>und</strong> bringen also<br />
auf ihre Art zum mindesten das zum Ausdruck, was allgemeines Volksempfinden ist: daß<br />
eine Entscheidung, die durch den Willen <strong>und</strong> im Interesse einer Partei gefallen ist, nichts<br />
an<strong>der</strong>es als eine Gewaltlösung ist.<br />
Insofern entspricht diese Entscheidung nicht dem Volkswillen. Die Gesamtheit des Volkes<br />
kann nur solche Regelungen wollen, die jede Über<strong>vor</strong>teilung <strong>und</strong> Unterdrückung eines Volksteils<br />
durch den an<strong>der</strong>en ausschließen.<br />
In <strong>der</strong> Tat scheint das Streben unseres Volkes dahinzugehen. Regeln zu finden, durch die bei<br />
möglichster Wahrung <strong>der</strong> persönlichen Freiheit des einzelnen das wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale<br />
Leben so zu gestalten ist, daß jedem das Seine vom Sozialprodukt zukommt, das heißt: daß<br />
<strong>Dokumentation</strong> Agenda .. 2001 / 2. Teil / Seite - 42 -