03.11.2013 Aufrufe

Spuren - Gan-Erdene Tsend

Spuren - Gan-Erdene Tsend

Spuren - Gan-Erdene Tsend

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Bachs, Beethovens, Mozarts und Schuberts<br />

vertraut machte. L. Namkhaitseren wurde<br />

Orchestermitglied und spielte bei den regelmäßigen<br />

Wickersdorfer Konzertabenden<br />

mit. Sein virtuoses Können auf der Violine<br />

muss so auffallend gewesen sein, dass<br />

Halm ihm 1929 sogar eine kostbare Amati-<br />

Geige schenkte; zum Abschied aus der<br />

FSG Wickersdorf. Bevor er zurück in die<br />

mongolische Heimat geschickt wurde, absolvierte<br />

er noch ein Berufspraktikum in<br />

Weißensee bei Frankfurt/O. Mit dieser<br />

Geige sollte L. Namkhaitseren nach seiner<br />

Rückkehr im Jahre 1930 in Ulaanbaatar das<br />

erste Konzert mit europäischer klassischer<br />

Musik in der Geschichte der Mongolei<br />

veranstalten – ein wahrhaft historisches<br />

Ereignis.<br />

Über die mongolischen Schüler, deren er<br />

sich in besonderer Weise annahm, schrieb<br />

Peter Suhrkamp im Mai 1929 unter der<br />

Überschrift „Namenlose Botschafter –<br />

Mongolische Schüler in Deutschland“ einen<br />

Artikel für die in Berlin erscheinende<br />

Deutsche Allgemeine Zeitung. Unter den<br />

beigefügten Abbildungen – meist Fotos<br />

einiger der Jungen und Mädchen bei Freizeitbeschäftigungen<br />

– finden sich auch<br />

zwei künstlerische Arbeiten eines – laut<br />

Bildunterschrift – vierzehn- beziehungsweise<br />

sechzehnjährigen Mongolen. Die<br />

eine zeigt den aus voller Kehle singenden<br />

Schulchor im Musikzimmer, durch dessen<br />

Fenster im Hintergrund die Morgensonne<br />

hereinbricht. Dirigiert wird er von einem<br />

am Flügel stehenden, noch etwas ungelenk<br />

gezeichneten Lehrer; das Blatt ist mit<br />

„Ziren“ signiert und möglicherweise der<br />

Mitschülerin Tserenkhand zuzuordnen.<br />

Dass sie ebenfalls gern zeichnete, dokumentiert<br />

wiederum ein Blatt aus L. Namkhaitserens<br />

Wickersdorfer Kunstmappe, das sie<br />

am Zeichentisch zeigt. Die andere Arbeit<br />

stellt die Drummer der Wickersdorfer<br />

Schüler-Jazzband in voller Aktion dar und<br />

stammt aller Wahrscheinlichkeit nach von<br />

L. Namkhaitseren selbst – ein anschauliches<br />

Beispiel für seinen künstlerischen<br />

Entwicklungssprung innerhalb weniger<br />

Jahre. Bei beiden Arbeiten handelt es sich<br />

offensichtlich um Lithografien.<br />

Unter Anleitung Peter Suhrkamps beteiligten<br />

sich die mongolischen Schüler mit<br />

Feuereifer an der Einstudierung und Aufführung<br />

von Theaterstücken. In L. Namkhaitserens<br />

Wickersdorfer Fotoalbum<br />

finden sich u. a. Schwarz-Weiß-Aufnahmen<br />

der Theaterproduktion „Kalif Storch“, bei<br />

der fünf der Jungen und Mädchen aus der<br />

Mongolei, darunter auch er selbst, mitwirkten.<br />

In George Bernhard Shaws „Cäsar<br />

und Cleopatra“ spielte er einen Speerträger;<br />

Peter Suhrkamp hatte die Rolle des Cäsar<br />

übernommen. Regie und musikalische<br />

Leitung des Stücks lag in den Händen von<br />

Jaap Kool (1890 – 1959), einem bekannten<br />

Komponisten und Jazzmusiker aus den<br />

Niederlanden. Neben dem bedächtigeren<br />

und mehr für Klassik und Volksmusik<br />

zuständigen August Halm erteilte Jaap<br />

Kool in Wickersdorf einen Musikunterricht,<br />

der mehr dem Zeitgeist der „Goldenen<br />

Zwanziger Jahre“ entsprach. In der Berliner<br />

Musikszene der Weimarer Zeit galt Jaap<br />

Kool als „Paradiesvogel“. Er schrieb Bühnen-,<br />

Ballett- und Filmmusiken für Literaten wie<br />

Frank Wedekind und den Filmregisseur<br />

F. W. Murnau; sein Concerto Grosso für Jazzorchester<br />

erlebte 1925 seine Uraufführung<br />

in der Berliner Philharmonie, und Anfang<br />

der 30er Jahre veröffentlichte er ein viel<br />

beachtetes Buch über das Saxophon, das<br />

vor wenigen Jahren in einer Faksimile-<br />

Ausgabe wieder auf den Markt kam. Eine<br />

Karikatur von Jaap Kool, der sich unter<br />

den Schülern der FSG Wickersdorf großer<br />

Beliebtheit erfreute, findet sich in L. Namkhaitserens<br />

Wickersdorfer Skizzenbuch.<br />

Musik und Kunst nicht von Lehrern, sondern<br />

von Künstlern selbst unterrichten zu lassen,<br />

gehörte zum pädagogischen Konzept der<br />

FSG Wickersdorf. Als Kunsterzieher hatte<br />

man 1926 niemand geringeren engagiert<br />

als Ludwig Hirschfeld-Mack (1893 – 1965),<br />

von dem der 14jährige Namkhaitseren wohl<br />

den entscheidenden Impuls erhielt, eines<br />

Tages selbst ein bildender Künstler zu<br />

werden. Hirschfeld-Mack galt als wichtiger<br />

Vertreter der jüngeren Generation am<br />

Weimarer Bauhaus, das man 1925 geschlossen<br />

hatte. Begonnen hatte er dort 1920<br />

als Lehrling für Druckgrafik, doch bekannt<br />

wurde er durch seine „reflektorischen Farbspiele“,<br />

mit denen er in Zusammenarbeit<br />

mit seinem Künstlerkollegen Kurt Schwerdt-<br />

feger das Problem der Bewegung in der<br />

Malerei durch den Einsatz technischer<br />

Mittel und farbigem Licht in konkrete<br />

Bewegung umsetzte; mit Hilfe eines selbst<br />

konstruierten Projektionsapparates.<br />

Diese kinetischen Farbexperimente waren<br />

Hirschfeld-Macks Antwort auf das Werk<br />

und den Unterricht der großen Meister des<br />

Bauhauses; auf Oskar Schlemmer, Johannes<br />

Itten, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Lászlo<br />

Mohóly-Nágy und Lionel Feininger, dessen<br />

Sohn Laurence – in späteren Jahren ein<br />

bekannter Musikwissenschaftler – übrigens<br />

zur selben Zeit in Wickersdorf die Schule<br />

besuchte wie die jungen Mongolen. Hirschfeld-Macks<br />

Farbspiele wurden in zahlreichen<br />

deutschen Städten und 1924 in einer<br />

spektakulären Ausstellung in Wien demonstriert<br />

und lösten in den einschlägigen<br />

Kunstkreisen große Resonanz aus.<br />

Hirschfeld-Macks grafisches und malerisches<br />

Werk hingegen blieb in der Öffentlichkeit<br />

weitgehend unbekannt und wird erst<br />

heute allmählich wiederentdeckt. Formal<br />

umfasst es, den stilistischen Entwicklungsphasen<br />

des Bauhauses entsprechend, die<br />

ganze Bandbreite vom expressionistischen<br />

und lyrisch-primitivistischen Symbolismus<br />

bis zu einem konstruktivistisch-analytischen<br />

Stil zwischen Gegenständlichkeit<br />

und Abstraktion. Mit seinen Möbelentwürfen,<br />

die den Einfluss Marcel Breuers verraten,<br />

bemühte sich Hirschfeld-Mack um den<br />

Nachweis einer neuen Einheit von Kunst<br />

und Technik. Mit dem Baukastensystem<br />

seiner „Pädagogischen Puppenstube” von<br />

1923/24 schuf er ein Studienobjekt für das<br />

Experimentieren mit der wechselseitigen<br />

Beeinflussung von Farbe und Form.<br />

Einen besseren Lehrer für seine künstlerischen<br />

Anfänge als Ludwig Hirschfeld-Mack<br />

hätte der junge L. Namkhaitseren also<br />

kaum finden können. Bei ihm lernte der<br />

begabte Mongole zeichnen und malen, den<br />

Umgang mit Farben, Stift und Papier, er<br />

machte Bekanntschaft mit Linolschnitt und<br />

Lithografie, wurde vertraut mit grafischen<br />

Drucktechniken sowie dem Entwurf und<br />

Bau von Bühnenbildern – Fertigkeiten, die<br />

ihn später zum vielseitigsten und bedeutendsten<br />

bildenden Künstler der Mongolei<br />

des 20. Jahrhunderts machen sollten.<br />

Namkhaitserens Mappe mit den frühen<br />

Arbeiten legt ein beredtes Zeugnis von der<br />

Entfaltung seiner breit angelegten Kreativität<br />

in jenen entscheidenden Schuljahren<br />

in Deutschland ab. Es entstanden nicht die<br />

üblichen Schülerkritzeleien, nicht nur Karikaturen,<br />

in denen er Lehrer und Mitschüler,<br />

darunter auch seine mongolischen Freunde<br />

Gombo und Natzok (T. Natsagdordsch)<br />

aufs Korn nahm, sondern erste Landschaftsstudien<br />

und Porträts. Die Lithographie<br />

scheint ihm, sieht man die vergleichsweise<br />

große Zahl grafischer Blätter aus der<br />

Wickersdorfer Zeit, besonders gelegen zu<br />

haben. Aber es finden sich auch einzelne<br />

Aquarelle und konstruktivistische Arbeiten<br />

darunter. So spiegelt sich in den frühen<br />

Arbeiten des Schülers L. Namkhaitseren der<br />

Einfluss von Hirschfeld-Macks Bauhaus-Stil<br />

deutlich wider.<br />

Betrachtet man heute Werke der Bildenden<br />

Kunst der Mongolen – die längst<br />

dabei sind, den Anschluss an die internationale<br />

Kunstszene zu finden – so sollte<br />

man sich für einen Moment vergegenwärtigen,<br />

dass der Aufbruch der mongolischen<br />

Künstler in die Moderne vor<br />

mehr als 80 Jahren in Deutschland seinen<br />

Anfang nahm und dass ihr „Brückenbauer“<br />

Luvsansharavyn Namkhaitseren hieß.<br />

Doris Götting<br />

Literatur<br />

Doris Götting: „Das pädagogische Experiment. Mongolische<br />

Schüler und Berufspraktikanten in Deutschland<br />

(1926 – 1930)“, in: „Mongolische Notizen – Mitteilungen<br />

der Deutsch-Mongolischen Gesellschaft e. V.“, Nr. 13/2004<br />

Doris Götting: „Schuljahre junger Mongolen in Wickersdorf<br />

und Letzlingen – Ein wenig bekanntes Kapitel aus<br />

den Anfängen der mongolisch-deutschen Kulturbeziehungen“,<br />

in: „Historische Jugendforschung, Jahrbuch des<br />

Archivs der deutschen Jugendbewegung“, Neue Folge<br />

Band 3/2006<br />

Andreas Hapkemeyer, Pier Luigi Siena (Hrsg.): „Ludwig<br />

Hirschfeld-Mack – Bauhäusler und Visionär“, Katalog Wien,<br />

Bozen, Frankfurt/M. 2000/01<br />

Ulrich Herrmann: „Gustav Wynekens Freie Schulgemeinschaft<br />

Wickersdorf – ‚Burg der Jugend‘ für den ‚Dienst am<br />

Geist‘ “, in: Gustav Wyneken: „Die Freie Schulgemeinschaft<br />

Wickersdorf. Kleine Schriften“, Reihe „Pädagogikreform in<br />

Quellen“, Nr. 4, Jena 2006<br />

Peter Suhrkamp: „Namenlose Botschafter – Mongolische<br />

Schüler in Deutschland“, Deutsche Allgemeine Zeitung<br />

vom 12. 5. 1929<br />

Serge Wolff: „Mongolian educational venture in Western<br />

Europe (1926 – 1929)“, in: „Zentralasiatische Studien des<br />

Seminars für Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität<br />

Bonn“, Nr. 5, Wiesbaden 1971<br />

21 Luvsansharavyn Namkhaitseren

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!