Lernen half uns überleben
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<strong>Lernen</strong> <strong>half</strong> <strong>uns</strong><br />
<strong>überleben</strong><br />
Jüdische Bildungstraditionen in Europa<br />
Getto Litzmannstadt 1940-1944<br />
Instytut Tolerancji, Łódź 2007
Texte:<br />
Malgorzata Kozieł, Izabela Olejnik, Joanna Podolska, Adam Sitarek<br />
Entwurf der Ausstellung und Redaktion des Katalogs:<br />
Joanna Podolska<br />
Graphischer Entwurf, Vorbereitung und Drucklegung:<br />
Zbigniew Janeczek & Studio Bilbo, 95-060 Eufemninów 10a<br />
Die Dokumente und Fotos stammen aus den Sammlungen des Staatsarchivs in Łódź.<br />
Die Zeichnungen aus einem Album stammen aus den Archiven des Yad Vashems, Jerusalem<br />
Die Ausschnitte aus dem für Rumkowski angefertigten Album stammen aus den Sammlungen<br />
YIVO, New York<br />
Das Projekt JETE „Jüdische Bildungstraditionen in Europa“, Łódź-Polen<br />
Teil 1- Das gelobte Land und ein zweites Amerika, Łódź nach 1939<br />
Teil 2- <strong>Lernen</strong> <strong>half</strong> <strong>uns</strong> <strong>überleben</strong> „Getto Litzmannstadt“ 1940-1944<br />
Teil 3 „Wir haben versucht, alles neu zu beginnen“, Łódź nach 1945<br />
Koordinatorin des Projektes: Maria Goldstein<br />
Übersetzung aus dem Polnischen: Maria Goldstein<br />
Die deutsche Version entstand in Zusammenarbeit mit <strong>uns</strong>erem französischen Projektpartner<br />
„Societé Auvillaraise de Contacts Franco-Allemands (SFA)“, Auvillar/France)<br />
Das vorliegende Heft entstand dank der finanziellen Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft<br />
im Rahmen des Sokrates-Programms. Es wird vorbehalten, dass diese Publikation, die<br />
Inhalte des Projekts oder der Materialien nicht den Standpunkt der Europäischen Kommission<br />
oder der Nationalen Agentur widerspiegeln. In diesem Zusammenhang tragen weder die Europäische<br />
Kommission noch die nationale Agentur Verantwortung für diese Inhalte.<br />
Druck: Łódzkie Zakłady Graficzne.<br />
ISBN 83-921360-7-1
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war Łódź die zweitgrößte Stadt Polens – sowohl im<br />
Hinblick auf die Zahl seiner gesamten Einwohner als auch die der jüdischen Bevölkerung.<br />
Von seinen 650.000 Einwohnern waren 350.000 Polen, über 230.000 Juden und über<br />
60.000 Deutsche.<br />
In Łódź und in der Region dominierte die Textilindustrie. Łódź war ein einmaliger Schmelztiegel<br />
der Kulturen inmitten Polens: Russen, Tschechen, Engländer, Österreicher, Italiener und<br />
Franzosen, die verschiedene, hauptsächlich mit der Textilindustrie verbundene Geschäfte in<br />
Łódź betrieben, prägten die Stadtkultur. Solch eine Vielfalt der Kulturen war eher für grenznahe<br />
Gebiete charakteristisch, aber hier in der Mitte der Polnischen Republik war dies atypisch.<br />
Die Bewohner von Łódź schickten ihre Kinder unabhängig von ihrer Konfession in polnische<br />
Schulen und erzogen sie im Geist der Loyalität zu ihrer Lodzer Heimat. Sie haben ihre Wurzeln<br />
aber nicht vergessen. So existierten neben den polnischen Schulen auch solche, in denen man<br />
neben den Fächern in polnischer Sprache auf Deutsch, Hebräisch oder Jiddisch unterrichtete.<br />
Der Religionsunterricht in den Volksschulen wurde sowohl von katholischen und russischorthodoxen<br />
Priestern als auch durch evangelische Pfarrer und Rabbiner durchgeführt. In Łódź<br />
gab es polnische, deutsche und jüdische Theater, Chöre und Orchester. Presse und Literatur<br />
erschienen in verschiedenen Sprachen. In den Kirchen predigte man auf Polnisch, Tschechisch,<br />
oder Altkirchenslawisch, in jüdischen Gebetshäusern und Synagogen betete man auf Hebräisch,<br />
in den fortschrittlichen und assimilierten, sogar auf Polnisch.<br />
Als im September 1939 die Deutschen Polen überfielen und der Zweite Weltkrieg begann,<br />
kämpften in der polnischen Armee viele Bürger jüdischer und deutscher Herkunft. Am 9. September<br />
marschierte die deutsche Armee triumphal in Łódź ein. Dies war der Anfang des Endes<br />
vom multikulturellen Łódź. Nichts mehr war so wie früher …<br />
Das Projekt „Jüdische Bildungstraditionen in Europa (JETE)“ wird im Rahmen des EU-Programms<br />
Grundtvig 2 durchgeführt. Es setzt die Erkundung der Geschichte der Juden in den<br />
verschiedenen Ländern Europas und den verschiedenen Zeitperioden voraus. Mit diesem<br />
Beitrag bemühen wir <strong>uns</strong>, eine der schwierigsten Perioden zu bearbeiten, als in Europa der Faschismus<br />
herrschte. Der Kampf ums Überleben war das Wichtigste. Wie sich aber herausstellte,<br />
waren sogar im Getto den Juden Bildung, Kultur und K<strong>uns</strong>t äußerst wichtig.<br />
Wir wollen mit dieser Schrift die Erinnerung an Menschen wach halten, die im Getto arbeiteten,<br />
die der jüngeren Generation Unterricht erteilten, Beethoven oder Bach spielten, Freunde<br />
fotografierten oder satirische Lieder sangen. Sie retteten dadurch das, was unter diesen Bedingungen<br />
am schwierigsten zu retten war, nämlich die Menschenwürde und Hoffnung auf eine<br />
bessere Zukunft sowie die Sensibilität für das Schöne.<br />
Unser Text ist nur ein kurzer Abschnitt der Geschichte, in der Juden aus Łódź und später aus<br />
dem Getto Litzmannstadt die Hauptrolle spielen…<br />
3
Spis treści<br />
Łódź – ziemia obiecana i druga Ameryka _________________ 5<br />
Icchak Kacenelson ___________________________________ 5<br />
Historia getta Litzmannstadt ___________________________ 8<br />
Ludzie getta ________________________________________ 8<br />
Kronikarze getta _____________________________________ 9<br />
Fotografowie getta ___________________________________ 14<br />
Bajka o królewiczu i cudownym kraju ___________________ 20<br />
O „Szkółce” _________________________________________ 24<br />
Życie kulturalne w Litzmannstadt getto __________________ 26<br />
Dom Kultury ________________________________________ 26<br />
Trubadur getta: Jankiel Herszkowicz _____________________ 28<br />
Muzyka w getcie _____________________________________ 30<br />
Teatr w getcie _______________________________________ 32<br />
Książka w getcie _____________________________________ 36<br />
Słuchacze radia ______________________________________ 39<br />
Ludzie sztuki ________________________________________ 40<br />
Szkoły w getcie ______________________________________ 42<br />
Młodzi pisarze _______________________________________ 44<br />
14 tysięcy nazwisk ___________________________________ 46
Łódź- das gelobte Land<br />
und ein zweites Amerika<br />
Łódź ist eine der wenigen europäischen Städte, die im<br />
„amerikanischen Tempo“ heranwuchsen. Die eigentliche<br />
Stadtgeschichte begann erst im Jahre 1820, als Beamte<br />
des Königreiches Polen beschlossen, in Łódź eine Textilsiedlung<br />
zu gründen. Sie holten Tuchmacher und Weber aus Schlesien.<br />
Später kamen Handwerker und Geschäftsleute aus verschieden<br />
Teilen Europas, angelockt durch die Möglichkeiten, die die<br />
Lodzer Industrie bot. Unter ihnen war auch eine große Gruppe<br />
von Juden.<br />
Noch Mitte des 19. Jahrhunderts machten Deutsche 44% der<br />
Einwohner aus, Polen 35% und Juden ca. 21%. Mit der Zeit änderten<br />
sich die Proportionen. Nach 1862 hat man die Beschränkungen<br />
für Juden aufgelöst, bestimmte Wohnsitze zu haben<br />
und Berufe auszuüben. Sie kamen mit ihren Familien aus dem<br />
fernen Osten und Russland nach Łódź. Hier sahen sie ihr „gelobtes<br />
Land” und hofften, eher als in Amerika, zu Wohlstand zu<br />
kommen. Immer mehr Juden bauten eigene Fabriken und Warenhäuser.<br />
Die reichsten Lodzer Fabrikanten jüdischer Herkunft<br />
waren die Poznańskis. Sie haben einen riesigen Industriekomplex<br />
in der Ogrodowa-Strasse und einige Paläste hinterlassen.<br />
Juden gehörten auch viele Mietshäuser an der Hauptstraße,<br />
der Piotrkowska und zahlreiche Gebäude in ganz Łódź, die bis<br />
heute genutzt werden.<br />
1939 gab es in Łódź 230.000 Menschen jüdischen Glaubens. Die<br />
Zeit des Holocaust haben nur einige Dutzend in dem von den<br />
Deutschen 1940 errichteten Getto überlebt. Es war ein riesiges<br />
Arbeitsgetto.<br />
Gleich nach dem Kriegsende wurde Łódź wieder zu einem der<br />
größten Zentren jüdischen Lebens in Polen. Es gibt dazu keine<br />
Die Wschodnia- Straße, 1912<br />
Jizchak Katzenelson<br />
(1886-1944)<br />
Nur wenige sind sich dessen bewusst,<br />
dass Jizchak Katzenelson, der Dichter,<br />
Schriftsteller und Übersetzer, der<br />
während des Krieges das erschütternde<br />
Gedicht „Das Lied über das<br />
ausgerottete jüdische Volk“ schrieb,<br />
mit Łódź verbunden war und hier vor<br />
dem Krieg eine Hebräische Schule<br />
leitete.<br />
Katzenelson wurde 1886 in Korelitz<br />
bei Nowogród geboren. Zuerst wuchs<br />
er bei seiner Großmutter auf. 1892<br />
kam er nach Zgierz, wo er die Chederschule<br />
seines Vaters Jakub Beniamin<br />
besuchte. Katzenelson debütierte<br />
mit Gedichten für Kinder in der<br />
hebräischen Zeitschrift „Olam Katan“<br />
(Die kleine Welt) und mit Prosa in<br />
der Zeitschrift „Hamelic“. Mit zwölf<br />
Jahren schrieb er das Theaterstück<br />
„Dreyfus und Esterhazy“. Aufgrund<br />
der schlechten finanziellen Situation<br />
seiner Familie konnte er nicht die<br />
Lehre fortsetzen und begann in einer<br />
Textilfabrik zu arbeiten. Seine Werke<br />
wurden in hebräischen und jüdischen<br />
Zeitungen weiterhin publiziert. Als<br />
Siebzehnjähriger schrieb er das den<br />
polnisch-litauischen Juden gewidmete<br />
Prosagedicht „Bewulot Lita“, wodurch<br />
er an Popularität gewann. Nachdem<br />
er den Wehrdienst geleistet und<br />
eine kurze Reise durch Westeuropa<br />
gemacht hatte, kam er nach Łódź<br />
5
6<br />
zurück. Katzenelson gründete eine<br />
private Schule an der Zawadzka 4.<br />
(heute Próchnika) und ein humanistisches<br />
Knabengymnasium an der<br />
Zawadzka 43. Als Lehrer arbeitete<br />
er aktiv im Literaturbereich. Er war<br />
Lyriker und Dramatiker, schrieb für<br />
Kinder, übersetzte z.B. Heines Lieder.<br />
Er war hauptsächlich im jüdischen<br />
Milieu bekannt, schrieb ausschließlich<br />
auf Hebräisch und Jiddisch, nur eines<br />
seiner Werke „Rückzug“ wurde 1923<br />
ins Polnische übersetzt. Katzenelson<br />
gehörte der Künstlergruppe „Jung Jiddisch“<br />
an und arbeite in der Redaktion<br />
der Monatsschrift „Heftn far Literatur<br />
un K<strong>uns</strong>t“. Seit 1918 war er Vorsitzender<br />
des „Einstweiligen Bildungsamtes”.<br />
Er verstand sich vor allem als ein<br />
Thea termensch, war ein Mitbegründer<br />
der Hebräischen Bühne in Łódź<br />
und ein Mitglied des Jüdischen Schulrates.<br />
Gleich nach dem Ausbruch des<br />
Zweiten Weltkrieges floh er mit seiner<br />
Familie nach Warschau; es ist aber<br />
ein Dokument vorhanden, dass ihn<br />
Rumkowski im Oktober 1939 in das<br />
„Einstweilige Bildungsamt” berief. Im<br />
Warschauer Getto war Katzenelson<br />
als Pädagoge tätig und unterrichtete<br />
an Gymnasien, trat während der<br />
Autorentreffen auf. Im Getto schrieb<br />
er sein Gedicht „Hiob“ – es ist das einzige<br />
Buch auf Jiddisch, das im besetzen<br />
Polen publiziert wurde. Der Dichter<br />
war Augenzeuge der schrecklichsten<br />
Ereignisse im Warschauer Getto: Er<br />
sah Menschen, die litten, hungerten<br />
und in den Tod geschickt wurden. Er<br />
erlebte im August 1942 die Deportation<br />
seiner Frau, seiner beiden Söhne<br />
Ben Zion und Jornel und seines Bruders<br />
Berl nach Treblinka. Im Frühling<br />
genauen Daten, wie viele Personen aus den Konzentrationslagern<br />
nach Łódź zurückkehrten. Nach antisemitischen Ausschreitungen<br />
in Polen emigrierten viele Juden. Zahlreiche Familien<br />
und Einzelpersonen kamen aus den Gebieten der Sowjetunion<br />
hierher zurück, in der Hoffnung ihre Angehörigen wieder zu<br />
finden. Für die meisten war Łódź ein Ort, an dem man auf die<br />
Ausreise nach Amerika, Frankreich oder Palästina wartete. In<br />
den Jahren 1956-57 und dann 1968 waren die nächsten großen<br />
Emigrationswellen, hervorgerufen durch die von der kommunistische<br />
Regierung der polnischen Volksrepublik gesteuerten<br />
antisemitischen Verfolgungen.<br />
Von der Größe der jüdischen Bevölkerung von Łódź zeugt nicht<br />
nur die Architektur und viele Tausende von Mazewot auf dem<br />
jüdischen Friedhof, sondern auch die Namen der Wissenschaftler<br />
und Künstler, deren internationale Karieren in dieser Stadt<br />
begannen und die ihre Lodzer Wurzeln nie vergaßen. Aus Łódź<br />
stammte der berühmte Pianist Artur Rubinstein der immer<br />
betonte, ein Lodzer zu sein. Von hier aus brach Artur Szyk auf,<br />
Europa und Amerika zu erobern, ein weltbekannter Miniaturenmaler,<br />
Autor der Miniaturen „Die Satzung von Kalisz“ und „Hagada“.<br />
Jankiel Adler, ein bedeutender Maler, dessen Werke sich in<br />
Museen und privaten Sammlungen u.a. in Köln, Düsseldorf, Wuppertal,<br />
Zürich, vor allem aber in London befinden, war gebürtiger<br />
Lodzer. Auch Aleksander Tansman, Pianist und Komponist und<br />
der Dichter Julian Tuwim, waren Lodzer. Julian Tuwim betonte<br />
mehrmals, dass seine Geburtsstadt Łódź, ihm die „allerwichtigste<br />
Stadt“ sei“. Die Namen lassen sich noch weiter fortsetzen…<br />
Das multinationale Łódź aus der Vorkriegszeit spiegelt sich<br />
nicht nur in der polnischen Literatur sondern auch in der<br />
jiddischen wieder. Das bekannteste Beispiel ist der Roman “Die<br />
Brüder Aschkenasi“ von Israel Joshua Singer, dem älteren Bruder<br />
des Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer. Der Roman<br />
gilt als eine Entsprechung des Romans „Das gelobte Land“ des<br />
Artur Szyk,Die Satzung von Kalisz
Marycy Trębacz, Greiser,<br />
Jüdisches Historisches Institut<br />
polnischen Nobelpreisträgers<br />
Władysław Reymont, mit dem<br />
Unterschied, dass Singer das<br />
Leben der Lodzer Juden vor<br />
und nach dem Ersten Weltkrieg<br />
darstellt, und Reymont von<br />
der früheren Zeitgeschichte<br />
erzählt, als die Lodzer Vermögen<br />
entstanden und zunichte<br />
wurden.<br />
Auf eine moderne Art und<br />
Weise wird Łódź von Israel Rabon,<br />
einem anderen jüdischen<br />
Schriftsteller geschildert. Er<br />
verfasste u.a, die Romane „Die<br />
Straße“ und „Bałuty“. Moses Broderson, einer der wichtigsten<br />
jüdischen Dichter aus der Zwischenkriegszeit gab die Zeitschrift<br />
„Jung Jiddisch“ heraus, die junge Schriftsteller und Künstler<br />
versammelte. Eine Zeit lang wohnte hier auch ein Vertreter<br />
der älteren Generation, der Schriftsteller Jechiel Jesaje Trunk.<br />
Ein Abschnitt seiner Nachkriegserinnerungen mit dem Titel<br />
„Polin“ (Polen) ist dem Lodzer „gelobten Land“ gewidmet. Trunk<br />
erzählt vom Schriftsteller- und Malermilieu. In Łódź lebte und<br />
arbeitete Jizchak Katzenelson. Er<br />
war Hebräischlehrer und schrieb<br />
auf Hebräisch und Jiddisch. Er<br />
kam in Auschwitz ums Leben,<br />
schaffte es vorher aber noch,<br />
das erschütternde Gedicht über<br />
die Vernichtung der Juden zu<br />
schreiben „ Das Lied vom ausgerotteten<br />
jüdischen Volk“.<br />
Die Lodzer Juden spielten bei<br />
der Entwicklung der Stadt eine<br />
große Rolle. Über Jahre waren<br />
sie deutlicher Bestandteil in<br />
jedem Lebensbereich der Stadt.<br />
Hier erzählen wir die Geschichte<br />
der Menschen, die gezwungen<br />
waren, im Getto, dem abgesperrten<br />
Stadtviertel Bałuty, zu<br />
wohnen. Die meisten haben den<br />
Krieg nicht überlebt. Die wenigen,<br />
die überlebten, sind für<br />
immer durch diese tragischen<br />
Erinnerungen gezeichnet.<br />
Jankiel, Adler, Meine Eltern,<br />
K<strong>uns</strong>tmuseum Łódź<br />
1943 während des Aufstandes im<br />
Warschauer Getto wurden er und sein<br />
17jähriger Sohn Zwi auf die arische<br />
Seite geschleust, wo sie eine kurze Zeit<br />
im Versteck lebten. Um sich das Leben<br />
zu retten, kauften sie honduranische<br />
Pässe und stellten sich als Bürger eines<br />
neutralen Staates zur Sammelstelle<br />
im Hotel Polski, zusammen mit den<br />
anderen, die glaubten, dass es ihnen<br />
gelänge, Warschau zu verlassen. (Die<br />
Nazis versprachen, dass sie gegen<br />
deutsche Gefangene ausgetauscht<br />
würden). Von hier aus wurden sie<br />
nach Frankreich ins Internierungslager<br />
Vittel (Vogesen) transportiert. Dort<br />
blieb er zehn Monate. Eben in diesem<br />
Lager entstand das erschütternde<br />
Gedicht „ Das Lied vom ausgerotteten<br />
jüdischen Volk“, in dem er das<br />
unvorstellbare Leiden seines Volkes<br />
und seiner Familie beschreibt. Am<br />
17. April kam er ins Lager Drancy bei<br />
Paris und von dort aus wurde er nach<br />
Auschwitz deportiert, wo er am 1. Mai<br />
1944 vergast wurde.<br />
Der Anfang des Endes (Abschnitt)<br />
Wo ich den ersten Deutschen sah?<br />
In Lodz. Daheim. Ich floh. Mich trieb<br />
der Hoffnungswahn,<br />
der Wahn der Furcht. Schutz suche<br />
ich.<br />
bei Freunden. Chanah ging mit mir.<br />
Die Nacht war kühl.<br />
Ein Deutscher stand vor einem Tor:<br />
Der Tod. Er sah <strong>uns</strong> nach. Doch – hielt<br />
er <strong>uns</strong> nicht an.<br />
Wir gingen weiter. Droht die Gefahr?<br />
Gewiss. Ein Schuss – der Schuss galt<br />
<strong>uns</strong>. Ein Anderer fiel.<br />
Wir. Wir. Wir selber sind<br />
gefallen. Chanah Du. Und ich. Er<br />
wollte Judenblut,<br />
nur wusste er nicht, wer wir sind.<br />
Wie loderte sein Hass, wie war sein<br />
Blick verroht.<br />
Nicht langsamer, nicht schneller<br />
gingen wir:<br />
wir zitterten. Und zeigten dennoch<br />
Mut.<br />
(..) Wozu? Uns alle hat sein Schuss<br />
getroffen: Kein Chanah lebt seit jener<br />
Nacht<br />
Tot liegen wir. Tot sind die Kinder.<br />
Jeder Jude starb mit <strong>uns</strong>: im Christenland<br />
„Das Lied vom letzten Juden“ in der Nachdichtung<br />
von Hermann Adler<br />
7
8<br />
Die Menschen<br />
im Getto<br />
Das Getto Litzmannstadt durchliefen<br />
200.000 Menschen, einige Hundert,<br />
vielleicht einige Tausend überlebten<br />
den Krieg. Unter Menschen, die im<br />
Getto oder in Vernichtungslagern<br />
starben, waren viele Künstler, Musiker<br />
und Schriftsteller, die in Łódź vor dem<br />
Krieg lebten, u.a. der Maler Maurycy<br />
Trębacz, die Dichterin Miriam<br />
Ulanower und der Komponist Dawid<br />
Beigelman. Viele weltberühmte<br />
Wissenschaftler und Künstler kamen<br />
ins Getto Litzmannstadt mit den<br />
Transporten aus Westeuropa: aus<br />
Prag, Berlin, Wien. „Eingesiedelt”<br />
wurden u.a. der bekannte Pianist<br />
Dawid Birkenfeld, der Opernsänger<br />
Rudolf Bandler und der expressionistische<br />
Dramaturg Paul Kornfeld. Unter<br />
den Deportierten waren: Professor<br />
Caspari, ein bekannter Onkologe,<br />
der Entdecker Edmund Speyer und<br />
der Chemiker Hugo Ditz aus Prag,<br />
Kandidat für den Nobelpreis. Die<br />
Aufzählung der Namen könnte man<br />
lange fortsetzen. Auch die Schwestern<br />
von Franz Kafka, Gabriela Hermann<br />
und Valeria Pollak waren im Getto.<br />
Die beiden wurden im September von<br />
hier aus deportiert und in Kulmhof<br />
am Ner ermordet.<br />
Im Getto entstanden Reportagen,<br />
Essays, und Tagebücher, geschrieben<br />
von bekannten Publizisten aus der<br />
Vorkriegszeit wie Oskar Singer, Oskar<br />
Rosenfeld und Josef Zelkowicz, Sie<br />
waren auch Mitverfasser der „Getto-<br />
Chronik“. Ihre Werke überdauerten,<br />
obwohl sie selbst ums Leben kamen.<br />
Wir erinnern nur an wenige unter<br />
ihnen, die trotz der katastrophalen<br />
Bedingungen im Getto versuchten,<br />
wenigstens auf ihre Art ein Zeugnis<br />
jener Zeit abzulegen und zu beweisen,<br />
dass sogar unter den schlimmsten Bedingungen<br />
die Idee des Menschlichen<br />
und der Schönheit erhalten bleiben<br />
können.<br />
Die Geschichte des Gettos Litzmannstadt<br />
Gleich nach der Besetzung von Łódź durch die Deutschen<br />
im September 1939 begannen die Repressionen<br />
gegenüber der Lodzer Bevölkerung. Łódź sollte in das<br />
Deutsche Reich eingegliedert werden. Die Nazis wollten Łódź<br />
zur „rassenreinen“ Stadt machen. In dieser sollte es für Polen<br />
und vor allem für Juden keinen Platz mehr geben.<br />
An den Mauern der Stadt wurden Bekanntmachungen mit<br />
den Verboten und Verordnungen des Besatzers veröffentlicht.<br />
Die Nazis verhafteten Vertreter der polnischen Intelligenz und<br />
Geistliche und schlossen katholische Kirchen. Im November<br />
rissen sie das Taudeusz-Kościuszko-Denkmal, das Symbol des<br />
polnischen Patriotismus, ab. Doch die weitaus schlimmsten<br />
Repressionen betrafen die jüdische Bevölkerung von Łódź. Im<br />
November wurden die vier Lodzer Synagogen niedergebrannt.<br />
Von Tag zu Tag führte man immer größere Restriktionen<br />
gegenüber den Juden ein, so dass ein normales Leben unmöglich<br />
wurde: es gab z.B. ein Handelsverbot für bestimmte<br />
Waren; die Verordnung, alle Fabriken und Geschäfte mit<br />
Symbolen zu markieren, welche die Nationalität des Besitzers<br />
kennzeichneten wurde. Juden war verboten, die Piotrkowska-<br />
Strasse und die städtischen Parks zu betreten. Sie mussten den<br />
Deutschen auf der Strasse aus dem Weg gehen, Armbinden<br />
und später den Davidstern tragen. Jeden Tag wurden hunderte<br />
Juden zu schwerer Arbeit, für die sie kein Entgelt erhielten,<br />
verpflichtet. Sie wurden verprügelt und erniedrigt. Ihre Situation<br />
verschlechterte sich von Woche zu Woche.<br />
Der Beschluss über die Errichtung des Gettos fiel im Dezember<br />
1939, Anfang 1940 wurde es errichtet. Am 8. Februar erschien<br />
in der „Lodscher Zeitung“ die Verordnung des nationalsozia-<br />
Brücke über die Zgierska Straße im Getto Litzmannstadt
Fußgängerübergang an der Lotnicza Straße<br />
listischen Polizeipräsidenten von Łódź, Johannes Schäfer, dass<br />
im nördlichen Teil der Stadt ein Wohnviertel für Juden errichtet<br />
werden soll. Alle Juden mussten ihre Wohnungen in anderen<br />
Stadtteilen verlassen und in den neuen „jüdischen Wohnbezirk“<br />
Bałuty ziehen. Die dort wohnenden Polen und Deutschen mussten<br />
ihre Wohnungen verlassen. Zuerst waren die Juden über diese<br />
Verordnung erleichtert. Sie hofften darauf, in einem geschlossenen<br />
Viertel von antisemitischen Attacken und Plünderungen<br />
verschont zu bleiben. Die endgültige Schließung des Gettos<br />
und Isolierung vom Rest der Stadt erfolgte am 30. April 1940. Im<br />
März 1940 bekam Łódź den Namen: Litzmannstadt – nach dem<br />
General Karl von Litzmann, der während des Ersten Weltkrieges<br />
eine Schlacht in der Nähe von Łódź gewonnen hatte.<br />
Das Getto Litzmannstadt – so lautete seine offizielle Bezeichnung<br />
– entstand in Bałuty und in der Altstadt, den am meisten<br />
vernachlässigten Stadtteilen. Auf einer Fläche von 4,13 km 2<br />
pferchte man 160.000 Menschen zusammen. 70.000 gelang<br />
es, rechtzeitig in die Sowjetunion zu fliehen.<br />
Im Herbst 1941 deportierten die Deutschen ca. 20.000 Juden<br />
aus Westeuropa in das Getto Litzmannstadt: aus Österreich,<br />
der Tschechoslowakei, Luxemburg und Deutschland. Dazu<br />
kamen über 5.000 Roma und Sinti aus dem Burgenland. Die<br />
jüdischen Bewohner der umliegenden Städte Brzeziny, Łask,<br />
Ozorków, Pabianice, Włocławek wurden ebenfalls in das Getto<br />
Litzmannstadt deportiert. Insgesamt durchliefen das Getto<br />
von Łódź über 200.000 Juden. Überlebenschancen hatten nur<br />
die Personen, die arbeiten konnten – sie bekamen Lebensmittelmarken<br />
und manchmal eine zusätzliche Suppe.<br />
Von Beginn an war das Getto Litzmannstadt ein großes Arbeitsgetto.<br />
Hier wurden Uniformen, Mützen, Schuhe, Rucksäcke etc.<br />
für die deutsche Wehrmacht hergestellt. Die Gettobewohner<br />
Chronisten des Gettos<br />
Eines der wichtigsten Dokumente des<br />
Zweiten Weltkrieges die „Chronik des<br />
Gettos Litzmanstadt“ entstand in den<br />
Jahren 1941-1944 in der Statistischen<br />
Abteilung des Gettos. Daran arbeiteten<br />
jüdische Journalisten, Schriftsteller und<br />
Wissenschaftler aus Polen, Österreich<br />
und der Tschechoslowakei, die in das<br />
Getto deportiert worden waren. Nur<br />
einer der Chronisten, Ingenieur Bernard<br />
Ostrowski, überlebte den Krieg. Alle<br />
anderen starben im Getto oder wurden<br />
in den Vernichtungslagern ermordet.<br />
Bernard Ostrowski<br />
(1908-?)<br />
Er wurde 1908 in Łódź geboren. Vor<br />
dem Krieg wohnte er in der Piramowicza,<br />
im Getto in der Zgierska 8. Im<br />
März 1941 nahm er seine Tätigkeit im<br />
Archiv des Gettos auf. Ostrowski beschäftige<br />
sich mit der Redaktion von<br />
Bulletins, ab1943 leitete er die Historische<br />
Abteilung. Er überlebte den Krieg<br />
und kehrte nach Łódż zurück. Später<br />
emigrierte Bernard Ostrowski nach<br />
Israel und lebte in Holon.<br />
Józef Klementynowski<br />
(1892-1944)<br />
Vor dem Krieg wohnte er in der Narutowicza<br />
39 und war als Prokurist in<br />
der Firma Adam Osser in Łódź tätig.<br />
Klementynowski leitete das Gettoarchiv<br />
vom November 1940 bis zum 24.<br />
Februar 1943. Ab Februar 1943 war er<br />
Leiter der Leihkasse im Getto.<br />
Julian Cukier (Pseudonym<br />
Stanislaw Cerski) (1900-1943)<br />
Von Beruf Redakteur und Journalist.<br />
Cerski war vor dem Krieg mit der<br />
Zeitung „Republik“ verbunden. Er war<br />
der erste Leiter der Gettochronik, vom<br />
Januar 1941 bis er im Januar 1943 an<br />
Tuberkulose erkrankte. Vor dem Krieg<br />
wohnte er in Łódź in der Wólczańska,<br />
im Getto in der Franciszkańska 38. Er<br />
starb am 7.4.1943 im Getto und wurde<br />
auf dem jüdischen Friedhof in Łódź<br />
bestattet.<br />
9
10<br />
Abraham Szalom<br />
Kamieniecki (1874-1943)<br />
Abraham Kamieniecki war Doktor der<br />
Philosophie, Hebraist und Talmudist.<br />
Er stammte aus der Nähe von Grodno,<br />
dort erhielt er auch seine religiöse<br />
Bildung. Später studierte er an den<br />
Universitäten in Heilderberg, Breslau,<br />
Berlin und Bern, promovierte in<br />
Philosophie und spezialisierte sich auf<br />
Hebräisch, Chaldäisch und Bibelkunde.<br />
Kamieniecki war in wissenschaftlichen<br />
Kreisen hoch angesehen. Er schrieb<br />
u. a. Stichwörter für die auf Russisch<br />
herausgegebene jüdische Enzyklopädie.<br />
Ab 1925 lebte er in Łódź an der 11<br />
Listopada 43. Im Getto Litzmanstadt<br />
leitete er von Anfang an das Bildungsamt,<br />
ab April 1942 arbeitete er im<br />
Archiv. Kamieniecki wohnte im Getto<br />
in der Jakuba 8. Am 21. Juni 1943 starb<br />
er und wurde unter großer Anteilnahme<br />
auf dem Jüdischen Friedhof an der<br />
ul. Bracka beigesetzt.<br />
Józef Zelkowicz<br />
(1898-1944)<br />
Er stammte aus einer chassidischen Familie<br />
in Konstantynów. Dort besuchte<br />
er die Jeshiwa, absolvierte ein weltliches<br />
Lehrerseminar und wurde Rabbiner.<br />
Sein Interesse galt der jüdischen<br />
Folklore. Zunächst schrieb Zelkowicz<br />
für die polnische Presse, später aber nur<br />
noch für die jüdische Presse in Łódź,<br />
Warschau und New York. Ab 1929<br />
arbeitete er in der er Abteilung des<br />
Vilnischen Jüdischen Forschungsinstitutes<br />
(YIVO). Verbunden mit der Gruppe<br />
„Jung Jidysz“. Zelkowicz wohnte in Łódź<br />
in der Gdańska 8. Er sammelte auch<br />
nach seiner „Übersiedlung“ in das Getto<br />
weiter ethnographische Materialien.<br />
1940 musste er mit seiner Familie in<br />
das Getto umziehen und wohnte dort<br />
in der Limanowskiego 47 und später in<br />
der Urzędnicza 9. Er war Mitglied der<br />
Archivabteilung. Dort verfasste und<br />
redigierte er Texte des Bulletins der<br />
Tageschronik. Zelkowicz ist Autor eines<br />
Tagebuches auf Jiddisch (es erschien im<br />
Jahre 2002 auf Englisch unter dem Titel<br />
„In those terrible days“). Er wurde im<br />
August 1944 nach Auschwitz-Birkenau<br />
deportiert und dort ermordet.<br />
nähten Unterwäsche, Pelze, stellten Lampenschirme, Möbel,<br />
sogar Spielsachen auf Bestellung deutscher Firmen her. Die<br />
Produkte wurden nach Deutschland transportiert und dort verkauft.<br />
Nur dank der Tatsache, dass die Lodzer Juden als Arbeitskräfte<br />
gebraucht wurden, konnte das Getto bis 1944 existieren.<br />
Die Bewohner des Gettos arbeiteten für den Bedarf der deutschen Armee<br />
Leiter der deutschen Gettoverwaltung war Hans Biebow, ein<br />
Kaufmann aus Bremen. Er wusste genau, wie man so viele Hände<br />
zur Arbeit ausnutzen konnte. Der deutschen Verwaltung unterstand<br />
die jüdische Gettoverwaltung unter Chaim Mordechai<br />
Rumkowski, dem Judenältesten. Vor dem<br />
Krieg war Rumkowski Versicherungsvertreter,<br />
zionistischer Aktivist, u. a. leitete er<br />
ein Waisenheim in Helenówek. Im Getto<br />
war er Herr über Leben und Tod. Manche<br />
Gettobewohner nannten ihn „König des<br />
Ghettos“.<br />
Die Bewohner des Gettos Litzmannstadt starben an Hunger,<br />
Erschöpfung und Seuchen. Die Essensrationen waren sehr<br />
gering, die Versorgung des Gettos schlecht. Mitte des Jahres<br />
1942 betrug z. B. eine Tagesration 600 Kalorien. Im Januar<br />
1942 begannen die Deportationen aus dem Getto Łódź in das<br />
Vernichtungslager Kulmhof am Ner. Bis Mai wurden ca.57.000<br />
Menschen dort vergast. Die weiteren Deportationen erfolgten<br />
im September. Während der sogenannten „Großen Sperre“<br />
verschleppten die Nazis Kinder unter zehn Jahren und Alte<br />
über 65 Jahren. Wie die Nazis betonten, waren sie als arbeitsunfähige<br />
ein „überflüssiges Element“. Insgesamt wurden in den<br />
Vernichtungslagern 15.681 Menschen ermordet. Die Gettobewohner<br />
gingen mit Zügen vom Gettobahnhof Radegast<br />
in den Tod. Ein Gebäude des alten Bahnhofs steht noch. Das<br />
Getto Litzmannstadt bestand bis zum Sommer 1944. Es war das<br />
letzte Getto im besetzen Polen. Alle anderen Gettos wurden
Oskar Singer (1893-1944)<br />
Jurist, Schriftsteller/Journalist. Vor<br />
dem Krieg Autor vieler wichtiger Artikel<br />
, u. a. „Prager Tageblatt“, Montag“,<br />
„Selbstwehr“. Der Literat und Publizist<br />
erfreute sich gro0ßer Anerkennung.<br />
Am 26. Oktober mit einem Transport<br />
der Juden aus Prag in das Getto<br />
Litzmannstadt deportiert. Oskar<br />
Singer arbeitete in der Statistischen<br />
Abteilung des Judenältesten. Ab April<br />
leitete er das Team der „Chronik des<br />
1942 wurden aus dem Getto Litzmannstadt über 70.000 Menschen deportiert<br />
bereits in den Jahren 1942 und 1943 zerstört. Die Auflösung<br />
des Gettos Litzmannstadt begann am 23. Juni 1944. Bis zum<br />
14. Juli wurden über 7.000 Personen nach Kulmhof am Ner<br />
(Chelmno nad Nerem) deportiert und ermordet. Vom 9. bis zum<br />
29. August erfolgte die Deportation von über 70.000 Personen<br />
nach Auschwitz-Birkenau. Auf dem Gettogelände blieben etwa<br />
800 Personen als Aufräumkommando zurück. Einige Hundert<br />
Gettobewohner schickte Hans Biebow zur Arbeit in Fabriken in<br />
der Nähe von Berlin. Der Trannport erfolgte im Oktober 1944.<br />
Als die Rote Armee im Januar 1945 in Łódź einmarschierte, lebten<br />
auf dem ehemaligen Gettogelände von Bałuty noch einige<br />
Hundert Menschen, die sich dort versteckt hatten.<br />
Es gibt keine genauen Angaben, wie viele Juden aus dem Getto<br />
Litzmannstadt überlebten. In verschiedenen Publikationen werden<br />
unterschiedliche Zahlen angegeben: von ein paar Hundert<br />
bis zu einigen Tausend. Auf dem jüdischen Friedhof in der ul.<br />
Bracka sind ca. 45.000 Personen, die im Getto starben, begra-<br />
Die Auflösung des Gettos Litzmannstadt im September 1944<br />
Gettos Litzmannstadt“ und war dort<br />
einer der Autoren. Auch während<br />
des Krieges schrieb er Reportagen.<br />
Manche von ihnen kommentierten<br />
und ergänzten die in der Chronik beschriebenen<br />
Ereignisse, andere schrieb<br />
er heimlich. Singers Reportagen, die<br />
im Staatsarchiv in Łódź und in YIVO<br />
gefunden wurden, erschienen im Jahr<br />
2002 auf Deutsch und Polnisch unter<br />
dem Titel „Im Eilschritt durch den<br />
Gettotag“. Dieses Tagebuch ist ein<br />
wichtiges Zeugnis über das Leben im<br />
Getto Litzmannstadt und über das<br />
Verhältnis zwischen Ost- und Westjuden.<br />
Im Getto wohnte Oskar Singer an<br />
der Limanowskiego 47. Im September<br />
1944 wurde er samt seiner Familie<br />
mit einem der letzten Transporte in<br />
das Vernichtungslager Auschwitz<br />
deportiert und vermutlich auf einem<br />
Todesmarsch im Januar 1945 gestorben.<br />
Seine Kinder, die Tochter Ilza und<br />
der Sohn Erwin, überlebten den Krieg.<br />
11
Oskar Rosenfeld<br />
(1884-1944)<br />
Journalist, Schriftsteller zionistischer<br />
Aktivist. Rosenfeld stammte aus<br />
Mähren. Sein Studium der Philologie<br />
und K<strong>uns</strong>tgeschichte schloss er mit der<br />
Promotion ab. Er war Literat, Redakteur<br />
und Kritiker, Mitbegründer der ersten<br />
jüdischen Bühne in Wien. Nach dem<br />
Anschluss Österreichs floh er nach<br />
Prag, von dort wurde er im Oktober<br />
1941 in das Getto Litzmannstadt<br />
deportiert. In der Statischen Abteilung<br />
arbeitete Oskar Rosenfeld ebenfalls an<br />
12<br />
der Gettochronik. Ähnlich wie Singer<br />
führte er sein privates Tagebuch, das ein<br />
wichtiges Zeugnis und ein erschütterndes<br />
Dokument ist - eine Sammlung<br />
von Notizen, Reflexionen, literarischen<br />
Skizzen für zukünftige Erzählungen,<br />
die den dramatischen Alltag des Gettos<br />
zeigen. Im August 1944 wurde er<br />
nach Auschwitz deportiert und starb<br />
dort. Sein auf Deutsch geschriebenes<br />
Tagebuch wurde 1994 unter dem Titel<br />
„Wozu noch Welt. Aufzeichnungen<br />
aus dem Getto Lodz“, veröffentlicht.<br />
Die englische Ausgabe erschien 2007,<br />
Titel „In the beginning was the Ghetto:<br />
Notebooks from Lodz“.<br />
Bernard Heilig<br />
(1902-1943)<br />
Wirtschaftshistoriker/Geschäftsmann.<br />
Heilig beschäftigte sich u. a. mit der<br />
Wirtschaftsgeschichte der Juden. Im<br />
Oktober 1941 wurde er aus Prag in<br />
das Getto Litzmannstadt deportiert.<br />
Im Getto wohnte er zunächst an der<br />
Franciszkańska 13 und später an der<br />
Dolna 13. Im März 1943 erkrankte<br />
Bernard Heilig an Tuberkulose und<br />
starb am 29 Juni 1943 im Getto. Heilig<br />
wurde auf dem jüdischen Friedhof an<br />
der Bracka beigesetzt.<br />
Eines der Tausend Begräbnisse auf dem sogenannten Gettofeld auf dem jüdischen<br />
Friedhof<br />
ben. Die meisten ruhen auf dem so genannten Ghettofeld. Viele<br />
wurden aber entlang der Mauer und an den Wegen auf dem<br />
„Neuen Feld“ beerdigt. Die Grabstätten des Malers Maurycy<br />
Trębacz und von David Sierakowiak wurden z. B. in der Nähe<br />
des Poznański- Mausoleums gefunden.<br />
Diejenigen, die das Getto überlebten, verließen Polen nach<br />
dem Krieg und zogen u. a. in die USA und nach Palästina<br />
(Israel). Ihre Nachkommen wohnen heute u.a. in Israel, Frankreich,<br />
den USA, Argentinien, Australien und in vielen anderen<br />
Ländern. Ihre Erinnerungen, Tagebücher sowie Gedichte,<br />
Erzählungen, Zeichnungen, Fotos und verschiedene Erinnerungsstücke<br />
sind ein einmaliges Zeugnis jener Zeit. Durch<br />
sie können wir heute einen Abschnitt der Geschichte kennen<br />
lernen, der nicht in den offiziellen Gettodokumenten zu finden<br />
ist. Sie machen deutlich, dass<br />
in den grausamen Kriegsund<br />
Besatzungsjahren, trotz<br />
Hunger, Verfolgung und Tod<br />
die Hoffnung auf eine bessere<br />
Zukunft zum Überleben <strong>half</strong>.<br />
Diese Hoffnung gab den Gettobewohnern<br />
Literatur, K<strong>uns</strong>t,<br />
Musik und Unterricht.<br />
Geburtstagsglückwünsche für den<br />
Vorsitzenden Rumkowski aus den<br />
Sammlungen des Staatsarchivs Łódź<br />
Łódź wurde während des<br />
Krieges nicht zerstört. Zahlreiche<br />
Gebäude im ehemaligen<br />
Gettobezirk blieben<br />
erhalten. Die fast vollständige<br />
Dokumentation des Gettos<br />
ist noch vorhanden und im<br />
Staatsarchiv von Łódź, im<br />
Jüdisch-Historischen Institut
in Warschau, Yad Vashem in Jerusalem, dem YIVO-Institut in New<br />
York, im Holocaustmuseum in Washington einzusehen. Alben,<br />
Bilder, Arbeitsausweise, Schulzeitungen und Tausende von Fotos<br />
die den Krieg überdauerten befinden sich in den Archiven. Zu<br />
den wichtigsten Dokumenten des Gettos gehört „Die Chronik<br />
des Gettos Litzmannstadt“. Sie wurde in dem von Rumkowski<br />
gegründeten Archiv, in der Statistischen Abteilung, geschrieben.<br />
Jüdische Publizisten und Schriftsteller verfassten die Chronik. Ab<br />
12. Januar 1941 erschien ein „Bulletin der Tageschronik“ in polnischer<br />
Sprache. Ab Herbst 1941 arbeiteten auch aus dem Westen,<br />
z. B. aus Prag und Wien, deportierte Juden an der Chronik. Vom<br />
September an bis Ende Dezember 1942 erschien die Chronik<br />
auf Deutsch und Polnisch. Ab Januar 1943 bis zum 30. Juli 1944<br />
wurde sie nur auf Deutsch als Tageschronik geschrieben<br />
Der erste Archivleiter war Stanisław Cukier-Cerski, vor dem Krieg<br />
Journalist der „Republik“. Ab Februar 1943 leitete Oskar Singer<br />
aus Prag das Archiv. Die in der Chronik enthaltenen Informationen<br />
geben ihren Lesern ein genaues Bild vom Leben im Getto.<br />
Man erfährt, welche Verordnungen erschienen, welche Reden<br />
Rumkowski hielt, wer das Getto besuchte, wie viele Personen<br />
geboren wurden und wie viele starben. Der Umfang der Lebensmittelzuteilungen<br />
und die Preise auf dem Schwarzmarkt<br />
sind ebenfalls vermerkt. Welche Probleme das Getto beschäftigten,<br />
worüber geklatscht wurde, wohin man ins Konzert ging,<br />
alles wurde dokumentiert. Nur selten nahmen die Chronisten<br />
persönlich zu den Ereignissen Stellung. Obwohl die Chronik<br />
zensiert und in einem sehrsachlichen, teilweise ironischen Stil<br />
geschrieben wurde, gilt sie als eine <strong>uns</strong>chätzbare Quelle über<br />
das Leben im Getto. Im Jahre 1944 begann die Arbeit an der<br />
Enzyklopädie des Gettos. Hier sollten die wichtigsten Personen<br />
und Institutionen stichwortartig beschrieben werden. Die Mitarbeiter<br />
der Chronik waren auch die Verfasser der Enzyklopädie.<br />
Bisher wurde die Enzyklopädie noch nicht veröffentlicht.<br />
In den sechziger Jahren erschienen zwei Bände der „Chronik<br />
des Lodzer Gettos“ in polnischer Sprache (die Jahre 1943und<br />
1944). Herausgeber waren Danuta Dąbrowska und Lucjan Dobroszycki.<br />
Das Erscheinen der weiteren Bände wurde, obwohl<br />
sie schon für den Druck fertig waren, nach dem März 1968<br />
gestoppt. Lucjan Dobroszycki veröffentlichte in den USA eine<br />
gekürzte Fassung der Chronik auf Englisch, eine Auswahl der<br />
Jahre 1941-1944. Vier Bände wurden in Hebräisch publiziert.<br />
Die vollständige Edition, an der Wissenschaftler der Universitäten<br />
Giessen und Łódź gemeinsam mit dem Staatsarchiv in<br />
Łódź einige Jahre gearbeitet haben, ist in deutscher Sprache<br />
im November 2007 erschieben. Die polnische Fassung wird<br />
wahrscheinlich im Jahr 2008 veröffentlicht.<br />
Samuel (Szmul) Hecht<br />
(1923 – 1943)<br />
Schäftemacher, später Archivmitarbeiter.<br />
Der jüngste Chronist stammte<br />
aus Wieluń, von dort wurde er in das<br />
Getto Litzmannstadt deportiert. Er<br />
erkrankte ebenfalls an Tuberkulose<br />
und starb am 12. Oktober 1943 im<br />
Getto. Er wurde auf dem jüdischen<br />
Friedhof in Łódź bestattet.<br />
Alice (Chana) de Buton<br />
(1901-1944)<br />
Geboren in Berlin, ging nach Wien<br />
und wurde von dort am 15.10.1941 in<br />
das Getto Litzmannstadt deportiert.<br />
Alice de Buton war Sekretärin/Mitarbeiterin<br />
im Archiv und schrieb nicht<br />
nur für die Gettochronik sondern<br />
verfasste auch Essays, Gedichte und<br />
Skizzen. Im August 1944 wurde sie<br />
nach Auschwitz deportiert.<br />
Dr. Peter Wertheimer<br />
(1890-1944)<br />
Man weiß nicht viel über ihn. Wertheimer<br />
war Philologe und Industrieller<br />
und wurde mit seiner gesamten<br />
Familie am 21. Oktober 1941 aus Prag<br />
in das Getto Litzmannstadt deportiert.<br />
Gestorben in Auschwitz.<br />
Die Aussicht aus dem Fenster der Statistischen<br />
Abteilung am Kościelny Plac 4, wo<br />
die Chronik entstand<br />
13
14<br />
Mendel Grosman<br />
(1913-1945)<br />
Maler und Fotograf. Er wurde in<br />
einer chassidischen Familie in Gorzkowice<br />
geboren. Seit seiner früheren<br />
Jugendzeit befasste er sich mit K<strong>uns</strong>t.<br />
Er zeichnete, malte, fotografierte. Die<br />
künstlerische Begabung erbte er von<br />
seinem Vater, Szmul David, der –wie<br />
Arie Ben Menachem schreibt- nicht<br />
nur auf Glas malte sondern sich auch<br />
mit der typischen jüdischen Scherenschnittk<strong>uns</strong>t<br />
befasste. Seine Mutter<br />
hieß Hanna –Ruda Grosman. Die<br />
Grosmans zogen nach dem Ersten<br />
Weltkrieg nach Łódź . Sie wohnten in<br />
der Piłsudskiego 58 (heute Wschodnia).<br />
Mendel Grosman war Autodiktat.<br />
In den dreißiger Jahren gehörte er<br />
zur Lodzer künstlerischen Boheme.<br />
Seine Zeichnungen aus dieser Zeit<br />
blieben erhalten. Sie werden im<br />
Ghetto Fighters House (Lohamei Hagetaot)<br />
in Israel aufbewahrt. Außer<br />
den ausgezeichneten Skizzen aus den<br />
zwanziger und dreißiger Jahren, u. a.<br />
Portraits alter, die Tora studierenden<br />
Juden, Kinder und Frauen, Landschaften,<br />
gibt es Fotos, die den Besuch<br />
des Theaters „Habima“ im Jahre<br />
1938 zeigen. Grosman machte damals<br />
einmalige Fotos der Schauspieler,<br />
die er von einer Seite der Bühne<br />
aus aufnahm. Dr. Prima Rosenberg ist<br />
der Meinung, dass dies eine Wende<br />
in der künstlerischen Wahrnehmung<br />
des jungen Fotografen war. „Versteckt<br />
in einem Flügel der Bühne machte er<br />
eine erstaunliche Fotoreihe, indem er<br />
sich auf die Bewegung konzentrierte.“<br />
Später fotografierte er auf die gleiche<br />
Art und Weise das geschlossene jü-<br />
Die Fotografen des Ghettos<br />
Fotos sagen oft viel mehr über das Leben im Getto aus als<br />
in Tagebüchern, Erinnerungen und Dokumenten steht. Sie<br />
zeigen die Vielfalt, Normalität, Schönheit und Grausamkeit des<br />
Lebens im Getto.<br />
Im Staatsarchiv in Łódź werden 27 Fotoalben aus dem Getto<br />
Litzmannstadt aufbewahrt. Jedes enthält 800 bis 1000 Kontaktabzüge<br />
von Kleinbildnegativen. Insgesamt über 20.000<br />
Fotos, die in den Jahren 1940-1944 im Getto Litzmannstadt<br />
gemacht wurden. Die Alben wurden noch im Getto mit Informationen<br />
versehen. In jedem gibt es handgeschriebene Informationen<br />
auf Deutsch und Polnisch. Fotos aus den Arbeitsressorts<br />
und aus der Gesundheitsabteilung, der Schulabteilung,<br />
der Versorgungsabteilung geben ein Bild vom Alltag wieder.<br />
Abgebildet sind Menschen bei der Arbeit und mit von ihnen<br />
hergestellte Waren: Strohschuhe, Teppiche, Eimer. Zahlreiche<br />
Fotos zeigen Gettobewohner bei normalen alltäglichen Verrichtungen:<br />
Sie sitzen mit Kollegen oder Bekannten am Tisch,<br />
sie kochen, sie sind in ihrem häuslichen Umfeld zu sehen. Man<br />
könnte meinen, sie trotzen dem Krieg und den schrecklichen<br />
Lebensumständen. Die Fotos sind häufig nicht mit den Namen<br />
der Fotografen unterschrieben. Es waren aber ohne Zweifel<br />
vor allem Mendel Grossmann und Henryk Ross, offiziell angestellt<br />
in der Statischen Abteilung. Beide Fotografen haben<br />
aber häufig ihre Fotos auf der Rückseite beschriftet und die<br />
Situation und die Menschen beschrieben.<br />
Es gab aber vermutlich noch mehr Fotografen: In der „Chronik<br />
des Lodzer Gettos“ ist unter dem 10.-13. Januar 1942 über eine<br />
Einer der Kontaktabzüge aus dem im Staatsarchivs Łódź aufbewahrten Album
Henryk Ross nimmt die Gettobewohner für seine eigene Dokumentation auf<br />
Fotografengenossenschaft zu lesen: Der Judenaelteste erteilte<br />
der Genossenschaft der vereinigten Fotografen eine Konzession.<br />
Als Mitglieder traten 11 Fotografen bei mit Ausnahme derjenigen,<br />
die in den Gemeindeinstitutionen taetig sind. Die Genossenschaft<br />
verfügt über zwei Fotoateliers in der Brzezińska 11 und der Lutomierska<br />
34. Es ist nicht auszuschließen, dass die Genossenschaft<br />
in Zukunft von der Gemeinde übernommen wird.<br />
Mehr weiß man nicht darüber. In der Chronik wurde die<br />
Genossenschaft bis zum Ende der Aufzeichnungen nicht<br />
mehr erwähnt. Die letzten Notizen stammen vom Juli 1944.<br />
der letzte Transport fuhr am 29. August vom Bahnhof Radegast<br />
nach Auschwitz-Birkenau ab. Wir wissen nicht, welche<br />
Fotografien die Angehörigen der Genossenschaft machten,<br />
für wen sie arbeiteten und wo ihre Fotos sind. Man kann aber<br />
doch annehmen, dass manche der in den Alben aufbewahrten<br />
Fotografien von ihnen stammen. Es ist gelungen, den Namen<br />
eines Fotografen herauszufinden: Lajb Maliniak (geboren<br />
1908). Vor dem Krieg wohnte er an der Środmiejska 18, im<br />
Getto an der Młynarska 25. In den Jahren 1940-1943 hatte er<br />
einen Fotoladen an der Zawiszy.<br />
Mendel Grosman vermutlich mit Lajb Maliniak<br />
dische Wohnviertel in Łódź. Als die<br />
Nazis ein Getto in Bałuty errichteten,<br />
wurde Mendel Grosman als Fotograf<br />
in der Statistischen Abteilung eingestellt.<br />
Zu seinen Aufgaben gehörte<br />
Anfertigung der Fotos für Arbeitskarten,<br />
von im Getto hergestellten Produkten<br />
und der Menschen bei ihrer<br />
Arbeit. Mit seiner Familie wohnte er<br />
an der Marysinska 55, wo sich auch<br />
sein Studio befand. Grosman konnte<br />
die Filme entwickeln und hatte<br />
Zugang zu Fotomaterialien. Im Getto<br />
machte er Tausende von Fotos, einen<br />
Teil illegal. Er verewigte das Gettobild<br />
und seine Bewohner für immer. Man<br />
vermutet, dass seine illegale Tätigkeit<br />
dem Judenältesten Rumkowski<br />
bekannt wurde. Sein Brief an Grosman,<br />
in dem er ihm streng verbietet<br />
nach der Arbeit zu fotografieren, ist<br />
erhalten geblieben. Grosman hielt<br />
sich aber offensichtlich nicht an das<br />
Mendel Grosman vor der Bücke über die<br />
Zgierska Straße<br />
Verbot. Es gelang ihm, der Deportation<br />
im August 1944 zu entkommen,<br />
wurde aber im Oktober 1944 aus<br />
dem Getto deportiert und kam später<br />
nach Sachsenhausen. Grosman blieb<br />
bis zur Auflösung des Lagers im April<br />
1945 in Sachsenhausen und wurde<br />
auf einem der berüchtigten Todesmärsche<br />
erschossen.<br />
Arie Ben Menachem stellte fest, dass<br />
der Fotograf auf dem letzten Weg<br />
seine Kamera bei sich hatte, weil er<br />
sich nie von ihr trennte. Es gibt viele<br />
Fotos, die Grosman bei seiner Arbeit<br />
zeigen: Beim Fotografieren, beim<br />
Retuschieren, beim Gang durch die<br />
Straßen des Gettos, die Kamera unter<br />
seinem langen Mantel verborgen.<br />
15
16<br />
Die Negative von Grosmans Fotos<br />
wurden nach dem Krieg von seiner<br />
Schwester Szoszana Grosman Zil-<br />
Bar (Zylberstein) nach Israel gebracht<br />
und dem Kibbuz Nazranim überreicht.<br />
1948 geriet der Kibbuz unter<br />
die ägyptische Militärherrschaft<br />
und die Fotos kamen abhanden. Es<br />
besteht aber noch die Hoffnung,<br />
dass sie überdauerten und dass man<br />
sie irgendwann wieder findet.<br />
Henryk Ross<br />
(1910-1991)<br />
Henryk Ross wurde 1910 in Warschau<br />
geboren. Vor dem Krieg war er Sportjournalist<br />
und arbeitete für die Lodzer<br />
Zeitungen. An der 6. Sierpnia 9 hatte<br />
er eine eigene Firma mit dem Namen<br />
„Sfinks“. Ross hatte eine andere Art zu<br />
fotografieren als Mendel Grossman.<br />
Im Getto fand er ziemlich schnell eine<br />
Anstellung in der Statischen Abteilung.<br />
Henryk Ross fertigte die Fotos<br />
für die Arbeitsausweise im Getto an<br />
und machte Fotos auf Bestellung.<br />
Kurz vor der Auflösung des Gettos<br />
vergrub er einige Tausende Negative<br />
auf einem Grundstück an der<br />
Jagielońska 12.<br />
Bei der Liquidierung des Gettos<br />
wurde Ross nicht nach Auschwitz<br />
deportiert. Er gehörte zu den ca.<br />
800 Menschen, die das Gettogebiet<br />
aufräumen sollten. In Łódź blieb er bis<br />
zum Einmarsch der sowjetischen Armee.<br />
Nach der Befreiung grub er sein<br />
Eine der Propagandatafeln, die von der Statistischen Abteilung hergestellt wurden.<br />
Mit vielen der von den jüdischen Fotografen gemachten Fotos<br />
sollte wahrscheinlich gezeigt werden, dass das Getto von<br />
großem Nutzen war. In der Statistischen Abteilung wurden von<br />
den dort Angestellten überwiegend Demonstrationsmaterialien<br />
angefertigt. Im Lodzer Staatsarchiv sind unter anderem Tabellen<br />
und Statistiken vorhanden, die die Produktion der Arbeitsressorts<br />
darstellen. In der Mehrheit sind es offizielle Dokumente,<br />
die für Zwecke der Gettoverwaltung aufbewahrt wurden. Die<br />
Gettofotografen waren sich wohl bewusst, dass sie Augenzeugen<br />
wichtiger historischer Ereignisse waren, und dass ihre Fotos<br />
die Wirklichkeit im Gettozeigen. Da sie auch zu verbotenen und<br />
unzugänglichen Materialien Zugang hatten, machten sie inoffizielle<br />
Fotos, die das Leben in dem geschlossenen Stadtviertel<br />
dokumentierten und verteilten sie an Freunde und Bekannte.<br />
So geschah es, dass sie gefährliche Situationen fotografierten,<br />
wie z.B. die Deportation der Kinder im September 1942. Mendel<br />
Grossmann verteilte seine Fotografien an jüngere Kollegen.<br />
Collage, die von den Mitarbeitern der Statistischen Abteilung angefertigt wurde.
Archiv wieder aus. Nach dem Krieg<br />
betrieb Henryk Ross einige Jahre lang<br />
einen Fotoladen an der Piotrkowska<br />
121.<br />
Im Jahre 1956 ging er nach Israel. Dort<br />
arbeitete Henryk Ross als Fotograf<br />
und Setzer. 1960 erschien sein Fotoband<br />
„The Last Journey of the Jews of<br />
Lodz“. Seine Fotos wurden im Prozess<br />
gegen Adolf Eichmann als Beweismaterial<br />
für die Vernichtung der Juden<br />
verwendet. Ross katalogisierte seine<br />
Fotos1987. Er starb im Jahr 1991.<br />
Sechs Jahre später übergab sein Sohn<br />
die Fotos dem „Archive of Modern<br />
Conflict“ in London.<br />
Collage, die von den Mitarbeitern der Statistischen Abteilung angefertigt wurde.<br />
Arie Ben Menachem (im Getto Arie Printz) fertigte daraus eine<br />
Reihe von Collagen an, die eine authentische Geschichte vom<br />
Leben im Getto erzählen, von Hunger und von Deportationen<br />
ins Unbekannte. Viele Fotos wurden auch an Menschen weitergegeben,<br />
die sie außerhalb des Gettos versteckten. Diese Fotos<br />
wurden nach dem Krieg gefunden.<br />
Unmittelbar vor der Auflösung des Gettos versteckten die<br />
beiden offiziellen Gettofotografen die Negative ihrer Fotos.<br />
Sie hofften, dass ihre Fotos die Geschichte der Juden aus dem<br />
Getto Litzmannstadt erzählen werden, falls sie selber nicht<br />
<strong>überleben</strong> sollten. Und so ist es auch geschehen.<br />
Der umstrittene Fotoband „Lodz<br />
Ghetto Album” wurde im Jahre 2004<br />
herausgegeben. Henryk Ross zeigt hier<br />
ein vollkommen anderes Gettobild:<br />
hohe Beamte der jüdischen Gettoverwaltung,<br />
Polizisten sowie einfache<br />
Gettobewohner, private Feiern,<br />
spielende Kinder.<br />
17<br />
Collage, die von den Mitarbeitern der Statistischen Abteilung angefertigt wurde.
18<br />
Arie Ben Menachem<br />
(1922-2006)<br />
wurde als Arie Printz in Łódź geboren,<br />
Sohn von Menachem und Hinda, geb.<br />
Kopel. Den neuen Namen nahm er<br />
nach seiner Ankunft in Palästina an.<br />
Auf diese Weise würdigte er seinen<br />
Vater, der den Krieg nicht überlebte.<br />
Beide wurden aus dem Getto<br />
Litzmannstadt nach Auschwitz deportiert.<br />
Aries Vater starb vermutlich im<br />
April 1945.<br />
Vor dem Krieg besuchte Arie Printz<br />
die Industrieschule in Lodz an der<br />
Pomorska und wohnte an der Narutowicza.<br />
Er war zionistischer Aktivist.<br />
Im Getto arbeitete er im Teppichressort.<br />
Fasziniert von der Fotografie<br />
arbeitete er mit Mendel Grossmann<br />
zusammen. Arie Printz <strong>half</strong> ihm bei<br />
der Entwicklung von Fotos und verteilte<br />
sie unter Bekannten. Als Rumkowski<br />
veranlasste, unidentifizierte<br />
Tote im Getto zu fotografieren, fertigte<br />
Arie Namensschilder an, damit die<br />
Familien ihre Angehörigen erkennen<br />
konnten. Gemeinsam mit Grosman<br />
fotografierte er die Deportationen.<br />
1943 fertigte Arie einen eigenen<br />
Band mit Collagen und ironischen<br />
Kommentaren an. Er verwendete<br />
hierfür Fotos von Mendel Grosman.<br />
Das Album bestand aus 18 Seiten<br />
im Format A1. Es erzählte über das<br />
Getto, von Hunger und Not, die dort<br />
herrschten und von Menschen, die<br />
ins Unbekannte gebracht wurden.<br />
Arie nahm 1944 das Album mit nach<br />
Auschwitz, es wurde ihm aber gleich<br />
abgenommen. 1946 wurden seine<br />
Collagen von der Jüdisch-Historischen<br />
Kommission veröffentlicht. Niemand<br />
weiß, auf welchem Weg die Collagen<br />
dorthin kamen. Jede Seite war mit der<br />
Aufschrift „Hilfe für KZ-Häftlinge“<br />
versehen. Man weiß auch nicht, was<br />
mit dem Album geschah. Das Original<br />
ist bis heute nicht gefunden worden.<br />
Nach dem Krieg ging Arie Ben Menachem<br />
auf illegalem Weg nach Palästina.<br />
Er tat sehr viel für das Andenken<br />
an die Menschen, die ins Getto<br />
Litzmanstadt deportiert worden wa-<br />
Hunderte der entwickelten Fotos Grosmanns fand Nachmann<br />
Zonabend, ein Gettobewohner, der den Krieg überlebt hatte.<br />
Er rettete einen wesentlichen Teil des Gettoarchivs und zeigte<br />
die Fotos im Jahre 1947, als der Prozess gegen Hans Biebow,<br />
den Leiter der deutschen Gettoverwaltung in Łódź, stattfand.<br />
Nach dem Krieg nahm Zonabend die Fotos mit nach Schweden.<br />
Sie sind jetzt u.a. in YIVO-Institut in New York, in Yad Vashem<br />
in Jerusalem, im Holocaustmuseum Washington und im<br />
Ghetto Fighters House im Kibbuz Lohamei Haghetaot in Israel.<br />
1970 gab das Ghetto Fighters House einen Band mit Fotos von<br />
Mendel Grosmann „With the camera in the Ghetto“ heraus.<br />
Im Jahre 2000 erschien der Fotoband „ My secret camera“ mit<br />
dem Nachtrag „Life in the Lodz Ghetto”. Es wurde auch ein<br />
biographischer Film über Grosman gedreht.
Collagen von Arie Printz (Ben Menachena) (auf der Seite gegenüber und oben) aus<br />
Fotos von Mendel Grosman, die 1946 in Polen veröffentlicht wurden. Die Originale sind<br />
verschwunden. Auf dem Bild oben der Autor des Albums<br />
Die im Getto Litzmannstadt angefertigten Alben, die die Arbeit<br />
in den Ressorts zeigten, viele wurden meistens Chaim Rumkowski,<br />
dem Judenältesten, oder anderen hohen Beamten der Jüdischen<br />
Ghettoverwaltung gewidmet. Andere Alben waren für die<br />
deutsche Gettoverwaltung bestimmt und wurden auf Messen<br />
z. B. in Leipzig gezeigt und deutschen Firmen, die im Getto<br />
Waren anfertigen ließen. In den Alben präsentieren die Abteilungen<br />
und Werkstätten ihre Produkte: Kleidung, Schuhe,<br />
Werkzeug.<br />
Aber es gibt auch einmalige Alben, wie das mit dem „Märchen<br />
von einem Prinzen und einem wunderbaren Land“<br />
ren. Arie Ben Menachem übersetzte<br />
die Gettochronik ins Hebräische und<br />
arbeitete mit an der „Enzyklopädie<br />
der Gerechten unter den Völkern“, die<br />
von der Nationalen Gedenkstätte Yad<br />
Vashem in Jerusalem herausgegeben<br />
wurde.<br />
Pinkus Szwarc<br />
(1923-1996)<br />
war von Beruf Maler und Bühnenbilder.<br />
Er war Schüler Strzemińskis und<br />
gehörte vor dem Krieg zur Lodzer<br />
Avantgarde. Im Getto arbeitete<br />
Szwarc in der Statistischen Abteilung.<br />
Dort fertigte er Alben und Collagen<br />
an, die die Produktion in den<br />
Arbeitsressorts des Gettos zeigten.<br />
Dank einer Empfehlung Rumkowskis<br />
wurde er in der Versorgungsabteilung<br />
angestellt. So gelang es ihm, dem<br />
Hungertod zu entkommen.<br />
19<br />
Bühnendekoration von Pinkus Szwarc<br />
Seite aus einem der zahlreichen Alben der Statistischen Abteilung<br />
Szwarc überlebte den Krieg. Bekannt<br />
wurde er unter dem Namen Pinchas<br />
Shaat. Pinkus Szwarc entwarf<br />
zusammen mit Ignacy Gutman die<br />
Gettowährung. Nach seinem Entwurf<br />
wurden auch die Fünf- und Zehn-<br />
Mark Münzen produziert. Szwarc<br />
fertigte sehr interessante Dekorationen<br />
für Theateraufführungen an. Pinkus<br />
Szwarc fertigte1994 die Dekorationen<br />
für die Ausstellung „The last Ghetto“<br />
in Yad Vashem in Jerusalem an. Die<br />
Ausstellung wurde anlässlich des 50.<br />
Jahrestages der Liquidierung des Gettos<br />
Litzmannstadt konzipiert.
Ein Märchen mit<br />
wahrem Hintergrund<br />
In der Gedenkstätte Yad Vashem in<br />
Jerusalem wird ein Album aufbewahrt<br />
mit einer in Versen verfassten<br />
Geschichte mit dem Titel „Das Märchen<br />
von einem Prinzen und einem<br />
wunderbaren Land“. Illustriert ist<br />
dieser Band mit außergewöhnlichen<br />
Zeichnungen.<br />
Die Geschichte ist ein Gleichnis<br />
über das Getto und seine Bewohner.<br />
Erschütternd, wenn man das wahrscheinliche<br />
Entstehungsdatum und die<br />
Märchen von einem Prinzen und einem<br />
wunderbaren Land,<br />
in dem über Winter, Herbst, Sommer und Frühling<br />
drei Generationen vor Glück strahlend arbeiteten.<br />
Unter schwerem Joch bückt sich das Kind:<br />
„Soll es immer auf dieser Welt so werden?“,<br />
bekümmert sich das Herz des Prinzen,<br />
wenn er ein trauriges Kinderantlitz sieht<br />
und wenn Stille im Hof herrscht und Hähne krähen<br />
und die königlichen Träume durch die Lüfte schweifen.<br />
Teiche und Flüsse sind eingefroren,<br />
ein flauschiger sanfter Schneeteppich umhüllt die Erde.<br />
Trotzdem setzt sich <strong>uns</strong>er gnädiger König<br />
mit Leib und Seele für <strong>uns</strong> ein.<br />
20<br />
Titelblatt des „Märchens...“<br />
Botschaft berücksichtigt, die das Märchen<br />
vermittelt. Die Erzählung und<br />
das Album entstanden wahrscheinlich<br />
1942, während der Deportationen aus<br />
dem Getto, vielleicht noch später.<br />
Zwischen Januar und Mai 1942<br />
deportierten die Deutschen über<br />
55.000 Menschen aus dem Getto in<br />
das Vernichtungslager Kulmhof am<br />
Ner. Der Deportation konnten nur<br />
An einem sommerlichen Nachmittag,<br />
als die Sonne wunderschön schien<br />
auf der Wiese am Bach,<br />
verkündeten die Engel:<br />
Wer im Paradies bleiben möchte,<br />
sollte sich schnellstens, ohne Zeit zu<br />
verlieren,<br />
zum Ziel begeben.<br />
Derjenige, der stolpert,<br />
wird leider aus dem Paradies<br />
Prinz mit dem Gesicht von Leon Glaser<br />
in das alte Land abgeschoben.<br />
Vom weiten sieht man schon die Hürde:<br />
Ein Klotz liegt quer,<br />
wer nicht stolpert und ihn nicht berührt,<br />
der wird zum Ritter,<br />
und die Auszeichnung als Ritter wird derart sein,<br />
dass man ihn ins Gefolge aufnimmt.
Alle arbeiten, um das Land zu rühmen,<br />
sitzen stundenlang an den Nähmaschinen.<br />
Kleider kriechen durch die Türen heraus,<br />
Gürtel liegen haufenweise da,<br />
davon hängt ja<br />
das Schicksal im Paradies ab.<br />
Wer bei dieser Hürde nicht zusammenbricht,<br />
wer seinen Arm und Kopf hochhält,<br />
wird reichlich gepriesen sein.<br />
Sie sind schon am Ziel, der glatte Weg liegt zurück,<br />
ein Häuschen ist schon zu sehen,<br />
bescheiden und klein.<br />
Durch seine geöffneten Pforten<br />
treten weinend drei Paare:<br />
eine Nadel mit tränendem Auge<br />
hinterher in winzigen Schritten eine<br />
Garnspule,<br />
dann eine Schere hüpfend und<br />
heulend,<br />
gleich danach kommt wie ein Kreisel,<br />
eine Spule mit gesenktem Kopf,<br />
neben ihnen rollt<br />
mit einer bösen Miene eine Nähmaschine.<br />
„Ein Häuschen ist schon zu sehen...”<br />
Der Hocker weint,<br />
alle Augen leuchten wütend:<br />
„Schönes Schicksal! Kinder kommen!“,<br />
„Streitereien sind jetzt an der Reihe“.<br />
Die Spule aber sagt resolut: „Nehmt Platz im kleinen Saal“.<br />
„Da ist ja <strong>uns</strong>er Platz“, rufen die vielen Kinder und laufen herein.<br />
Alle eilen zu Maschinen, wo schon eine lange Schlange steht.<br />
Ein Arbeitstag beginnt.<br />
Der Schweiß fließt dem Mädchen über die Stirn,<br />
hilflos schaut sie herum,<br />
denn die trotzigen Gnome<br />
die Menschen entgehen, die Arbeit<br />
hatten. In dieser Zeit begann man, in<br />
verschiedenen Arbeitsbereichen Kinder<br />
zu beschäftigen, um die jüngsten<br />
Bewohner vor der Deportation zu<br />
retten.<br />
Die Jüngsten arbeiteten in Schneider-,<br />
Schuh-, und Metallfabriken. Alle<br />
bemühten sich, eine Anstellung zu<br />
bekommen um so eine Chance zum<br />
Überleben zu haben. Kleine Mädchen<br />
mussten Nähmaschinen bedienen,<br />
schnitten Schuheinlagen aus, flochten<br />
Strohzöpfe. Jungen richteten krumme<br />
Nadeln, nagelten Schuhsohlen an.<br />
Diese Arbeit überstieg oft über Kräfte.<br />
Eine der Fabriken in denen Kinder<br />
eine Anstellung bekamen war die<br />
Fabrik Leon Glaser, in der Wäsche<br />
und Kleidung hergestellt wurden. Zu<br />
Beginn des Jahres 1941 gab es dort<br />
77 Nähmaschinen und 157 Personen<br />
waren beschäftigt, ein Jahr später<br />
arbeiteten 1500 Personen an 800<br />
Nähmaschinen. In der Glaser-Fabrik<br />
war die so genannte „kleine Schule“<br />
untergebracht, in der die Kinder<br />
während der Arbeitspausen ein wenig<br />
21
22<br />
lernen und spielen konnten. Dort<br />
entstand sogar ein Kindertheater, von<br />
dem diejenigen, die den Krieg überlebten,<br />
erzählten. Es gab außerdem einen<br />
Chor und es wurde K<strong>uns</strong>tunterricht<br />
erteilt.<br />
Bis heute ist unbekannt, wer der Autor<br />
des Märchens vom Prinzen war und<br />
wer die hervorragenden Zeichnungen<br />
angefertigt hat. Der Verfasser dieses<br />
Werkes versuchte vielleicht, mit dem<br />
Märchen und den Zeichnungen ein<br />
wenig Licht in das Dunkel des Gettos<br />
zu bringen. Das Märchen scheint eine<br />
einfache Kindererzählung zu sein von<br />
Gnomen, die Mädchen bei der Arbeit<br />
stören und von einem Prinzen, der sie<br />
rettet. Aber man kann der Geschichte<br />
viel über das Schicksal der Gettobewohner<br />
entnehmen.<br />
Das Album enthält 17 technisch<br />
ausgezeichnete Zeichnungen. Ohne<br />
Zweifel stammen sie nicht von einem<br />
Amateur sondern von einem der<br />
Künstler im Getto. Den Prinzen verkörperte<br />
Leon Glaser, und der Engel<br />
war Maryla Diamant, die Leiterin der<br />
Schule. Ihre Gesichter wurden aus Fotos<br />
geschnitten. und eingeklebt. (Die<br />
Collage war eine beliebte K<strong>uns</strong>ttechnik<br />
im Getto.)<br />
Der Text ist in einem sehr guten<br />
Polnisch geschrieben. Wahrscheinlich<br />
wurde er von verschiedenen Personen,<br />
machen Späße und Streiche.<br />
Sie amüsieren sich böswillig und<br />
verderben ihr ständig das Spiel.<br />
Heia, plötzlich verschwanden alle<br />
Hürden,<br />
das Eis ist gebrochen,<br />
die Gnome stören nicht mehr,<br />
und die Kinder haben Freude daran.<br />
Geh weg, Trauer, geh weg, verschwinde!<br />
Freude zu <strong>uns</strong>.<br />
Heia, heia, heia,<br />
bald vergeht der Kummer.<br />
Und schon freuen sich alle wieder:<br />
In einem großen und hellen Zimmer<br />
vergisst das Mädchen Arbeit und „Trotzige Gnome...”<br />
Mühe,<br />
wenn sie mit einem selbst hergestellten Schnittmuster,<br />
das von der Wand weg springt,<br />
vor Freude und mit Lust das Tanzbein schwingt.<br />
Und sie nahmen sich an der Hand,<br />
Trauer und Sorge zusammen.<br />
Um die Glaser-Schule mussten sie einen Bogen machen,<br />
aber die Prinzessin Freude und der Prinz Glück<br />
verweilten lange in dieser berühmten Schule.<br />
Man springt vor goldener Freude herum,<br />
man macht sich zusammen mit der Prinzessin Lust an die Arbeit,<br />
und der Bengel Streich kippt ihre Hocker um<br />
während der Arbeit, und danach wälzt er sich herum.<br />
Die Tage vergehen wie im Märchen, die Tage vergehen bunt wie ein<br />
Regenbogen,<br />
jeder Tag bringt eine bunte Freude mit.<br />
Auf den Feldern liegt noch weißer Schnee,<br />
aber Schneiderinnen gibt es immer mehr,<br />
Die Pforten des Hauses sind weit geöffnet,
und ein neuer Mädchenschwarm tritt<br />
durch sie hinein!<br />
Als sich die Tore öffneten, riefen sie:<br />
„Wir treten jetzt hinein!“<br />
Ihre Gesichter leuchten rundherum:<br />
Heia, hurra, lebe hoch!!!<br />
Sie strömen herein,<br />
schon füllt sich der Raum, er füllt sich<br />
immer mehr,<br />
schon sind die Flure voll,<br />
und überall immer neue Gesichter.<br />
Oh, wie eng, ich kann nicht mehr!<br />
Durch den Schornstein, strecke ich<br />
mein Bein aus,<br />
„I wzięli się pod rękę Smutek razem<br />
z Troską...”<br />
durch einen Schlitz in der Wand meine Hand.<br />
Oh, mein Liebling, ich kann nicht mehr,<br />
wir liegen hier wie Heringe im Fass.<br />
Mein Kopf in einer fremden Mappe.<br />
Oh, helft mir, ich kann nicht mehr!!!<br />
„Schaut?! ... da drüben! ... Sie zeigen den Weg!“<br />
Es dämmert ... hinter dem Berg strahlt die Sonne,<br />
hinter den Büschen kommen Schatten empor<br />
und verschwinden langsam.<br />
Die Sonne beleuchtet den Gipfel mit goldenen Strahlen, und gleich überragen<br />
Vergissmeinnichtköpfchen das Gras<br />
und umgeben das Schloss sagenhaft:<br />
langsam gehen seine Pforten auf<br />
hauptsächlich Kindern, abgeschrieben,<br />
wovon die Handschrift zeugt.<br />
Es ist möglich, dass das Märchen nach<br />
der Deportation von Tausenden von<br />
Kindern im Alter bis zu 10 Jahren aus<br />
dem Getto entstand. In den Augen der<br />
Nazis und auch Rumkowskis waren<br />
arbeitsunfähige Menschen, z. B. Kinder<br />
und Menschen über 65 Jahre, und auch<br />
Kranke „nutzlos“. Die meisten Kinder<br />
wurden Anfang September 1942 unter<br />
dramatischen Umständen „ausgesiedelt“.<br />
Diese Deportationen werden als<br />
„Große Sperre“ bezeichnet. Niemand<br />
durfte für einige Tage seine Wohnung<br />
verlassen, die Arbeitsressorts waren<br />
geschlossen Nur die Kinder und die<br />
alten Angehörigen der Gettobeamten<br />
und der Rabbiner wurden von diesen<br />
Deportationen auf Geheiß des Judenältesten<br />
verschont. Kinder, die überlebten,<br />
arbeiteten in den Ressorts oder<br />
wurden von ihren Familien versteckt.<br />
Die kleinen Kinder verschwanden<br />
ganz aus dem Getto. Den tragischen<br />
Zusammenhang zwischen der Zeichnung<br />
aus dem Märchen und einem der<br />
23<br />
Heia, heia, hu, hu, hip, hip, holla,<br />
schnaufen Kinderchen wie kleine Federbälge,<br />
mit ihnen wachen aus winterlichen Träumen Felder auf.<br />
Wie viel Glück, wie viel Freude:<br />
Alles lebt wieder auf, in der Luft ist Frühling zu spüren,<br />
zum Himmel erhebt sich frohes Schreien.<br />
Singende Kinder im blühenden Mai gehen ins Schloss – ins Paradies<br />
hinein,<br />
das Glück begleitet sie stets.
24<br />
Archivfotos entdeckte die kanadische<br />
Forscherin Irene Kohn. Das Album<br />
mit dem „Märchen vom Prinzen“ fand<br />
Abram Jasni in den Ruinen des Gettos.<br />
Nach seinem Tod wurde es 1971 von<br />
seiner Frau der Gedenkstätte Yad Vashem<br />
überreicht. Das 1997 erschienene<br />
Handbuch für Lehrer, das im Auftrag<br />
der „International School for Holocaust<br />
Studies“ in Yad Vashem von Carmit<br />
Sagie und Naomie Morgenstern bearbeitet<br />
wurde, hilft die Geschichte des<br />
Gettos den Schülern zu vermitteln.<br />
Über<br />
„die kleine Schule”<br />
Die kleine Schule, die im „Märchen<br />
vom Prinzen“ erwähnt wird,<br />
beschreibt Ruth Eldar im 2004 herausgegebenen<br />
Buch „Die Pfeiler des<br />
Tempels ins Wanken bringen“.<br />
Die „kleine Schule“ gehörte zum Ressort<br />
„Wäsche- und Kleiderabteilung“ und<br />
befand sich an der Żydowska 19. Nach<br />
der Auflösung des Gymnasiums 1941<br />
kümmerte sich Chaim Rumkowski um<br />
Jugendliche und bot ihnen eine Möglichkeit,<br />
einen Beruf zu erlernen. Für<br />
viele bedeutete es das Recht auf Brot<br />
Von weitem hört man Flehen,<br />
aber mit ihnen schreitet Freude.<br />
Dort drüben verdeckt noch die Trauer die Augen<br />
jener weinenden Kinder,<br />
die so viele Hürden auf ihrem Weg haben<br />
Sie richten ihre Augen empor<br />
auf die unerreichbare Mauer, da entlang, wo der Graben verläuft<br />
und jenseits die goldene Bruderschaft singt,<br />
wo sich die Mauern mit Freude und Wonne füllen.<br />
Dort dröhnt vom Abend bis zum<br />
Morgenanbruch<br />
ihr Flehen,<br />
sie steigen einen schmalen Steg<br />
hinauf,<br />
düstere Wälder ringsum, Büsche strecken<br />
ihre dornigen Stachel aus,<br />
Abgründig gähnen die Höhlen, in<br />
denen<br />
listig giftige Schlangen lauern,<br />
glatt und klebrig.<br />
Diverse Reptilien kriechen vor die Füße,<br />
Monster, Kellerasseln, kleben an den<br />
Beinen.<br />
Doch der Forst liegt bereits zurück.<br />
Am Scheideweg atmen sie auf,<br />
„Och! jak ciasno! już nie mogę!<br />
Przez komin wytknęłam nogę!...”<br />
aber ... täuschend ist der glückliche Augenblick,<br />
da ein riesiger Drachen aus der Erde hervorblickt,<br />
ein verbissener Kampf wieder beginnt.<br />
Wie kann man solch einen Bösewicht besiegen?<br />
Schon beginnt erneut die Schlacht und neue Sorgen und neue Qual.<br />
Manche ziehen sich zurück, mühevoll besiegt,<br />
andere gingen furchtlos voran,<br />
da der starke Wille siegen muss!<br />
Sie werden alles überwinden und sich nicht verlocken lassen,<br />
sie fürchten sich weder vor der Hexe, noch vor der Katze, noch vor der Eule;<br />
sich fürchten sich nicht vor dem Drachen, obwohl er drei Köpfe hat.<br />
Und plötzlich schreien sie lauthals im Chor,
weil sie vor einer mächtigen Mauer stehen.<br />
Die Mauer ist hoch, dick und nicht zu bezwingen, und vorne klafft ein<br />
Festungsgraben mit fließendem Wasser.<br />
Doch was ist das?! ... Der Prinz kommt aus seinem Versteck heraus,<br />
wunderschön gewandet, hübsch und jung.<br />
Die Kinder öffnen staunend die Augen,<br />
weil der Prinz so schön, weil der Prinz so zauberhaft ist.<br />
Er wirft eine große Zugbrücke über den Graben,<br />
reicht ihnen seine Rechte:<br />
Fröhlich blicken seine Augen, strahlt er vor Glück, leuchtet sein Gesicht.<br />
Der Morgen war zauberhaft,<br />
leichter Wind wiegte die Baumkronen,<br />
ein milder Hauch kühlte die Kindergesichter.<br />
Das Gras voller Tau heilte verwundete und schwache nackte Füße.<br />
Sie werden in eine geräumige Kammer hineingeführt,<br />
dort offenbart sich ihnen ein fremde Kleider tragender Engel.<br />
Sein Blick löscht Sorgen aus Kindergesichtern, alle sind wie verzaubert:<br />
Gottes Zauber ist das. Der Engel hat eine Waage und einen goldenen Pfeil,<br />
trennt große und kleine Mädchen voneinander:<br />
Auf diese Weise beginnen für zwei neue Gruppen Berufskurse.<br />
und Suppe. „In dieser Schule lernten<br />
wir Schnitt- und Näharbeiten. Nach<br />
dem abgeschlossenen Kurs nähten wir<br />
schon – wie die Erwachsenen – Kleider<br />
für Mädchen. Ich erinnere mich, als ob<br />
es heute wäre, an die Haufen von kleinen<br />
Kleidern aus einem rot-schwarz<br />
kleinkarierten Stoff mit einem weißen<br />
Kragen fertig zum Bügeln. (…)<br />
Das rhythmische Rattern der Nähmaschinen,<br />
Dünste der Kleider beim<br />
Bügeln, ausgehängte Leinen und Angst<br />
davor, die Produktion nicht fertig zu<br />
schaffen, kreisten über <strong>uns</strong>eren Köpfen<br />
wie die Geister.<br />
25<br />
Fotografie von Mendel Grosman von der<br />
Deportation der Kinder aus dem Getto<br />
1942<br />
„Jedne się cofnęły, trudem zwyciężone, a<br />
drugie szły naprzód wciąż nieustraszone”<br />
Aber trotz Not, Hunger und Kälte<br />
gelang es den Deutschen nicht, <strong>uns</strong><br />
alles zu entreißen. Sie konnten <strong>uns</strong> eine<br />
Scheibe Brot, eine Suppe wegnehmen,<br />
aber es war ihnen nicht möglich <strong>uns</strong>ere<br />
Träume und kindlichen Fantasien<br />
an sich zu raffen. Am besten erinnere<br />
ich mich an <strong>uns</strong>ere Theatergruppe,<br />
an der ich mich lebhaft beteiligte. (…).<br />
Wir hatten <strong>uns</strong>ere Lehrer, eine eigene<br />
Zeitschrift. Wir fertigten Illustrationen<br />
an, malten Wandplakate und spielten<br />
Theater. Für <strong>uns</strong> trugen die Herren<br />
Moszkowicz aus Wieluń, Grabowiecki<br />
aus Vilnius, Szamaj Rosenbaum<br />
und Markowicz aus Łódź vor. Den<br />
Chor leitete Herr Sander. Sie waren<br />
Professoren an privaten Vorkriegsschulen.<br />
Jeder von ihnen konnte<br />
gut vortragen. Jeder förderte seinen<br />
Lieblings-National dichter. Jeder las<br />
<strong>uns</strong> mit seinem spezifischen jüdischen
Akzent vor. Die Tatsache vom sterbenden<br />
jüdischen Volk, gemeinsame<br />
tragische Erlebnisse schmiedeten <strong>uns</strong><br />
zusammen. Ich muss zugeben, dass<br />
auf Jiddisch alles sehr wahrhaft klang…<br />
Mit großer Hingabe brachten sie <strong>uns</strong><br />
die jiddische Literatur bei, indem sie<br />
<strong>uns</strong> in die Welt von Szolem Alejchem,<br />
Jizchak Leib Perec, Mendele Mojcher,<br />
Sforim Chaim Nachman Bialik oder<br />
Jizchak Katzenelson versetzten.<br />
Ruth Eldae (Berlińska) Die Pfeiler des<br />
Tempels ins Wanken bringen. Lodz 2004<br />
Das kulturelle Leben im Getto Litzmannstadt<br />
GAls das Getto entstand, waren dort viele Künstler:<br />
Maler, Musiker, Sänger, Schriftsteller, Journalisten und<br />
Schauspieler. Sie waren es, die eine Insel des freien und<br />
unabhängigen Lebens im Getto schufen. Es wurden offizielle<br />
Theatervorstellungen, Revuen und Aufführungen organisiert,<br />
sogar Puppentheater für Kinder. Der Saal des Kulturhauses<br />
in der Krawiecka platzte aus allen Nähten vor Menschen, die<br />
begierig auf Kultur waren. Das traf besonders zu, als Juden aus<br />
26<br />
Das Kulturhaus<br />
In einem kleinen Gebäude in der<br />
Krawiecka 3 spielte sich das kulturelle<br />
Leben im Getto ab. Dort fanden<br />
Konzerte, Theateraufführungen und<br />
Ausstellungen statt.<br />
Vor dem Krieg hatte es dort ein Kino<br />
gegeben. Der Saal verfügte über 400<br />
Plätze und über eine Bühne, auf der<br />
sowohl ein Orchester als auch eine<br />
Theatergruppe auftreten konnten.<br />
Das Kulturhaus wurde offiziell am 1.<br />
März 1941 eröffnet, obwohl schon<br />
vorher Aufführungen und Konzerte<br />
stattgefunden hatten. Aber seit diesem<br />
Tag fanden regelmäßig Auftritte statt.<br />
Einladungen erhielten die Arbeiter<br />
verschiedener Ressorts, vor allem<br />
Angehörige der jüdischen Verwaltung<br />
des Gettos. Gerne hörten sie sowohl<br />
Konzerte ernster Musik, als auch die<br />
leichte Unterhaltung der meist jiddischen<br />
Revuen. Allein im ersten Jahr<br />
fanden 85 Aufführungen von Revuen<br />
statt. Zur Besetzung gehörten herausragende<br />
Vorkriegskünstler, u.a. Mosze<br />
Puławer, bekannt aus dem Theater<br />
Ararat, die Tänzerin Halina Krukowska,<br />
das Orchester dirigierte Dawid Bajgelman,<br />
ein hervorragender Komponist,<br />
und die Dekorationen stammten<br />
von Pinchas Schwarz. Es wurde über<br />
K<strong>uns</strong>t diskutiert, Gedichte wurden<br />
rezitiert, Bilder ausgestellt. Hochkarätige<br />
Musiker gaben Konzerte, u.a. die<br />
Violinistin Bronisława Rotsztatówna,<br />
vor und nach dem Krieg Mitglied der<br />
Łódźer Philharmonie.<br />
In den ersten Reihen des Kulturhauses nahmen die Repräsentanten der Macht im<br />
Getto Platz<br />
dem Westen ins Getto deportiert worden waren. Unter ihnen<br />
befanden sich viele bekannte Musiker.<br />
Für die Künstler bedeutete eine offizielle Anstellung in ihrem<br />
Beruf die Chance, eine zusätzliche Zuteilung an Lebensmitteln,<br />
Marken u.a.m. zu bekommen. Darum bemühten sich die Maler<br />
um die Möglichkeit, Rumkowski zu porträtieren. Andere Künstler<br />
versuchten die Erlaubnis zu erhalten, Kulturveranstaltungen<br />
zu organisieren oder Arbeit in einer offiziellen Institution zu finden.<br />
Es gab dabei jedoch viele einschränkende Bedingungen.<br />
Rumkowski vertrug keine Kritik, reagierte empfindlich auf alle<br />
Anspielungen und Anzüglichkeiten und erwartete, dass die<br />
Künstler seine Erwartungen erfüllten. Im Getto entstanden<br />
daher zum einen Werke von Hofdichtern, voll Bewunderung<br />
und Unterwürfigkeit gegenüber dem Judenältesten und<br />
seinem Umfeld. Es gab aber auch inoffizielle, oft im Verborgenen<br />
und geheim geäußerte kritische Stimmen. Im September<br />
1942, nach den großen Deportationen, verlagerten sich die<br />
offiziellen Kulturveranstaltungen in die Arbeitsressorts, aber<br />
sie verschwanden nie ganz aus den Getto.<br />
„Die Lodzer Gettochronik“, die alle Ereignisse im Getto registrierte,<br />
vermerkt unter dem Datum vom 9. Juni 1943 das<br />
Folgende zum kulturellen Leben:
Der künftige Leser wird vielleicht mit einigem Kopfschütteln in<br />
diesen Blättern allzu oft Meldungen über verschiedene Aufführungen,<br />
gesellschaftliche Veranstaltungen finden, und er wird sich wohl<br />
sagen müssen, dass die Lage der Gettobevölkerung wohl nicht so<br />
tragisch gewesen sein kann, wenn das gesellschaftliche Leben so<br />
reichhaltig und lebhaft war. Es gibt natürlich viele Menschen im<br />
Getto, die schon jetzt ablehnen, diesen Zauber mitzumachen; sie<br />
stehen auf dem Standpunkt, dass die Lage im Getto keine solche<br />
Verflachung des gesellschaftlichen Lebens erlaube. Einmal wieder in<br />
einem Theatersaal zu sitzen abseits von der trockenen Atmosphäre,<br />
einmal wieder in der Pause im Foyer des Kulturhauses zu plauschen,<br />
zu flirten, ein neues Kleid zu zeigen, gut frisiert zu sein, ist nun einmal<br />
ein nicht zu unterdrückendes Bedürfnis von Menschen. So will auch<br />
der Chronist diese Vorgänge mit Nachsicht verzeichnen und dem<br />
künftigen Leser sagen, dass das Leid im Getto deswegen nicht geringer<br />
war, weil es auch einige frohe Stunden gegeben hat.<br />
Zum einen gab es offizielle Konzerte und Geburtstagsfeiern,<br />
an denen Rumkowski und andere jüdische Repräsentanten<br />
der Macht im Getto teilnahmen. Zum anderen gab es auch<br />
einige kleine private Treffen im Freundeskreis, von denen nur<br />
wenige wussten. In Privatwohnungen wurden geheime Autorentreffen<br />
organisiert, es wurden gemeinsam Gedichte gelesen,<br />
über Literatur diskutiert und Kammerkonzerte gegeben.<br />
Für die auf einem so kleinen Raum wie dem Getto eingepferchten,<br />
von Hunger und Terror gequälten Menschen, die<br />
sich nicht sicher waren, ob es für sie ein Morgen geben würde,<br />
waren diese Aktivitäten etwas Besonderes. Sie boten ihnen die<br />
Möglichkeit, sich von der sie umgebenden Wirklichkeit abzulenken,<br />
sie waren ein Moment der Freude beziehungsweise<br />
der Aufrechterhaltung des Lebens- und Überlebenswillens für<br />
die Bewohner des Gettos.<br />
Laut der „Lodzer Gettochronik”<br />
verfolgten allein im ersten Jahr etwa<br />
70.000 Zuschauer die Veranstaltungen.<br />
1941 organisierte man auch<br />
speziell für Kinder Veranstaltungen.<br />
Eine wurde von der Schulabteilung<br />
an Purim, einem der Feiertage, veranstaltet,<br />
eine andere mit dem Titel:<br />
„Sommerfest” von der Verwaltung<br />
von Marysin. Nach der Ankunft der<br />
Transporte aus Westeuropa im Getto<br />
wurden die Konzerte in der Krawiecka<br />
zu einem wirklichen Festtag für<br />
K<strong>uns</strong>tliebhaber, denn es traten dort<br />
weltbekannte Musikvirtuosen auf.<br />
Die Konzert- und Theaterabende<br />
boten zudem dem Judenältesten<br />
Rumkowski die Möglichkeit, eine<br />
Rede zu halten.<br />
Ab Herbst 1942 bemühte man sich<br />
weiter, den Status des Arbeitsgettos<br />
aufrecht zu erhalten: alle Kinder und<br />
alten Leute waren ja deportiert und<br />
das Getto sollte wegen seiner Arbeitsleistungen<br />
noch möglichst lange<br />
existieren. Das Kulturhaus war nun<br />
seltener der Ort großer künstlerischer<br />
Ereignisse. Das Kulturleben, soweit es<br />
noch vorhanden war, verlagerte sich in<br />
die Arbeitsressorts. Im Sommer 1943<br />
wurde das Gebäude des Kulturhauses<br />
in das Ressort für Federbetten und<br />
Decken umgestaltet.<br />
27
28<br />
Von Zeit zu Zeit nahm Rumkowski<br />
dort noch Trauungen vor. Wenigstens<br />
sporadisch konnte man dort noch<br />
Musik hören.<br />
„Gemäß der Verfügung des Präses<br />
fertigt das Kulturhaus gerade eine Liste<br />
aller Musiker und Maler an, die in der<br />
letzten Zeit im Getto eingetroffen sind.<br />
Bis heute sind ca. 60 Musiker, Sänger,<br />
Theaterschauspieler sowie 10 Maler<br />
registriert worden. Unter den Letzteren<br />
sei besonders der bekannte Porträtist<br />
Gutman aus Prag genannt. Mit seinem<br />
originellen Äußeren, das wahrhaftig die<br />
Künstlergestalten vom Montparnasse<br />
in Erinnerung ruft, gewann er bereits<br />
im Ghetto eine ungeheuere Popularität“<br />
Die Chronik des Ghettos Lodz,<br />
6. Dezember 1941<br />
Jankiel Herszkowicz<br />
(1910-1972)<br />
Vor dem Krieg war er Schneider. Im<br />
Getto eine der bekanntesten Gestalten,<br />
der beliebteste Gettosänger. Er verfasste<br />
einfache satirische jiddische Lieder,<br />
die er auf den Straßen des Gettos sang.<br />
Sie erzählten von Armut, Hunger<br />
Der Troubadour des Getto<br />
Im Getto gab es eine Künstlergruppe, die sehr bekannt und<br />
beliebt war. Sie bestand aus Straßensängern, die ihre Lieder<br />
bei zufälligen öffentlichen Ansammlungen von Passanten<br />
vortrugen. Zwar unterlagen sie nicht der Zensur Rumkowskis,<br />
konnten aber wegen des Inhalts eines Stückes in Konflikt mit<br />
der Gettopolizei geraten. Diese Straßenlieder, die verschiedene<br />
Aspekte des Lebens im Getto thematisierten, waren oft<br />
improvisiert, existierten in der Regel nicht in schriftlicher Form.<br />
Überlebende des Gettos haben sie später aus dem Gedächtnis<br />
zitiert. Der populärste Straßensänger und Kommentator der<br />
Gettowirklichkeit war Jankele Herszkowicz. Dank der Tatsache,<br />
dass er überlebte, sind seine außergewöhnlich treffenden Lieder<br />
heutzutage weitgehend aus erster Hand in ihrer ursprünglichen<br />
Form bekannt.<br />
Andere „Poeten der Straße“, von denen einzelne Werke erhalten<br />
sind, waren Dawid Zisman, Abram Majzel, Mendel Mołczacki<br />
und der wahrscheinlich jüngste der ganzen Gruppe, der 1925<br />
geborene Hirsz Albus.<br />
„Getto, Gettochen, geliebtes Gettolein<br />
Du bist so winzig und so mies“<br />
Teil des Liedes „Geto Getuniu“ von Jankele Herszkowicz<br />
»Es gajt a jeke mit a teke« lautet der Refrain des neuesten, nach<br />
der Melodie des bekannten Soldatenliedes »Das Maschinenge-<br />
Jankiel Herszkowicz und Karl Rosenzweig, Seite aus dem Album der Brot- und Kolonialwarenabteilung, im Hintergrund handschriftlich<br />
das Lied ‚Rumkowski Chaim’. Collage aus Fotografien Mendel Grossmans.
wehr« gesungenen Gettoschlagers. Er parodiert die Abenteuer der<br />
hier kürzlich angekommenen »Deutschen«, die man in jiddischer<br />
Mundart »Jeken« nennt. In lustiger Manier wird Glück und Unglück<br />
dieser immer hungrigen und stets Essen suchenden Menschen geschildert,<br />
die von den »Einheimischen« sogar ein wenig aufs Korn<br />
genommen und oft wegen ihrer Naivität und Unkenntnis der lokalen<br />
Verhältnisse ausgenutzt werden. Es ist auch von den Frauen<br />
die Rede, die mit Hosen bekleidet in den Baluter Gassen herum stolzieren.<br />
Autor und Interpret des Liedes ist der im Getto sehr beliebte<br />
»Straßentroubadour« Herszkowicz, ehemals gelernter Schneider.<br />
Letztes Jahr komponierte er ein durchaus aktuelles und populäres<br />
Lied »Rumkowski Chaim«, mit dessen Darbietung er monatelang<br />
Geld verdiente, wobei er einmal vom Präses höchstpersönlich mit<br />
5 Mark beschenkt wurde, als der Gettovorsteher sich zufällig unter<br />
den Zuhörern befand. Ein anderes Mal erhielt der »Gettotroubadour«<br />
vom Präses ebenfalls höchstpersönlich eine Packung Matze,<br />
als er sein Lied vor Beginn der Feiertage vor einem Laden vortrug,<br />
der gerade zu diesem Zeitpunkt vom Judenältesten visitiert wurde.<br />
Zur Zeit hat sich dem Sänger ein ehemaliger Handlungsreisender,<br />
der Wiener Karol Rozenzwaig zugesellt, der Herszkowicz auf der<br />
Gitarre oder auf der Zither begleitet. Dieses – wie sonst alles andere<br />
im Getto – recht seltsame Duo: ein Baluter Schneider und ein Wiener<br />
Geschäftsreisender, erfreut sich bei den Zuhörern enormer Beliebtheit.<br />
Dabei macht das Paar kein schlechtes Geschäft. und nicht<br />
selten hat es nach einem ganzen Tag ehrlicher Arbeit bis zu 6 Mk.<br />
untereinander zu teilen. In den letzten Tagen präsentiert das Duo<br />
einen neuen Schlager nach der Melodie der Wiener Fiakerkutscher<br />
(komponiert nota bene von einem Juden namens Pik).. Ähnlich wie<br />
das früher speist sich auch dieses Lied aus den unzähligen Kalauern,<br />
die über die »Jeken« hier zirkulieren. Zu Ehren des Präses hat<br />
der Gettosänger seinerzeit einen ebenfalls sehr populären »Schlager«<br />
mit dem Titel »Leben sol prezes Chaim« komponiert“.<br />
Die Chronik des Gettos Lodz, 5. Dezember 1941<br />
Der Getto-Troubadour Herszkowicz<br />
Der Getto-Troubadour Herszkowicz komponierte vor kurzem zwei<br />
aktuelle Lieder. Das erste ist den unvergesslichen Taten Hercbergs<br />
gewidmet, die ein so trauriges Kapitel der Gettogeschichte<br />
darstellen, das zweite hingegen der letzten Küchenorganisation.<br />
Herszkowicz, der seinen ehemaligen Partner verloren hat, einen<br />
Wiener Handlungsreisenden, der seinen Gesang auf der Zither<br />
begleitete, hat seit kurzem keine Zeit mehr vor dem Strassenpöbel<br />
aufzutreten. Er bekleidet nämlich den Posten eines Hausmeisters.<br />
Mit seinen Liedern erheitert er nur noch diejenigen, die zufällig an<br />
verschiedenen Arbeitsstätten während der Pausen zuhören.<br />
Bernard Ostrowski „Die Chronik des Gettos Lodz“, 9 Juni 1942<br />
und Kälte, aber gleichzeitig gab er den<br />
Gettobewohnern Hoffnung und ein<br />
bisschen Freude.<br />
Herszkowicz wurde 1910 in Opatów<br />
geboren. Seine Familie kam kurz vor<br />
dem Krieg nach Łódź. Er lebte mit<br />
seinen Eltern und Geschwistern im<br />
Getto. Erst wohnte er in der ul. Rybna 6<br />
und 13, dann in der ul. Starosikawska 1<br />
und schließlich in der Barek Joselewicz<br />
20. Die Eltern und der jüngste Bruder<br />
wurden 1942 nach Kulmhof am Ner<br />
(Chełmno nad Nerem) deportiert<br />
und dort ermordet. Er selbst erhielt<br />
erst Arbeit in einem Geschäft, dann in<br />
einer Bäckerei und schließlich in einer<br />
Druckerei. In seiner Freizeit verfasste er<br />
Lieder und sang auf den Straßen. Seine<br />
Lieder kannte und summte das ganze<br />
Getto. Manche Zuhörer ergänzten sie<br />
um eigene Strophen.<br />
Jankiel Herszkowicz kommentierte<br />
die Situation im Getto witzig, machte<br />
Scherze und kritisierte die hohen Gettobeamten,<br />
auch den Ältesten der Juden,<br />
Chaim Mordechai Rumkowski. Deshalb<br />
ließ der Vorsitzende den Troubadour in<br />
den Arrest werfen. In der Gettochronik<br />
wird aber auch berichtet, dass Rumkowski<br />
ihn sogar wegen seines Talents<br />
zweimal beschenkte. Herszkowicz war<br />
auch der Verfasser des Schlagers ‚Leben<br />
zol prezes Chaim’ (Hoch)Leben soll der<br />
Vorsitzende Chaim.<br />
Ab Ende 1941 trat der Sänger zusammen<br />
mit Karl Rosenzweig auf, der ihn<br />
auf der Gitarre oder Zither begleitete.<br />
1944 wurde er nach Aschwitz-Birkenau<br />
deportiert, danach gelangte er in<br />
weitere Lager. Das Kriegsende erlebte<br />
er in Bra<strong>uns</strong>chweig. 1945 kehrte er<br />
29
30<br />
nach Łódź zurück, wo er seinen älteren<br />
Bruder Majer wiedertraf, der den Krieg<br />
in der UdSSR überlebt hatte, aber leider<br />
schon 1946 starb. Jankiel Herszkowicz<br />
beteiligte sich am jüdischen Leben<br />
nach dem Krieg. Anfang der fünfziger<br />
Jahre heirate er die Polin Bogomiła<br />
Niewiadomska, mit der er zwei Söhne<br />
hatte. 1966 wurden Herszkowiczs<br />
Lieder im Rahmen des Programmzyklus’<br />
‚Za nią było łatwiej przeżyć’ (Mit<br />
ihm war es leichter zu <strong>überleben</strong>) vom<br />
Polnischen Radio Łódź aufgenommen.<br />
Dank dieser Aufnahmen blieb die<br />
Stimme des Gettotroubadours auf<br />
Band erhalten. Seine Geschichte wurde<br />
zur Vorlage für den Film ‚Król i błazen’<br />
(Der König und sein Hofnarr), in dem<br />
der Sänger Rumkowski gegenübergestellt<br />
wird. Herszkowicz kam mit der<br />
polnischen Nachkriegsrealität und<br />
dem Antisemitismus nicht zurecht<br />
und beging 1972 Selbstmord. Seine<br />
Lieder jedoch leben bis heute weiter.<br />
1994 erschien in Paris im Verlag seines<br />
Freundes Josef Wajsblat das Buch<br />
‚Jankl Herszkowicz. Der gezang fun<br />
lodzer geto’ (Jankiel Herszkowicz. Die<br />
Ballade vom Łódźer Ghetto). Gila Flam<br />
beschreibt Herszkowicz in ihrem Buch<br />
‚Singing for Survival’ (University of<br />
Illinois Press, 1992).<br />
Plattenaufnahmen mit seinen Liedern,<br />
gesungen von den nächsten Generationen.<br />
sind in Kanada, Italien und<br />
Frankreich erschienen,<br />
Dawid Bajgelman<br />
(1888-1944)<br />
Geboren in Ostrowiec Świętokrzyski,<br />
Violinvirtuose, Theaterkritiker,<br />
Mitglied der Lodzer Philharmonie.<br />
Bajgelman ist in einer traditionellen<br />
jüdischen Familie aufgewachsen. Sehr<br />
früh zeigte er<br />
Interesse für<br />
Musik. Schon<br />
1906 wurde er<br />
erster Geiger<br />
im Jizchak-<br />
Zanberg-Theater<br />
in Łódź,<br />
später Dirigent<br />
im Theater<br />
Musik im Getto<br />
Die Musiker, sowohl professionelle als auch Amateure, waren<br />
die stärkste Künstlergruppe im Getto. Sie begannen gleich<br />
nach der Absperrung des Gettos, Konzerte und Vorführungen<br />
zu organisieren. Das erste Konzert fand am 13. Juli 1940<br />
im Saal an der Jonszera 25 statt. Das Orchester wurde von R.<br />
Piaskowski geleitet, Pianist war Teodor Ryder (vor dem Krieg<br />
leitete er das Lodzer Philharmonieorchester). Man spielte<br />
Bach, Schubert, Vivaldi. Da die Veranstaltung großes Interesse<br />
fand wurden weitere Konzerte geplant. Zwei Monate später<br />
gab es ein Konzert mit Werken von Mozart, Vivaldi, Beethoven.<br />
Am 30.Oktober 1940 fand im Kulturhaus in der Krawiecka ein<br />
Inaugurationskonzert der noch aus der Vorkriegszeit bekannten<br />
Gesangsgesellschaft „Hazomir“ statt. Alle Künstler waren<br />
festlich gekleidet, nur ein gelber Flecken in Form des Davidssterns<br />
ließ sie nicht die Realität vergessen.<br />
Mosze Pulawer schrieb nach dem Krieg über die Tätigkeit des<br />
Symphonieorchesters im Getto: „ Es bestand aus vierundvierzig<br />
ausgezeichneten Künstlern. Man benutzte Musikinstrumente,<br />
die im Kulturhaus gefunden wurden. Die Konzerte mit<br />
traditioneller jüdischer Musik wurden von David Bajgelman<br />
geleitet und das erste Konzert fand im Februar 1941 statt.<br />
Die Konzerte erfreuten sich einer großen Beliebtheit, fanden<br />
zwei Mal in der Woche statt, meist mittwochs und samstags.<br />
Die Eintrittskarten waren relativ teuer, ihr Preis schwankte<br />
zwischen 20 Pfennig und einer Mark, trotzdem war es nicht<br />
einfach sie zu bekommen.“<br />
Da das Interesse an Musikveranstaltungen immer größer<br />
wurde, beschloss die Schulabteilung, eine Musik- und Gesangsklasse<br />
zu eröffnen. Es ist nicht sicher, ob dieses Projekt<br />
zustande kam, zumal das Schulwesen im Getto nur zwei Jahre<br />
existierte.
Im Jahre 1941 spielten im Orchester ins Getto deportierte<br />
Westjuden, die zusammen mit den Lodzer Musikern auftraten.<br />
Das bestätigt eine Aufzeichnung aus der Chronik.<br />
Es ist erwähnenswert, dass das Getto durch die Ansiedlung der<br />
Neuankömmlinge eine Reihe von talentierten Interpreten - Pianisten<br />
und Sänger – gewann. Eine besondere Erwähnung verdienen<br />
die Darbietungen des Klaviervirtuosen Birkenfeld aus Wien. Auf<br />
Anordnung des Präses hat das Kulturhaus bereits Mitte November<br />
alle mit den neuen Transporten gekommenen Musiker, Bühnenschauspieler,<br />
sowie K<strong>uns</strong>tmaler registriert. Die Zahl der registrierten<br />
Künstler beläuft sich auf einige Dutzend.<br />
In der ersten Hälfte des Jahres 1942 werden in der Chronik nur<br />
einige Veranstaltungen erwähnt – in dieser Zeit begannen die<br />
Deportationen aus dem Getto nach Kulmhof am Ner. Aber im<br />
Mai und Juni fand trotzdem ein Konzert statt, das ausschließlich<br />
der Musik Beethovens gewidmet wurde. Im November<br />
dirigierte Bajgelman ein Konzert mit Variationen jüdischer<br />
volkstümlicher Motiven. Solopartien spielte Bronisława Rothstadt.<br />
Wie ein Chronist schreibt: “Das Orchester wies Lücken<br />
auf. Es fehlte der Konzertmeister, der verstorben ist, und einige<br />
Ausgesiedelte, wie z. B. Prof. Wachtl (Bratsche). Jetzt können<br />
die Musiker nur noch nebenamtlich spielen, da das Kulturhaus<br />
als selbständige Abteilung nicht mehr besteht und alle Musiker<br />
in den Ressorts bzw. Abteilungen arbeiten. “ Nach dem<br />
Konzert hielt der Judenälteste Rumkowski eine Ansprache. Er<br />
versprach weitere „von da an regelmäßige Konzertveranstaltungen“<br />
und hielt sein Wort.<br />
Die Konzerte wurden mit der Verordnung Rumkowskis vom<br />
17. Januar 1944 über die Registrierung von Musikinstrumenten<br />
beendet. „Auf Befehl der Behörden rufe ich alle Gettobewohner<br />
auf, ihre Musikinstrumente im Sekretariat in der<br />
Dworska1 abzuliefern. Die Registrierung findet vom 18. Januar<br />
bis zum 22 Februar 1944, statt. Dieser Termin ist endgültig.“<br />
Plattenspieler und Schallplatten wurden<br />
bereits am 14 Dezember 1941 konfisziert .<br />
Scala. Nach dem ersten Weltkrieg war<br />
er Komponist im Avangarde-Theater<br />
Ararat und später sein Leiter. Er<br />
wohnte an der Gdańska 31 a. Dawid<br />
Bajgelman schrieb Musik zu Texten<br />
von Mosze Broderson und zu Theateraufführungen,<br />
sowie eigene Lieder.<br />
Im Getto wohnte er an der Pieprzowa<br />
4. Er leitete das Orchester des Gettos<br />
Lodz, das im Kulturhaus seinen Sitz<br />
hatte. Am 1. März 1941 fand das erste<br />
Konzert statt. Im August 1944 wurde<br />
Bajgelman nach Auschwitz deportiert<br />
und sofort in der Gaskammer<br />
ermordet.<br />
Teodor Ryder<br />
(1881-1944)<br />
Von Beruf Dirigent, Pianist, Pädagoge.<br />
Er wurde in Piotrków geboren und begann<br />
dort seine musikalische Kariere.<br />
Viele Jahre lang studierte und arbeitete<br />
Ryder als Dirigent im Ausland, und<br />
an der Oper in Warschau. In der<br />
Zwischenkriegszeit wohnte er in Łódź<br />
und leitete in den Jahren 1927-39 das<br />
Lodzer Philharmonieorchester. Im<br />
Getto war Ryder Leiter des Symphonieorchester,<br />
er unterrichtete Gesang<br />
und Musik. Teodor Ryder starb in<br />
Birkenau.<br />
Oskar Rosenfeld kommentierte in der<br />
Chronik den Beschluss der Gettobehörden<br />
vom Januar 1944:<br />
Wir haben öfter berichtet, dass das kulturhungrige<br />
Getto in kleinem Ausmasse,<br />
in engen privaten Zirkeln, Musik<br />
betreibt. Nunmehr soll auch dieses letzte<br />
Restchen von Glück schwinden. Man<br />
31
32<br />
kann sich <strong>uns</strong>chwer vorstellen, was es<br />
für einen Berufsmusiker, Virtuosen, ja<br />
selbst für den Dilettanten bedeutet, seine<br />
geliebte Geige hergeben zu müssen,<br />
und das Getto hat einige Geigenvirtuosen<br />
von Rang. Wir erwähnen hier<br />
nur die Rotstatowna, die Prager Geiger<br />
Kraft und Weinbaum. Die wenigen<br />
Stuben, die noch ein Pianino oder einen<br />
wackeligen Flügel besitzen und so zum<br />
K<strong>uns</strong>ttempel geworden waren, werden<br />
wieder vereinsamt sein. Beethoven,<br />
Mozart, Chopin, Schumann, werden<br />
im Getto für immer verstummen. Die<br />
Strasse wird nichts merken, das harte<br />
Leben geht weiter und zu den Qualen<br />
des Hungers und des Frostes tritt noch<br />
der <strong>uns</strong>tillbare Hunger nach Musik.<br />
Miriam Ulinower<br />
(1894-1944)<br />
In Łódź lebende, auf Jiddisch schreibende<br />
Dichterin.<br />
In ihrer Wohnung im Getto in der<br />
Jakuba trafen sich Dichter und<br />
Schriftsteller.<br />
Miriam Ulinower wurde in dem<br />
Städtchen Krzepice unweit Radomsk<br />
geboren. Sie entstammte einer traditionellen<br />
jüdischen Familie. Das hinderte<br />
sie jedoch nicht daran, sich einer<br />
„sinnlosen und weltlichen“ Tätigkeit<br />
zu widmen - in orthodoxen Kreisen<br />
ist dies das Schreiben. Und damit<br />
nicht genug, Ulinower versammelte<br />
schon damals junge Leute mit künstlerischen<br />
Ambitionen um sich. Die<br />
Treffen fanden nicht im Café statt, wie<br />
es in Künstlerkreisen die Regel war,<br />
sondern in ihrer privaten Wohnung in<br />
der Narutowicza. Die erste und einzige<br />
nach ihrem Tod herausgegebene<br />
Gedichtsammlung „Der bobes ojcer“<br />
ist ein in Form und Auffassung sehr<br />
traditionell gehaltener Gedichtband.<br />
Die Dichterin stellt in ihm jüdische<br />
und volkstümliche Motive vor, die in<br />
den durch die Großmutter im fernen<br />
Schtetl übermittelten Erinnerungen<br />
und Erzählungen aufleben.<br />
Die Familie Ulinower wurde sehr früh<br />
gezwungen ins Getto zu ziehen – die<br />
schönsten Wohnungen im Zentrum<br />
Das Theater im Getto Litzmannstadt<br />
Gleich nach der Errichtung des Gettos fing man an, Theater<br />
zu spielen. Im Sommer 1940 wurde das „Theater Avantgarde“<br />
gegründet. Sein Leiter war Mosze Puławer, Schauspieler<br />
und Regisseur des aus der Vorkriegszeit bekannten literarischen<br />
Kabaretts Ararat. Das erste Theaterstück unter seiner<br />
Regie mit dem Titel „Jidn Szmidn“ bestand aus den Werken von<br />
Mosze Broderson, Icchok Perec, Icyk Manger, Mordechai Gebirtig<br />
mit der Musik von David Bajgelman, Herz Rubin, Henoch Kohn.<br />
Eine weitere Aufführung fand in der Sporthalle des Gymnasiums<br />
in der Franciszkańska 76 statt. Der Schulleiter genehmigte dort<br />
eine provisorische Bühne. Das Stück wurde enthusiastisch aufgenommen<br />
und der Saal platzte aus allen Nähten. Der nächste<br />
Auftritt fand während der „Großen Kulturveranstaltung“ am 24.<br />
Oktober 1940 im Kulturhaus an der Krawiecka 3 statt. Dies löste<br />
einen Skandal aus, weil sich der Judenälteste beleidigt fühlte.<br />
Bei den nächsten Aufführungen bemühte man sich, das Programm<br />
immer zur Rumkowskis Zufriedenheit zu gestalten.<br />
Bühnendekoration von Pinkus Szwarc für die Vorstellung des Avantgarde Theaters<br />
Das Theater Puławers stellte nur einige ausgebildete Schauspieler<br />
an, aber mit der Zeit wurde das Theater immer professioneller.<br />
Seit Beginn arbeiteten mit dem Theater Pinkus Szwarc als<br />
Bühnenbildner und David Bajgelman als Komponist sowie Tänzerinnen<br />
der Halina-Krakowska-Eljasberg-Tanzschule zusammen.<br />
Die Theateraufführungen und Revuen erfreuten sich einer<br />
großen Popularität. Sie waren immer vollständig ausverkauft.<br />
Puwałer erzählte, dass man im Kulturhaus bis Ende 1943 spielte,<br />
später wurden Veranstaltungen in verschiedene Ressorts verlegt.<br />
Zum Repertoire gehörten Sketsche und Lieder. Es gab auch<br />
einige neue Texte über das Leben im Getto, von Zeit zu Zeit<br />
wurden neue musikalische Stücke komponiert. Um die guten
Beziehungen mit den Gettobeamten nicht zu gefährden,<br />
vermied man politische Inhalte. Es wurden Stücke aus der<br />
jiddischen Literatur, Poesie und Folklore aufgeführt. In den<br />
meisten Aufführungen wurden Lieder gesungen, die die neue<br />
Situation im Getto schilderten. Sie erzählten von Hunger und<br />
Leid und vom Leben vor dem Krieg. Aber es wurden auch<br />
Liebeslieder und Wiegenlieder gesungen.<br />
Die Theaterstücke wurden auch in den Ressorts gezeigt. Sie<br />
wurden von den ressortseigenen Künstlergruppen vorbereitet.<br />
Die meisten Auftritte waren verschiedenen Jubiläen in den<br />
Ressorts gewidmet. Dazu gehörten auch die Präsentationen<br />
der vor Ort hergestellten Ware, Gesang und Tanz.<br />
Jakub Poznański kritisierte scharf diese Neigung, so oft Jubiläen<br />
zu feiern:<br />
Jede Woche feiern eine Abteilung oder ein Ressort zweijähriges<br />
oder wie die Feuerwehr und die Polizei ein dreijähriges Jubiläum<br />
ihres Bestehens. Es passiert aber auch, dass die Institutionen<br />
bereits nach einem Jahr eine Jubiläumsfeier veranstalten. Am<br />
27. Februar wird es zwei Jahre her sein, dass das Papierressort<br />
errichtet wurde, Die Leitung beschloss „dieses historische Datum<br />
zu würdigen, indem man eine Ausstellung der Produkte, ein Ressortsfest<br />
und eine Revue veranstaltet. Selbstverständlich wurde<br />
nichts rechzeitig fertig. Weder die Ausstellung noch die Revue.<br />
Wenn man eine Ausstellung unter Umständen als zweckmäßig<br />
betrachten könnte, so ist eine Revue in <strong>uns</strong>eren Verhältnissen<br />
geschmacklos. (..)Die Leitung begründet die Veranstaltung sei<br />
eine Höflichkeitsgeste gegenüber dem Präses(..). Ich stimmte<br />
damit nicht überein. Diese Gewohnheit in <strong>uns</strong>eren Bedingungen<br />
ist schlimm und verletzt die Menschenwürde. Es gibt leider fast<br />
keine Ethik im Getto.<br />
Am 21 Juni 1943 verbiet Rumowski, weitere Revuen in den<br />
Ressorts aufzuführen. Laut Anna Kuligowska-Korzeniowska war<br />
der unmitteilbare Grund dafür das von den Polizeibeamten<br />
gesungene Lied „ Zorg niszt bruder, morgen zejn besser“ (Keine<br />
Sorge Bruder,<br />
morgen wird<br />
es besser<br />
sein). Infolge<br />
der Entscheidung<br />
Rumkowskis<br />
wurde<br />
auch das<br />
Kulturhaus<br />
endgültig<br />
geschlossen.<br />
Großer Popularität<br />
erfreu-<br />
Theateraufführung im Getto<br />
wurden rasch von den Besatzern<br />
bezogen. Zu Beginn der Entstehung<br />
des Gettos ging es ihnen verhältnismäßig<br />
gut. Der Ehemann der<br />
Dichterin, Wolf (Wowcze) Ulinower,<br />
der in der zweiten Runde in den<br />
Judenrat gewählt wurde, eröffnete ein<br />
Restaurant. Dank seiner privilegierten<br />
Position konnte er sich dies in der<br />
Anfangszeit der Gettos erlauben.<br />
Nach der Schließung des Restaurants<br />
folgte eine Krise, während der die<br />
Dichterin Hunger litt und ernsthaft<br />
erkrankte. Danach begann Ulinower<br />
eine Lohnarbeit im eigenen Haus.<br />
Ulinower verarbeitete Stoffreste, die<br />
in großer Menge im Getto eintrafen<br />
(wahrscheinlich nicht brauchbare<br />
Kleiderreste von in Chełmno<br />
ermordeten Menschen). Aus jenen<br />
Stoffstücken wurden Teppiche geflochten.<br />
Rachmiel Bryks, der damals<br />
in der Färberei arbeitete, sagte, dass<br />
er selbst Rohmaterial ins Haus der<br />
Dichterin lieferte. Die Dichtertreffen<br />
fanden regelmäßig und in geheimer<br />
Atmosphäre statt. Man nimmt an,<br />
dass das Thema des Krieges bei Ulinower<br />
nur in dem vor der Schließung<br />
des Gettos geschriebenen Gedicht<br />
„Jasia“ vorkommt, ein Gedicht über<br />
ein polnisches Mädchen, das die eingerollte<br />
Thora rettete und sie auf das<br />
Gebiet des späteren geschlossenen<br />
Judenviertels brachte.<br />
Aus der Anfangszeit des Krieges<br />
stammt auch das Gedicht „Alf, bejs“.<br />
Es gibt unterschiedliche Meinungen<br />
darüber, ob Miriam Ulinower nach<br />
dem Frühjahr 1940 überhaupt noch<br />
schrieb. Einige behaupten es, da sie<br />
sich erinnern, dass die Dichterin bei<br />
den Treffen in ihrer Wohnung Gedichte<br />
vortrug. Ohne Zweifel hatten<br />
der Charakter der durch sie ins Leben<br />
gerufenen Treffen, ihre geäußerte<br />
Meinung und die Tatsache, dass sie<br />
junge Leute stark zum Schreiben motivierte,<br />
keine ebenso große Bedeutung<br />
wie ihre Werke selbst. „Wenn es<br />
für die im Getto verbliebenen Schriftsteller<br />
dort noch etwas Würdevolles<br />
gegeben hat, so war es die heimische<br />
Atmosphäre bei Miriam Ulinower“ –<br />
33
34<br />
stellte der Schriftsteller Jeszaja Spiegel<br />
nach dem Krieg fest.<br />
Im August 1944, als das Getto Lodz<br />
aufgelöst wurde, wurde die Familie<br />
Ulinower nach Auschwitz deportiert.<br />
Dies ist eines der Vorkriegsgedichte<br />
von Ulinower, das während der<br />
Dichtertreffen in ihrer Wohnung<br />
vorgetragen worden sein könnte.<br />
Butterbrot<br />
Wenn das Butterbrot mir aus der Hand<br />
fällt<br />
Der Großmutter die Augen anfangen<br />
zuzufallen,<br />
ist das ein Zeichen, meine kleine Seele,<br />
ist das ein untrügliches<br />
Zeichen<br />
Dass Dein Liebster jetzt irgendwo<br />
Hunger leidet.<br />
Jeszaja Szpigiel<br />
(1906-1990)<br />
Dichter, Übersetzer und Essayist.<br />
Einer der Wenigen, der den Holocaust<br />
überlebte.<br />
Er wurde im Bałuty geboren. Sein<br />
Vater, Moise Spiegel, hatte keine<br />
feste Anstellung, er bestritt seinen<br />
Lebensunterhalt mit verschiedenen<br />
Beschäftigungen. Die Mutter Gittl<br />
sorgte sich um das Haus und die<br />
acht Kinder. Schaje (auch Jeschajahu<br />
genannt) war der Älteste und musste<br />
der Familie helfen. Er erhielt eine orthodoxe<br />
Erziehung. Zuerst im Cheder,<br />
danach in einer Berufsschule mit religiösem<br />
Profil, die Talmud-Thoraschule<br />
beendete er nicht. Erst 1919 besuchte<br />
er eine Volksschule, in der nach dem<br />
deutschen Ausbildungsprogramm<br />
unterrichtet wurde.<br />
Damals erhielt er den Beinamen „<br />
der Schriftsteller“ und am Ende der<br />
Ausbildung eine Auszeichnung. Er<br />
interessierte sich für die polnische Literatur<br />
und für die Weltliteratur, übertrug<br />
u.a. „Kain Byron“ ins Jiddische<br />
und in dieser Sprache begann er auch<br />
selbst zu schreiben. Schon 1922 fand<br />
sich sein Debüt-Gedicht „Moische“<br />
im „Lodzer Folksblat“, dessen Inhalt<br />
ten sich auch die von Kindern und Jugendlichen vorbereitete<br />
Aufführungen. Das Theater war einer der Bildungsfaktoren.<br />
Alle diese Veranstaltungen entstanden unter der Leitung von<br />
Betreuern und Instruktoren, u.a. anlässlich des Purim- oder<br />
Chanukkafestes, zum Abschluss des Schuljahres oder eines<br />
Ferienlagers. Eine Veranstaltung am 6. September 1941erwähnt<br />
die Chronik: Am Samstag, dem 6. September, wurde von der<br />
Verwaltung des Stadtviertels Marysin eine Veranstaltung unter<br />
dem Motto »Sommerfest« im Saal des Kulturhauses organisiert.<br />
Das mehrstündige Programm wurde ausschließlich von Kindern,<br />
die in Marysin lernen oder sich erholen, dargeboten. Es bestand<br />
aus Chorgesängen, Rezitationen, Genreszenen aus dem Leben der<br />
Kinder in Marysin, Tänzen, Grotesken usw. Das Ganze fiel imposant<br />
aus. Viele Darbietungen wurden mit großem Talent ausgeführt.<br />
Während solcher Feiern war Chaim Rumkowski immer anwesend.<br />
Die Kinder bildeten nach der Ansprache einen Kreis um ihn und<br />
tanzten fröhlich, unter Hochrufen auf den Vorsitzenden, zu den<br />
Klängen der Musik im Reigen. Alle jugendlichen Darsteller wurden<br />
vom Präses mit Brot und Bonbons beschenkt.
Ab 1940 bis zur Auflösung des Gettos fanden illegale Künstlerabende<br />
statt. An solch einem nahm Lucille Eichengreen<br />
(damals Cecilie Landau) teil, die Sekretärin von Oskar Singer,<br />
Sie erinnert sich nach Jahren an diesen Abend:<br />
Und jetzt habe ich noch eine Überraschung für dich. Am Sonntagabend<br />
wird es in einer Wohnung ein Konzert geben. Ich bin<br />
eingeladen worden und möchte dich mitnehmen.<br />
„Ein Konzert im Getto?“<br />
Er nickte. »Es wird Kammermusik gespielt, und es werden zwei<br />
meiner Wiegenlieder aufgeführt. Ich habe die Texte geschrieben<br />
und ein anderer die<br />
Melodie.« Dies war für<br />
mich ein sehr aufregender<br />
Gedanke, und<br />
ich konnte es kaum<br />
abwarten.<br />
Am Sonntag holte mich<br />
Szaja um sieben Uhr<br />
ab, und wir gingen zu<br />
einem alten, heruntergekommenen<br />
Gebäude<br />
in der Marynarska.<br />
Die Zuhörer saßen auf<br />
dem Fußboden, an die<br />
Wände gelehnt. Sie<br />
unterhielten sich laut<br />
miteinander, bis sie Szaja<br />
bemerkten. Danach<br />
wurde es still im Zimmer.<br />
Offenbar kannten<br />
sie ihn und blickten ihn<br />
neugierig an. Wir suchten <strong>uns</strong> auf dem Fußboden zwei Sitzplätze<br />
und warteten. Es war ein grauer, düsterer Raum. In der Mitte standen<br />
vier Stühle, auf denen die Musiker, mit dem Stimmen ihrer<br />
Instrumente beschäftigt, Platz genommen hatten. Das Publikum<br />
saß jetzt still. Jemand kündigte das Programm an: »Wir beginnen<br />
mit zwei Wiegenliedern von Szaja Spiegel. Bitte applaudieren Sie<br />
leise, wir haben unnötigen Lärm zu vermeiden.«<br />
Eine junge Frau ging zu den Musikern, gab ihnen ein Zeichen, und<br />
sie fingen an. Mit ihrer wunderbaren Sopranstimme sang sie sanfte,<br />
wiegende Melodien zu Szajas gefühlvollen Texten. Der Applaus war<br />
gewaltig: ein stilles, eindringliches Klatschen. Danach setzten die<br />
Musiker ihr Konzert mit verschiedenen Kammermusikstücken fort.<br />
Der Klang dieser Musik versetzte mich in die Vergangenheit…“<br />
thematisch mit der Ausgabe anlässlich<br />
des Pessach-Festes übereinstimmte.<br />
Danach veröffentlichte er hauptsächlich<br />
in Lodzer und Warschauer Zeitschriften,<br />
einmal sogar in der in den Vereinigten<br />
Staaten herausgegebenen und<br />
sozialistisch ausgerichteten intellektuelloffenen<br />
Schrift „Freiheit“. Seit 1925<br />
gehörte er zum jüdischen Schriftstellerverband.<br />
Die zwanziger Jahre<br />
waren unter den jugendlichen Lodzer<br />
Literaten geprägt von gesellschaftlichen<br />
Themen und sozialistischen Idealen.<br />
Spiegel freundete sich in dieser Zeit mit<br />
Chaim König, Israel Rabon und Isaak<br />
Berliner an.<br />
1930 erschien im Lodzer Verlag Alef<br />
der erste Band seiner Gedichte „Mitn<br />
ponim cu der zun“ (Mit dem Gesicht<br />
zur Sonne). In den dreißiger Jahren war<br />
für sein Schaffen die Atmosphäre des<br />
Hauses von Jizchak Katzenelson von<br />
Bedeutung. Außer dem Lodzer hielten<br />
sich dort häufig Warschauer Gäste auf,<br />
darunter Jechiel Jesaja Trunk, Herschek<br />
Danielewicz und Israel Singer. Eine<br />
zweite sehr einflussreiche Gestalt in<br />
diesem Kreis war Moische Broderzon.<br />
Ab Ende der zwanziger Jahre lehrte<br />
Spiegel jüdische Sprache und Literatur<br />
an Lodzer Schulen.<br />
1933 erhielt er den Posten eines<br />
Buchhaltungsgehilfen in einem Unternehmen,<br />
das zahlreiche polnische und<br />
ausländische Zeitschriften vertrat. Ins<br />
Getto kam er 1940. Er arbeitete in der<br />
Statistischen Abteilung und war auch<br />
einer der Autoren der „Getto-Enzyklopädie“.<br />
Er schrieb im Getto Erzählungen<br />
und Gedichte, die u.a. dem verstorbenen<br />
Töchterchen Eva gewidmet waren<br />
(sie ist auf dem jüdischen Friedhof im<br />
Stadtteil Bałuty begraben). Die Lieder<br />
„Mach zu die eigelchen“ und „Nich kajn<br />
rozinkes nich kein mandeln“ sowie die<br />
Musik von David Baigelmann waren<br />
im Getto sehr beliebt. Rumkowski<br />
wollte ihn, als er das Wiegelied während<br />
eines Konzertes gehört hatte, aus dem<br />
Getto „aussiedeln“. Zur Rettung kam<br />
ihm Henryk Neftalin, der Leiter der<br />
Statistischen Abteilung und Spiegel<br />
blieb bis zum August 1944 im Getto.<br />
Ihm gelang es vor der Auflösung des<br />
35
36<br />
Gettos seine Werke in einem Haus an<br />
der Łagiewnicka zu verstecken (nur<br />
ein Teil davon blieb erhalten).<br />
Spiegel wurde erst nach Auschwitz,<br />
später auch in andere Lager deportiert.<br />
Nach dem Krieg kam er nach<br />
Łódź zurück und publizierte das Buch<br />
„Malches Getto“ (Königreich Getto)<br />
sowie den Gedichtband „Un geworn<br />
iz licht“ (Und es ward Licht).<br />
1951 wanderte er nach Israel aus. Er<br />
schrieb einige Bücher u.a. Erinnerungen<br />
an den Lodzer Stadtteil Bałuty mit<br />
dem Titel „Leiter zum Himmel“.<br />
Alter Sznor<br />
(1910-1944)<br />
Eigentlich Israel Ber Icinger, Journalist<br />
und Dichter. Er stammte aus Galizien.<br />
Als Waisenkind wuchs er bei seinem<br />
Großvater, einem überzeugten Chassiden,<br />
auf. Dieser religiösen Weltanschauung<br />
blieb auch Sznor, der einzige<br />
Vertreter der religiösen Dichtung<br />
im Getto, treu. Seine Erinnerungen<br />
aus der Kindheit fasste er in der im<br />
Getto entstandenen Reihe aus über 50<br />
Gedichten „Majn zejde“ „ Mein Opa“,<br />
zusammen.<br />
Er absolvierte das Lehrerseminar<br />
in Kraków und dort lernte er seine<br />
Ehefrau kennen. Sie ließen sich in<br />
Łódź nieder und arbeiteten als Lehrer<br />
in einer durch die Einrichtung Bejt<br />
Jaakow gegründeten Mädchenschule.<br />
Vor dem Krieg war er Mitverfasser der<br />
Wochenzeitschrift der orthodoxen Arbeiterpartei<br />
Agudas Israel: „Der jidszer<br />
arbeter sztime“ . Er schrieb Gedichte<br />
auf Hebräisch und sammelte Sprüche<br />
von Zaddikim. In Lodz unterrichtete<br />
er an einigen religiösen Schulen. Im<br />
Das Buch im Getto<br />
Den Juden wurde erlaubt soviel ins Getto mitzunehmen,<br />
wie sie selber tragen konnten. Da Bücher nicht als verboten<br />
erklärt wurden, nahmen die Juden ihre heiligen<br />
und weltlichen Bücher ins Getto mit. In vielen Erinnerungen<br />
wird erwähnt, dass Bücher und Unterricht zum Überleben<br />
<strong>half</strong>en.<br />
Untern vielen jüdischen Vorkriegsbibliotheken überdauerte<br />
nur die Bücherei von J.W. Zonenberg. Oskar Rosenfeld schreibt<br />
im „Kleinen Getto-Spiegel“ unter dem Datum 26 April 1944:<br />
Leihbibliotheken: Gleich nach der Errichtung des Gettos, bevor<br />
noch die aus Lodz ausgesiedelten Juden in ihrem neuen Wohngebiet<br />
heimisch waren, machte sich das Lesebedürfnis beim »Volk<br />
des Buches« geltend. Es wurde befriedigt durch die Leihbibliothek<br />
J.W. Sonnenberg/Zgierska, d. i. Hohensteinerstr. 19/, welche ohne<br />
Unterbrechung seit 1931 an dieser Stelle funktionierte. Alle anderen<br />
Leihbuchhandlungen wurden im ersten Kriegswinter 1939/40<br />
durch das Propaganda-Amt des Warthegau liquidiert. Sonnenberg<br />
hatte anfangs rund 19 Bücher in polnischer Sprache und Leser aus<br />
dem Mittelstand und Balut. Vom April 1940 an kaufte er von den<br />
Lodzen und andern Eingesiedelten Bücher in allerlei Sprachen,<br />
hauptsächlich deutscher und englischer Zunge. Anfang 1944<br />
besaß die Bibliothek bereits 7500 Bände, darunter 800 deutsche.<br />
Außer literarischen Werken kaufte Sonnenberg auch Schulbücher<br />
Enzyklopädien, Kompendien aller wissenschaftlichen Kategorien<br />
und Lehrbücher fremder Sprachen. Das Abonnement kostete 2 Mk<br />
monatlich, außerdem war eine Kaution von 5 Mk erforderlich. Seit<br />
Mai 1942 musste der deutsche Leser, der ein Abonnement erstrebte,<br />
ein deutsches Buch als Einschreibhonorar zur Verfügung stellen,<br />
sodass der deutschsprachige Teil der Bibliothek sehr rasch wuchs.<br />
Bernard Ostrowski, Mitglied des Archivteams berichtet unter<br />
dem Datum 9. Juni 1942 in der Chronik: (…) Der Hunger nach<br />
dem gedrucktem Wort ist im Getto stark zu spüren. Um festzustellen<br />
wie begierig die Menschen<br />
nach Büchern sind, reicht es,<br />
die kilometerlange Schlange,<br />
(selbst hier!) In der Leihbibliothek<br />
von Sonnenberg anzuschauen.<br />
Die Leser werden dort in einer<br />
Kooperative abgefertigt. Jeder<br />
kommt an den Tisch nennt ein<br />
paar Titel, hört ob das betreffende<br />
Buch da ist, (was übrigens<br />
gewöhnlich nicht der Fall ist) und<br />
muss sich geschwind entscheiden.<br />
Ein längeres Überlegen
Sznor war auch Redakteur der illegalen<br />
Schrift „ Min hamejcar“. Während der<br />
„Großen Sperre“ nahm die Gestapo<br />
zwei Kinder des Dichters mit. Nach<br />
der „Sperre“ waren weder weltliche<br />
noch religiöse Schulen im Betrieb. Die<br />
wenigen Kinder unter 10 Jahren, denen<br />
es in jenen Tagen gelang, sich zu retten,<br />
mussten im Versteck bleiben. Alter<br />
Sznor war aber tief davon überzeugt,<br />
dass man die mosaischen Gesetze der<br />
religiösen Bildung auch unter diesen<br />
tragischen Umständen beachten sollte.<br />
Er wurde zum Melamed (religiöser<br />
Lehrer für Kinder), der Kinder zu Hause<br />
unterrichtete, ohne ein Entgelt dafür<br />
zu bekommen. Für ältere Jugendliche<br />
gab er samstags abends Thora-Stunden<br />
in seiner eigenen Wohnung. Es gab<br />
eine Schülergruppe, mit der er bei dicht<br />
zugezogen Vorhängen gemeinsam<br />
betete und studierte. Sie hielten religiöse<br />
Gebote ein, weigerten sich sogar,<br />
Produkte der Gettoküche zu essen,<br />
bis sie unter Aufsicht des Rabbiners<br />
gestellt wurden. Trotz der Verordnung<br />
rasierten sie nicht ihre Bärte. Angeblich<br />
wickelte sich Sznor wegen seines<br />
Bartes, auch während der warmen<br />
Jahreszeit ein Tuch um das Gesicht,<br />
um Zahnschmerzen vorzutäuschen.<br />
Er war auch ein aktives Mitglied der<br />
Schriftstellergruppe, die sich um Ulinower<br />
sammelte. Es ist möglich, dass<br />
er ihr Sekretär war. 1944 wurde Alter<br />
Sznor nach Auschwitz-Birkenau<br />
deportiert und dort in der Gaskamwie<br />
früher kommt nicht in Frage. Man muss nehmen, was einem<br />
gegeben wird. Um die heutigen Zeiten zu charakterisieren sei<br />
betont, dass das Bibliothekpersonal mit dem Besitzer an der Spitze<br />
aus bekannten verständlichen Gründen in den Ressorts arbeitet;<br />
die Tätigkeit im Lesesaal dagegen ist eine mühevolle, zusätzliche<br />
Arbeit, die – zugegeben - sehr lukrativ ist. Das Monatsabonnement<br />
kostet gegenwärtig 2 Mk., außerdem wird bei der Anmeldung<br />
eine Gebühr von 3 Mark bzw. ein Buch als eine nicht rückzahlbare<br />
Kaution verlangt.<br />
Bis zum Frühling 1944 hatte Sonnenbergs Leihbücherei 4000<br />
Leser, sie bestand bis zum August 1944, d.h. bis zur Auflösung<br />
des Gettos.<br />
Eine andere große Leihbücherei befand sich an der Wolborska<br />
44 und gehörte S. Atlasberg, der vor dem Krieg eine Buchhandlung<br />
besaß. Seine Bücherei verfügte über 2000 Bücher<br />
und hatte die gleiche Leserzahl, seine Büchersammlung war<br />
also stets „im Umlauf“.<br />
Es gab auch einige kleinere Leihbüchereien in Privathäusern<br />
des Gettos. Die Besitzer verliehen ihre Bücher in Jiddisch<br />
gegen eine kleine Gebühr. Sie brachten an den Haustüren<br />
eine Information an: „ Achtung: ich leihe Bücher in Jiddisch<br />
aus“, dank der die Interessierten immer wussten, wo man die<br />
Bücher findet. Die Juden aus Hamburg, die ins Getto deportiert<br />
wurden, errichteten im Februar 1942 auch eine Bücherei,<br />
in der sie eigene Bücher zur Verfügung stellten. Zwei andere<br />
große Bibliotheken gab es an der Wolborska und der Jakuba.<br />
Es gelang, die Büchersammlung der Medizinbibliothek des<br />
Poznański-Krankenhauses, das sich im Krieg auf der arischen Seite<br />
befand, ins Getto zu transportieren. Diese Bücher wurden von<br />
Ärzten im Getto oft benutzt. Sie sammelten selber auch Fachbücher<br />
aus privaten Sammlungen und organisierten eine weitere<br />
Bibliothek, die in der Notstation an der Łagiewnicka 36 entstand.<br />
Getto arbeitete Sznor er als Pförtner<br />
in einer Färberei und revidierte die<br />
Verzeichnisse, wenn Arbeiter das<br />
Ressort verließen. Er schrieb viel, fast<br />
ununterbrochen und überall. „In jedem<br />
seiner Kleidungstücke befanden sich<br />
Gedichte“ erinnert sich Rachmil Bryka.<br />
Auf Hebräisch schrieb er ein Tagebuch,<br />
eine Art Tageschronik, auf Jiddisch<br />
nachdenkliche Poesie für Erwachsene,<br />
kurze Theateraufführungen und Gedichte<br />
für Kinder. Alter Sznor stammte<br />
nicht nur aus einer chassidischen Familie<br />
mit bedeutenden Gelehrten, er war<br />
selber ein Gelehrter, las stundenlang die<br />
Gemara, studierte und forschte viel. Er<br />
verband das Getto mit der Vergangenheit,<br />
mit verschiedenen Epochen der<br />
Verfolgung.<br />
37
38<br />
mer umgebracht. Seine Frau geriet ins<br />
Lager Bergen-Belsen. Sie überlebte<br />
den Krieg. Ihr gelang es, manche<br />
seiner Manuskripte zu redigieren.<br />
Einen Teil der Gedichte und Novellen<br />
rekonstruierte sie aus dem Gedächtnis<br />
und schenkte sie der Gedenkstätte Yad<br />
Vashem und dem Katzenelson-Museum<br />
im Ghetto Fighters House..<br />
Simcha Binem Szajewicz<br />
(1908-1944)<br />
Dichter und<br />
Schriftsteller.<br />
Fast alle Menschen,<br />
die mit<br />
ihm in Kontakt<br />
waren, erinnerten<br />
sich lebhaft<br />
an ihn. Besonders<br />
aber jene,<br />
die als junge<br />
Menschen die<br />
ersten literarischen<br />
Schritte<br />
im Getto<br />
machten. Szajewicz<br />
wurde 1908 in Łęczyca geboren.<br />
Er stammte aus einer orthodoxen<br />
Familie, die nach Łódź zog. Er erhielt<br />
eine gründliche jüdische Ausbildung,<br />
erwarb sogar eine rabbinische Ordination,<br />
nahm aber nie diese Stellung<br />
an. Obwohl er nicht den religiösen<br />
Weg einschlug (er arbeitete eine Zeit<br />
lang in einer Sockenfabrik) blieb er<br />
den Werten, die seine Jugend prägten<br />
treu. Er betonte die Zugehörigkeit<br />
zum jüdischen Leben seiner Familie,<br />
indem er einen langen Kittel trug.<br />
Seine Dichtung und Schriften wurden<br />
von religiösen Einflüssen geprägt. In<br />
den Vorkriegsjahren war Szajewicz<br />
ein häufiger Gast im Cafe „Unterm<br />
Glas“, wo die jüngste Schriftstellergeneration<br />
ihren Stammtisch hatte. Er<br />
begann mit Prosa, war sich aber seiner<br />
Begabung nicht sicher und hielt sich<br />
im Schatten seiner Kollegen zurück.<br />
Unter ihrem Einfluss gelang es ihm<br />
Mitte der dreißiger Jahre lediglich, die<br />
Erzählung „Amerikaner“ zu publizieren.<br />
Nach seiner Eheschließung und<br />
der Geburt der Tochter Bluma (1936)<br />
nahm er selten am literarischen und<br />
1942 stellte Henryk Naftalin, der Leiter der Statistischen Abteilung,<br />
ein Projekt zur Rettung der von den Ausgesiedelten zurückgelassenen<br />
Bücher im Getto vor. Die Hausverwalter und die<br />
Ressortleiter waren verpflichtet, die Statistische Abteilung über<br />
alle Bücher, die in Häusern, in Kellern, auf Dachböden gefunden<br />
wurden, zu informieren. Die Mitarbeiter der Statistischen Abteilung<br />
mussten anschließend alle Bücherabholen. Über das ganze<br />
Jahr 1942 und am Anfang des Jahres 1943 wurden 3 Räume und<br />
der Keller der Statistischen Abteilung mit Büchern gefüllt. Es<br />
kamen 30.000 Bücher zusammen. Bald entstand ein Lesesaal für<br />
Kinder und Jugendliche.<br />
Außer der Abenteuer- und Sensationsliteratur<br />
wurden im Getto<br />
polnische Autoren wie Żeromski,<br />
Prus, Orzeszkowa, Sienkiewicz,<br />
Strug gern gelesen. Von den<br />
russischen Autoren waren es Boris<br />
Pilniak, Ilja Erenburg und Maksim<br />
Gorki. Deutsche Juden wählten<br />
deutsche historische und philosophische<br />
Werke. Man las auch<br />
die deutsche Literatur von Heine,<br />
Feuchtwanger, Ludwig. Von den<br />
auf Jiddisch schreibenden Autoren wurden vor allem die Werke<br />
von Izchak Lejb Perec und Szymon Asza gelesen.<br />
Simcha Szajewicz in der Schriftstellergruppe, erster von rechts in der<br />
hinteren Reihe<br />
Wie wichtig die Bücher im Getto waren, kann man den Erinnerungen<br />
der Gettobewohner entnehmen. In Not und Leid waren sie<br />
oft die einzige Rettung. Nach ihnen griff man, um wenigstens für<br />
eine Weile zu vergessen, wo man sich befand, um aus der Stagnation<br />
herauszukommen, um den Lebenswillen zu steigern oder<br />
Mut zu fassen. Die Bücher gaben Hoffnung. Einen Moment lang<br />
schien das das Leben im Getto ertragbar.<br />
Bücherlesen war für die Gettobewohner eine Flucht aus dem Alltag
Rundfunkempfänger<br />
Das Getto Litzmannstadt war isoliert, es gab keinen Kontakt<br />
zur Außenwelt. Man durfte keine Rundfunkgeräte<br />
besitzen, es gab keinen Zugang zur Presse, auch der<br />
Briefwechsel wurde beschränkt.<br />
Nicht nur die Künstler gaben den Gettobewohnern Hoffnung.<br />
Genauso wichtig wie der Kontakt zur K<strong>uns</strong>t waren auch die<br />
Nachrichten über das, was außerhalb des Gettos geschah. Es<br />
gelang, ein Radio im Getto zu installieren. Hören konnten es<br />
nur wenige Personen, sie vermittelten aber die Informationen<br />
weiter. Einer der Organisatoren dieser Aktion war Chaim<br />
Widawski<br />
Chaim Natan Widawski (1904-1944)<br />
Er stammte aus Zduńska Wola, lebte aber seit seiner Kindheit<br />
in Łódź. Von Beruf war er Kaufmann. In Łódź arbeite er, bekam<br />
eine Ausbildung, war aktiv in der zionistischen Bewegung „Hatechija“.<br />
Im Getto wohnte er in der Młynarska 38. Widawski war<br />
weiterhin ein Mitglied der zionistischen Partei und einer der<br />
Organisatoren „des Hörens“,<br />
überwiegend des Londoner<br />
Senders. Seine Aufgabe war es,<br />
gute, optimistische, hoffnungsvolle<br />
Nachrichten zu verbreiten.<br />
Über eine lange Zeit ist es<br />
ihm gelungen, den Radiozugang<br />
zu verheimlichen.<br />
Dass etwas im Getto nicht<br />
stimmte, fiel den Deutschen<br />
erst im Juli 1944 auf, als die<br />
Juden ihre Freude darüber,<br />
dass die Alliierten in der Normandie<br />
gelandet waren, offen zeigten. Die Radiohörer wurden<br />
angezeigt und verhaftet. Widawski gelang es, der Haft zu<br />
entkommen. Aber da er befürchtete, doch festgenommen zu<br />
werden und diejenigen, die mitgemacht haben, zu verraten,<br />
beging er am 9. Juni Selbstmord. Er wurde auf dem Friedhof<br />
an der Bracka bestattet. Vor dem Tod äußerte er den W<strong>uns</strong>ch,<br />
in Israel beerdigt zu werden. Dieser W<strong>uns</strong>ch ging am 17. Mai<br />
1972 in Erfüllung.<br />
Angeblich regte die Person Widawskis den aus Łódź stammenden<br />
Schriftsteller Jurek Becker (er war auch mit seinen Eltern<br />
im Getto) zu dem Buch „Jakob der Lügner“ an. Der Roman<br />
wurde zweimal verfilmt: 1974 von Frank Beyer in der DDR<br />
(ausgezeichnet mit dem silbernen Bären) und 1999 von Peter<br />
Kassovitz (Robin Williams spielte den Jakob).<br />
gesellschaftlichen Leben teil. Er widmete<br />
sich dem Familienleben, dem<br />
Schreiben und versuchte Geld zu<br />
verdienen. Kurz vor dem Ausbruch<br />
des Krieges war sein Buch „Der<br />
weg kajn Błękitne“ druckfertig und<br />
sollte durch die jüdische Sektion des<br />
PEN-Clubs herausgegeben werden.<br />
Das wurde aber nie realisiert. Im<br />
Getto erhielt er eine Pförtnerstelle in<br />
der Versorgungsabteilung, wo faules<br />
Gemüse verteilt wurde. Ein persönliches<br />
Zeugnis über seine Lebensbedingungen<br />
und die Bemühungen sie<br />
zu bewältigen, stellen seine Briefe<br />
an Szmul Rozenstejn dar. Sie wurden<br />
nach dem Kriege zusammen mit<br />
seinen Gedichten veröffentlicht. Die<br />
geringen finanziellen Mittel reichten<br />
nicht aus, um seine Eltern vor dem<br />
Tod zu schützen und um später die<br />
fünfjährige Tochter zu versorgen. Als<br />
es sich abzeichnete, dass die ersten<br />
Deportationen zuerst die Menschen<br />
in seiner Situation betreffen würden,<br />
begann er an seinem Gedicht „Lech.<br />
Lecho“ (Geh weg) zu arbeiten. Seine<br />
prophetische Aussage gibt die Stimmung<br />
jener Zeit wieder.<br />
Wie durch ein Wunder blieb das<br />
Gedicht erhalten: Es wurde gleich<br />
nach dem Krieg im Müll gefunden<br />
und 1946 veröffentlicht. Kurz vor der<br />
„Großen Sperre“ im September 1942<br />
kam das zweite Kind von Szajewicz<br />
zur Welt, ein Junge. Er wurde in<br />
einer Schublade und seine Schwester<br />
Blimde in einem Schrank versteckt,<br />
Szajewicz Ehefrau lag kurz nach der<br />
Entbindung im Bett. Am ersten Tag<br />
kamen weder die Polizei noch die<br />
Deutschen. Am nächsten Tag hörte<br />
der Dichter, dass die Lebensmittel<br />
verteilt würden und verließ das Haus.<br />
Währenddessen wurden seine Kinder<br />
und ihre Mutter mitgenommen. Als<br />
seine Verzweiflung nachließ, nahm er<br />
wieder seine literarische Tätigkeit auf.<br />
Im Sommer 1944 versteckte er sich<br />
mit der Familie Chaja Rosenfarb, um<br />
der Deportation zu entgehen. Aber<br />
am 28. August wurden sie festgenommen<br />
und nach Auschwitz deportiert.<br />
Später geriet er ins Lager Kaufering,<br />
wo er an Typhus starb.<br />
39
40<br />
Die erwähnten: Briefe, das Gedichte<br />
„Lech lecho“ und „ Friling taszaw“<br />
sind das ganze Erbe des Dichters.<br />
Izrael Lejzerowicz<br />
(1902-1944)<br />
Von Beruf Maler und Schriftsteller. Er<br />
begann während des Krieges Gedichte<br />
zu schreiben und ähnlich wie Ulinower<br />
hatte er regelmäßig Schriftsteller zu<br />
Gast. In der Zwischenkriegszeit gehörte<br />
Lejzerowicz der Gruppe „Trojz Rojt“ an.<br />
Die apokalyptischen Themen seiner<br />
K<strong>uns</strong>t spiegelten sich in seiner Dichtung<br />
im Getto wieder. In der Malerei<br />
wandte er sich dem Naturalismus zu.<br />
Sein Atelier an der Rybna 14, ein Treffpunkt<br />
für Künstler, verhältnismäßig<br />
geräumig im Vergleich zu der sonstigen<br />
Enge im Getto, war voll von Bildern.<br />
Vermutlich konnte Lejzerowicz so<br />
bequem wohnen, weil er Portraits von<br />
Rumkowski und Genrebilder vom<br />
Gettoleben malte. Er arbeitete in der<br />
Statistischen Abteilung, illustrierte auch<br />
die für den Judenältesten angefertigten<br />
Alben. Dank dieser Tätigkeit<br />
hatte er wohl Zugang zu Leinwänden<br />
und Farben, dem Handwerkszeug<br />
eines Malers, das im Getto schwer<br />
zu bekommen war. Der Künstler war<br />
leicht aber deutlich sichtbar behindert,<br />
und als „arbeitsunfähig“ bemühte er<br />
sich der Deportation zu entkommen.<br />
Seine damals entstandenen Portraits<br />
waren wie ein Passierschein fürs Leben.<br />
In seinen Aufzeichnungen wurden die<br />
Schreiben an Rumkowski und Gertler<br />
gefunden, in denen er um Aufträge für<br />
Bilder bittet. Der Künstler starb in der<br />
Gaskammer von Auschwitz-Birkenau.<br />
Nach dem Krieg wurden in seiner<br />
Wohnung seine letzten Bilder gefunden.<br />
Von seinen poetischen Werken<br />
blieben nur wenige erhalten. Ber Mark<br />
charakterisiert sie als „komisch, teilweise<br />
mystisch, oft unverständlich. Man<br />
hat den Eindruck als ob der Autor<br />
unter einem ständigen Nervenschock<br />
stünde, als ob er unter seltsamen<br />
Halluzinationen litt. Diese Gedichte<br />
hauchen die Todesstimmung“. Die plastischen<br />
Werke Lejzerowiczs werden im<br />
Jüdisch- Historischen Institut und in<br />
anderen Archiven aufbewahrt.<br />
Künstler<br />
Im Getto Litzmannstadt mangelte es nicht an Vertretern unterschiedlicher<br />
K<strong>uns</strong>trichtungen. Unter den Malern befand sich<br />
der aus der alten Schule stammende Maurycy Trębacz, der<br />
1941 an Erschöpfung und Hunger starb. Im Łódź der Vorkriegszeit<br />
hatten bekannte Maler und Grafiker ihre Ateliers, z. B. Józef<br />
Kowner oder Icchak Meir Brauner und weniger bekannte aber<br />
vor einer großen Zukunft stehende Künstler wie z.B. Hersz Szylis,<br />
Szymon Szerman. Viele setzten ihre künstlerische Tätigkeit im<br />
Im Atelier Józef Kowners<br />
Getto fort. Einige arbeiteten in der Statistischen Abteilung,<br />
manche konnten ihre Werke ausstellen. Wir werden nur einige<br />
Künstler, deren Bilder und Aquarelle den Krieg überdauerten, in<br />
Erinnerung rufen. Die Mehrheit der Werke ist jedoch verschollen,<br />
und sie gerieten zusammen mit ihren Autoren in Vergessenheit.<br />
Izrael Lejerowicz vor dem Übergang an der Zgierska Straße
.Józef Gotlib Kowner<br />
(1895-1967)<br />
Hersz Szylis bei der Arbeit am Bild, das Rumkowski mit dem Getto im Hintergrund darstellt<br />
Geboren in Vilnius, gestorben in<br />
Schweden. Studierte Malerei in Kiew<br />
und Düsseldorf. In der Zwischenkriegszeit<br />
wohnte er in Łódź, gehörte<br />
der Gruppe „Start“ sowie dem Redaktionskomitee<br />
der Fachzeitschrift „Forma“<br />
an. Seine Werke präsentierte er<br />
zum ersten Mal im Herbst1928 während<br />
einer Gemäldeausstellung in der<br />
Städtischen K<strong>uns</strong>tgalerie. Kowner war<br />
ein Teilnehmer weiterer Ausstellungen<br />
des Verbandes Polnischer Künstler<br />
sowie der zweiten Ausstellung<br />
des Jüdischen Forschungsinstitutes<br />
in Vilnius, die 1939 in Łódź stattfand.<br />
Er malte vor allem städtische und<br />
41<br />
Szymon Szerma, Szene aus dem Getto, Guasch<br />
Vernissage der Ausstellung Józef Kowners im Getto<br />
dörfliche Landschaften darunter die<br />
Schlupfwinkel der Lodzer Hinterhöfe<br />
sowie symbolische Kompositionen<br />
und Stilleben. Vor dem Krieg wohnte<br />
er an der Południowa 94 (heute<br />
Rewolucji). Im Getto wohnte er<br />
zuerst an der Gnieźnieńska und später<br />
an der Żydowska 8. Seine Wohnung<br />
war ein Treffpunkt für Maler, Schriftsteller,<br />
Musiker und Schauspieler. Im<br />
August 1944 wurde er nach Auschwitz<br />
deportiert, von dort in andere<br />
Konzentrationslager. Er ist einer der<br />
wenigen jüdischen Künstler aus dem<br />
Getto, die den Krieg überlebten. Nach<br />
dem Krieg ging er nach Schweden zur<br />
medizinischen Behandlung und ließ<br />
sich dort nieder.<br />
Józef Kowner, Die Fäkalienfahrer, Bild, das eine Szene aus dem Getto darstellt.
42<br />
Maurycy Trębacz<br />
(1861-1941)<br />
Maler, wurde 1861 in Warschau<br />
geboren. Schon als kleines Kind lernte<br />
er Zeichnen. Dank seiner Begabung<br />
bekam er ein Stipendium in der<br />
Krakauer Schule der schönen Künste.<br />
studierte in München und debütierte<br />
im Münchener K<strong>uns</strong>tverein mit dem<br />
Bild „Die Armen“. Seine weiteren Werke<br />
brachten ihm Ruhm und Interesse<br />
der K<strong>uns</strong>tkritiker.<br />
Sogar der<br />
Bayerische<br />
Prinzregent<br />
Luitpold<br />
von Bayern<br />
besuchte<br />
angeblich<br />
sein Atelier<br />
und soll<br />
den Künstler zur weiteren Arbeit<br />
angeregt haben. Maurycy Trębacz<br />
stellte seine Bilder sehr erfolgreich in<br />
Paris, Wien, München und Warschau<br />
aus. Sie schmückten die Wände in<br />
den Häusern von Lodzer Fabrikanten<br />
u.a. Poznanski und Prussak. 1918 zog<br />
er nach Łodź um und unterrichtete<br />
Zeichnen und Malerei.<br />
Trębacz war in Łódź sehr populär. Er<br />
wurde als Nestor der Lodzer Maler<br />
bezeichnet. Obwohl er kein gebürtiger<br />
Lodzer war, wurde er beinahe zum<br />
Hofporträtist der Lodzer Fabrikanten.<br />
1932 war Trębacz einer der Kandidaten<br />
für den Künstlerischen Preis der<br />
Stadt Łódź, schließlich erhielt ihn aber<br />
Władysław Strzemiński.<br />
1940 kam der achtzigjährige Maurycy<br />
Trębacz ins Getto Lodz. Erhalten blieb<br />
ein erschütterndes Foto von Mendel<br />
Grossmann, das den Maler in seinem<br />
Studio zeigt.<br />
Der kranke bettlägerige Trębacz widmete<br />
sich bis zuletzt der K<strong>uns</strong>t. Seine<br />
Bilder gingen während des Krieges<br />
verschollen oder wurden vernichtet.<br />
Sie wurden hauptsächlich in den<br />
verlassenen jüdischen Häusern aufbewahrt.<br />
Erhalten blieben nur die, die<br />
sich in seinem Studio im Getto Lodz<br />
Schulen im Getto<br />
Über zwei Jahre lang gab es Schulen im Getto. Die Kinder<br />
lernten schreiben und rechnen, man legte sogar Abiturprüfungen<br />
ab. Auch nach der Auflösung des Schulwesens<br />
im Getto hörte der Unterricht nicht auf.<br />
Die Lage, in der sich jüdische Schulen im Winter 1939 befanden,<br />
war sehr weit von der Normalität entfernt, auch wenn eine<br />
gewisse Stabilisierung erreicht worden war. Dieser Zustand<br />
fand bis zur Errichtung des Gettos statt. Die besten Bedingungen<br />
für den Unterricht waren nur in acht auf dem Gettogelände<br />
befindlichen Volksschulen. Insgesamt wurden Schulen<br />
in siebzehn Räumlichkeiten eingerichtet. Im Getto gab es<br />
insgesamt 35 Volksschulen, 2 religiöse Schulen, 2 Oberschulen<br />
und eine Berufsschule. Diese Zahl war während des Schuljahres<br />
1939/40 bis zum 15.September nicht stabil.<br />
Die Unterrichtszeit wurde an die räumliche Kapazität und den<br />
Straßenverkehr im Getto angepasst.<br />
Der Unterricht erfolgte in zwei Schichten zu je fünf Unterrichtstunden,<br />
morgens und nachmittags; eine Unterrichtsstunde<br />
dauerte 35 Minuten mit einer fünfminütigen und zwei zehnminütigen<br />
Pausen.<br />
Es galt ein modifizierter Lehrplan aus der Vorkriegszeit. Die<br />
Modifizierung beruhte auf<br />
der Einführung der jiddischen<br />
und der deutschen<br />
Sprache ins Unterrichtsprogramm,<br />
ab 1. Mai 1940<br />
wurden auch Hebräisch<br />
und die Geschichte des<br />
Judentums unterrichtet.<br />
Man stieß dabei auf viele<br />
Schwierigkeiten. Es fehlten<br />
qualifizierte Lehrkräfte,<br />
die des Jiddischen und<br />
seiner Grammatik mächtig<br />
waren. Deshalb hatte man<br />
im nächsten Schuljahr fünf<br />
Fortbildungskurse angeboten.<br />
Dies bezog sich auch<br />
auf den Hebräischunterricht.<br />
Das Problem wurde<br />
gelöst, indem man Absolventen<br />
der hebräischen<br />
Oberschulen anstellte. Es<br />
fehlte an didaktischem<br />
Material, an einheitlichen
Schulbüchern für alle Schularten. Man unterrichtete nur<br />
anhand vorhandener Titel, oft kam es nach dem Unterricht<br />
zum Austausch der Schulbücher unter den Schülergruppen.<br />
Für den Religionsunterricht benutzte man den Pentateuch<br />
und Gebetbücher. Jiddisch wurde anhand alter Ausgaben der<br />
„Gettocajtung“ unterrichtet, indem man für Jugendliche geeignete<br />
Artikel behandelte. Die Schulabteilung gab daraufhin lose<br />
Zettel mit Texten in Jiddisch für Anfänger und Fortgeschrittene<br />
heraus. Auf Initiative von Eliasz Tabaksblat wurde ein kleines<br />
Jiddischwörterbuch für Mathematik und Geometrie herausgegeben.<br />
Die Schulabteilung berief eine Kommission zur Erstellung einer<br />
Fibel mit drei Niveaustufen<br />
für den Jiddischunterricht.<br />
Dieses Projekt kam<br />
jedoch wegen technischer<br />
Schwierigkeiten nicht<br />
zustande.<br />
Nach der Hospitation einer<br />
deutschen Kommission<br />
am 14. Juli 1941 wurde die<br />
Schulabteilung aufgefordert,<br />
alle in den jüdischen<br />
Schulen benutzten Bücher<br />
und Fachbücher einzusammeln.<br />
Eine aus Lehrkräften<br />
zusammengesetzte Kommission<br />
sollte die Bücher<br />
befanden. Von dort stammt auch ein<br />
Album, das 130 Bildreproduktionen<br />
des Malers enthält, mit seinen handgeschriebenen<br />
Notizen zum Bildtitel,<br />
dem Datum des Entstehens und sogar<br />
des Besitzers des Bildes.<br />
Szymon Szerman<br />
(1917-1943)<br />
Bild Szymon Szermans im Getto auf der Grundlage einer Fotografie<br />
von Mendel Grosman gemalt<br />
unter dem Aspekt patriotischer Inhalte prüfen. Das Ergebnis<br />
war, die polnische Geschichte und Geografie zu entfernen,<br />
sowie Inhalte, die in den Augen der deutschen Behörden gesetzwidrig<br />
waren. Ein Teil der Bücher wurde ganz verboten.<br />
Maler. Im Getto Lodz arbeitete er<br />
in der Graphischen Sektion der<br />
Statistischen Abteilung. Einige seiner<br />
Guachen blieben erhalten und befinden<br />
sich in Israel. Auf<br />
einem sieht man einen<br />
Jungen, abgebildet<br />
nach einem Foto<br />
Grossmans. Szerman<br />
und seine Familie<br />
starben im Getto.<br />
Icchak Wincent<br />
Brauner<br />
(1887-1944)<br />
Maler und Grafiker. Beeindruckt vom<br />
Werk van Goghs nahm er seinen<br />
Namen (Vincent) an. Er wurde in<br />
Łódź in einer wohlhabenden Familie<br />
geboren. Brauener lernte Zeichnen<br />
in der Jakub-Kacenbogen-Schule und<br />
studierte später in der Musikschule<br />
und Hochschule der schönen Künste<br />
in Berlin. In der Zwischenkriegszeit<br />
war er in der Gruppe „Jung Jidisz“<br />
tätig. Er beschäftigte sich mit dem<br />
Malen von Bühnenbildern, fertigte die<br />
Dekorationen für das Theaterstück<br />
„Dybuk“ an und Marionetten für das<br />
Puppentheater. Im Getto wohnte er an<br />
der Piwna 21. Er arbeitete mit Metall,<br />
leitete ein Keramikstudio und entwarf<br />
Geldscheine für die Gettowährung<br />
(sie wurden nicht angenommen). Außerdem<br />
malte ein Portraits Rumkowskis.<br />
Ermordet wurde Brauener 1944 in<br />
Auschwitz-Birkenau.<br />
43
44<br />
Junge Schriftsteller<br />
Im Getto Litzmannstadt lebten viele<br />
talentierte junge Schriftsteller. Leider<br />
hatten sie keine Chance, ihre Begabung<br />
zu entfalten.<br />
Dawid Sierakowiak<br />
(1925-1943)<br />
war der Sohn von Majlehem<br />
und Sura. Er wurde<br />
im Jahre 1925 geboren.<br />
Mitte der dreißiger Jahre<br />
wohnte er im Haus in der<br />
Sanocka 22. Vor dem Krieg war er ein<br />
sehr guter Schüler im Gymnasium der<br />
„Vereinigung Jüdischer Schulen“. Am<br />
11. November 1940 zog er mit seinen<br />
Eltern und seiner Schwester Natalia<br />
ins Getto in die Spacerowa 7/9. Dieses<br />
Haus steht heute noch.<br />
Im Getto führte Sierakowiak ein<br />
Tagebuch. Es ist ein besonderes Zeugnis<br />
jener Zeit. Fast jeden Tag schrieb er<br />
seine Reflexionen und Beobachtungen<br />
vom Gettoleben auf. Nach dem Krieg<br />
fand man seine Hefte mit den Aufzeichnungen.<br />
Der vollständige Text wurde<br />
in Englisch veröffentlicht. In Polnisch<br />
erschienen nur zwei Hefte, herausgegeben<br />
in den sechziger Jahren. Seine<br />
Mutter wurde im September während<br />
der Gehsperre ins Vernichtungslager<br />
Chełmno am Ner deportiert. Sein Vater,<br />
Tischler von Beruf, starb am 6. März<br />
1943 an Erschöpfung. Seine Schwester<br />
wurde im August 1944 während der<br />
Auflösung des Gettos nach Auschwitz<br />
deportiert. David starb am 8. August<br />
1943 an Hunger. Sein Grab befindet sich<br />
auf dem neuen jüdischen Friedhof, nicht<br />
weit vom Izrael Poznański-Mausoleum.<br />
Jehuda Lajb Lubiński<br />
(1923-1944)<br />
In der Familie und unter Freunden<br />
Lolek genannt, Sohn<br />
von Mosze und Chana<br />
Lubiński. Vor dem Krieg<br />
wohnte er mit seinen<br />
Eltern an der 11. Listopada.<br />
Er besuchte die Industrieschule<br />
der „Gesellschaft zur Verbreitung<br />
Die Kinder wurden durch die Schulabteilung eingeschult. Bei<br />
der Einteilung wurden der Wohnort und die Entfernung zur<br />
Schule berücksichtigt. Die Volksschulen hatten sechs Jahrgänge.<br />
Im Vergleich mit dem Schulsystem aus der Vorkriegszeit war<br />
dies eine Veränderung. Man verzichtete auf den letzten, siebten<br />
Jahrgang, was von Vorteil war, weil man dadurch mehr Schüler<br />
aufnehmen konnte. Auf der anderen Seite trug diese Lösung<br />
zur Verlängerung der Zeit der beruflichen Untätigkeit der<br />
Jugendlichen nach dem Volksschulabschluss bei. Ein Absolvent<br />
der sechsten Klasse musste nämlich zwei Jahre warten, um eine<br />
Arbeit ausüben zu dürfen. Das damalige Gesetz erlaubte erst<br />
mit fünfzehn Jahren eine Arbeit aufzunehmen.<br />
Der Lehrplan sah Unterricht in 13 Fächern vor. Es waren dies<br />
Jiddisch, Hebräisch, Polnisch, Deutsch, Arithmetik, Sport,<br />
Werken, Gesang, Nuturkunde und Religion – auch Geografie<br />
und Geschichte. Nach der Hospitation der deutschen Behörde<br />
wurden diese Fächer offiziell verboten, sie wurden jedoch in<br />
einem beschränkten Umfang weiterhin unterrichtet. In den<br />
religiösen Schulen wurde die Stundenzahl des Religionsunterrichts<br />
erhöht.<br />
Ab dem Schulanfang des Schuljahres 1939/40, am 29, Oktober<br />
wurde der Lehrplan aus der Vorkriegszeit nicht mehr in Betracht<br />
gezogen. Die Mehrheit der Unterrichtsstunden wurde<br />
in Jiddisch gegeben. Die schulischen Aktivitäten erfolgten mit<br />
einigen Unterbrechungen bis zum 21. September 1941.<br />
Während des Schuljahres 1939/1940 gab es 10 906 eingeschulte<br />
Schüler. Diese Zahl stimmte nicht mit der Zahl der Schüler<br />
überein, die die Schulen wirklich besuchten. Harte Bedingungen<br />
im Getto hatten zur Folge, dass Kinder und Jugendliche<br />
überwiegend in der Mittagspause erschienen. Im Winter kamen
wenige zur Schule, besonders dorthin, wo die Schulräume nicht<br />
geheizt wurden. Die gleichen Zustände herrschten auch im<br />
nächsten Schuljahr.<br />
An den Volksschulen, deren Zahl von 31 im November 1940 bis<br />
36 im Juli 1936 schwankte, waren 12.940 Schüler eingeschrieben.<br />
Durchschnittlich besuchten 75% der Schüler die Schule<br />
nicht. Die wenigsten erschienen im Januar 1941; die Abwesendheitsquote<br />
betrug 90.5%. Die meisten Schüler kamen zur<br />
Schule im September 1941, dem letzten Unterrichtsmonat; hier<br />
betrug die Abwesendheitsquote 45%. Als Ursachen der Abwesendheit<br />
waren Krankheit, schlechtes Wetter, nicht geheiztes<br />
Klassenzimmer, zu Hause helfen zu müssen und Mangel an<br />
Kleidung angegeben.<br />
Die Krankheiten und die hohe Sterblichkeit wurden zum Problem,<br />
nicht nur unter den Jugendlichen im Schulalter sondern<br />
im ganzen Getto. Unter den Schülern waren Tuberkulose und<br />
Unterernährung die häufigsten Todesursachen. Um den Kindern<br />
zu helfen, führte man eine umfangreiche Speisungsaktion<br />
in den Schulen ein. Die Eröffnung von Küchen in allen Bildungseinrichtungen<br />
durch den Judenältesten Rumkowski war eine<br />
der fundamentalen Voraussetzungen für den Schulbesuch und<br />
die Gesundheit der Kinder.<br />
Neben den Volksschulen gab es auch andere Bildungseinrichtungen.<br />
Im Schuljahr 1939/1940 existierten in den ehemaligen<br />
Räumen der Mariaviten ein Knabengymnasium an der<br />
Franciszkańska 27. Ein Mädchengymnasium, auch Lyzeum<br />
genannt, befand sich im Gebäude der Vorkriegsschule für<br />
geistig behinderte Kinder an der Łagiewnicka 53 und ein<br />
Berufsgymnasium im ehemaligen Gebäude der Volksschule an<br />
Franciszkańska 76. An diesen Schuleinrichtungen waren insgesamt<br />
689 Schüler eingeschrieben. Im Schuljahr 1940/41 stieg<br />
die Zahl der Oberschüler auf 1808.<br />
der Bildung und des Technischen<br />
Wissens unter Juden“ und absolvierte<br />
dort ein Jahr in der Weberklasse.<br />
Im Getto wohnte Lolek an der<br />
Franciszkańska 38. Er war in der zionistischen<br />
Jugendorganisation Chazit<br />
Dor Bnej Midbar (Generationenfront<br />
der Wüstensöhne.) Nach der Auflösung<br />
der Jugendgruppen in Marysin<br />
arbeite er im Zentralbüro für die<br />
Versorgung des Gettos. Während der<br />
endgültigen Liquidierung des Gettos<br />
wurde er nach Auschwitz deportiert<br />
und von dort ins Lager Kaufering, wo<br />
er an Erschöpfung starb. Er ist Autor<br />
eines Tagebuches, das 2003 in Bałuty<br />
gefunden wurde. Dieses Tagebuch<br />
wurde vom Museum für Stadtgeschichte<br />
in Łódź gekauft. Es ist noch<br />
nicht veröffentlicht.<br />
Abram Cytryn<br />
(1927-1944)<br />
Vor dem Krieg besuchte<br />
er die Kazenelson-Schule<br />
in der Próchnika, wohnte<br />
in der 11. Listopada 49.<br />
Seine Eltern Jakub und Golda waren<br />
Besitzer von zwei Textilfabriken. Mit<br />
dem Schreiben begann er sehr früh,<br />
als achtjähriger Junge. Er schrieb sogar<br />
unter den schrecklichen Bedingungen<br />
im Getto. Dort entstanden einige Dutzend<br />
seiner Werke. Einen Teil seiner<br />
Gedichte nahm er nach Auschwitz<br />
mit, wohin er am 28. August – zusammen<br />
mit seiner Mutter und seiner<br />
Schwester – deportiert wurde. Er<br />
starb in der Gaskammer. Seine Hefte<br />
wurden im Jahre 1945 im Mietshaus<br />
in der Starosikawska 14 von seiner<br />
Schwester, Lucie Cytryn-Bialer,<br />
gefunden. Es handelt sich um über 240<br />
Werke, hauptsächlich Gedichte und<br />
Erzählungen.<br />
Dank der Bemühungen seiner<br />
Schwester wurden die Gedichte und<br />
Erzählungen Abrams in Französisch,<br />
Englisch, Hebräisch und Polnisch<br />
veröffentlicht.<br />
Die Originale befinden sich im<br />
Wiesenthal-Museum in Los Angeles.<br />
45<br />
Abiturball im Getto Litzmannstadt
46<br />
Abram Koplowicz<br />
(1930-1944)<br />
wurde am 18. Februar<br />
1930 in Łódź geboren.<br />
Er war das einzige Kind<br />
von Mendia und Yochet<br />
Gittel Koplowicz. Als er<br />
neun Jahre alt war, marschierte die<br />
deutsche Armee in Łódź ein.<br />
Er wurde im August 1944 mit dem<br />
letzten Transport nach Auschwitz<br />
deportiert und starb im September in<br />
der Gaskammer. Sein Vater Mendel<br />
Koplowicz überlebte den Krieg. Nach<br />
der Rückkehr nach Łódź fand er auf<br />
dem Dachboden des Hauses, in dem<br />
sie gewohnt hatten, ein Heft mit den<br />
Werken seines Sohnes sowie ein von<br />
ihm gemaltes Bild, das einen alten<br />
Juden mit dem Tallit (Gebetsschal)<br />
darstellt. Auf der Umschlagseite des<br />
Heftes gibt es eine Zeichnung der Kirche<br />
und der Brücke über die Zgierska-<br />
Straße. Das Orginalheft befindet sich<br />
in der Holocaust-Gedenkstätte Yad<br />
Vashem in Jerusalem. Es wurde von<br />
Abrams Vetter Eliezer Grynfeld der<br />
Gedenkstätte geschenkt. Die Auswahl<br />
von Abram Koplowicz’s Gedichten<br />
erschien 1993 in Polnisch. Die Zeichnung<br />
von Abram wurde 2004 zum<br />
Symbol der Gedenkfeier anlässlich<br />
des 60. Jahrestages der Auflösung des<br />
Ghettos Litzmannstadt.<br />
Vierzehntausend Namen<br />
Das Album, aus dem wir einzelne<br />
W<strong>uns</strong>chkarten vorstellen, entstand<br />
1941 (5702). Es wurde am 23. September<br />
als ein Geschenk zum jüdischen<br />
Neuen Jahr, kurz vor den Festtagen dem<br />
Judenältesten Rumkowski überreicht.<br />
Das Buch und das Datum sind sehr<br />
symbolträchtig. Es enthält Zeichnungen<br />
und Neujahrswünsche von allen<br />
Schulen im Getto für den Judenältes-<br />
Im Getto Litzmannstadt<br />
wurden auch<br />
Abiturprüfungen<br />
abgelegt. Zu den Abiturfächern<br />
gehörten<br />
allgemeinbildende Fächer<br />
und Judaistik. Es<br />
gab Fälle, in denen aus<br />
Mangel an ausgebildeten<br />
Lehrkräften Prüfungen<br />
nur in Arithmetik<br />
abgenommen wurden.<br />
Trotzdem standen im<br />
Abiturzeugnis Noten<br />
für alle Fächer. Dieses<br />
Dokument wurde in 3<br />
Sprachen ausgestellt:<br />
Deutsch, Polnisch, Hebräisch.<br />
Im Getto gab<br />
es auch kleinere Schuleinrichtungen:<br />
zwei Sonderschulen, eine Schule am Gefängnis<br />
für jugendliche Verbrecher und eine Musikschule.<br />
Ab 1939/40 wurden Schulen für taube und geistig behinderte<br />
Kinder eingerichtet. Dort waren 63 Schüler eingeschrieben. Die<br />
Musikschule befand sich an der Franciszkańska 27, ihr Leiter<br />
war Teodor Ryder. Das Lehrkollegium bestand aus 8 Personen.<br />
Geplant waren 4 Kurse für Klavier, Geige, Gesang und Kantoren.<br />
Höchst wahrscheinlich wurde jedoch kein Unterricht durchgeführt<br />
oder damit sehr schnell aufgehört. Die Namen der Lehrer<br />
wurden registriert, um ihnen ihre Löhne auszahlen zu können.<br />
In Marysin wurden im Juli 1940 Ferienlager und Freizeiten für<br />
Kinder und Jugendliche organisiert. Die Heime übernahmen<br />
teilweise die Bildungsaufgaben. Aber ihr Hauptziel war die Erholung<br />
und Heilung<br />
der Kinder. Insgesamt<br />
durften über<br />
10 000 Kinder und<br />
Jugendliche an den<br />
von der Schulabteilung<br />
organisierten<br />
Ferienmaßnahmen<br />
teilnehmen. In<br />
Marysin gab es drei<br />
Volksschulen, davon<br />
eine religiöse, so dass dort alle Kinder Unterricht erhielten. Das<br />
Lehrprogramm war jedoch sehr begrenzt, für den Unterricht<br />
wurde nur eine halbe Stunde täglich eingeplant.
Trotz der getroffenen Vorkehrungen<br />
begann im Herbst 1941<br />
kein neues Schuljahr. In den<br />
Schulgebäuden wurden ca.<br />
20.000 Juden aus Westeuropa,<br />
die ins Getto deportiert worden<br />
waren, untergebracht. Die<br />
Lehrpause wurde als einstweilig<br />
betrachtet, die Speisungsmaßnahmen<br />
für Kinder und<br />
Jugendliche wurden fortgesetzt.<br />
Mit der Fortsetzung des Unterrichts wurde gewartet, bis<br />
die Räumlichkeiten nicht mehr als Unterkünfte benutzt wurden.<br />
Die Schulen wurden jedoch nicht mehr in Betrieb genommen.<br />
Nach der Deportation eines großen Teiles der Westjuden wurden<br />
in den Schulen neu eingesiedelte polnische Juden untergebracht<br />
oder aber Arbeitsressorts. Die Schulabteilung wurde in<br />
die Umschichtungskommission umgewandelt. Bis zur sogenannten<br />
„Grossen Sperre“ im September 1942 waren in Marysin<br />
fünf kleine „Dorfschulen“ tätig. Es gibt aber dazu keine Informationen,<br />
weder zu den Lehrprogrammen noch zur Schülerzahl.<br />
Mit den Deportationen in die Vernichtungslager endete endgültig<br />
die Tätigkeit der Bildungsinstitutionen. Nach der Aussiedlungsaktion<br />
übernahmen die Arbeitsressorts die Organisation<br />
von „Berufskursen“, in denen Kinder und Jugendliche auf die<br />
Arbeit in der Produktion vorbereitet wurden. Sie hatten damit<br />
die Funktion der Berufsschulen übernommen. Bis zu einem<br />
gewissen Grad erfolgte noch Privatunterricht zu Hause und in<br />
autodidaktischen Gruppen der Jugendorganisationen im Getto.<br />
ten. Jede Eintragung ist eine Danksagung<br />
für die lebensrettende Nahrung.<br />
Es gibt insgesamt vierzehntausend<br />
Schülerunterschriften.<br />
Im September 1941 wurden die<br />
Schulen offiziell geschlossen, da sie als<br />
Unterkunft für 20.000 aus Deutschland,<br />
Österreich, Luxemburg und<br />
der Tschechoslowakei deportierte<br />
Juden dienen sollten. Die Mehrheit<br />
der Kinder, die sich ins Rumkowskis<br />
Album eintrugen, wurden entweder<br />
im Vernichtungslager Kulmhof am<br />
Ner oder in Auschwitz-Birkenau<br />
ermordet. Dies ist also ihr besonderes<br />
und einzigartiges Testament.<br />
Das Album befindet sich imYIVO-<br />
Institut in New York. Es wurde 2006<br />
zum Anlass für die Ausstellung des<br />
Holocaust-Memorial-Museums in<br />
Washington mit dem Titel „Give me<br />
your Children, Voices from the Lodz<br />
Ghetto“.<br />
47
Für die Hilfe bei der Vorbereitung der Publikation und der Ausstellung sowie für die zahlreichen Auskünfte<br />
möchten wir <strong>uns</strong> bei folgenden Personen und Institutionen besonders bedanken:<br />
Julian Baranowski, Andrzej Kempa, Irena Kohn, Natalia Krynicka, Anna Kuligowska-Korzeniewska<br />
sowie<br />
Markek Szukalak, dem Leiter der Stiftung Monumentum Judaicum Lodzense<br />
Urie Wizenberg vom Verband der Ehemaligen Bewohner von Łódż in Israel,<br />
Piotr Zawilski, dem Leiter des Staatsarchivs in Łódź<br />
und<br />
dem Institut Yad Vashem in Jerusalem,<br />
dem Institute for Jewish Research YIVO in New York,<br />
dem Jüdischen Historischen Institut in Warszawa<br />
Wir bedanken <strong>uns</strong> herzlich bei <strong>uns</strong>eren deutschen Freunden: Birgit Fleischer, Frank Schuster, Dani Jütte ,<br />
die <strong>uns</strong> bei der Entstehung der deutschen Version geholfen haben.<br />
Ein besonderer Dank gilt Hannelore Steinert und Ingo Loose für die wissenschaftliche Beratung.<br />
Wir bedanken <strong>uns</strong> bei der Europäischen Kommission und der Nationalen Agentur des Programms<br />
Sokrates für die Förderung <strong>uns</strong>eres Projektes, insbesondere beim Grundtvig 2-Team für das<br />
Entgegenkommen und die Hilfe bei der Lösung <strong>uns</strong>erer Probleme<br />
Wir benutzten viele Publikationen über das Getto Litzmannstadt, u.a.:<br />
„Kronika getta łódzkiego, Redaktion. D. Dąbrowska, L. Dobroszycki, Band 1-2, Łódź 1965-1966; „Fenomen<br />
getta łódzkiego 1940-1944” Red. P. Samusia, W. Pusia, Verlag der Universität zu Łódź, Łódź<br />
2006;I. Trunk, Łódź Ghetto. A History, Indiana 2006; J. Baranowski, Łódzkie getto 1940-1944 Vademecum,<br />
Łódź 2003, A. Kempa, M. Szukalak, Żydzi dawnej Łodzi, t. I-IV, Verlag Oficyna Bibliofilów 2001-2004;<br />
Materialien von Arie Ben Menachem.<br />
Szmul Grosman auf einer Fotografie aus<br />
dem Getto, aufgenommen von seinem<br />
Sohn Mendel Grosman