03.11.2013 Aufrufe

Figuren der Referenz - Narr

Figuren der Referenz - Narr

Figuren der Referenz - Narr

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

2<br />

<strong>Figuren</strong> <strong>der</strong> <strong>Referenz</strong>: Einleitung<br />

Textcorpus selbst sowie durch die an ihm erprobte literaturwissenschaftliche Praxis<br />

– motiviert. Zunächst verschließen sich die überlieferten Texte einem einfachen interpretatorischen<br />

Zugriff, da ihr Status als ‚Hausliteratur‘, 9 die für den ‚Grünen<br />

Wörth‘ geschaffen wurde und zumeist auch dort verblieb, einen verläßlichen Überblick<br />

über die Überlieferungslage erschwert: Die Schriften sind in einer Reihe von<br />

‚Memorialen‘ tradiert, <strong>der</strong>en Funktion es war, die memoria an die Geschichte <strong>der</strong><br />

Komturei, an ihren vom Stifter durchgesetzten rechtlichen Status sowie an ihre spirituellen<br />

Grundlagen für die verschiedenen laikalen und klerikalen Gruppen in <strong>der</strong><br />

Gemeinschaft des ‚Grünen Wörth‘ festzuhalten. Aus dieser nach Rezipientengruppen<br />

differenzierten Anlage <strong>der</strong> Handschriften resultieren zahlreiche Rück- und<br />

Querverweise sowie Überschneidungen im Textbestand <strong>der</strong> Codices, durch welche<br />

die Überlieferungssituation – trotz ihrer lokalen Konzentration – nur schwer zu<br />

durchschauen und die gegenseitige Abhängigkeit <strong>der</strong> Handschriften allein mit Hilfe<br />

<strong>der</strong> in ihnen gegebenen Informationen erschlossen werden kann. Die in den Manuskripten<br />

postulierte Textgeschichte, welche die enge Beziehung <strong>der</strong> Exempla, Traktate<br />

und Briefe zur Straßburger Institution ausweist, wird jedoch durch erste textkritische<br />

Untersuchungen ‚unter Verdacht‘ gestellt, d.h. als nachträgliche Vereinnahmung<br />

anonymer Vorlagen, als Fälschung bewertet; die in den Codices gegebene Textgeschichte<br />

kann daher nicht als zuverlässiger Wegweiser durch den Überlieferungskomplex<br />

dienen. Über die Behin<strong>der</strong>ung eines zuverlässigen Überlieferungsbefundes<br />

hinaus trägt <strong>der</strong> problematische Status <strong>der</strong> paratextuellen Rahmen zwischen Fälschung<br />

und Fiktion maßgeblich zu <strong>der</strong> in <strong>der</strong> neueren Forschung stets betonten Einzigartigkeit<br />

des Textcorpus bei: Die in Neben- und Haupttext <strong>der</strong> Handschriften gegebenen,<br />

ausführlichen Beschreibungen <strong>der</strong> Genese <strong>der</strong> ‚Gottesfreundliteratur‘ präsentieren<br />

nicht allein den historisch verbürgten Patrizier, reichen Kaufmann und<br />

Stifter <strong>der</strong> Johanniterkomturei Rulman Merswin (wahrscheinlich 1307–1382) als Autor<br />

von sechs Texten <strong>der</strong> Sammlung; 17 Schriften werden darüber hinaus dem Gottesfreund<br />

aus dem Oberland zugeschrieben, <strong>der</strong> sich trotz seiner detaillierten Figuration<br />

einer Identifikation entzog und somit als eine Mystifikation bewertet werden<br />

mußte, die entwe<strong>der</strong> von Rulman Merswin selbst o<strong>der</strong> seinem Vertrauten, dem<br />

Priester, Redaktor und Schreiber einer Reihe von Handschriften, Nikolaus von Löwen,<br />

geschaffen wurde. Diesen überlieferungsgeschichtlichen wie produktionsästhetischen<br />

Spezifika des Corpus – einer durch ein beziehungsreiches Kopier- und Verweissystem<br />

bedingten, undurchsichtigen Überlieferungslage und einer diffizilen, nach<br />

mo<strong>der</strong>nen Maßstäben ‚falsifikatorischen‘ Autorkonzeption – sucht die germanistische<br />

Philologie des 19. und frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, aus <strong>der</strong> nahezu die gesamte<br />

Forschungsliteratur zu Rulman Merswin und dem Gottesfreund aus dem Oberland<br />

stammt, mit ihrer paradigmatischen Leseanweisung zu begegnen und reduziert hierdurch<br />

die Textsammlung auf eine eindimensionale Fragestellung: Der biographischen<br />

Lektüre verpflichtet, setzt die Forschung zur ‚Gottesfreundliteratur‘ die Historizität<br />

<strong>der</strong> Texte voraus und sieht ihre Aufgabe in einem Sammeln von Informationen<br />

anhand <strong>der</strong> „hermeneutischen Suchregel“ Autor, d.h., sie untersucht jeden Text<br />

9<br />

Georg Steer, Merswin, Rulman, Sp. 438.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!