Die Schachnovelle, Text - Scelva
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Czentovic zögerte lange, ehe er den ersten Zug tat. Offenbar hatte der geschulte Taktiker schon<br />
herausgefunden, dass er gerade durch seine Langsamkeit den Gegner ermüdete und irritierte.<br />
Alle Symptome einer anomalen Erregung 1 zeichneten sich deutlich ab.<br />
Als beim vierten Zug Czentovic wieder endlos überlegte, verließ ihn die Haltung, und er fauchte ihn<br />
plötzlich an 2 :<br />
“So spielen sie doch schon endlich einmal!”<br />
Czentovic blickte kühl auf:”Wir haben meines Wissens zehn Minuten Zugzeit vereinbart. Ich spiele<br />
prinzipiell nicht mit kürzerer Zeit.” ...Dr. B. wurde immer nervöser.<br />
Czentovic schwieg. Erst nach sieben Minuten tat er den nächsten Zug. Er versteinerte gleichsam immer<br />
mehr. Schließlich schaltete er immer das Maximum der vereinbarten Überlegungspause ein, ehe er sich<br />
zum Zug entschloss, und das Benehmen 3 unseres Freundes wurde immer sonderbarer.<br />
Es hatte den Anschein, als ob er an der Partie gar keinen Anteil mehr nehme, sondern mit etwas ganz<br />
anderem beschäftigt sei. Mit einem stieren, fast irren Blick ins Leere vor sich starrend, murmelte er<br />
ununterbrochen unverständliche Worte. Entweder verlor er sich in endlosen Kombinationen, oder er<br />
erarbeitete – dies war mein innerster Verdacht 4 – sich ganz andere Partien aus, denn jedesmal, wenn<br />
Czentovic endlich gezogen hatte, musste man ihn aus seiner Geistesabwesenheit zurückholen. Dann<br />
brauchte er immer einige Minuten, um sich in der Situation wieder zurechtzufinden. Immer mehr<br />
beschlich mich der Verdacht, er habe Czentovic und uns alle längst vergessen in dieser kalten Form des<br />
Wahnsinns 5 .<br />
Und tatsächlich, bei dem neunzehnten Zug brach die Krise aus.<br />
Kaum hatte Czentovic seine Figur bewegt, stieß Dr. B. plötzlich, ohne auf das Feld zu blicken, seinen<br />
Läufer drei Felder vor und schrie laut:”Schach! Schach dem König!”<br />
Wir blickten alle auf das Brett. Czentovic hob ganz, ganz langsam den Kopf und blickte in unserem Kreis<br />
von einem zum andern. Er schien irgend etwas zu genießen 6 , denn auf seinen Lippen war ein zufriedenes<br />
und deutlich höhnisches Lächeln.<br />
“Bedaure 7 – aber ich sehe kein Schach. Sieht vielleicht einer von den Herren ein Schach gegen meinen<br />
König?”<br />
Wir blickten auf das Brett und dann beunruhigt zu Dr. B.. Czentovics König war tatsächlich – ein Kind<br />
konnte das erkennen – durch einen Bauern gedeckt 8 , also war ein Schach dem König nicht möglich.<br />
1 die Erregung, -en = l’excitation<br />
2 an/fauchen = brusquer<br />
3 das Benehmen = le comportement<br />
4 der Verdacht = le soupçon<br />
5 der Wahnsinn = la folie<br />
6 genießen (ie, o, o) = savourer<br />
7 bedauern = regretter<br />
8 gedeckt = ici : couvert, protégé<br />
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