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Die Schachnovelle, Text - Scelva

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Hier war nichts, was mich ablenken konnte von meinen Gedanken, von meinem krankhaften<br />

Rekapitulieren. Und gerade das wollten sie.<br />

Ich sollte an meiner Einsamkeit und meinen Gedanken leiden, bis ich alles sagen würde und andere<br />

Menschen verraten würde. ...<br />

V. _____________________________________<br />

<strong>Die</strong>ser Zustand dauerte vier Monate. Keinem kann man erklären, wie es einen zerfrisst 1 und zerstört,<br />

dieses Nichts und Nichts und Nichts um einen, dieses immer nur Tisch und Bett und Waschschüssel und<br />

Tapete und das Schweigen und immer dieselben Gedanken. Ich spürte, wie meine Kraft nachließ. Ich<br />

spürte, immer näher kam der Augenblick, wo ich, um mich zu retten, alles sagen würde.<br />

In dieser äußersten Not ereignete sich nun etwas Unvorhergesehenes, was Rettung bot.<br />

Es war Ende Juli. Im Vorzimmer des Untersuchungsrichters musste ich warten. Auch dieses Warten<br />

gehörte zur Technik. Man ließ mich besonders lange warten. Zwei Stunden wartete ich schon stehend und<br />

sah mir das Zimmer genau an.<br />

Plötzlich blieb mein Blick starr an etwas haften. Ich hatte entdeckt, dass an einem der Mäntel die<br />

Seitentasche etwas aufgebauscht 2 war. Ich trat näher heran und glaubtean der rechteckigen Form der<br />

Ausbuchtung 3 zu erkennen, was diese tasche in sich bar: ein Buch! Mir begannen die Knie zu zittern: ein<br />

BUCH! Vier Monate lang hatte ich kein Buch in der Hand gehabt, und schon die bloße Vorstellung eines<br />

Buches, in dem man aneinander gereihte Worte sehen konnte, Zeilen, Seiten, Blätter eines Buches, aus<br />

dem man andere, neue, fremde, ablenkende 4 Gedanken lesen, verfolgen, sich ins Hirn nehmen könnte,<br />

hatte etwas Berauschendes 5 . Hypnotisiert starrten meine Augen auf die kleine Wölbung 6 , die jenes Buch<br />

innerhalb der Tasche formte. Schliesslich konnte ich meine Gier 7 nicht verhalten; unwillkürlich schob ich<br />

mich näher heran. Schon der Gedanke, ein Buch durch den Stoff mit den Händen wenigstens antasten zu<br />

können, machte mir die Nerven in den Fingern bis zu den Nägeln glühen 8 . Fast ohne es zu wissen,<br />

drückte ich mich immer näher heran; ... Und wie ein Schuss 9 durchzuckte mich der Gedanke: stiehl dir<br />

das Buch! Vielleicht gelingt es und du kannst dir’s in der Zelle verstecken und dann lesen, lesen, endlich<br />

wieder einmal lesen! Der Gedanke wirkt wie starkes Gift....<br />

Und dann: ein Griff, ein leichter vorsichtiger Zug und plötzlich hatte ich das kleine Buch in der Hand.<br />

Jedoch wohin damit?<br />

1 zerfressen = ronger<br />

2 aufgebauscht = bouffant<br />

3 die Ausbuchtung, en = le bombement<br />

4 ablenkend = ici : divertissand<br />

5 berauschend = enivrant<br />

6 dei Wölbung, en = la bosse<br />

7 die Gier = le désir avide<br />

8 glühen = brüler<br />

9 der Schuss, ¨sse = le coup de feu<br />

9

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