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Die Schachnovelle, Text - Scelva

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Kaum hatte mein Ich Weiß einen Zug getan, stieß schon mein Ich Schwarz fiebrig 1 vor.<br />

Kaum war die Partie beendet, so forderte ich mich schon zur nächsten heraus, denn jedesmal war doch<br />

eines der beiden Schach-Ich von dem anderen besiegt und verlangte Revanche.<br />

Von morges bis abends dachte ich an nichts als an Läufer und Bauern und Turm und König und A und B<br />

und C und Matt und Rochade. Ich konnte nur Schach denken. Sogar im Schlaf spielte ich unbewusst<br />

weiter. Ich konnte schließlich nicht mehr stillsitzen. Ununterbrochen ging ich, während ich die Partien<br />

überlegte, auf und ab, immer schneller und schneller und schneller auf und ab, auf und ab. Ich begann<br />

mich zu beschimpfen 2 – “schneller, schneller!” oder “vorwärts, vorwärts!”, wenn das eine Ich nicht<br />

schnell genug ripostierte.<br />

Heute bin ich mir im klaren, dass dieser Zustand eine pathologische Form geistiger Überreizung 3 war, für<br />

die ich keinen anderen Namen finde, als den medizinisch unbekannten: eine Schachvergiftung 4 .<br />

Schließlich begann diese monomanische Besessenheit 5 nicht nur mein Gehirn, sondern auch meinen<br />

Körper zu attackieren. Ich magerte ab 6 , ich schlief unruhig. Manchmal fühlte ich mich derart schwach,<br />

dass ich ein Trinkglas nur mit Mühe 7 bis zu den Lippen brachte. Aber kaum, dass das Spiel begann,<br />

überkam mich eine wilde Kraft: ich lief auf und ab und wie durch einen Nebel hörte ich manchmal meine<br />

eigene Stimme, wie sie heiser und böse “Schach” oder “Matt!” sich selber zuschrie.<br />

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VIII. ________________________________________<br />

Eines Morgens wachte ich auf und es war ein anderes Erwachen als sonst. Ich schlug langsam die Lider 8<br />

auf. Und Wunder: es war ein anderes Zimmer, in dem ich mich befand. Ein ungegittertes Fenster ließ<br />

freies Licht herein und einen Blick auf Bäume – wahrhaftig, ich lag in einem neuen, fremden Bett. Eine<br />

Frau kam heran, eine Frau mit weißer Haube 9 über dem Haar, eine Pflegerin, eine Schwester... Ich befand<br />

mich in einem Hospital. Mittags kam der Arzt. “Sonderbar”, murmelte er. “Im Fieber haben Sie immer so<br />

sonderbare Formeln geschrien – C3, C4.”<br />

Ich erkundigte mich, was mit mir vorgegangen sei. Er lächelte merkwürdig. “Eine akute Irritation der<br />

Nerven. ... Kein Wunder bei dieser Methode.” Zwei Tage später erklärte mir der Doktor, was vorgefallen<br />

war. Der Wärter hatte mich in meiner Zelle laut schreien gehört. Kaum hatte er sich an der Tür gezeigt,<br />

hatte ich mich auf ihn gestürzt und ihn mit wilden Ausrufen angeschrien, die ähnlich klangen wie:<br />

1 das Fieber = la fievre<br />

2 beschimpfen = insulter<br />

3 die Überreizung = surexitation<br />

4 die Vergiftung = l’empoisonnement<br />

5 besessen sein von = être possédé<br />

6 abmagern = maigrir<br />

7 mit Mühe = avec peine<br />

8 das Lid, -er = la paupière<br />

9 die Haube, -n = la coiffe<br />

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