Figuren der Referenz - Narr
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<strong>Figuren</strong> <strong>der</strong> <strong>Referenz</strong>: Einleitung<br />
Textcorpus selbst sowie durch die an ihm erprobte literaturwissenschaftliche Praxis<br />
– motiviert. Zunächst verschließen sich die überlieferten Texte einem einfachen interpretatorischen<br />
Zugriff, da ihr Status als ‚Hausliteratur‘, 9 die für den ‚Grünen<br />
Wörth‘ geschaffen wurde und zumeist auch dort verblieb, einen verläßlichen Überblick<br />
über die Überlieferungslage erschwert: Die Schriften sind in einer Reihe von<br />
‚Memorialen‘ tradiert, <strong>der</strong>en Funktion es war, die memoria an die Geschichte <strong>der</strong><br />
Komturei, an ihren vom Stifter durchgesetzten rechtlichen Status sowie an ihre spirituellen<br />
Grundlagen für die verschiedenen laikalen und klerikalen Gruppen in <strong>der</strong><br />
Gemeinschaft des ‚Grünen Wörth‘ festzuhalten. Aus dieser nach Rezipientengruppen<br />
differenzierten Anlage <strong>der</strong> Handschriften resultieren zahlreiche Rück- und<br />
Querverweise sowie Überschneidungen im Textbestand <strong>der</strong> Codices, durch welche<br />
die Überlieferungssituation – trotz ihrer lokalen Konzentration – nur schwer zu<br />
durchschauen und die gegenseitige Abhängigkeit <strong>der</strong> Handschriften allein mit Hilfe<br />
<strong>der</strong> in ihnen gegebenen Informationen erschlossen werden kann. Die in den Manuskripten<br />
postulierte Textgeschichte, welche die enge Beziehung <strong>der</strong> Exempla, Traktate<br />
und Briefe zur Straßburger Institution ausweist, wird jedoch durch erste textkritische<br />
Untersuchungen ‚unter Verdacht‘ gestellt, d.h. als nachträgliche Vereinnahmung<br />
anonymer Vorlagen, als Fälschung bewertet; die in den Codices gegebene Textgeschichte<br />
kann daher nicht als zuverlässiger Wegweiser durch den Überlieferungskomplex<br />
dienen. Über die Behin<strong>der</strong>ung eines zuverlässigen Überlieferungsbefundes<br />
hinaus trägt <strong>der</strong> problematische Status <strong>der</strong> paratextuellen Rahmen zwischen Fälschung<br />
und Fiktion maßgeblich zu <strong>der</strong> in <strong>der</strong> neueren Forschung stets betonten Einzigartigkeit<br />
des Textcorpus bei: Die in Neben- und Haupttext <strong>der</strong> Handschriften gegebenen,<br />
ausführlichen Beschreibungen <strong>der</strong> Genese <strong>der</strong> ‚Gottesfreundliteratur‘ präsentieren<br />
nicht allein den historisch verbürgten Patrizier, reichen Kaufmann und<br />
Stifter <strong>der</strong> Johanniterkomturei Rulman Merswin (wahrscheinlich 1307–1382) als Autor<br />
von sechs Texten <strong>der</strong> Sammlung; 17 Schriften werden darüber hinaus dem Gottesfreund<br />
aus dem Oberland zugeschrieben, <strong>der</strong> sich trotz seiner detaillierten Figuration<br />
einer Identifikation entzog und somit als eine Mystifikation bewertet werden<br />
mußte, die entwe<strong>der</strong> von Rulman Merswin selbst o<strong>der</strong> seinem Vertrauten, dem<br />
Priester, Redaktor und Schreiber einer Reihe von Handschriften, Nikolaus von Löwen,<br />
geschaffen wurde. Diesen überlieferungsgeschichtlichen wie produktionsästhetischen<br />
Spezifika des Corpus – einer durch ein beziehungsreiches Kopier- und Verweissystem<br />
bedingten, undurchsichtigen Überlieferungslage und einer diffizilen, nach<br />
mo<strong>der</strong>nen Maßstäben ‚falsifikatorischen‘ Autorkonzeption – sucht die germanistische<br />
Philologie des 19. und frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, aus <strong>der</strong> nahezu die gesamte<br />
Forschungsliteratur zu Rulman Merswin und dem Gottesfreund aus dem Oberland<br />
stammt, mit ihrer paradigmatischen Leseanweisung zu begegnen und reduziert hierdurch<br />
die Textsammlung auf eine eindimensionale Fragestellung: Der biographischen<br />
Lektüre verpflichtet, setzt die Forschung zur ‚Gottesfreundliteratur‘ die Historizität<br />
<strong>der</strong> Texte voraus und sieht ihre Aufgabe in einem Sammeln von Informationen<br />
anhand <strong>der</strong> „hermeneutischen Suchregel“ Autor, d.h., sie untersucht jeden Text<br />
9<br />
Georg Steer, Merswin, Rulman, Sp. 438.