Die Schachnovelle, Text - Scelva
Die Schachnovelle, Text - Scelva
Die Schachnovelle, Text - Scelva
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
5<br />
10<br />
Ich schob das Buch hinter meinen Rücken unter die Hose, an die Stelle wo sie der Gürtel hielt....<br />
Glücklicherweise fiel das Verhör diesmal kurz aus, und ich brachte das Buch heil 1 in mein Zimmer.<br />
Nun vermuten sie wahrscheinlich, ich hätte sofort das Buch gepackt, betrachtet, gelesen. Keineswegs!<br />
Erst wollte ich die Vorlust auskosten, dass ich ein Buch bei mir hatte. ...<br />
Ich wünschte mir, es sollte ein Buch sein, das mich geistig anstrengte, nichts Flaches 2 , nichts Leichtes,<br />
sondern etwas, das man auswendig lernen konnte, Gedichte, und am besten ... Goethe oder Homer. Aber<br />
schließlich konnte ich meine Gier, meine Neugier nicht länger verhalten. Hingestreckt auf das Bett, so<br />
dass der Wärter, wenn er plötzlich die Tür aufmachen sollte, mich nicht ertappen könnte, zog ich zitternd<br />
unter dem Gürtel das Buch heraus.<br />
Der erste Blick war eine Enttäuschung und sogar eine Art erbitterter 3 Ärger: dieses mit so ungeheurer 4<br />
Gefahr erbeutete 5 , mit so glühender Erwartung aufgesparte Buch war nichts anderes als ein<br />
Schachrepetitorium, eine Sammlung von hundertfünfzig Meisterpartien.<br />
15<br />
20<br />
25<br />
VI. ____________________________________________<br />
Wäre ich nicht verriegelt, verschlossen gewesen, ich hätte im ersten Zorn das Buch durch ein offenes<br />
Fenster geworfen, denn was sollte ich mit diesem Nonsens anfangen? Schach kann man doch nicht<br />
spielen ohne einen Partner und schon gar nicht ohne Figuren, ohne Brett. Verdrossen blätterte ich die<br />
Seiten durch. Ich fand nichts als die nackten quadratischen Schemata der einzelnen Meisterpartien und<br />
darunter mir zunächst unverständliche Zeichen, A1 – A2, Sf1 – G3 und so weiter.... Allmählich<br />
enträtselte 6 ich, dass die Buchstaben A, B, C für die Längsreihen, die Zahlen für die Querreihen<br />
eingesetzt waren und den jeweiligen Stand der einzelnen Figur bestimmten.... Dann begann ich aus<br />
kleinen Brotkrümeln 7 die Figuren des Schachs zurechtzumodeln. Ich konnte schließlich auf dem karierten<br />
Betttuch die im Buch abgebildete Position rekonstruieren und versuchte, die erste Partie nachzuspielen.<br />
Ich verwirrte mich in den ersten Tagen unablässig; fünfmal, zehnmal, zwanzigmal musste ich diese Partie<br />
immer wieder von Anfang beginnen. Nach sechs Tagen spielte ich die Partie tadellos 8 zu Ende, nach<br />
weiteren acht Tagen brauchte ich nicht einmal die Krümel auf dem Betttuch, um mir die Position zu<br />
vergegenständlichen 9 und nach weiteren acht Tagen wurde auch das karierte Betttuch entbehrlich 10 .<br />
Automatisch verwandelten sich die abstrakten Zeichen zu visuellen, plastischen Positionen. Nach<br />
weiteren vierzehn Tagen war ich im Stande, jede Partie aus dem Buch auswendig nachzuspielen. ...<br />
1 heil = indemne<br />
2 flach = ici. simple<br />
3 erbittert = aigri<br />
4 ungeheuer = groß<br />
5 erbeuten = capturer, prendre (à l’ennemi)<br />
6 enträtseln = deviner<br />
7 der Krümel, - = la miette<br />
8 tadellos = ohne Problem<br />
9 vergegenständlichen = se représenter qc<br />
10 entbehrlich = superflu<br />
10