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MICHAEL FRAUCHIGER* ZUR EXTERNEN ... - Bruno de Finetti

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<strong>MICHAEL</strong> FRAUCHIGER *<br />

<strong>ZUR</strong> <strong>EXTERNEN</strong> KRITIK DER BAYESIANISCHEN EPISTEMOLOGIE<br />

Ein Vorschlag zur Differenzierung <strong>de</strong>s Subjektivismusvorwurfs<br />

ABSTRACT. Der gegen bayesianische Ansätze in <strong>de</strong>r<br />

Epistemologie immer wie<strong>de</strong>r erhobene Subjektivismusvorwurf soll<br />

differenziert wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>r<br />

Anwendung <strong>de</strong>s Begriffs <strong>de</strong>s rationalen Glaubensgrads und <strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>skriptiven Anspruch bayesianischer Theorien hervorgehoben<br />

wird. In Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit relevanten Gegenargumenten wird<br />

eine externe Kritik <strong>de</strong>r psychologistischen Grundkonzeption <strong>de</strong>r<br />

bayesianischen Epistemologie formuliert.<br />

1. Von <strong>de</strong>r Subjektivismus- zur Psychologismuskritik<br />

Seit einigen Jahrzehnten nehmen die bayesianischen Ansätze eine zentrale Stellung in <strong>de</strong>r<br />

epistemologischen Diskussion ein. Mit Hilfe <strong>de</strong>r Wahrscheinlichkeitstheorie wird z. B. das<br />

Problem <strong>de</strong>r Induktion teilweise auf dasjenige <strong>de</strong>r Bestätigung zurückgeführt, in<strong>de</strong>m davon<br />

ausgegangen wird, dass eine bestimmte Hypothese durch das vorhan<strong>de</strong>ne Belegmaterial (über das<br />

diese Hypothese in analytischer und synthetischer Hinsicht hinausgeht) genau dann in<br />

signifikanter Weise gestützt und bestätigt wird, wenn <strong>de</strong>r Beleg die Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>r<br />

Hypothese erhöht.<br />

In bayesianischen Ansätzen wird jedoch nicht unmittelbar auf eine (im carnapschen Sinn<br />

“logische”) metastufliche Wahrscheinlichkeit von Hypothesen Bezug genommen. Im Mittelpunkt<br />

stehen statt <strong>de</strong>ssen die Propositionen 1 , die durch diese Hypothesen und Beobachtungssätze<br />

ausgedrückt wer<strong>de</strong>n. Demgemäß wird Wahrscheinlichkeit als das präzise Ausmaß von partiellen<br />

* Für ihre Kritik an einem früheren Versuch zum vorliegen<strong>de</strong>n Thema danke ich Martin Carrier und Wilhelm K.<br />

Essler. Unterstützt wur<strong>de</strong> ich vom Schweizerischen Nationalfonds zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Wissenschaftlichen Forschung.<br />

1 In Frauchiger 1999 plädiere ich für die Ersetzung neorussellscher Propositionen (Satzgehalte) durch<br />

Satzextensionen, d. h. durch mengentheoretisch irreduzible Sachverhalte, <strong>de</strong>ren I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>finierbar ist. - Im<br />

vorliegen<strong>de</strong>n Zusammenhang aber muss ich die Unterscheidung zwischen intensionalen Propositionen und<br />

extensionalen Sachverhalten dahingestellt sein lassen.


propositionalen Einstellungen aufgefasst, als die variieren<strong>de</strong> Intensität also, mit <strong>de</strong>r die<br />

betreffen<strong>de</strong>n Propositionen von unterschiedlichen Erkenntnissubjekten (bzw. rationalen<br />

Wissenschaftlern) geglaubt und als wahr angenommen wer<strong>de</strong>n. Es ist <strong>de</strong>mzufolge eine<br />

bayesianische Grundannahme, dass die Glaubensgra<strong>de</strong> rationaler Personen sich nach <strong>de</strong>n<br />

mathematischen Prinzipien <strong>de</strong>r Wahrscheinlichkeitstheorie richten müssen.<br />

Die älteste, bis heute noch weithin akzeptierte Begründung dieser bayesianischen<br />

Grundannahme geht auf Ramsey zurück, ihre klassische Form erhielt sie aber unabhängig davon<br />

durch <strong>de</strong> <strong>Finetti</strong> (1937). In dieser Begründung wer<strong>de</strong>n die wetttheoretischen Bedingungen<br />

festgesetzt, <strong>de</strong>nen die Glaubensgra<strong>de</strong> eines je<strong>de</strong>n rationalen Subjekts gehorchen müssen. Aus <strong>de</strong>r<br />

Anwendung <strong>de</strong>s Bayes’schen Entscheidungsprinzips (wonach ein vernünftiges Subjekt jeweils<br />

die Handlung mit <strong>de</strong>m maximalem Erwartungswert an subjektivem Nutzen wählt) auf<br />

Wettsituationen ergibt sich, dass <strong>de</strong>r Grad <strong>de</strong>s Glaubens einer Person an eine bestimmte<br />

Proposition mit <strong>de</strong>m maximalen Wettquotienten gleichgesetzt wer<strong>de</strong>n kann, zu <strong>de</strong>m die Person<br />

auf diese Proposition zu wetten bereit ist. 2 Als entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Rationalitätskriterium wird<br />

gefor<strong>de</strong>rt, dass keine Systeme von Wetten abgeschlossen wer<strong>de</strong>n dürfen, die unabhängig vom<br />

Ausgang <strong>de</strong>r einzelnen Wetten (in je<strong>de</strong>m Fall also) letztendlich zu einem Verlust für die<br />

betreffen<strong>de</strong> Person führen. Auf diese sog. Kohärenzfor<strong>de</strong>rung lassen sich die drei Grundaxiome<br />

<strong>de</strong>r Wahrscheinlichkeitsrechnung (die Kolmogoroff-Axiome) zurückführen, so dass für je<strong>de</strong><br />

Person, die in diesem wetttheoretischen Sinn als rational angesehen wer<strong>de</strong>n kann, gelten muss,<br />

dass ihr persönliches System von Glaubensgra<strong>de</strong>n die wahrscheinlichkeitstheoretischen<br />

Prinzipien erfüllt. 3<br />

Gemäß <strong>de</strong>r bayesianischen Grundannahme und ihrer wetttheoretischen Begründung gilt<br />

<strong>de</strong>mnach, dass die Glaubensgra<strong>de</strong> rationaler Personen u. a. das Bayes’sche Theorem erfüllen.<br />

2 An dieser Stelle zeigt sich <strong>de</strong>utlich, dass <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s objektstuflichen partiellen Glaubens an Propositionen nicht<br />

mit <strong>de</strong>m metastuflichen Begriff <strong>de</strong>r Hypothesenwahrscheinlichkeit zu vereinbaren ist. Nach <strong>de</strong> <strong>Finetti</strong> lassen sich<br />

sämtliche “echten” Wahrscheinlichkeiten als Glaubensgra<strong>de</strong> auffassen, die operational als maximale Wettquotienten<br />

bestimmbar sind. Im Unterschied zu Hintikka bestreitet <strong>de</strong> <strong>Finetti</strong> aber, dass sich Hypothesenwahrscheinlichkeit<br />

wetttheoretisch präzisieren und rechtfertigen lässt. Stegmüller verteidigt <strong>de</strong> <strong>Finetti</strong>s Position mit <strong>de</strong>m Argument, dass<br />

auf Gesetzeshypothesen nicht gewettet wer<strong>de</strong>n könne, da wegen ihrer prinzipiellen Unverifizierbarkeit <strong>de</strong>r Ausgang<br />

einer solchen Wette (mit positivem Einsatz) nicht ein<strong>de</strong>utig feststellbar wäre. Vgl. dazu Stegmüller 1971, 57f.<br />

3 Das Maß <strong>de</strong>s rationalen Glaubensgrads kann also (wie das übliche abstrakte Wahrscheinlichkeitsmaß) als eine<br />

reellwertige Funktion eingeführt wer<strong>de</strong>n, die für bestimmte Teilmengen eines gegebenen Möglichkeitsraums (für die<br />

Elemente eines Ereigniskörpers über <strong>de</strong>m betreffen<strong>de</strong>n Möglichkeitsraum) <strong>de</strong>finiert wird. Der späte Carnap hat En<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r 1960er Jahre <strong>de</strong> <strong>Finetti</strong>s Begründung <strong>de</strong>r bayesianischen Grundannahme übernommen und die subjektivistischpersonalistische<br />

Zurückführung <strong>de</strong>r Kolmogoroff-Axiome auf die wetttheoretische Kohärenzfor<strong>de</strong>rung in formaler<br />

Hinsicht ergänzt. Denn er weist nach, dass sich die mathematische Interpretation <strong>de</strong>r Wahrscheinlichkeitstheorie mit<br />

<strong>de</strong>r tarskischen Semantik und Mo<strong>de</strong>lltheorie verbin<strong>de</strong>n lässt (so dass z. B. <strong>de</strong>r umstrittene Propositionsbegriff<br />

mo<strong>de</strong>lltheoretisch ausge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n kann). Vgl. dazu Stegmüller 1971, 51-53.<br />

2


Hieraus ergibt sich die in Bezug auf das Problem <strong>de</strong>r Induktion zentrale These, dass sich <strong>de</strong>r Grad<br />

<strong>de</strong>s Glaubens rationaler Wissenschaftler an <strong>de</strong>n Inhalt einer bestimmten Hypothese durch die<br />

Ent<strong>de</strong>ckung eines Belegs, <strong>de</strong>r durch diese Hypothese impliziert wird, erhöht. Durch diese<br />

personalistische Aus<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Bayes’schen Theorems wird das methodologische Problem <strong>de</strong>r<br />

Bestätigung auf das doxastische Phänomen <strong>de</strong>r Zunahme <strong>de</strong>s Glaubensgrads von rationalen<br />

Erkenntnissubjekten zurückgeführt.<br />

Dieser personalistische Aspekt <strong>de</strong>r bayesianischen Bestätigungsanalyse - <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r<br />

Anwendung <strong>de</strong>s intentionalistischen Begriffs <strong>de</strong>s Glaubensgrads beruht - hat immer wie<strong>de</strong>r<br />

Anlass zu heftiger Kritik am Bayesianismus gegeben. Um die antisubjektivistische Stoßrichtung<br />

dieser Kritik nachvollziehen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass die bayesianische<br />

Berechnung <strong>de</strong>r Nachwahrscheinlichkeit einer gegebenen Hypothese (d. h. <strong>de</strong>s Ausmaßes <strong>de</strong>r<br />

Glaubwürdigkeit <strong>de</strong>s Gehalts dieser Hypothese) bei bestimmtem vorhan<strong>de</strong>nem Belegmaterial von<br />

<strong>de</strong>n Ausgangswahrscheinlichkeiten <strong>de</strong>r Hypothese abhängig ist. Diese<br />

Ausgangswahrscheinlichkeiten fungieren jedoch als weitgehend unbestimmte Faktoren, die nur<br />

durch die wahrscheinlichkeitstheoretischen Regeln eingeschränkt sind. Es lässt sich daher sagen,<br />

dass die Ausgangswahrscheinlichkeiten <strong>de</strong>n subjektiven Grad unserer anfänglichen<br />

Überzeugungen hinsichtlich <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Hypothese messen (wenigstens insoweit<br />

vorausgesetzt wer<strong>de</strong>n kann, dass unsere Überzeugungen gewissen Minimalbedingungen <strong>de</strong>r<br />

Rationalität genügen). Der metrische Ausgangswert einer gegebenen Hypothese (bzw. das<br />

Ausmaß <strong>de</strong>r Glaubwürdigkeit <strong>de</strong>r durch sie ausgedrückten Proposition) wird daher nach<br />

bayesianischer Auffassung unter minimalen wetttheoretischen Rationalitätsannahmen auf <strong>de</strong>r<br />

bloßen Grundlage komparativer Wahrscheinlichkeitsbeurteilungen einzelner vernünftiger<br />

Subjekte (d. h. kompetenter, maßgeben<strong>de</strong>r Wissenschaftler) ermittelt. Dadurch wer<strong>de</strong>n<br />

persönliche partielle Überzeugungen als zwar operational und quantitativ rekonstruierbare, aber<br />

letztlich doch irreduzible subjektive Elemente in die Analyse <strong>de</strong>s Bestätigungsbegriffs<br />

einbezogen. Darüber hinaus erweist sich am subjektiven Grad <strong>de</strong>s anfänglichen Fürwahrhaltens<br />

einer gegebenen Hypothese, dass mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>s rationalen Glaubensgrads zusätzlich zum<br />

semantischen Wahrheitsbegriff ein weiterer, auf einzelne kompetente Wissenschaftler (statt auf<br />

eine bestimmte Theoriesprache) relativierter subjektiver Wahrheitsbegriff eingeführt wird. Es<br />

lässt sich also mit Recht sagen, dass durch <strong>de</strong>n Bayesianismus subjektivistische o<strong>de</strong>r vielmehr<br />

individualpsychologische Gesichtspunkte in die Epistemologie eingeführt wer<strong>de</strong>n.<br />

3


Die irreduzible Subjektivität <strong>de</strong>r Intensität von Ausgangsüberzeugungen in Bezug auf <strong>de</strong>n<br />

Gehalt wissenschaftlicher Hypothesen führt jedoch erst dann zu einer psychologistischen<br />

Naturalisierung 4 <strong>de</strong>r Epistemologie, wenn die bayesianische Bestätigungstheorie zusätzlich zu<br />

ihrer ontologischen Verpflichtung auf subjektive Glaubensgra<strong>de</strong> einen <strong>de</strong>skriptiven Anspruch<br />

trägt. - Genau dies ist jedoch <strong>de</strong>r Fall, <strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>r bayesianischen Bestätigungsanalyse geht es bei<br />

<strong>de</strong>r empirischen Zuschreibung, Messung und Berechnung <strong>de</strong>r präzisen Glaubwürdigkeit <strong>de</strong>s<br />

Gehalts einer Hypothese vor und nach <strong>de</strong>m Eintreffen eines (mit gewisser Intensität) erwarteten<br />

Belegs v. a. um die Beschreibung <strong>de</strong>s Ausmaßes <strong>de</strong>r Verfestigung <strong>de</strong>r Ausgangsüberzeugungen<br />

maßgeblicher, vernünftiger Wissenschaftler bei <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung bestimmter Belege und mithin<br />

auch um die Beschreibung <strong>de</strong>s Ausmaßes <strong>de</strong>r Bestätigung von Hypothesen durch die<br />

eintreffen<strong>de</strong>n Belege. Derartige Beschreibungen wer<strong>de</strong>n von manchen Bayesianern zwar als<br />

I<strong>de</strong>alisierungen eingeschätzt, aber <strong>de</strong>nnoch für grundsätzlich richtig und sachlich angemessen<br />

gehalten. 5 - Da im Bayesianismus also unter Einbeziehung irreduzibler subjektiver Faktoren die<br />

Verfestigung und Bestätigung wissenschaftlicher Überzeugungen beschrieben und erklärt wird,<br />

muss die bayesianische Epistemologie als eine Art psychologistische Erklärungstheorie auf<br />

allgemeinster Stufe gewertet wer<strong>de</strong>n. Sie verwischt die Grenzen zwischen Erkenntnistheorie und<br />

Psychologie und führt damit zu einer Naturalisierung <strong>de</strong>r Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.<br />

Gegen <strong>de</strong>n Subjektivismusvorwurf und die darüber hinausgehen<strong>de</strong> Psychologismuskritik<br />

sind verschie<strong>de</strong>ne Gegenargumente vonseiten <strong>de</strong>r Bayesianer zu erwarten; diese Gegenargumente<br />

lassen sich voraussichtlich in zwei Gruppen einteilen: Erstens wird bestritten, dass <strong>de</strong>r<br />

Bayesianismus subjektivistisch ausge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n muss, und zweitens wird argumentiert, dass<br />

<strong>de</strong>r im Bayesianismus vorausgesetzte Personalismus so weit abgemil<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n kann, dass je<strong>de</strong><br />

Gefahr von Subjektivismus o<strong>de</strong>r Psychologismus in <strong>de</strong>r Epistemologie gebannt ist. Im folgen<strong>de</strong>n<br />

Abschnitt sollen einige dieser Gegenargumente kurz besprochen und entkräftet wer<strong>de</strong>n.<br />

2. Objektiver, subjektiver o<strong>de</strong>r psychologistischer Bayesianismus?<br />

4 Ich verstehe unter Psychologismus eine Spielart <strong>de</strong>s Naturalismus, und zwar einen weichen, d. h. methodologisch<br />

nichtszientistischen und ontologisch nichtreduktionistischen Naturalismus.<br />

5 Horwich (1992, 42f) z. B. hält die numerische Repräsentation von partiellem Glauben zwar für einen heuristischen<br />

Kunstgriff, aber die Annahme, dass es Gra<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Glaubens gibt, erachtet er für wahr. Er vertritt, dass die Vorstellung<br />

von rationalen Glaubensgra<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r Wahrscheinlichkeitsrechnung gehorchen, zwar eine I<strong>de</strong>alisierung sei, aber er<br />

betont auch, dass die betreffen<strong>de</strong> bayesianische Grundannahme viele zentrale epistemologische Probleme erhelle.<br />

Nach Horwichs Ansicht ermöglicht es <strong>de</strong>r Bayesianismus, wichtige epistemologische Fragen klar und <strong>de</strong>utlich<br />

darzustellen und befriedigend zu klären, ohne dass dadurch wesentlichen Einzelheiten außer Acht gelassen o<strong>de</strong>r<br />

durch unnötig realistische Details verdunkelt wür<strong>de</strong>n.<br />

4


Der latente Subjektivismus o<strong>de</strong>r Psychologismus, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r bayesianischen Epistemologie<br />

grundsätzlich droht und <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Anwendung <strong>de</strong>s numerischen Begriffs <strong>de</strong>s Glaubensgrads<br />

beruht, ist schon früh von einigen Bayesianern erkannt und einzudämmen versucht wor<strong>de</strong>n. In<br />

<strong>de</strong>n späten 1940er und frühen 50er Jahren versucht beispielsweise Carnap (1950/62) in einer<br />

bemerkenswerten Erweiterung <strong>de</strong>s Bayesianismus <strong>de</strong>n metastuflichen Begriff <strong>de</strong>r induktiven<br />

Hypothesenwahrscheinlichkeit zu entpsychologisieren, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n psychologischen Begriff <strong>de</strong>s<br />

bedingten rationalen Glaubensgrads (in Bezug auf Hypothesen) durch <strong>de</strong>n “objektiven”,<br />

metalogisch-semantischen Begriff <strong>de</strong>r partiellen, abgeschwächten logischen Folgerung ersetzt. 6<br />

Gegen Carnaps Um<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s metastuflichen Wahrscheinlichkeitsbegriffs sind allerdings<br />

mehrere entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Einwän<strong>de</strong> vorgebracht wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren wichtigster wohl <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong> ist:<br />

Durch seinen Begriff <strong>de</strong>r partiellen logischen Folgerung schließt Carnap das Bestehen jeglicher<br />

logischen Unabhängigkeit zwischen Sachverhalten aus. Logische Unabhängigkeit wird bei ihm<br />

durch logische Unverträglichkeit ersetzt, die selbst ein Spezialfall <strong>de</strong>r logischen Folge ist. Damit<br />

schafft Carnap eine quasi-spinozistische Welt, in <strong>de</strong>r es nur noch logische Abhängigkeiten<br />

zwischen Sachverhalten gibt. 7<br />

Aber auch heute gibt es weiterhin Bayesianer, die <strong>de</strong>n ausgeprägten Subjektivismus<br />

scheuen, <strong>de</strong>r über die weitgehend uneingeschränkten Ausgangswahrscheinlichkeiten von<br />

Hypothesen (bzw. über <strong>de</strong>n irreduzibel subjektiven Grad unserer anfänglichen Überzeugungen in<br />

Bezug auf Hypothesen) Eingang fin<strong>de</strong>t in die bayesianische Bestätigungsanalyse. Sie schlagen<br />

<strong>de</strong>shalb zusätzliche Prinzipien vor, <strong>de</strong>nen das System von Glaubensgra<strong>de</strong>n eines je<strong>de</strong>n rationalen<br />

Subjekts angeblich gehorcht, und die in <strong>de</strong>n angebrachten Fällen die<br />

Ausgangswahrscheinlichkeiten von Hypothesen ein<strong>de</strong>utig bestimmen. Ein häufig<br />

vorgeschlagenes, vermeintlich objektives Rationalitätskriterium, das eine einheitliche<br />

Zuschreibung von anfänglichen Glaubensgra<strong>de</strong>n bei vernünftigen Subjekten garantieren soll,<br />

betrifft die Einfachheit von Gesetzeshypothesen. - Dieser Vorschlag kann jedoch nicht<br />

überzeugen. Denn selbst wenn man von <strong>de</strong>r Mehr<strong>de</strong>utigkeit <strong>de</strong>s Einfachheitsbegriffs absieht, lässt<br />

sich nicht plausibel begrün<strong>de</strong>n, warum ein vernünftiges Subjekt jeweils die einfachere Hypothese<br />

für die anfänglich wahrscheinlichere halten sollte. 8<br />

6 Durch diesen Kunstgriff bemüht sich Carnap (u. a.), keine relevanten subjektiven Eigentümlichkeiten<br />

psychologischer Subjekte innerhalb <strong>de</strong>r induktiven Logik zuzulassen. Allerdings wird dieser antipsychologistische<br />

logische “Elitismus” dadurch relativiert, dass Carnap schließlich gezwungen ist, das I<strong>de</strong>al einer einzigen adäquaten<br />

induktiven Metho<strong>de</strong> aufzugeben und ein unendliches Kontinuum von solchen zuzulassen.<br />

7 Dieser Einwand fin<strong>de</strong>t sich in Stegmüller 1971, 44-50.<br />

8 Für ähnliche Einwän<strong>de</strong> siehe Howson 2000, 112 und Horwich 1992, 43.<br />

5


Eine weitere, naheliegen<strong>de</strong> bayesianische Strategie für die Abblockung o<strong>de</strong>r Abmil<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>s erhobenen Subjektivismusvorwurfs lässt sich anhand <strong>de</strong>s folgen<strong>de</strong>n naheliegen<strong>de</strong>n<br />

Gegenarguments ver<strong>de</strong>utlichen: Ein Bayesianer könnte <strong>de</strong>m Subjektivismusvorwurf<br />

entgegenhalten, dass es bei <strong>de</strong>r Ermittlung <strong>de</strong>s Bestätigungsgrads einer Hypothese (bzw. bei <strong>de</strong>r<br />

Zuschreibung und Berechnung <strong>de</strong>s Ausmaßes, mit <strong>de</strong>m die von ihr ausgedrückte Proposition vor<br />

und nach <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung eines erwarteten Belegs geglaubt wird) gar nicht auf <strong>de</strong>n Grad <strong>de</strong>s<br />

tatsächlichen Glaubens einzelner, beliebiger rationaler Personen ankomme; vielmehr gehe es<br />

dabei um die Intensität, mit <strong>de</strong>r, vor <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s jeweiligen Belegs, eine i<strong>de</strong>ale, für eine<br />

ganze Fachgemeinschaft repräsentative fiktive Figur an <strong>de</strong>n Gehalt <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Hypothese<br />

glauben wür<strong>de</strong>.<br />

Um diesen Vorschlag besser analysieren zu können, i<strong>de</strong>ntifizieren wir das Konstrukt <strong>de</strong>s<br />

abstrakten bayesianischen Individuums mit <strong>de</strong>r sozialen Gruppe, die es repräsentieren soll. Wenn<br />

wir soziale Gruppen sodann als eine Art höherer Individuen auffassen, in <strong>de</strong>nen mehrere konkrete<br />

Subjekte als Mitglie<strong>de</strong>r enthalten sind, so wird aus <strong>de</strong>r mysteriösen Überzeugung <strong>de</strong>s abstrakten<br />

(fiktiven) bayesianischen Erkenntnissubjekts schlicht die altvertraute Gruppenmeinung. - Solche<br />

Gruppenmeinungen wer<strong>de</strong>n jedoch an<strong>de</strong>rs zugeschrieben als subjektive Überzeugungen.<br />

Abstrahierend von <strong>de</strong>n idiosynkratischen Reaktionen <strong>de</strong>r einzelnen Mitglie<strong>de</strong>r kann z. B. über die<br />

Errechnung <strong>de</strong>s Mittelwerts <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen empirisch erhobenen individuellen<br />

Wahrscheinlichkeitsurteile eine abstrakte Bestätigungsfunktion bestimmt wer<strong>de</strong>n. Der<br />

Durchschnittswert, <strong>de</strong>n diese überindividuelle Wahrscheinlichkeitsfunktion für Hypothesen (und<br />

Belege) liefert, kann sodann als Glaubensgrad eines abstrakten bayesianischen Individuums<br />

ausgezeichnet wer<strong>de</strong>n (bzw. als Glaubensgrad <strong>de</strong>r Fachgemeinschaft, die es verkörpert). In <strong>de</strong>r<br />

Sozialpsychologie wird natürlich eine weit differenziertere und zweifellos empirisch fruchtbarere<br />

Gruppentheorie entwickelt. So wird etwa <strong>de</strong>r Umstand berücksichtigt, dass Einzelpersonen in<br />

ihrem privaten Umkreis oft an<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>nken, also teilweise an<strong>de</strong>re Überzeugungen haben, als<br />

während <strong>de</strong>r statusbewussten Ausübung ihrer Funktion als Mitglie<strong>de</strong>r einer Berufsgruppe (wie z.<br />

B. einer wissenschaftlichen Fachgemeinschaft). Es ist also überhaupt nur unter Anwendung<br />

zusätzlicher gruppenpsychologischer Kriterien möglich, die für die Gruppenmeinung relevanten<br />

Verteilungen <strong>de</strong>r subjektiven Überzeugungen zu eruieren und die gesuchten Mittelwerte zu<br />

errechnen. Darüber hinaus wird die in einer Gruppe vorherrschen<strong>de</strong> Meinung ohnehin kaum je<br />

als Ergebnis einer Durschnittsten<strong>de</strong>nz angesehen, son<strong>de</strong>rn meist als <strong>de</strong>r sich abzeichnen<strong>de</strong><br />

Schnittpunkt einer generellen Annäherung von subjektiven Meinungen: Individuelle<br />

6


Einstellungen, wie z. B. <strong>de</strong>r Glauben an gewisse Sachverhalte mit einer bestimmten Intensität,<br />

entstammen oft nicht eigenen Erfahrungen, son<strong>de</strong>rn sind von an<strong>de</strong>ren, vorbildlichen Mitglie<strong>de</strong>rn<br />

<strong>de</strong>r Gruppe übernommen o<strong>de</strong>r beeinflusst. Zusätzlich führt die Konsultation <strong>de</strong>rselben<br />

Fachmedien zur weiteren Vereinheitlichung von Meinungen. Der Annäherungsprozess führt in<br />

wissenschaftlichen Fachgemeinschaften dazu, dass die Akzeptanz bestimmter Hypothesen <strong>de</strong>rart<br />

gefestigt wird, dass sie kaum mehr ernsthaft durch neue eigene o<strong>de</strong>r kollektive Erfahrungen<br />

überprüft wer<strong>de</strong>n. Auf solche Weisen entsteht ein sogenanntes Gruppen<strong>de</strong>nken (“group think”),<br />

das auch von außen kaum mehr verän<strong>de</strong>rbar ist.<br />

Aber abgesehen davon, wie genau - technisch gesehen - die Gruppenmeinung skaliert<br />

wird, ob als Mittelwert o<strong>de</strong>r als Grenzwert konvergieren<strong>de</strong>r subjektiver Überzeugungen, <strong>de</strong>r<br />

Begriff <strong>de</strong>s sozialen Glaubensgrads muss je<strong>de</strong>nfalls mit Hilfe <strong>de</strong>s subjektiven Glaubensgrads<br />

bestimmt wer<strong>de</strong>n. Ähnlich wie Gruppen über ihre Mitglie<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>ren Verhältnisse zueinan<strong>de</strong>r<br />

i<strong>de</strong>ntifiziert wer<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n Gruppenmeinungen über die Analyse <strong>de</strong>r Überzeugungen ihrer<br />

Mitglie<strong>de</strong>r ermittelt. - Im Hinblick auf die externe, antipsychologistische Kritik am<br />

Bayesianismus macht es <strong>de</strong>mnach keinen wesentlichen Unterschied, ob man sich in einer<br />

Bestätigungstheorie auf die persönlichkeitspsychologisch ergrün<strong>de</strong>ten subjektiven<br />

Überzeugungsgra<strong>de</strong> einzelner Mitglie<strong>de</strong>r konzentriert, o<strong>de</strong>r ob man darüber hinaus eine<br />

sozialpsychologisch erhobene, <strong>de</strong>n vorherrschen<strong>de</strong>n “Geist” <strong>de</strong>r Fachgemeinschaft erfassen<strong>de</strong>,<br />

präzise Gruppenmeinung ermittelt. Denn die Glaubensgra<strong>de</strong> <strong>de</strong>s reifizierten “Gruppen-Ichs”<br />

einer gegebenen Fachgemeinschaft sind genauso sehr Gegenstand einer <strong>de</strong>skriptivpsychologistischen<br />

Epistemologie wie die Glaubensgra<strong>de</strong> einzelner konkreter Subjekte. -<br />

Entschei<strong>de</strong>nd ist letztlich bloß, dass in <strong>de</strong>r naturalisierten bayesianischen Epistemologie die<br />

empirisch-psychologische Zuschreibung und Ermittlung <strong>de</strong>r in einer Fachgemeinschaft<br />

tatsächlich bestehen<strong>de</strong>n (subjektiven o<strong>de</strong>r überindividuellen) Überzeugungen bei <strong>de</strong>r Klärung <strong>de</strong>s<br />

Gra<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Bestätigung von wissenschaftlichen Hypothesen im Vor<strong>de</strong>rgrund steht. 9<br />

3. Literatur<br />

- Carnap, R. 1950/1962 Logical Foundations of Probability, Chicago: University of Chicago<br />

Press. (1. Aufl. 1950, 2. erw. Aufl. 1962.)<br />

9 Dabei ist es unerheblich, dass nur jene tatsächlichen Systeme von Glaubensgra<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r<br />

Hypothesenbestätigung berücksichtigt wer<strong>de</strong>n können, die die oben erwähnten Minimalbedingungen <strong>de</strong>r Rationalität<br />

erfüllen.<br />

7


- De <strong>Finetti</strong>, B. 1937 “Foresight: its logical laws, its subjective sources”, in H. E. Kyburg und H.<br />

E. Smokler (Hg.), Studies in Subjective Probability, New York: Wiley, 1964, 93-159.<br />

(Erstabdruck <strong>de</strong>s französischen Originals: 1937.)<br />

- Frauchiger, M. 1999 “Zur philosophischen Semantik und Ontologie von Sätzen”, Contributions<br />

of the Austrian Ludwig Wittgenstein Society VII/1, 203-210.<br />

- Horwich, P. 1992 “Bayesianism”, in J. Dancy und E. Sosa (Hg.), A Companion to epistemology,<br />

Oxford, Mal<strong>de</strong>n: Blackwell, 40-44.<br />

- Howson, C. 2000 “Evi<strong>de</strong>nce and Confirmation”, in W. H. Newton-Smith (Hg.), A Companion<br />

to the Philosophy of Science, Mal<strong>de</strong>n, Oxford: Blackwell, 108-116.<br />

- Stegmüller, Wolfgang 1971 Das Problem <strong>de</strong>r Induktion: Humes Herausfor<strong>de</strong>rung und mo<strong>de</strong>rne<br />

Antworten, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986. (Erstabdruck: 1971.)<br />

8

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