Entwicklungsperspektive: Die Bandengesellschaft - Christian Reder
Entwicklungsperspektive: Die Bandengesellschaft - Christian Reder
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Wolfgang Müller-Funk (Hg.):<br />
<strong>Die</strong> berechnende Vernunft.<br />
Über das Ökonomische in allen Lebenslagen.<br />
Picus Verlag, Wien 1993<br />
Weitere Beiträge von Peter Rosner, Jean David Roulet, Georg Kohler, Willem van Reijen,<br />
Lorenz Schulz, Boris Groys, Wolfgang Müller-Funk, Horst Gerhard Haberl, Rolf Schwendter,<br />
Edith Saurer, Peter Strasser, Norbert Bolz, Jochen Hörisch, Peter Pörtner, Frithjof Hager<br />
<strong>Christian</strong> <strong>Reder</strong><br />
<strong>Entwicklungsperspektive</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Bandengesellschaft</strong><br />
Atavistische Strukturen für Ökonomisches und Emotionelles<br />
Something is always happening<br />
John Cage 1<br />
Jede Vorstellung von einem normalen<br />
Funktionieren ist verlorengegangen<br />
Jean Baudrillard 2<br />
Von den Erfolgsgeheimnissen einer weltweit agierenden, bewußt<br />
undurchsichtig verschachtelten Unternehmensgruppe, ist in letzter Zeit immer<br />
mehr bekannt geworden, weil sie in den Blickpunkt öffentlichen Interesses<br />
gerückt ist und sich diverse Insider, bedrängt von hartnäckigen Analytikern, nicht<br />
mehr an gewohnte Loyalitäten halten. Vieles, was da offen gelegt wird,<br />
entspricht durchaus einer geläufigen, eher antiquiert wirkenden Logik der Macht;<br />
die innere Ordnung ist relativ simpel, wird aber sehr wichtig genommen. Alles<br />
konzentriert sich auf einige wenige, allerdings streng einzuhaltende Regeln und<br />
auf konsequente Sanktionsmechanismen. Kompetenzen und<br />
Entscheidungsebenen sind präzise festgelegt. Anfallende Arbeiten werden von<br />
überschaubaren, ziemlich selbständig handelnden Gruppen übernommen. Ihr<br />
Wettbewerb untereinander bildet die dynamische Komponente, manchmal führt<br />
er zu Machtverschiebungen, wirklich destruktiv wird er angesichts der Stärke der<br />
Gesamtorganisation eigentlich nie. Es werden grundsätzlich nur freie Mitarbeiter<br />
mit anderen Hauptberufen beschäftigt, damit breite Erfahrungen aus<br />
unterschiedlichsten Arbeitsfeldern und ein verzweigtes Informationssystem<br />
verfügbar sind. Ein hochentwickeltes firmeninternes Sozialnetz sichert jedem<br />
eine lebenslange Versorgung. Geschenke haben, als Zeichen von Respekt und<br />
gegenseitiger Verpflichtung, einen hohen Stellenwert. Von einem<br />
Personalmangel ist nie etwas bekannt geworden. Gefordert wird unbedingte<br />
Verläßlichkeit. Auffallendes Verhalten, sei es bezüglich Bekleidung, Sexualität<br />
1
oder politischer Einstellung, wird nicht gern gesehen, weil es einen<br />
Unsicherheitsfaktor darstellen könnte. Gefühle zu zeigen gilt als Schwäche. Um<br />
die Angelegenheiten anderer braucht sich keiner zu kümmern; schon gar nicht<br />
um jene des geringgeschätzten Staates. Was zählt, ist die eigene, gemeinsame<br />
Sache. Der Zusammenhalt basiert also auf einem nach innen gerichteten<br />
Konservativismus; Familie, Frau, Kinder, Kirche und Einsatzbereitschaft sind<br />
zugehörige dominante Begriffe. Das schließt eine Anpassungsfähigkeit<br />
keineswegs aus, im Gegenteil. Auf gesellschaftliche Entwicklungen wird trotz<br />
solcher Traditionen sehr flexibel reagiert. <strong>Die</strong> Methoden sind immer extrem<br />
pragmatisch, in geschäftlichen Dingen ist die Wahl des kürzesten und billigsten<br />
Weges oberste Handlungsmaxime. Erfolge zählen um so eher, wenn sie, sobald<br />
der geeignete Augenblick da ist, auf möglichst einfache, unmittelbare Weise<br />
erreicht werden. Insgesamt könnten also in diesen, auch anderswo<br />
fragmentarisch anzutreffenden Organisationsprinzipien, bloße Übersteigerungen<br />
üblicher Werte und Verhaltensweisen gesehen werden, mit starker ästhetischer<br />
Komponente; denn jedem Akteur sollte etwas selbstverständlich sein: „Alles ist<br />
eine Frage des Stils."<br />
Radikalisierung des Normalfalls<br />
Der Stil, von dem die Rede ist, ist jener der sizilianischen Mafia, der Cosa<br />
Nostra, wie ihn Giovanni Falcone, der am 23. Mai 1992 mit seiner Frau und drei<br />
Leibwächtern ermordete Richter, in dessen unverfänglicheren<br />
Zusammenhängen beschrieben hat. 3 Er ist inzwischen zur Symbolfigur der<br />
breiten, landläufige Formen einer Staatskrise radikalisierenden Anti-Mafia-<br />
Bewegung geworden. Ihm zufolge beantwortet die provozierte Gegenmacht<br />
öffentlichen Druck mit Strategien, sich noch unangreifbarer zu machen. Das<br />
ehemals Charakteristische, wie die latente Mordbereitschaft, das Eintreiben von<br />
Schutzgeldern oder brutale Erpressungen, habe mit zunehmendem Vordringen<br />
in legale Wirtschaftsbereiche an Bedeutung verloren. Kriminelle Energien<br />
bleiben - wie anderswo auch - als Potential gespeichert, als Drohung und<br />
Absicherung von Macht; ihre Anwendung wird zunehmend zum bloßen Zeichen,<br />
das solche Erinnerungen wachhalten soll. In bezug auf Codes ist die Mafia-<br />
Kultur übrigens besonders hochentwickelt; „man muß wissen, daß alles<br />
Botschaft ist," berichtet Falcone; „die Deutung der Zeichen, Gesten, Botschaften<br />
gehört zu den Hauptbeschäftigungen der Ehrenmänner". Angesichts der<br />
enormen verfügbaren Kapitalien ist zwangsläufig das Interesse gewachsen, sich<br />
auf scheinbar saubere Geschäfte zu konzentrieren. Exzessiv zugenommen habe<br />
die „Verpestung der legalen Wirtschaft". Um diesen Kurs abzusichern, sind<br />
ertragreiche aber neuralgische Sparten vielfach in den Privatbereich von Mafia-<br />
2
Mitgliedern ausgelagert worden (insbesonders der Drogen- und Waffenhandel).<br />
Auch ein solcher Staat im Staat folgt also den üblichen<br />
Privatisierungsbemühungen, vor allem, um die obere Hierarchie noch besser<br />
von einer Strafverfolgung abzuschirmen. Neu hinzugekommen ist der Betrug mit<br />
EU-Fördermitteln. Ähnlichkeiten mit der „normalen" Gesellschaft nehmen also<br />
eher zu. Analoge, bloß diffus unterscheidbare Interessen gibt es, vielfach<br />
verwoben, vice versa. Denn die Mafia existiert weiterhin „in vollkommener<br />
Symbiose auf dem Nährboden der Massen von Protektoren, Komplizen,<br />
Informanten, Schuldnern aller Art, großen und kleinen Erpressern, von<br />
Eingeschüchterten oder Geprellten, die in allen Schichten der Gesellschaft zu<br />
finden sind". Mit ihrem Gesetz des Schweigens (omertá ), des Gehorsams, mit<br />
der Unerbittlichkeit gegen jeden Denunzianten (den pentito ), der gegenseitigen<br />
Unterstützung und der geheimen Zugehörigkeit kann sie Überlegenheiten<br />
ausspielen, von denen in anderen Organisationen offenbar viele träumen. Selbst<br />
Giovanni Falcone findet zu durchaus respektvollen Formulierungen: „Manchmal<br />
scheint es mir, als wären diese Mafiosi die einzigen rational denkenden Wesen<br />
dieser Welt voll Verrückter." „Warum müssen sich Menschen, die ganz<br />
offensichtlich über enorme intellektuelle Fähigkeiten verfügen, eine kriminelle<br />
Welt aufbauen, um in Würde leben zu können?" Andererseits betont er<br />
insistierend, daß es in einer Gesellschaft nicht zwei Rechtsordnungen geben<br />
dürfe, als den ihm einzig möglichen, letztlich auf das Gewaltmonopol des<br />
Staates pochenden Standpunkt, dem die „ironische Abgeklärtheit (...), mit der<br />
die Mafia die Dinge betrachtet," gegenübersteht.<br />
Ähnlich abgeklärt werden Informationen über andere vorkommende Arten von<br />
Bandenbildung öffentlich behandelt. <strong>Die</strong> dabei angewandte Diskretion bekräftigt<br />
permanent, wie sehr solche informellen Formationen als Voraussetzung jedes<br />
Funktionierens angesehen werden. Saubere Zustände sind eben nur als<br />
doppelsinniges Negativbild vorstellbar. Als Ziel haben sie etwas<br />
Selbstverständliches an sich. Es zu erreichen, ergäbe, als steriler Endzustand,<br />
abstrakt mechanische Situationen. Angestrebt werden die sauberen Zustände in<br />
diversen Subsystemen deswegen bloß fiktiv und mit permanenter<br />
Risikoabwägung. Auch die mediale Öffentlichkeit, inklusive der ihr<br />
zuarbeitenden Polizei und Justiz, reagiert fortwährend im Sinn von Mafia-<br />
Taktiken, weil es im eigenen und allgemeinen Interesse praktikabler ist,<br />
staatliche Energien mit der Verfolgung von Kleinkriminalität zu beschäftigen und<br />
auszulasten. 4 <strong>Die</strong> Wiener „Presse" etwa begnügte sich mit neun lakonischen<br />
Zeilen, um mitzuteilen, daß bislang offenbar weitgehend unbekannte Täter aus<br />
dem Bereich Wirtschaft „während der deutschen Wiedervereinigung einen<br />
Schaden von rund 18 Milliarden Mark (126 Milliarden Schilling) angerichtet"<br />
hätten. Einer plausiblen Automatik folgend, ist wesentlich ausführlicher<br />
3
dargestellt worden, daß beim Kreditkartenbetrug Nigerianer und Hongkong-<br />
Chinesen weltweit führend sind, „mit Banden bis zu 40.000 Mitgliedern". 5 Sogar<br />
die weit über den eben genannten Beträgen liegenden Mega-Summen, die sich<br />
in Japan für die Politikbeeinflussung eingebürgert haben, tauchen meist bloß als<br />
Randbemerkungen eifersüchtiger Erfolgsberichte auf. <strong>Die</strong> japanische<br />
Korruptionswirtschaft funktioniert bisher offenbar effizienter als die italienische<br />
und das drückt sich auch in unterschiedlichen Vorbildfunktionen aus. Nur in<br />
zurückgebliebenen Gebieten, wo der übliche Standard von Marktwirtschaft und<br />
Demokratie noch nicht erreicht ist, so der durchgehende Tenor, seien<br />
konventionelle, also unterentwickelte „Mafia"-Strukturen ein unvermeidliches<br />
Zwischenstadium, in den kaputten Teilen der ehemaligen zweiten und dritten<br />
Welt also. Von dort aus erfolgende Einmischungen in die ausbalancierte innere<br />
Sicherheit des eigenen Bandenwesens erzeugen heftige Irritationen. Selbst daß<br />
eine staatliche, als wenigstens halbwegs geordnet empfundene Kriegsführung -<br />
die immer teurer und damit unrentabel wurde - zugunsten exzessiver<br />
Bandenkriege deutlich an Terrain verloren hat, muß letztlich in solche<br />
zivilisationsorientierte Erklärungsmuster passen. Wenn allerdings auch die<br />
halblegalen Wirtschaftskämpfe von Konzernen in das Szenario einer<br />
internationalen, durch alle möglichen Umstände begünstigten<br />
<strong>Bandengesellschaft</strong> einbezogen werden, wie es in der Managersprache oft<br />
genug selbst anklingt, bekommt auch die erste Welt wieder das sonst von ihr<br />
beanspruchte Gewicht.<br />
<strong>Die</strong> Bande, effiziente Form der Gruppe<br />
Mit einem Bandenbegriff, der sich von den einseitigen, ihm für gewöhnlich<br />
zugeschriebenen Negativ-Aspekten löst, könnten sozial-ökonomische<br />
Mechanismen, Verhaltensweisen und Codierungen besser beobachtbar werden.<br />
Rechtsverletzungen wären dabei a priori nicht zu unterstellen, zählen sie doch<br />
schlicht zu den generellen Verhaltensmöglichkeiten des Menschen. Statistisch<br />
werden in Österreich übrigens dem „organisierten Verbrechen" ein Viertel der<br />
entsprechenden Straftatbestände zugeschrieben. Banden sind Sonderformen<br />
der Gruppe und unterscheiden sich durch ihre Aktivitätsorientierung, die sich<br />
primär in informellen Bereichen, außerhalb offizieller Strukturen, unter deren<br />
Infiltration oder Umgehung abspielt. Spontanes, kurzfristiges Kooperieren würde<br />
genauso dazu zählen, wie ein organisiertes Vorgehen. Durch bandenähnliche<br />
Formationen sind die Abgrenzungen fließend. Zusammenhalt und Diskretion<br />
bilden verbindende Elemente. Oft braucht die Kommunikation nur aktiviert zu<br />
werden, wenn es für die Einflußnahme auf Transaktionen notwendig wird.<br />
Vielfach regelt ein Patronagesystem, mit einem hohen Maß an informeller<br />
4
Steuerung und diffusen Verpflichtungen (wie in Familien), die materiellen und<br />
emotionellen Austauschbeziehungen. In Machtstrukturen integrierte und davon<br />
isolierte Banden wären zu unterscheiden. Daß Banden primär eine maskuline<br />
Angelegenheit sind, verdient spezielle Aufmerksamkeit. Vom eigentlichen<br />
Geschehen könnte unter dem Bandenaspekt also vieles sichtbarer werden, und<br />
sei es als exemplarische Übersteigerung des Normalen.<br />
<strong>Die</strong> Tautologie, überall hätten mafiose „Banden" das Sagen, wie es<br />
umgangssprachlich gegenüber Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Sport,<br />
gegenüber einzelnen Firmen oder Institutionen üblich ist, erfordert<br />
Unterscheidungen nach bestimmten Strukturmustern, an denen Gemeinsames<br />
und Stereotypes am anscheinend Unvergleichlichen deutlich wird, gerade wenn<br />
diverse abgeschwächte, vielleicht aber bloß weniger spektakuläre, jedenfalls<br />
aber nicht zwingend kriminelle Formen in ihrer Bandenähnlichkeit einbezogen<br />
werden. Daß an solchen Gruppierungen generell Antidemokratisches,<br />
Undurchsichtiges, sich Argumenten und jeder öffentlichen Kontrolle<br />
Entziehendes, das Prägnante ist, wäre ein romantisch simplifizierter Ansatz. Es<br />
werden sich vielfach auch spielerische und zahllose unvernünftige<br />
Komponenten feststellen lassen oder schlicht die Notwendigkeit, daß nur über<br />
Bandenbildungen überhaupt ein Problem aufgegriffen oder etwas entschieden<br />
und durchgesetzt werden kann. <strong>Die</strong> Funktionsweisen auf höheren sozialen<br />
Ebenen haben, abgesehen von den äußeren Formen, durchaus Ähnlichkeiten<br />
mit jenen in Slumgebieten, wo für Jugendliche ohne Mitgliedschaft in einer<br />
Bande die Überlebensmöglichkeiten stark eingeschränkt sind. Auch das einzige<br />
verbliebene intellektuelle Risiko, durch abweichende Meinungen, abweichendes<br />
Verhalten, Verwendung falscher Codes bei tonangebenden Banden in Ungnade<br />
zu fallen, gehört in diesen Kontext. <strong>Die</strong> grassierende Aufwertung atavistischer -<br />
die Gruppe gegen „die Masse", andere Gruppen und das Individuum<br />
ausspielender - Strukturmuster dürfte einiges mit dem der modernen<br />
Gesellschaft verlorengegangenen „Vertrauen in die Richtigkeit der eigenen<br />
Selbstbeschreibung" zu tun haben; nur sei eben die ständig geforderte<br />
Transparenz in Wirklichkeit „unproduktiv" und deswegen wäre es naheliegend,<br />
„Intransparenz" produktiv werden zu lassen, wie Niklas Luhmann es ausdrückt.<br />
Als analytische Position ist dies genauso wichtig, wie sein insistierendes Fragen<br />
„nach der Art des organisierten Umgangs mit Nichtwissen". 6<br />
Banden sind in diesem Zusammenhang als Form der Reduktion von<br />
Komplexität zu sehen. Ihre Ablehnung, als Furcht vor dem Unbekannten,<br />
korrespondiert mit einem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Mittäterschaft. Dabei<br />
zu sein, als die fortwährend kolportierte gesellschaftliche Herausforderung, trifft<br />
so auf Steigerungsformen. Erst mit Aufnahmeritualen und Ausschlußdrohungen<br />
erhalten sie Gewicht. Es kommt jedoch genauso vor, daß einem irgendwelche<br />
5
Mitgliedschaften gar nicht bewußt werden; solange andere bestimmte Signale<br />
als Zeichen der Bereitschaft anerkennen, entstehen auch ungewollt latente<br />
Kooperationspotentiale. Erstaunlicherweise führen solche Wege nicht<br />
zwangsläufig nach oben, sondern einfach in die Nähe. In<br />
Mehrfachzugehörigkeiten, mit diversen offiziellen, halboffiziellen, privaten<br />
Schattierungen, einschließlich sich daraus ergebender Widersprüche, drücken<br />
sich Differenzierungen aus. <strong>Die</strong> zu beobachtende Aufwertung von<br />
Gruppenbildungen, die ihrerseits oft das Geschehen in Bezugsgruppen<br />
simulieren - von Karriereclubs und informellen „Seilschaften", über spontane<br />
Politgruppen und Fraktionen, die sich eines Themas annehmen, bis zu<br />
Skinheads in allen ihren Variationen, zu Korruptionsnetzwerken oder verdeckten<br />
Staatsaktionen (Muster: Watergate, Irangate) - könnte zum Teil als Reaktion auf<br />
diese diffusen Überlagerungen verstanden werden, zum Teil als deutlich<br />
reduzierte Akzeptanz vorgesehener aber verwahrloster Strukturen und<br />
defensiver rechtsstaatlicher Institutionen. Sie sind also auch<br />
Kommunikationsformen für Eigeninitiative. Greenpeace oder amnesty<br />
international ist ein Bandencharakter nicht abzusprechen. <strong>Die</strong> Viererbande,<br />
Piratensender oder Bazon Brocks „Gottsucherbanden" („die Strategen der<br />
Erzwingung des Ernstfalls, die Apokalyptiker und Erlösungspathetiker") 7 sind<br />
sprachliche Bekräftigungen der Thematik. Ob „Gruppe" oder „Bande", unter<br />
Ausklammerung rechtlicher Aspekte verschwimmen die Unterschiede. Irgendein<br />
Stammlokal, ein Sportverein kann die Basis für Cliquenwirtschaft, für<br />
Lobbyismus, für Pressuregroups in ganz anderen Sphären werden. Daß der<br />
„White collar"-Bereich wegen seiner Einbezogenheit in inoffizielle<br />
Machtmechanismen durchwegs diskreter und als etwas substantiell anderes<br />
gesehen wird, als vergleichbare Erscheinungen anderswo, hat sich als<br />
Verhaltensmuster fest etabliert. Fragen dazu tauchen höchstens routinemäßig<br />
auf. Wirtschaftlich und politisch starke Gruppen schaffen „ein dem Gesetzbuch<br />
widersprechendes Recht", haben die Sicherheit, „bestimmte Rechtsnormen<br />
brechen zu können", durch Erwartungshaltungen und positive Sanktionen ist es<br />
„überraschend", wenn korruptes Handeln überhaupt aufgedeckt wird, noch dazu,<br />
wenn die Beteiligten es gar nicht als „illegal" ansehen (Roland Girtler). 8 In<br />
weiten Bereichen ist eine Kriminalisierung somit ohnedies nur als ferne Drohung<br />
und mögliches Unglück präsent, subjektiv spielt sie kaum eine Rolle. Reduziert<br />
wird damit sogar die Chance, daß der Einzelne sich vor allem dann als<br />
Individuum begreift und bestärkt, wenn er irgendwelche Vorschriften verletzt.<br />
Verbreitung und Konstitution bandenähnlicher Formationen, unabhängig<br />
davon, wie ostentativ sie eigene Regeln befolgen, geben somit Auskunft, wie im<br />
Schutz von Gruppen individuelle Möglichkeiten wahrgenommen werden. Zur<br />
Bestätigung emotionaler, sozialer, ökonomischer Defizite ließe sich vieles davon<br />
6
heranziehen. Mit dem Schema, „schlechte Ereignisse mit schlechten Ursachen"<br />
zu erklären, oder gute mit guten, bleibt der Rahmen aber ein recht enger; selbst<br />
auf soziale Protestbewegungen oder den Terrorismus (mit den zugehörigen<br />
Bandenaspekten) bezogen, wird konstatiert, daß „die Entwicklung eines<br />
verallgemeinerungsfähigen Verlaufsmodells bisher nicht gelungen ist". 9 Von den<br />
sich zur Bestärkung des alleingelassenen Individuums anbietenden Gruppen<br />
sind jedenfalls Banden oft die leistungsfähigere Form. Idealisiert kommen sie -<br />
um die Argumentation an einen Ausgangspunkt zurückzuführen - in allen<br />
Jugendträumen vor, als Multiplikator für Vitalität und Heldentum, einschließlich<br />
dafür notwendiger Strategien des Verschwindens. Ohne Erzeugung von<br />
Geheimnissen hätten sie nicht die bereits durch solche Mythen bestätigte<br />
Attraktivität. Das kritische, reflektierende, persönlich verantwortliche Subjekt hat,<br />
als moderneres Vorbild, dabei eher geringe Bedeutung; wegen sich auf<br />
verschiedenste Weise aktualiserender Tendenzen zu kollektiver Introvertiertheit,<br />
gerät es zwangsläufig immer wieder unter starken Druck. <strong>Die</strong> „Moral der Klans,<br />
die sich gegen das schützt, was über sie hinausgeht" und im „geheimen Leben<br />
heutiger Mikrogruppen" Entsprechungen hat, baut aufs Geheime - so Michel<br />
Maffesoli in seinem Text „<strong>Die</strong> Gesetze des Geheimen" - als „Form der<br />
volkstümlichen Selbstbezogenheit". Widerstand verschiedenster Ausprägung ist<br />
ein zugehöriger Faktor. „Sobald man eine Ordnung der Dinge, eine<br />
Gemeinschaft errichten, wiederherstellen oder korrigieren will, kommt man auf<br />
das Geheime zurück, das die grundlegende Solidarität bestärkt und annehmbar<br />
macht". Es als sozialen Tatbestand zu negieren, gleicht der Unterlassung, daß<br />
man bisher die schon Kindern geläufige „vereinigende Funktion des Schweigens<br />
nicht hinreichend unterstrichen" hat. 10<br />
Angeblich abweichendes Verhalten<br />
Eher grob sind auch die Unterscheidungen, die sich in diesem<br />
Zusammenhang eingebürgert haben. In Meyers Enzyklopädischem Lexikon<br />
etwa, wird mit einer gewissen Verbindlichkeit dargelegt, daß unter „Banden"<br />
Gruppen mit nicht allzu vielen Mitgliedern und einem besonderen<br />
Gruppenverhalten zu verstehen sind, „das von den allgemeinen<br />
gesellschaftlichen Normen abweicht". Hervorgehoben werden ausdrücklich<br />
Jugendbanden, als relativ häufige, nicht prinzipiell kriminelle, auf Betonung des<br />
Andersseins zielende Form. Sie werden, soferne eine gesellschaftliche<br />
Benachteiligung erkennbar ist, mit pädagogischer Sympathie und Nachsicht<br />
behandelt, bilde doch meist ein Aufwachsen in „sozialer Desorganisation" den<br />
Hintergrund, aus dem ein Fehlen der Fähigkeit resultiert, „das für die Mitarbeit in<br />
einer konstruktiven Gruppe notwendige Verantwortungsgefühl aufzubringen".<br />
7
Als Positiva vermerkt sind die von Banden gebotenen Möglichkeiten, sich zu<br />
orientieren und trotz „begrenzten sozialen Leistungsvermögens Beziehungen<br />
einzugehen und Funktionen auszuüben". Bei Erwachsenenbanden hingegen<br />
werden grundsätzlich einschlägige Motive vorausgesetzt: „Aus gesetzwidrigem<br />
und gewalttätigem Verhalten erwachsen den einzelnen Bandenmitgliedern<br />
Prestige und Status innerhalb der Bande". Auch ohne noch weiter auf diese<br />
sonderbar ausgrenzenden Begriffsbildungen und Denkmuster einzugehen - die<br />
eine Suche nach „konstruktiven Gruppen", gesellschaftlichen Normen,<br />
unbegrenztem sozialem Leistungsvermögen oder radikaler Gesetzestreue<br />
miteinschließen müßte - wird klar, daß bei Halbwüchsigen als Notlösung toleriert<br />
wird, was später einfach andere Namen bekommt.<br />
Gegen „künstliche" Familien gibt es latente Aversionen, obwohl das<br />
gegenüber größeren Einheiten skeptische Zellendenken Rousseaus – „<strong>Die</strong><br />
älteste und die einzige natürliche unter allen gesellschaftlichen Vereinigungen<br />
ist die Familie" - auch in abgewandelten, flüchtigeren Formen immer wieder eine<br />
Bekräftigung erfährt. Praxisnäher werden Interpretationen, wenn unter „Familie"<br />
genauso Sippen, Banden oder Clans verstanden werden. 11 Jugendliche, die<br />
über Freundschaften, Gleichaltrigengruppen oder Banden das Gewicht der<br />
Familie zu relativieren beginnen, haben offenbar früher und heftiger ein<br />
wissenschaftliches Interesse erweckt, als die Auswirkungen analoger<br />
Erscheinungen unter Erwachsenen. 12 Für derartige Untersuchungen sind<br />
strafbare Handlungen immer besonders anziehend gewesen, vielleicht, weil<br />
deren Quantifizierbarkeit den Einfluß von Gruppen und Bezugsgruppen<br />
deutlicher machen konnte. Angesichts der fortwährend aktualisierten Thematik<br />
von Bandenbildungen wirkt es etwas voreilig, wenn - unter dem Titel „<strong>Die</strong><br />
Psychologie des 20. Jahrhunderts" - zugehörigen Ansätzen, insbesonders den<br />
Subkulturtheorien, resümierend bescheinigt wird, keiner hätte sich „empirisch<br />
belegen lassen" und auf ihnen beruhende Vorbeugungsexperimente seien<br />
gescheitert. 13 Daß übrigens im Englischen das Wort gang im Unterschied zur<br />
tendenziell negativ gesehenen Bande eine eher neutrale Bedeutung hat, läßt<br />
fließenden Übergängen den ihnen gebührenden Raum. Nach dem, Ende der<br />
zwanziger Jahre, erstmals in Chicago entwickelten kriminologischen<br />
Bandenbegriff, ist unter Bande eine Gruppe zu verstehen, „die sich ursprünglich<br />
spontan gebildet und durch das gemeinsame Bestehen von Konflikten sozial<br />
zusammengeschlossen hat". 13 <strong>Die</strong>ses weite Feld für verschiedenartige<br />
gemeinsame Handlungen auf der Basis informeller Beziehungen erfährt offenbar<br />
durch neuere Forschungen wieder eine markante Einschränkung, indem das<br />
Typische krimineller Jugendbanden als „kollektive Verantwortungslosigkeit"<br />
bezeichnet wird, weil normalerweise folgende Kriterien erfüllt werden: „die<br />
mangelnde Ökonomie ihres Verhaltens und ihre psychischen Erwerbsziele, die<br />
8
anti-sozialen Zwecksetzungen ihrer Handlungen, ein Wir-Gefühl und eine<br />
Bandenseele und die stereotype Behauptung der Bandenmitglieder, sie hätten<br />
allein die Straftaten der Bande niemals begangen." 13 Wird den damit<br />
angesprochenen Taten die Eigenschaft als strafwürdig genommen, klingt das<br />
meiste davon nach Realitätstherapie. Verfügen solche Gruppen über keine<br />
ausgeprägtere Strukturierung, wie es beim Bandencharakter vorausgesetzt wird,<br />
nähert sich alles noch mehr der Realität. Denn die formlose Horde - oder Clique<br />
- wird in diesem Zusammenhang sehr allgemein als „eine Vergesellschaftung<br />
ohne Führung und ohne Dauerziel" gesehen. 13 Vom despektierlichen Beiklang<br />
befreit, ist damit die Nähe zum ánarchos (gr. führerlos, ohne Oberhaupt)<br />
wiederhergestellt, nur haben sich zugehörige Vorstellungen von einer Politik der<br />
Tat und von Revolutionen ohne Programm in zusammenhanglose<br />
Spontaneitäten verwandelt. Anarchische Energien suchen sich völlig<br />
unabhängig von früheren Bewußtseinslagen passende Eingriffsmöglichkeiten.<br />
Mit seiner professionellen Aggression gegen abweichendes Verhalten und<br />
gegen einen amerikanisiert dargestellten „Hooliganismus," hat gerade der<br />
Realsozialismus allen nichtetablierten Gruppierungen außerhalb der<br />
Nomenklatura beweisen wollen, wie ein demokratischer Zentralismus zu<br />
funktionieren hat. Daß in seinen ehemaligen Territorien inzwischen mehr oder<br />
minder gut organisierte Banden über weite Strecken das Geschehen bestimmen,<br />
könnte als zwangsläufige Ökonomisierung unterdrückter anarchischer Kräfte<br />
interpretiert werden. Zu erinnern ist vielleicht auch daran, daß für Karl Popper<br />
der „neue Mythos von der Horde", in dem das Individuum nichts zähle,<br />
Ansatzpunkt und Kapitelüberschrift seiner gegen Hegel gerichteten<br />
Argumentation gewesen ist. Im reaktivierten „Stammesideal des heroischen<br />
Menschen" sieht er, mit allen Folgeerscheinungen, die Überhöhung der<br />
Kontroversen und Kämpfe von Nationen, Klassen, Rassen betreffend, einen<br />
„Angriff auf die Idee des zivilen Lebens selbst". Weil es um die Sache gehe, für<br />
die sich einer einsetzt, sei vom heroischen Element im Gangstertum genauso<br />
wenig zu halten, wie von jeder Lebt-gefährlich-Ideologie. Geschichte als<br />
„Klassenstreitigkeiten" - oder als Summe der Geschichten über<br />
Bandenkonflikte? - zu begreifen, hat er, als abgemilderte Form, jedoch für<br />
plausibel gehalten. 14<br />
Facetten einer wirtschaftlichen Pragmatik<br />
Im Zuge der einschneidenden, durch Elektronik geprägten Veränderungen des<br />
Industriesystems in Richtung vernetzter Software- und Symbol-Wirtschaft, ist<br />
viel von neuen Strukturen und freieren Arbeitsweisen die Rede. Wie dabei<br />
jugendliche Phantasien über Räuberbanden und Piraten in<br />
9
Managervorstellungen nachwirken, wird zum Beispiel am öfter auftauchenden<br />
Wunsch nach einer exterritorialen Insel als idealem Hauptquartier deutlich. Was<br />
darin mitschwingt, ist die fixe Idee, daß trotz aller Verflechtungen von anderswo,<br />
von einem imaginären Ort aus, ungestörter und daher noch wirkungsvoller agiert<br />
werden könnte. Selbst auf einer Konferenz über die Zukunft der industrialisierten<br />
Welt im Weißen Haus in Washington ist, von Carl A. Gerstacker, immerhin<br />
Vorstandsvorsitzender eines großen Multis, der Dow Chemical Company,<br />
eingestanden worden: „Ich habe lange davon geträumt, eine Insel zu kaufen, die<br />
keinem Staat gehört, und auf dem wirklich neutralen Boden einer solchen Insel,<br />
wo ich keinem Staat und keiner Gesellschaft verpflichtet bin, die Weltzentrale<br />
von Dow zu gründen." 15 Da der konkrete Ort längst keine Bedeutung mehr für<br />
solche Intentionen hat und die Grenzen für großräumiges Agieren zunehmend<br />
fallen, sind daran vor allem die Outlaw-Aspekte signifikant. Ihre verschiedensten<br />
Facetten kehren in Managerbüchern immer wieder. Das reicht von der neuen<br />
Wertschätzung für „die chaotische Seite der Innovation" über das forcierte<br />
Akzeptieren von „Kreativen und Unangepaßten" (selbst „wenn ihre Arbeitsweise<br />
unorthodox, ja manchmal schlampig auf uns wirkt"), bis zur Forderung nach<br />
radikaler Dezentralisierung und nach weitgehend autonomen, „am Rande der<br />
Unternehmenswelt" angesiedelten Werkstätten für Querdenker. 16<br />
Projektgruppen, als das eigentliche dynamische Element innerhalb von<br />
Organisationen, sollen außerhalb der Hierarchien am Neuen arbeiten und<br />
dessen Durchsetzung beschleunigen. In Bandenaspekte werden also<br />
Hoffnungen gesetzt, weil die normalen Strukturen und Abläufe zu viele Barrieren<br />
und Unverläßlichkeiten eingebaut haben. Auch deswegen ist betriebliche,<br />
institutionelle Macht stets auf informelle Lobbybildungen und auf eine<br />
Mißachtung der <strong>Die</strong>nstwege angewiesen. Von einem normalen Funktionieren<br />
geht kaum noch jemand aus, denn im üblichen Fall, „ohne solide Faktenbasis -<br />
ohne eine gute quantitative Vorstellung von seinen Kunden, Märkten und<br />
Konkurrenten - kann man sicher sein, daß die Prioritäten im Zuge<br />
verschlungener politischer Manöver gesetzt werden". 17<br />
Mit „Krisen ihrer grundlegendsten Systeme - der Städtesysteme, der<br />
Gesundheitssysteme, der Wohlfahrtssysteme, der Transportsysteme, der<br />
ökologischen Systeme," sehen sich alle Industriegesellschaften konfrontiert, so<br />
Alvin Toffler, als weitere Stimme aus dem Managementbereich, deshalb plädiert<br />
er für „eine neue, wissensbasierte Wirtschaft", mit der neugestaltete politische<br />
Institutionen „in Einklang" zu bringen sind. Nach diversen „Machtbeben", weil es<br />
sich eben nicht um eine „unpersönliche Angebots- und Nachfragemaschine" (im<br />
Sinne Milton Friedmans) handle, würde so eine „sich beschleunigende,<br />
kaleidoskopartige Wirtschaft" auf elektronischer Basis entstehen, „die sich<br />
unablässig zu neuen Mustern zusammensetzen kann, ohne zu zerfallen". Für<br />
10
eine <strong>Bandengesellschaft</strong> lassen sich in Tofflers aktuellstem Zukunftsszenario<br />
trotzdem noch genügend Hinweise finden. Wegen der Wertschöpfung im<br />
Wissensbereich werde es zum Beispiel demnächst „zu einer so hochgradigen<br />
Verschmelzung der Spionage von Regierung und Privatwirtschaft kommen, daß<br />
davor alles verblaßt, was es in der kapitalistischen Wirtschaft je gab," mit<br />
entsprechenden Verbindungen zur Computerkriminalität und allen möglichen<br />
Formen von Datenmanipulation. Machtausübung wird noch enger mit informeller<br />
Mitwisserschaft und der Ausschaltung der Apparate verbunden sein müssen; je<br />
wichtiger ein Problem, desto weniger befaßte Leute und höchstens rudimentäre<br />
schriftliche Unterlagen. Vom FBI stammt die Prognose, daß „in den USA<br />
Haßgruppen nur so aus dem Boden schießen" werden. Mit Kriegen zwischen<br />
rivalisierenden Minderheitengruppen ist in Permanenz zu rechnen. Eine<br />
„hochbeladene, schnell zickzackende Mosaik-Demokratie" wird nach ganz<br />
eigenen Regeln funktionieren. Dafür nehme in der Arbeitswelt die<br />
Organisationsvielfalt zu, steht doch einer zu erwartenden Springflut<br />
zwangsläufiger Restrukturierungen ein breites Repertoire erprobter Formen zur<br />
Verfügung, „von der Jazz-Combo bis zum Spionagenetz, vom Stamm und Clan<br />
und Ältestenrat bis hin zu Klöstern und Fußballmannschaften". 18<br />
In solchen - offenbar pragmatisch-handlungsorientiert angelegten -<br />
Gedankenspielen über eine weiter zunehmende Ungleichzeitigkeit<br />
gesellschaftlicher Strukturen, spiegelt sich die demokratische Grundproblematik<br />
nichteinmal mehr wider, nach der schon die Frage nach herrschenden Gruppen<br />
und nach Gruppen von Beherrschten streng genommen ein Widerspruch zur<br />
grundlegenden Absicht ist. Denn ihr zufolge habe, was als essentielles<br />
Selbstverständnis angesichts der Tatsachen so utopisch wie eh und je klingt,<br />
„unparteiisch und von allen Bürgern gleichermaßen legitimiert," die Verfassung<br />
zu herrschen, nicht ein Konglomerat privilegierter Machtgruppen. 19 In der<br />
Gewöhnung an die Existenz dessen, was überwunden werden sollte und an ein<br />
pluralistisches Ausbalancieren dieses Zwischenstadiums, werden strukturell<br />
tiefgreifendere Weiterentwicklungen seit langem nichteinmal mehr zum Thema.<br />
Sie können es offensichtlich nicht werden, „seit sich gesellschaftliche Macht in<br />
technischen Standards, Frequenzen, Reichweiten und Schaltplänen organisiert.<br />
<strong>Die</strong> virtuelle Medienwirklichkeit der telematischen Netzwerke läßt sich nicht<br />
mehr im Sinne bürgerlicher Öffentlichkeit als Forum oder politischer Schauplatz<br />
begreifen" (Norbert Bolz). 20 Was, um nochmals die eigentliche Mafia, inklusive<br />
„niedrigerer" Aktionsebenen, ins Spiel zu bringen, ein weiterer ihrer Analytiker<br />
auf diese gemünzt hat, läßt sich de facto generalisieren: „Ökonomie und Politik<br />
sind derart unauflöslich ineinander verflochten, daß man nie weiß, wo das<br />
private Interesse aufhört und das öffentliche anfängt, und umgekehrt." Selbst<br />
„die (immer noch stark moralisch konnotierte) Kategorie der Korruption" greife<br />
11
nicht, denn wo die Trennung von Politik und Ökonomie nicht stattgefunden hat<br />
und im Gegenteil ihre Verbindung systematisch betrieben wird, „ist Korruption<br />
ein so verbreitetes Phänomen, daß die Berufung auf sie keinerlei Erklärungswert<br />
mehr beanspruchen kann." Gerade in peripheren gesellschaftlichen<br />
Konstellationen, wie in Sizilien, würden „die heimlichen Tendenzen der Zentren<br />
zuerst offen und rein zutage treten." „Wie immer verrät die Abweichung von der<br />
Norm das, was diese verborgen halten will"; „der Extremfall ist nichts als eine<br />
Radikalisierung des Normalfalls". 21<br />
Strukturmuster und Fluchtmechanismen<br />
Auf mikroökonomischer Ebene, und zwar gerade in Überlappungsbereichen<br />
von öffentlichem und privatem Sektor, von staatlicher Verwaltung und<br />
wirtschaftlich geprägter Normalität, wird vieles davon auch in unmittelbar<br />
erfahrbaren Arbeitsbereichen bemerkbar. Das überall grassierende, aber eher<br />
geduldig hingenommene Unbehagen mit „den Strukturen", ist die<br />
bezeichnendste Gemeinsamkeit. Für den Umgang mit ihm würden bereits<br />
lakonische Vorstellungen einen halbwegs brauchbaren Entwicklungsraster<br />
hergeben: Ein Staat, der, ohne sonstige Allüren, funktioniert, und eine auch in<br />
Teilbereichen demokratisch orientierte Gesellschaft, mit einer Ausstattung, die<br />
ein Aufgreifen und Weitergeben des jeweils Besseren wenigstens nicht<br />
unwahrscheinlich macht. Daß das Geschehen komplizierter ist, und<br />
unberechenbar, erklärt weiterhin nicht wirklich, daß selbst in überschaubaren<br />
Feldern kaum Gestaltungsfreiheiten genutzt und ausgeweitet werden.<br />
An Universitäten und Hochschulen etwa ist jede Modellhaftigkeit für „freies"<br />
Arbeiten sogar als Perspektive verlorengegangen. <strong>Die</strong> Arbeitsstrukturen als<br />
solche sind kein Thema. Praktisch nie stellt sich die Frage, investieren wir<br />
gezielt in Theorie, in diese oder jene Sparten, bauen wir technische Bereiche<br />
aus, den Computersektor, das überall geforderte Interdisziplinäre, bestimmte<br />
Studienrichtungen. Nichteinmal wer das „wir" repräsentiert, ist angesichts<br />
verzahnter Gremien und Verwaltungsstellen hinreichend klargestellt. Keiner<br />
kennt das Budget, Finanzen werden anderswo ausgehandelt. Keiner hat eine<br />
Übersicht über die internen Geldflüsse, über Budgetentwicklungen. Keiner ist für<br />
Entscheidungen wirklich verantwortlich, man stimmt - mangels<br />
Entscheidungsunterlagen - irgendwie mit oder nicht. Luxus und Armut existieren,<br />
meist unbegründbar, unmittelbar nebeneinander, als Abbild bürokratischer<br />
Wertschätzungen. Durchsetzungsmanöver sind auf spontane oder dauerhaftere<br />
Bandenbildungen angewiesen. Auch das, was sich jeder allein irgendwie richten<br />
muß, braucht diesen informellen, unobjektiven Aspekt (im strafrechtlichen Sinn<br />
genügen für die Anerkennung als Bande ja auch zwei Personen). Vorschriften<br />
12
werden primär dazu benützt, um anderen Fallen zu stellen. <strong>Die</strong> Dinge entwickeln<br />
sich halt. Was bleibt, ist das Verbeißen in Personalfragen und administrative<br />
Details. Auch die lapidarsten Verfahren müssen irgendwie geheimnisvoll<br />
ablaufen, damit Intrigen ihre entlastenden Funktionen erfüllen können. Vom<br />
System belohnt wird, wer das System nicht irritiert und dessen Codes halbwegs<br />
begreift. Antworten darauf, wie Universitäten anders funktionieren könnten (auf<br />
Basis der für Österreich gerade aktuellen Reformpapiere oder nicht) würden hier<br />
zu weit führen. Neue Strukturen, mit denen sie besser in der Lage wären, sich<br />
ihrer internen und externen Ökonomie - und daraus resultierenden „Inhalten" -<br />
zu stellen, sind offenbar zur Zeit kaum denk- und durchsetzbar. Daß<br />
wissenschaftliches Arbeiten Reflexion und Überprüfbarkeit der Arbeitsweisen<br />
voraussetzt, dürfte als individuelle Grundregel akzeptiert sein. Bezeichnend ist<br />
nur, wie sich Universitäten - als Institutionen - diesem Anspruch widersetzen,<br />
ansonsten hätten sie längst alle institutionalisierte Entwicklungsinstanzen, die<br />
von sich aus die Evaluierung der eigenen Strukturen thematisieren. Für zu<br />
vergebende Leitungsfunktionen halten die Bewerbungen sich jetzt schon in<br />
Grenzen. Auch das ist ein Hinweis auf den Phantomcharakter der „Autonomie",<br />
zu deren Präzisierung kaum noch jemand Energie aufbringt. Daß<br />
Gestaltungsmöglichkeiten mit Budgethoheit und eigenem <strong>Die</strong>nstrecht radikale<br />
Veränderungen von Strukturen, Arbeitsweisen und Berufsbildern erfordern<br />
würden, überlastet offenbar die Konsensfähigkeit. <strong>Die</strong> überall angelaufene<br />
Propagierung tüchtiger Wissenschaftsmanager bekräftigt nur neuerlich, daß<br />
Hilfe von anderswo her erwartet wird. Im Rahmen jetziger Verhältnisse könnten<br />
sie auch nichts anderes sein, als eine Ergänzung der gewohnten Bewilligungs-<br />
Bürokratie. Inwieweit sich „ökonomieferne" Arbeitsfelder auf Dauer in<br />
universitärer Forschung und Lehre behaupten lassen, kann sowieso nicht latent<br />
von wohlwollenden Beamten abhängig bleiben. Ängste konzentrieren sich eher<br />
auf hausintern drohende Gruppenkämpfe, für die der Schiedsrichter abhanden<br />
kommen könnte. Der hohe Auslagerungs- und Privatisierungsgrad der<br />
Forschung wird ohnehin bloß durch allgemeines Schweigen gewürdigt. Was<br />
bleibt, entspricht offenbar Perspektiven einer mittelständischen Trostlosigkeit,<br />
belebt durch mafiose Zustände: „<strong>Die</strong> Massenuniversität ist längst Fernuniversität<br />
geworden," „geistige Umschlagplätze" vermutet niemand mehr dort, „die<br />
Arbeitsbedingungen sind skandalös", die vormalige Lernfreiheit habe sich „in<br />
eine institutionalisierte Desorganisation von Lehrfächern" verwandelt,<br />
größtenteils zerstört hätte man „die Kooperation, den freien Gedankenaustausch<br />
und den Wettbewerb der Ideen", „vor allem auf drängende Fragen erfolgen<br />
keine Antworten" (Reinhold Knoll). 22<br />
Eine Parallele dazu: Das Gesundheitswesen, die Spitäler. Trotz allen<br />
Wohlstandes ein Dauerthema für Unreformierbarkeit; eine Megastruktur für<br />
13
verheimlichte Pannen und ständig in Abrede gestellte ökonomische Interessen,<br />
vom Geschäft mit der Verweildauer, mit den Privatpatienten, mit der angeblichen<br />
Ärzteschwemme, über das Nichtfunktionieren ärztlicher und pflegerischer<br />
Teambetreuung und Rehabilitation, bis zu den Marketingprozeduren der<br />
Medizintechnik- und Pharmaindustrie und den Korruptionsspielen mit<br />
Spitalsneubauten. <strong>Die</strong> vielen insularen Positivansätze werden - wie anderswo<br />
auch - wie störende Zellen behandelt. Wenigstens klimatisch ist, als<br />
freundlicherer Umgangston, manches „liberaler" geworden. Gegen eine sensible<br />
„Gesamtökonomie" der optimalen Rehabilitation und sozialen Gleichbehandlung<br />
haben sich dicht verfilzte Barrieren und Gruppeninteressen etabliert. Selbst der<br />
Fall „Lainz" mit seinen monströsen Dimensionen hat nicht genügt,<br />
umfangreichere Veränderungsintentionen in Gang zu halten. Wenn etwas<br />
anläuft, dann eher diskret, um Gegenkräfte nicht zu alarmieren. Aus der<br />
Einbildung, daß jeder Beteiligte und jeder (potentielle) Patient, letztlich doch<br />
irgendwie profitiert, schon des technischen Fortschritts wegen, ergibt sich eine<br />
perspektivelose Akzeptanz teilweise inferiorer Zustände. „Gesundheitspolitik"<br />
kann, angesichts dieser Strukturen, kaum stattfinden. Ersatzweise werden - so<br />
das aktuellste, schon wieder verblaßte Beispiel - Rauchverbote zu<br />
Republikthemen.<br />
Zur Abrundung ein anderes Gebiet, die sogenannte „Kultur". Ihre<br />
ökonomischen Funktionsweisen sind in markanter Weise tabuisiert und dem<br />
keineswegs freien Spiel von Gruppeninteressen überlassen, weil allein die<br />
staatlichen Normalaufwendungen dafür in Österreich jährlich etwa 20 Milliarden<br />
Schilling betragen. <strong>Die</strong> Geldströme insgesamt, einschließlich wirtschaftlicher<br />
Nutzungen (Copyright-Industrie, Produktionssparten, Kunstvermittlung, Medien,<br />
Export, Import) sind schlicht unbekannt; offensichtlich kann sich kein Interesse<br />
entwickeln, entsprechende Analysen zur Grundlage für eine strukturbezogene<br />
Kulturpolitik zu machen. Verdienstvolle Ansätze, wie gewisse<br />
Budgetumschichtungen oder die Kulturberichte auf Bundes- und Länderebene,<br />
betreffen nur finanziell marginale Sektoren. Mit der Sponsoringdebatte<br />
(geschätztes Volumen unter diesem Titel fließender Gelder: maximal 3 % der<br />
Staatsausgaben) wird bloß von latenten Fixierungen und Strukturschwächen des<br />
privaten Sektors abgelenkt. <strong>Die</strong> künstlerische Produktion - also die von<br />
Komponisten, Autoren, bildenden Künstlern, Architekten etc. - um die es im Kern<br />
gehen müßte, trifft längst nicht auf Produktions- und Vermittlungsbedingungen,<br />
die sonstigen professionellen Standards entsprechen würden. Eine denkbare<br />
Normalausstattung damit, auf Grund derer aktivierende, ökonomisch bestärkte<br />
Prozesse in Gang kommen können, von einer hinreichend differenzierten<br />
Mediensituation bis zu halbwegs potenten Buchverlagen, Galerien,<br />
Veranstaltern, Kulturinstituten etc., wird erst zögernd zu einem ökonomischen<br />
14
und kulturpolitischen Thema, und sei es in beobachtender, analysierender<br />
Weise. An einem selbst erforschten Beispiel aus dem Museumsbereich läßt sich<br />
eine Form strukturell begünstigten Gruppenverhaltens, das völlig konform zu<br />
Medienmechanismen funktioniert, fast bizarr deutlich machen. <strong>Die</strong><br />
Österreichischen Bundesmuseen geben jährlich etwa 30 Millionen Schilling für<br />
Sammlungsankäufe aus. Ein systematisches Interesse dafür, was da eigentlich<br />
angekauft wird, entsteht weder kulturpolitisch, noch in der Öffentlichkeit,<br />
nichteinmal buchhalterisch. Verbucht werden solche Eingänge auf dem selben<br />
Konto wie Schreibmaschinen und Büromöbel. Der Stellenwert von Kunst zeigt<br />
sich auch darin, daß im konkreten Fall 80 % der Ankäufe unterhalb des<br />
ministeriellen Genehmigungslimits von 30.000.- (jetzt 50.000.-) Schilling<br />
erfolgten; also sogar die Mühe des Antragschreibens gescheut wird, um<br />
eventuell wertvollere Objekte zu erwerben. Eine andere Form von<br />
Ökonomieflucht hat zu jahrzehntelang geduldeten Devastierungen geführt, weil<br />
nicht thematisiert wurde, daß Museumsbestände ein Milliardenvermögen<br />
darstellen, für dessen Pflege, Erhaltung, wissenschaftliche Bearbeitung,<br />
Präsentation adäquate Betriebsmittel und adäquate Arbeitssituationen<br />
erforderlich wären. Mit „unschätzbaren Werten", noch dazu, wenn sie dem<br />
Warenkreislauf entzogen sind, wird also oft besonders sorglos umgegangen;<br />
vielleicht, weil so etwas jenseits begreifbarer ökonomischer Dimensionen<br />
angesiedelt ist. Unschätzbares, Überfluß, Überflüssiges geraten in eine<br />
sonderbare Nähe zueinander. Nur: <strong>Die</strong> dauernd geforderte Transparenz bei den<br />
Kulturausgaben widerspricht, wie anderswo auch, kategorisch gewohnten<br />
Funktionsweisen; nicht nur, weil, wie oft behauptet wird, damit dem sowieso<br />
Gefährdeten, dem Schwierigen, dem vorerst Resonanzlosen weiter geschadet<br />
würde. Künstlerische „Produktivität" bleibt in vielen Bereichen ein völlig<br />
marginaler Faktor. Es ergeben sich Pendelbewegungen; Durchsetzungskünste<br />
binden Energien. Auch wenn die Umstände pro Sparte ihre Eigenheiten haben,<br />
ist der Kunstbetrieb als solcher ein exemplarischer Schauplatz für<br />
Bandenbildungen.<br />
Zwischenresümee: Bei etwas grellerer Beleuchtung sieht es so aus, als ob<br />
sich Arbeit, trotz aller Prosperität, auf einem überwucherten Trümmerfeld<br />
ziemlich kaputter Organisationen abspielen würde. Kaum wer - selbst fast jeder<br />
Privilegierte - hält es in seinen Strukturen halbwegs aus. Fluchtbewegungen<br />
erzeugen permanent neue Skurrilitäten. Mafiose Entwicklungen sind die<br />
logische Parallelaktion dazu. Reformkonzepte kursieren als bloße<br />
Demonstration, daß manches anders möglich sein müßte. Gerade in staatlichen,<br />
halbstaatlichen Sektoren wird laufend sichtbar, wie oft unabänderbare<br />
Strukturschwächen die Neugründung irgendwelcher Einrichtungen provozieren;<br />
thematisiert wird aber auch nicht, warum gerade für wichtige öffentliche<br />
15
Funktionen Organisationssysteme aufrechterhalten werden, die, im Sinne der<br />
generellen Privatisierungsbestrebungen, sogar für normale wirtschaftliche<br />
Tätigkeitsfelder längst als ungeeignet erkannt worden sind. <strong>Die</strong> zugehörigen<br />
Aufgeregtheiten und ihr Verschwinden unterliegen Konjunkturen. In welchem<br />
Rhythmus sie auftauchen, wäre zum Beispiel anhand der periodischen<br />
Medienpräsenz zu beweisen. „Spiegel"- und „Krone"-Serien aus den 70er<br />
Jahren über die Probleme des Gesundheitswesens ließen sich jetzt 1:1, mit ein<br />
paar Namens- und Zahlenänderungen, wieder abdrucken. <strong>Die</strong> intellektuelle<br />
Produktion zu derartigen Themen unterliegt analogen Intensitätsschwankungen.<br />
Bei der, zu jedem Regierungsprogramm gehörenden, Verwaltungsreform ist eher<br />
die Statik auffällig. Sie manifestiert sich auch in der offensichtlichen<br />
Unreformierbarkeit des Schulwesens, der Sozialversicherung, des<br />
Justizbereiches, der ÖBB, der Universitäten, der Bundestheater, der Ministerien,<br />
des Parlaments. Jede dieser „pseudo-theologischen Welten", wie Milan Kundera<br />
sie nennt, simuliert auf ihre Weise Rationalität. <strong>Die</strong> anstehenden „wirklichen"<br />
Probleme bleiben entscheidungslos präsent; selbst auf die kleineren färbt das<br />
ab.<br />
Durch die Anforderungen an jahrelange Kontinuität, die kaum durchzuhalten<br />
sind, zeigen sich bei Reformvorhaben ständig Fragwürdigkeiten der<br />
gegenwärtigen Demokratieausstattung. <strong>Die</strong> Dauerreform in Detailbereichen ist<br />
hilfloser Ausdruck davon. Verfilzte, in ihrer Komplexheit unabsehbare<br />
Zusammenhänge sind kaum kommunizierbar, dadurch entsteht kein Rückhalt in<br />
den Medien und kein Rückhalt für die Politik. Letztlich werden<br />
Strukturveränderungen aufgezwungen, mit oder ohne EU. Sie ergeben sich, im<br />
Doppelsinn des Wortes. Für den privaten Sektor sagt ohnehin der Markt, was<br />
unumgänglich wird. Deswegen entledigt sich auch der öffentliche Sektor<br />
angestammter Kompetenzen. Es sind also diverse Fluchtvorgänge zu<br />
beobachten, die viel mit einem Ignorieren gegebener Strukturen zu tun haben.<br />
Der informelle Sektor wächst, gleicht aus, als „Schwarzmarkt" für Transfers und<br />
Transaktionen. <strong>Die</strong> <strong>Bandengesellschaft</strong>, als ein Agieren außerhalb „normaler"<br />
Strukturen, ist eine der mehr oder minder ausgeprägten Perspektiven, die sich<br />
daraus ergeben - inklusive damit verbundener Freiheitsgrade. Motivationen und<br />
Antriebskräfte bündeln sich um solche Vorstellungen. <strong>Die</strong> Gegenmetapher dafür:<br />
Beim <strong>Die</strong>nst nach Vorschrift steht alles still.<br />
Niklas Luhmann betont im Rahmen solcher Zusammenhänge allerdings<br />
unbarmherzig, daß „lange Enttäuschungslisten" vielfach grundlos geführt<br />
werden, weil sich wegen der unzulänglichen Beschreibungs- und<br />
Analysemethoden, die den Forderungen der modernen Gesellschaft (nach mehr<br />
Demokratie, Emanzipation, Technik etc.), „nach mehr von all dem, was als<br />
Zukunft versprochen war," zugrunde liegen, diese teilweise eben als nicht<br />
16
einlösbar herausgestellt hätten. Für eine entschieden informationsvermittelte<br />
Steuerung sind überall erst Ansätze von Theorieangeboten und Instrumentarien<br />
greifbar. „Jede Kritik läuft leer", hält er dem eingeübten Klagepathos entgegen,<br />
„wenn sie ohne weitere Prüfung mit der Unterstellung arbeitet, daß man könnte,<br />
wenn man nur wollte". Ein wichtiges Aktionsfeld ergebe sich aus der<br />
Notwendigkeit, wegen der unübersehbaren Abhängigkeiten die „Kommunikation<br />
von Nichtwissen" als eine entscheidende Ebene zu begreifen. Als „Politik der<br />
Verständigung" führt sie zu ausgehandelten Provisorien. „Sie besagen weder<br />
Konsens, noch bilden sie vernünftige oder auch nur richtige Problemlösungen.<br />
Sie fixieren nur dem Streit entzogene Bezugspunkte für weitere<br />
Kontroversen." 23<br />
Anders und dadurch modellhaft funktioniert hat der österreichische<br />
Weinskandal, die friedliche „Revolution" einer ganzen Branche. <strong>Die</strong><br />
Bandenherrschaft eines ancien régime ist in ziviler Weise durch andere<br />
Banden, mit präziseren Vorstellungen von Qualität und „political correctness"<br />
abgelöst worden. Nichtwissen ist ein Angelpunkt dabei gewesen. Nach solchen<br />
Mustern könnten auf vielen Gebieten die Dinge in ungewöhnlicher Weise in<br />
Gang kommen (als abrupter Übergang zu anderen Formen der Stabilität, wie<br />
Luhmann Katastrophen systemtheoretisch nennt), sobald in Subsystemen durch<br />
Überschreitung kritischer Kipp-Punkte etwas ausgelöst wird. Sichtbar werden<br />
auch dabei Anzeichen für eine „Erschöpfung des Individuierungsprinzips" durch<br />
„die Vervielfachung der Mikrogruppen" und eine Verlagerung „in Richtung auf<br />
den Stamm". „Das einzig ernstliche Problem," so steht es in einem kürzlich<br />
erschienen Buch über das Schweigen, „besteht in der Schwelle, von der<br />
ausgehend die Enthaltung, die Tatsache des Sich-Absonderns, die Implosion<br />
einer bestehenden Gesellschaft hervorruft." 24<br />
17
Quellen:<br />
1 John Cage-Zitat aus der Erinnerung<br />
2 Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene (1990), Berlin<br />
1992, Seite 118 (bezogen auf New York)<br />
3 Giovanni Falcone / Marcelle Padovani: Inside Mafia. München 1992; Zitate: Seite 45, 47, 68,<br />
72, 88, 159<br />
4 vgl. Giovanni Falcone, a.a.O., Seite 119<br />
5 <strong>Die</strong> Presse, Wien, 2./3. 1. 1993 (unter Berufung auf die “Süddeutsche Zeitung" und einen<br />
internen Bericht des Bonner Innenministeriums) und vom 18. 12. 1992<br />
6 Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992; Seite 7, 205, 212, 220<br />
7 Bazon Brock: <strong>Die</strong> Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er Jahre. München 1990; Seite 127,<br />
129<br />
8 Roland Girtler, in: Korruption. Kriminalsoziologische Bibliographie, Wien, Heft 34/ 1982; Seite<br />
90 f.<br />
9 Susanne Karstedt-Henke: Soziale Bewegung und Terrorismus. Alltagstheorien und<br />
sozialwissenschaftliche Ansätze zur Erklärung des Terrorismus. In: Politik der inneren<br />
Sicherheit. Herausgegeben von Erhard Blankenburg. Frankfurt/M 1980; Seite 159, 167<br />
10 Michel Maffesoli: <strong>Die</strong> Gesetze des Geheimen. In: Schweigen. Unterbrechung und Grenze der<br />
menschlichen Wirklichkeit. Herausgegeben von <strong>Die</strong>tmar Kamper und Christoph Wulf. Berlin<br />
1992; Seite 300 ff.<br />
11 Raymond Battegay: Der Mensch in der Gruppe. Band I, 3. Auflage, Bern-Stuttgart-Wien<br />
1970, Seite 16<br />
12 Frühe Beispiele zum Thema Jugendbanden: S. Breckinridge / E. Abbott: The delinquent child<br />
and the home. New York 1917; C. R. Shaw / H. D. McKay: Social factors in juvenile<br />
delinquency: A Study of the community, the family, and the gang in relation to delinquent<br />
behavior in report on the causes of crime. Washington D. C. 1929; W. F. White: Street<br />
Corner Society. Chicago 1943; A. K. Cohen: Delinquent boys: The culture of the gang.<br />
Glencoe/Ill. 1955 - Analoges über Erwachsenenbanden: F. M. Trasher: The gang: A study of<br />
1313 gangs in Chicago, Chicago 1927; E. H. Sutherland: White-collar crime. New York 1949<br />
13 Hans Joachim Schneider: Kinder- und Jugendkriminaltität. In: <strong>Die</strong> Psychologie des 20.<br />
Jahrhunderts. Herausgegeben von Hans Joachim Schneider. Zürich 1981, Band XIV, Seite<br />
457, 458, 459<br />
14 Karl R. Popper: <strong>Die</strong> offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II (1958), München 1977,<br />
Seite 36 ff., 95, 144 f.<br />
15 Richard J. Barnet / Ronald E. Müller: <strong>Die</strong> Krisenmacher. <strong>Die</strong> Multinationalen und die<br />
Verwandlung des Kapitalismus. Reinbek bei Hamburg 1975; Seite 15<br />
16 Thomas J. Peters / Nancy Austin: Leistung aus Leidenschaft. Über Management und<br />
Führung. Hamburg 1986; Seite 11,17,152,155<br />
17 Thomas J. Peters / Robert H. Waterman jun.: Auf der Suche nach Spitzenleistungen. Was<br />
man von den bestgeführten US-Unternehmen lernen kann. Landsberg am Lech, 1984, Seite<br />
55<br />
18 Alvin Toffler: Machtbeben. Powershift. Wissen, Wohlstand und Macht im 21. Jahrhundert.<br />
Düsseldorf-Wien-New York 1990; Seite 53, 162, 231, 298, 309, 377<br />
19 Claus Offe, in: Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme. Herausgegeben von<br />
Gisela Kress und <strong>Die</strong>ter Senghaas, Frankfurt/M. 1973, Seite135<br />
20 Norbert Bolz: Philosophie nach ihrem Ende. München 1992; Seite 165<br />
21 Giuseppe Balistreri: <strong>Die</strong> mafiose Gesellschaft. Sizilien als Zerrspiegel der demokratischen<br />
Gesellschaft. Lettre International, Berlin, Nr. 6/1992<br />
22 Reinhold Knoll: Uni im Out. Der Niedergang einer Institution. Wien 1992; Seite 9, 10, 17, 18,<br />
73, 95<br />
23 Niklas Luhmann, a.a.O., Seite 13, 133, 139, 211<br />
24 Michel Maffesoli, a.a.O., Seite 305 f.<br />
© <strong>Christian</strong> <strong>Reder</strong> 1993<br />
18