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Die Schachnovelle, Text - Scelva

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Ich besaß mit den hundertfünfzig Turnierpartien eine wunderbare Waffe gegen die erdrückende<br />

Monotonie des Raumes und der Zeit. ... Ich war beschäftigt, ohne mich zu ermüden.<br />

Ich lernte die Feinheiten, Tücken und Schärfen in Angriff und Verteidigung und erkannte bald die<br />

persönliche Note jedes einzelnen Schachmeisters.<br />

Was als bloß zeitfüllende Beschäftigung begonnen, wurde Genuss 1 . Ich empfand mein Gehirn<br />

aufgefrischt und durch die ständige Denkdisziplin sogar gleichsam neu geschliffen 2 . ...Von diesem<br />

Zeitpunkt an gab ich mir bei den Vernehmungen keine Blöße mehr und mir dünkte 3 sogar, dass die<br />

Gestapoleute mich mit einem gewissen Respekt zu betrachten begannen.<br />

<strong>Die</strong>se Glückszeit dauerte etwa zweieinhalb bis drei Monate. Plötzlich stand ich neuerdings vor dem<br />

Nichts. Denn sobald ich jede einzelne Partie zwanzig- oder dreißigmal durchgespielt hatte, verlor sie den<br />

Reiz 4 der Neuheit. Welchen Sinn hatte es, nochmals und nochmals Partein zu wiederholen, die ich Zug<br />

um Zug längst auswendig kannte?<br />

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VII. ______________________________________<br />

Ich musste mir statt der alten Partien neue erfinden. Ich musste versuchen, mit mir selbst oder vielmehr<br />

gegen mich selbst zu spielen.<br />

Aber schon die flüchtigste Überlegung dürfte ausreichen, um klarzumachen, dass beim Schach es<br />

logischerweise eine Absurdität bedeutet, gegen sich selbst zu spielen. Das Attraktive des Schachs beruht<br />

darauf, dass sich seine Strategie in zwei Gehirnen verschieden entwickelt. Dass Schwarz die jeweiligen<br />

Manöver von Weiß nicht kennt, während wiederum Weiß die geheimen Absichten von Schwarz zu<br />

parieren strebt. Bildeten nun Schwarz und Weiß ein und dieselbe Person, so ergäbe sich der widersinnige<br />

Zustand, dass ein und dasselbe Gehirn gleichzeitig etwas wissen und doch nicht wissen sollte. Ein solches<br />

Doppeldenken setzt eigentlich eine vollkommene Spaltung 5 des Bewusstseins 6 voraus.<br />

Aber ich hatte keine Wahl als diesen Widersinn 7 . Ich war durch meine Situation gezwungen, diese<br />

Spaltung in ein Ich Schwarz und ein Ich Weiß zu versuchen.<br />

Ich musste versuchen, bei diesem Spiel im abstrakten Raum der Fantasie als Spieler Weiß vier oder fünf<br />

Züge im voraus zu berechnen und ebenso als Spieler Schwarz, also gewissermaßen mit zwei Gehirnen<br />

vorauszukombinieren, mit dem Gehirn Weiß und dem Gehirn Schwarz. ... Jedes meiner beiden Ich<br />

triumphierte, wenn das andere einen Fehler machte und erbitterte sich gleichzeitig über sein eigenes<br />

Ungeschick. ...<br />

1 der Genuss, ¨sse = le plaisir<br />

2 schleifen (ei, i, i) = aiguiser, affûter<br />

3 mir / mich dünkt = il me paraît<br />

4 der Reiz, -e = l’attrait<br />

5 die Spaltung, -en = la division, (ici : psych. = le dédoublement)<br />

6 das Bewußtsein = la conscience<br />

7 der Widersinn = l’absurdité<br />

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