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Lernen half uns überleben

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<strong>Lernen</strong> <strong>half</strong> <strong>uns</strong><br />

<strong>überleben</strong><br />

Jüdische Bildungstraditionen in Europa<br />

Getto Litzmannstadt 1940-1944<br />

Instytut Tolerancji, Łódź 2007


Texte:<br />

Malgorzata Kozieł, Izabela Olejnik, Joanna Podolska, Adam Sitarek<br />

Entwurf der Ausstellung und Redaktion des Katalogs:<br />

Joanna Podolska<br />

Graphischer Entwurf, Vorbereitung und Drucklegung:<br />

Zbigniew Janeczek & Studio Bilbo, 95-060 Eufemninów 10a<br />

Die Dokumente und Fotos stammen aus den Sammlungen des Staatsarchivs in Łódź.<br />

Die Zeichnungen aus einem Album stammen aus den Archiven des Yad Vashems, Jerusalem<br />

Die Ausschnitte aus dem für Rumkowski angefertigten Album stammen aus den Sammlungen<br />

YIVO, New York<br />

Das Projekt JETE „Jüdische Bildungstraditionen in Europa“, Łódź-Polen<br />

Teil 1- Das gelobte Land und ein zweites Amerika, Łódź nach 1939<br />

Teil 2- <strong>Lernen</strong> <strong>half</strong> <strong>uns</strong> <strong>überleben</strong> „Getto Litzmannstadt“ 1940-1944<br />

Teil 3 „Wir haben versucht, alles neu zu beginnen“, Łódź nach 1945<br />

Koordinatorin des Projektes: Maria Goldstein<br />

Übersetzung aus dem Polnischen: Maria Goldstein<br />

Die deutsche Version entstand in Zusammenarbeit mit <strong>uns</strong>erem französischen Projektpartner<br />

„Societé Auvillaraise de Contacts Franco-Allemands (SFA)“, Auvillar/France)<br />

Das vorliegende Heft entstand dank der finanziellen Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft<br />

im Rahmen des Sokrates-Programms. Es wird vorbehalten, dass diese Publikation, die<br />

Inhalte des Projekts oder der Materialien nicht den Standpunkt der Europäischen Kommission<br />

oder der Nationalen Agentur widerspiegeln. In diesem Zusammenhang tragen weder die Europäische<br />

Kommission noch die nationale Agentur Verantwortung für diese Inhalte.<br />

Druck: Łódzkie Zakłady Graficzne.<br />

ISBN 83-921360-7-1


Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war Łódź die zweitgrößte Stadt Polens – sowohl im<br />

Hinblick auf die Zahl seiner gesamten Einwohner als auch die der jüdischen Bevölkerung.<br />

Von seinen 650.000 Einwohnern waren 350.000 Polen, über 230.000 Juden und über<br />

60.000 Deutsche.<br />

In Łódź und in der Region dominierte die Textilindustrie. Łódź war ein einmaliger Schmelztiegel<br />

der Kulturen inmitten Polens: Russen, Tschechen, Engländer, Österreicher, Italiener und<br />

Franzosen, die verschiedene, hauptsächlich mit der Textilindustrie verbundene Geschäfte in<br />

Łódź betrieben, prägten die Stadtkultur. Solch eine Vielfalt der Kulturen war eher für grenznahe<br />

Gebiete charakteristisch, aber hier in der Mitte der Polnischen Republik war dies atypisch.<br />

Die Bewohner von Łódź schickten ihre Kinder unabhängig von ihrer Konfession in polnische<br />

Schulen und erzogen sie im Geist der Loyalität zu ihrer Lodzer Heimat. Sie haben ihre Wurzeln<br />

aber nicht vergessen. So existierten neben den polnischen Schulen auch solche, in denen man<br />

neben den Fächern in polnischer Sprache auf Deutsch, Hebräisch oder Jiddisch unterrichtete.<br />

Der Religionsunterricht in den Volksschulen wurde sowohl von katholischen und russischorthodoxen<br />

Priestern als auch durch evangelische Pfarrer und Rabbiner durchgeführt. In Łódź<br />

gab es polnische, deutsche und jüdische Theater, Chöre und Orchester. Presse und Literatur<br />

erschienen in verschiedenen Sprachen. In den Kirchen predigte man auf Polnisch, Tschechisch,<br />

oder Altkirchenslawisch, in jüdischen Gebetshäusern und Synagogen betete man auf Hebräisch,<br />

in den fortschrittlichen und assimilierten, sogar auf Polnisch.<br />

Als im September 1939 die Deutschen Polen überfielen und der Zweite Weltkrieg begann,<br />

kämpften in der polnischen Armee viele Bürger jüdischer und deutscher Herkunft. Am 9. September<br />

marschierte die deutsche Armee triumphal in Łódź ein. Dies war der Anfang des Endes<br />

vom multikulturellen Łódź. Nichts mehr war so wie früher …<br />

Das Projekt „Jüdische Bildungstraditionen in Europa (JETE)“ wird im Rahmen des EU-Programms<br />

Grundtvig 2 durchgeführt. Es setzt die Erkundung der Geschichte der Juden in den<br />

verschiedenen Ländern Europas und den verschiedenen Zeitperioden voraus. Mit diesem<br />

Beitrag bemühen wir <strong>uns</strong>, eine der schwierigsten Perioden zu bearbeiten, als in Europa der Faschismus<br />

herrschte. Der Kampf ums Überleben war das Wichtigste. Wie sich aber herausstellte,<br />

waren sogar im Getto den Juden Bildung, Kultur und K<strong>uns</strong>t äußerst wichtig.<br />

Wir wollen mit dieser Schrift die Erinnerung an Menschen wach halten, die im Getto arbeiteten,<br />

die der jüngeren Generation Unterricht erteilten, Beethoven oder Bach spielten, Freunde<br />

fotografierten oder satirische Lieder sangen. Sie retteten dadurch das, was unter diesen Bedingungen<br />

am schwierigsten zu retten war, nämlich die Menschenwürde und Hoffnung auf eine<br />

bessere Zukunft sowie die Sensibilität für das Schöne.<br />

Unser Text ist nur ein kurzer Abschnitt der Geschichte, in der Juden aus Łódź und später aus<br />

dem Getto Litzmannstadt die Hauptrolle spielen…<br />

3


Spis treści<br />

Łódź – ziemia obiecana i druga Ameryka _________________ 5<br />

Icchak Kacenelson ___________________________________ 5<br />

Historia getta Litzmannstadt ___________________________ 8<br />

Ludzie getta ________________________________________ 8<br />

Kronikarze getta _____________________________________ 9<br />

Fotografowie getta ___________________________________ 14<br />

Bajka o królewiczu i cudownym kraju ___________________ 20<br />

O „Szkółce” _________________________________________ 24<br />

Życie kulturalne w Litzmannstadt getto __________________ 26<br />

Dom Kultury ________________________________________ 26<br />

Trubadur getta: Jankiel Herszkowicz _____________________ 28<br />

Muzyka w getcie _____________________________________ 30<br />

Teatr w getcie _______________________________________ 32<br />

Książka w getcie _____________________________________ 36<br />

Słuchacze radia ______________________________________ 39<br />

Ludzie sztuki ________________________________________ 40<br />

Szkoły w getcie ______________________________________ 42<br />

Młodzi pisarze _______________________________________ 44<br />

14 tysięcy nazwisk ___________________________________ 46


Łódź- das gelobte Land<br />

und ein zweites Amerika<br />

Łódź ist eine der wenigen europäischen Städte, die im<br />

„amerikanischen Tempo“ heranwuchsen. Die eigentliche<br />

Stadtgeschichte begann erst im Jahre 1820, als Beamte<br />

des Königreiches Polen beschlossen, in Łódź eine Textilsiedlung<br />

zu gründen. Sie holten Tuchmacher und Weber aus Schlesien.<br />

Später kamen Handwerker und Geschäftsleute aus verschieden<br />

Teilen Europas, angelockt durch die Möglichkeiten, die die<br />

Lodzer Industrie bot. Unter ihnen war auch eine große Gruppe<br />

von Juden.<br />

Noch Mitte des 19. Jahrhunderts machten Deutsche 44% der<br />

Einwohner aus, Polen 35% und Juden ca. 21%. Mit der Zeit änderten<br />

sich die Proportionen. Nach 1862 hat man die Beschränkungen<br />

für Juden aufgelöst, bestimmte Wohnsitze zu haben<br />

und Berufe auszuüben. Sie kamen mit ihren Familien aus dem<br />

fernen Osten und Russland nach Łódź. Hier sahen sie ihr „gelobtes<br />

Land” und hofften, eher als in Amerika, zu Wohlstand zu<br />

kommen. Immer mehr Juden bauten eigene Fabriken und Warenhäuser.<br />

Die reichsten Lodzer Fabrikanten jüdischer Herkunft<br />

waren die Poznańskis. Sie haben einen riesigen Industriekomplex<br />

in der Ogrodowa-Strasse und einige Paläste hinterlassen.<br />

Juden gehörten auch viele Mietshäuser an der Hauptstraße,<br />

der Piotrkowska und zahlreiche Gebäude in ganz Łódź, die bis<br />

heute genutzt werden.<br />

1939 gab es in Łódź 230.000 Menschen jüdischen Glaubens. Die<br />

Zeit des Holocaust haben nur einige Dutzend in dem von den<br />

Deutschen 1940 errichteten Getto überlebt. Es war ein riesiges<br />

Arbeitsgetto.<br />

Gleich nach dem Kriegsende wurde Łódź wieder zu einem der<br />

größten Zentren jüdischen Lebens in Polen. Es gibt dazu keine<br />

Die Wschodnia- Straße, 1912<br />

Jizchak Katzenelson<br />

(1886-1944)<br />

Nur wenige sind sich dessen bewusst,<br />

dass Jizchak Katzenelson, der Dichter,<br />

Schriftsteller und Übersetzer, der<br />

während des Krieges das erschütternde<br />

Gedicht „Das Lied über das<br />

ausgerottete jüdische Volk“ schrieb,<br />

mit Łódź verbunden war und hier vor<br />

dem Krieg eine Hebräische Schule<br />

leitete.<br />

Katzenelson wurde 1886 in Korelitz<br />

bei Nowogród geboren. Zuerst wuchs<br />

er bei seiner Großmutter auf. 1892<br />

kam er nach Zgierz, wo er die Chederschule<br />

seines Vaters Jakub Beniamin<br />

besuchte. Katzenelson debütierte<br />

mit Gedichten für Kinder in der<br />

hebräischen Zeitschrift „Olam Katan“<br />

(Die kleine Welt) und mit Prosa in<br />

der Zeitschrift „Hamelic“. Mit zwölf<br />

Jahren schrieb er das Theaterstück<br />

„Dreyfus und Esterhazy“. Aufgrund<br />

der schlechten finanziellen Situation<br />

seiner Familie konnte er nicht die<br />

Lehre fortsetzen und begann in einer<br />

Textilfabrik zu arbeiten. Seine Werke<br />

wurden in hebräischen und jüdischen<br />

Zeitungen weiterhin publiziert. Als<br />

Siebzehnjähriger schrieb er das den<br />

polnisch-litauischen Juden gewidmete<br />

Prosagedicht „Bewulot Lita“, wodurch<br />

er an Popularität gewann. Nachdem<br />

er den Wehrdienst geleistet und<br />

eine kurze Reise durch Westeuropa<br />

gemacht hatte, kam er nach Łódź<br />

5


6<br />

zurück. Katzenelson gründete eine<br />

private Schule an der Zawadzka 4.<br />

(heute Próchnika) und ein humanistisches<br />

Knabengymnasium an der<br />

Zawadzka 43. Als Lehrer arbeitete<br />

er aktiv im Literaturbereich. Er war<br />

Lyriker und Dramatiker, schrieb für<br />

Kinder, übersetzte z.B. Heines Lieder.<br />

Er war hauptsächlich im jüdischen<br />

Milieu bekannt, schrieb ausschließlich<br />

auf Hebräisch und Jiddisch, nur eines<br />

seiner Werke „Rückzug“ wurde 1923<br />

ins Polnische übersetzt. Katzenelson<br />

gehörte der Künstlergruppe „Jung Jiddisch“<br />

an und arbeite in der Redaktion<br />

der Monatsschrift „Heftn far Literatur<br />

un K<strong>uns</strong>t“. Seit 1918 war er Vorsitzender<br />

des „Einstweiligen Bildungsamtes”.<br />

Er verstand sich vor allem als ein<br />

Thea termensch, war ein Mitbegründer<br />

der Hebräischen Bühne in Łódź<br />

und ein Mitglied des Jüdischen Schulrates.<br />

Gleich nach dem Ausbruch des<br />

Zweiten Weltkrieges floh er mit seiner<br />

Familie nach Warschau; es ist aber<br />

ein Dokument vorhanden, dass ihn<br />

Rumkowski im Oktober 1939 in das<br />

„Einstweilige Bildungsamt” berief. Im<br />

Warschauer Getto war Katzenelson<br />

als Pädagoge tätig und unterrichtete<br />

an Gymnasien, trat während der<br />

Autorentreffen auf. Im Getto schrieb<br />

er sein Gedicht „Hiob“ – es ist das einzige<br />

Buch auf Jiddisch, das im besetzen<br />

Polen publiziert wurde. Der Dichter<br />

war Augenzeuge der schrecklichsten<br />

Ereignisse im Warschauer Getto: Er<br />

sah Menschen, die litten, hungerten<br />

und in den Tod geschickt wurden. Er<br />

erlebte im August 1942 die Deportation<br />

seiner Frau, seiner beiden Söhne<br />

Ben Zion und Jornel und seines Bruders<br />

Berl nach Treblinka. Im Frühling<br />

genauen Daten, wie viele Personen aus den Konzentrationslagern<br />

nach Łódź zurückkehrten. Nach antisemitischen Ausschreitungen<br />

in Polen emigrierten viele Juden. Zahlreiche Familien<br />

und Einzelpersonen kamen aus den Gebieten der Sowjetunion<br />

hierher zurück, in der Hoffnung ihre Angehörigen wieder zu<br />

finden. Für die meisten war Łódź ein Ort, an dem man auf die<br />

Ausreise nach Amerika, Frankreich oder Palästina wartete. In<br />

den Jahren 1956-57 und dann 1968 waren die nächsten großen<br />

Emigrationswellen, hervorgerufen durch die von der kommunistische<br />

Regierung der polnischen Volksrepublik gesteuerten<br />

antisemitischen Verfolgungen.<br />

Von der Größe der jüdischen Bevölkerung von Łódź zeugt nicht<br />

nur die Architektur und viele Tausende von Mazewot auf dem<br />

jüdischen Friedhof, sondern auch die Namen der Wissenschaftler<br />

und Künstler, deren internationale Karieren in dieser Stadt<br />

begannen und die ihre Lodzer Wurzeln nie vergaßen. Aus Łódź<br />

stammte der berühmte Pianist Artur Rubinstein der immer<br />

betonte, ein Lodzer zu sein. Von hier aus brach Artur Szyk auf,<br />

Europa und Amerika zu erobern, ein weltbekannter Miniaturenmaler,<br />

Autor der Miniaturen „Die Satzung von Kalisz“ und „Hagada“.<br />

Jankiel Adler, ein bedeutender Maler, dessen Werke sich in<br />

Museen und privaten Sammlungen u.a. in Köln, Düsseldorf, Wuppertal,<br />

Zürich, vor allem aber in London befinden, war gebürtiger<br />

Lodzer. Auch Aleksander Tansman, Pianist und Komponist und<br />

der Dichter Julian Tuwim, waren Lodzer. Julian Tuwim betonte<br />

mehrmals, dass seine Geburtsstadt Łódź, ihm die „allerwichtigste<br />

Stadt“ sei“. Die Namen lassen sich noch weiter fortsetzen…<br />

Das multinationale Łódź aus der Vorkriegszeit spiegelt sich<br />

nicht nur in der polnischen Literatur sondern auch in der<br />

jiddischen wieder. Das bekannteste Beispiel ist der Roman “Die<br />

Brüder Aschkenasi“ von Israel Joshua Singer, dem älteren Bruder<br />

des Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer. Der Roman<br />

gilt als eine Entsprechung des Romans „Das gelobte Land“ des<br />

Artur Szyk,Die Satzung von Kalisz


Marycy Trębacz, Greiser,<br />

Jüdisches Historisches Institut<br />

polnischen Nobelpreisträgers<br />

Władysław Reymont, mit dem<br />

Unterschied, dass Singer das<br />

Leben der Lodzer Juden vor<br />

und nach dem Ersten Weltkrieg<br />

darstellt, und Reymont von<br />

der früheren Zeitgeschichte<br />

erzählt, als die Lodzer Vermögen<br />

entstanden und zunichte<br />

wurden.<br />

Auf eine moderne Art und<br />

Weise wird Łódź von Israel Rabon,<br />

einem anderen jüdischen<br />

Schriftsteller geschildert. Er<br />

verfasste u.a, die Romane „Die<br />

Straße“ und „Bałuty“. Moses Broderson, einer der wichtigsten<br />

jüdischen Dichter aus der Zwischenkriegszeit gab die Zeitschrift<br />

„Jung Jiddisch“ heraus, die junge Schriftsteller und Künstler<br />

versammelte. Eine Zeit lang wohnte hier auch ein Vertreter<br />

der älteren Generation, der Schriftsteller Jechiel Jesaje Trunk.<br />

Ein Abschnitt seiner Nachkriegserinnerungen mit dem Titel<br />

„Polin“ (Polen) ist dem Lodzer „gelobten Land“ gewidmet. Trunk<br />

erzählt vom Schriftsteller- und Malermilieu. In Łódź lebte und<br />

arbeitete Jizchak Katzenelson. Er<br />

war Hebräischlehrer und schrieb<br />

auf Hebräisch und Jiddisch. Er<br />

kam in Auschwitz ums Leben,<br />

schaffte es vorher aber noch,<br />

das erschütternde Gedicht über<br />

die Vernichtung der Juden zu<br />

schreiben „ Das Lied vom ausgerotteten<br />

jüdischen Volk“.<br />

Die Lodzer Juden spielten bei<br />

der Entwicklung der Stadt eine<br />

große Rolle. Über Jahre waren<br />

sie deutlicher Bestandteil in<br />

jedem Lebensbereich der Stadt.<br />

Hier erzählen wir die Geschichte<br />

der Menschen, die gezwungen<br />

waren, im Getto, dem abgesperrten<br />

Stadtviertel Bałuty, zu<br />

wohnen. Die meisten haben den<br />

Krieg nicht überlebt. Die wenigen,<br />

die überlebten, sind für<br />

immer durch diese tragischen<br />

Erinnerungen gezeichnet.<br />

Jankiel, Adler, Meine Eltern,<br />

K<strong>uns</strong>tmuseum Łódź<br />

1943 während des Aufstandes im<br />

Warschauer Getto wurden er und sein<br />

17jähriger Sohn Zwi auf die arische<br />

Seite geschleust, wo sie eine kurze Zeit<br />

im Versteck lebten. Um sich das Leben<br />

zu retten, kauften sie honduranische<br />

Pässe und stellten sich als Bürger eines<br />

neutralen Staates zur Sammelstelle<br />

im Hotel Polski, zusammen mit den<br />

anderen, die glaubten, dass es ihnen<br />

gelänge, Warschau zu verlassen. (Die<br />

Nazis versprachen, dass sie gegen<br />

deutsche Gefangene ausgetauscht<br />

würden). Von hier aus wurden sie<br />

nach Frankreich ins Internierungslager<br />

Vittel (Vogesen) transportiert. Dort<br />

blieb er zehn Monate. Eben in diesem<br />

Lager entstand das erschütternde<br />

Gedicht „ Das Lied vom ausgerotteten<br />

jüdischen Volk“, in dem er das<br />

unvorstellbare Leiden seines Volkes<br />

und seiner Familie beschreibt. Am<br />

17. April kam er ins Lager Drancy bei<br />

Paris und von dort aus wurde er nach<br />

Auschwitz deportiert, wo er am 1. Mai<br />

1944 vergast wurde.<br />

Der Anfang des Endes (Abschnitt)<br />

Wo ich den ersten Deutschen sah?<br />

In Lodz. Daheim. Ich floh. Mich trieb<br />

der Hoffnungswahn,<br />

der Wahn der Furcht. Schutz suche<br />

ich.<br />

bei Freunden. Chanah ging mit mir.<br />

Die Nacht war kühl.<br />

Ein Deutscher stand vor einem Tor:<br />

Der Tod. Er sah <strong>uns</strong> nach. Doch – hielt<br />

er <strong>uns</strong> nicht an.<br />

Wir gingen weiter. Droht die Gefahr?<br />

Gewiss. Ein Schuss – der Schuss galt<br />

<strong>uns</strong>. Ein Anderer fiel.<br />

Wir. Wir. Wir selber sind<br />

gefallen. Chanah Du. Und ich. Er<br />

wollte Judenblut,<br />

nur wusste er nicht, wer wir sind.<br />

Wie loderte sein Hass, wie war sein<br />

Blick verroht.<br />

Nicht langsamer, nicht schneller<br />

gingen wir:<br />

wir zitterten. Und zeigten dennoch<br />

Mut.<br />

(..) Wozu? Uns alle hat sein Schuss<br />

getroffen: Kein Chanah lebt seit jener<br />

Nacht<br />

Tot liegen wir. Tot sind die Kinder.<br />

Jeder Jude starb mit <strong>uns</strong>: im Christenland<br />

„Das Lied vom letzten Juden“ in der Nachdichtung<br />

von Hermann Adler<br />

7


8<br />

Die Menschen<br />

im Getto<br />

Das Getto Litzmannstadt durchliefen<br />

200.000 Menschen, einige Hundert,<br />

vielleicht einige Tausend überlebten<br />

den Krieg. Unter Menschen, die im<br />

Getto oder in Vernichtungslagern<br />

starben, waren viele Künstler, Musiker<br />

und Schriftsteller, die in Łódź vor dem<br />

Krieg lebten, u.a. der Maler Maurycy<br />

Trębacz, die Dichterin Miriam<br />

Ulanower und der Komponist Dawid<br />

Beigelman. Viele weltberühmte<br />

Wissenschaftler und Künstler kamen<br />

ins Getto Litzmannstadt mit den<br />

Transporten aus Westeuropa: aus<br />

Prag, Berlin, Wien. „Eingesiedelt”<br />

wurden u.a. der bekannte Pianist<br />

Dawid Birkenfeld, der Opernsänger<br />

Rudolf Bandler und der expressionistische<br />

Dramaturg Paul Kornfeld. Unter<br />

den Deportierten waren: Professor<br />

Caspari, ein bekannter Onkologe,<br />

der Entdecker Edmund Speyer und<br />

der Chemiker Hugo Ditz aus Prag,<br />

Kandidat für den Nobelpreis. Die<br />

Aufzählung der Namen könnte man<br />

lange fortsetzen. Auch die Schwestern<br />

von Franz Kafka, Gabriela Hermann<br />

und Valeria Pollak waren im Getto.<br />

Die beiden wurden im September von<br />

hier aus deportiert und in Kulmhof<br />

am Ner ermordet.<br />

Im Getto entstanden Reportagen,<br />

Essays, und Tagebücher, geschrieben<br />

von bekannten Publizisten aus der<br />

Vorkriegszeit wie Oskar Singer, Oskar<br />

Rosenfeld und Josef Zelkowicz, Sie<br />

waren auch Mitverfasser der „Getto-<br />

Chronik“. Ihre Werke überdauerten,<br />

obwohl sie selbst ums Leben kamen.<br />

Wir erinnern nur an wenige unter<br />

ihnen, die trotz der katastrophalen<br />

Bedingungen im Getto versuchten,<br />

wenigstens auf ihre Art ein Zeugnis<br />

jener Zeit abzulegen und zu beweisen,<br />

dass sogar unter den schlimmsten Bedingungen<br />

die Idee des Menschlichen<br />

und der Schönheit erhalten bleiben<br />

können.<br />

Die Geschichte des Gettos Litzmannstadt<br />

Gleich nach der Besetzung von Łódź durch die Deutschen<br />

im September 1939 begannen die Repressionen<br />

gegenüber der Lodzer Bevölkerung. Łódź sollte in das<br />

Deutsche Reich eingegliedert werden. Die Nazis wollten Łódź<br />

zur „rassenreinen“ Stadt machen. In dieser sollte es für Polen<br />

und vor allem für Juden keinen Platz mehr geben.<br />

An den Mauern der Stadt wurden Bekanntmachungen mit<br />

den Verboten und Verordnungen des Besatzers veröffentlicht.<br />

Die Nazis verhafteten Vertreter der polnischen Intelligenz und<br />

Geistliche und schlossen katholische Kirchen. Im November<br />

rissen sie das Taudeusz-Kościuszko-Denkmal, das Symbol des<br />

polnischen Patriotismus, ab. Doch die weitaus schlimmsten<br />

Repressionen betrafen die jüdische Bevölkerung von Łódź. Im<br />

November wurden die vier Lodzer Synagogen niedergebrannt.<br />

Von Tag zu Tag führte man immer größere Restriktionen<br />

gegenüber den Juden ein, so dass ein normales Leben unmöglich<br />

wurde: es gab z.B. ein Handelsverbot für bestimmte<br />

Waren; die Verordnung, alle Fabriken und Geschäfte mit<br />

Symbolen zu markieren, welche die Nationalität des Besitzers<br />

kennzeichneten wurde. Juden war verboten, die Piotrkowska-<br />

Strasse und die städtischen Parks zu betreten. Sie mussten den<br />

Deutschen auf der Strasse aus dem Weg gehen, Armbinden<br />

und später den Davidstern tragen. Jeden Tag wurden hunderte<br />

Juden zu schwerer Arbeit, für die sie kein Entgelt erhielten,<br />

verpflichtet. Sie wurden verprügelt und erniedrigt. Ihre Situation<br />

verschlechterte sich von Woche zu Woche.<br />

Der Beschluss über die Errichtung des Gettos fiel im Dezember<br />

1939, Anfang 1940 wurde es errichtet. Am 8. Februar erschien<br />

in der „Lodscher Zeitung“ die Verordnung des nationalsozia-<br />

Brücke über die Zgierska Straße im Getto Litzmannstadt


Fußgängerübergang an der Lotnicza Straße<br />

listischen Polizeipräsidenten von Łódź, Johannes Schäfer, dass<br />

im nördlichen Teil der Stadt ein Wohnviertel für Juden errichtet<br />

werden soll. Alle Juden mussten ihre Wohnungen in anderen<br />

Stadtteilen verlassen und in den neuen „jüdischen Wohnbezirk“<br />

Bałuty ziehen. Die dort wohnenden Polen und Deutschen mussten<br />

ihre Wohnungen verlassen. Zuerst waren die Juden über diese<br />

Verordnung erleichtert. Sie hofften darauf, in einem geschlossenen<br />

Viertel von antisemitischen Attacken und Plünderungen<br />

verschont zu bleiben. Die endgültige Schließung des Gettos<br />

und Isolierung vom Rest der Stadt erfolgte am 30. April 1940. Im<br />

März 1940 bekam Łódź den Namen: Litzmannstadt – nach dem<br />

General Karl von Litzmann, der während des Ersten Weltkrieges<br />

eine Schlacht in der Nähe von Łódź gewonnen hatte.<br />

Das Getto Litzmannstadt – so lautete seine offizielle Bezeichnung<br />

– entstand in Bałuty und in der Altstadt, den am meisten<br />

vernachlässigten Stadtteilen. Auf einer Fläche von 4,13 km 2<br />

pferchte man 160.000 Menschen zusammen. 70.000 gelang<br />

es, rechtzeitig in die Sowjetunion zu fliehen.<br />

Im Herbst 1941 deportierten die Deutschen ca. 20.000 Juden<br />

aus Westeuropa in das Getto Litzmannstadt: aus Österreich,<br />

der Tschechoslowakei, Luxemburg und Deutschland. Dazu<br />

kamen über 5.000 Roma und Sinti aus dem Burgenland. Die<br />

jüdischen Bewohner der umliegenden Städte Brzeziny, Łask,<br />

Ozorków, Pabianice, Włocławek wurden ebenfalls in das Getto<br />

Litzmannstadt deportiert. Insgesamt durchliefen das Getto<br />

von Łódź über 200.000 Juden. Überlebenschancen hatten nur<br />

die Personen, die arbeiten konnten – sie bekamen Lebensmittelmarken<br />

und manchmal eine zusätzliche Suppe.<br />

Von Beginn an war das Getto Litzmannstadt ein großes Arbeitsgetto.<br />

Hier wurden Uniformen, Mützen, Schuhe, Rucksäcke etc.<br />

für die deutsche Wehrmacht hergestellt. Die Gettobewohner<br />

Chronisten des Gettos<br />

Eines der wichtigsten Dokumente des<br />

Zweiten Weltkrieges die „Chronik des<br />

Gettos Litzmanstadt“ entstand in den<br />

Jahren 1941-1944 in der Statistischen<br />

Abteilung des Gettos. Daran arbeiteten<br />

jüdische Journalisten, Schriftsteller und<br />

Wissenschaftler aus Polen, Österreich<br />

und der Tschechoslowakei, die in das<br />

Getto deportiert worden waren. Nur<br />

einer der Chronisten, Ingenieur Bernard<br />

Ostrowski, überlebte den Krieg. Alle<br />

anderen starben im Getto oder wurden<br />

in den Vernichtungslagern ermordet.<br />

Bernard Ostrowski<br />

(1908-?)<br />

Er wurde 1908 in Łódź geboren. Vor<br />

dem Krieg wohnte er in der Piramowicza,<br />

im Getto in der Zgierska 8. Im<br />

März 1941 nahm er seine Tätigkeit im<br />

Archiv des Gettos auf. Ostrowski beschäftige<br />

sich mit der Redaktion von<br />

Bulletins, ab1943 leitete er die Historische<br />

Abteilung. Er überlebte den Krieg<br />

und kehrte nach Łódż zurück. Später<br />

emigrierte Bernard Ostrowski nach<br />

Israel und lebte in Holon.<br />

Józef Klementynowski<br />

(1892-1944)<br />

Vor dem Krieg wohnte er in der Narutowicza<br />

39 und war als Prokurist in<br />

der Firma Adam Osser in Łódź tätig.<br />

Klementynowski leitete das Gettoarchiv<br />

vom November 1940 bis zum 24.<br />

Februar 1943. Ab Februar 1943 war er<br />

Leiter der Leihkasse im Getto.<br />

Julian Cukier (Pseudonym<br />

Stanislaw Cerski) (1900-1943)<br />

Von Beruf Redakteur und Journalist.<br />

Cerski war vor dem Krieg mit der<br />

Zeitung „Republik“ verbunden. Er war<br />

der erste Leiter der Gettochronik, vom<br />

Januar 1941 bis er im Januar 1943 an<br />

Tuberkulose erkrankte. Vor dem Krieg<br />

wohnte er in Łódź in der Wólczańska,<br />

im Getto in der Franciszkańska 38. Er<br />

starb am 7.4.1943 im Getto und wurde<br />

auf dem jüdischen Friedhof in Łódź<br />

bestattet.<br />

9


10<br />

Abraham Szalom<br />

Kamieniecki (1874-1943)<br />

Abraham Kamieniecki war Doktor der<br />

Philosophie, Hebraist und Talmudist.<br />

Er stammte aus der Nähe von Grodno,<br />

dort erhielt er auch seine religiöse<br />

Bildung. Später studierte er an den<br />

Universitäten in Heilderberg, Breslau,<br />

Berlin und Bern, promovierte in<br />

Philosophie und spezialisierte sich auf<br />

Hebräisch, Chaldäisch und Bibelkunde.<br />

Kamieniecki war in wissenschaftlichen<br />

Kreisen hoch angesehen. Er schrieb<br />

u. a. Stichwörter für die auf Russisch<br />

herausgegebene jüdische Enzyklopädie.<br />

Ab 1925 lebte er in Łódź an der 11<br />

Listopada 43. Im Getto Litzmanstadt<br />

leitete er von Anfang an das Bildungsamt,<br />

ab April 1942 arbeitete er im<br />

Archiv. Kamieniecki wohnte im Getto<br />

in der Jakuba 8. Am 21. Juni 1943 starb<br />

er und wurde unter großer Anteilnahme<br />

auf dem Jüdischen Friedhof an der<br />

ul. Bracka beigesetzt.<br />

Józef Zelkowicz<br />

(1898-1944)<br />

Er stammte aus einer chassidischen Familie<br />

in Konstantynów. Dort besuchte<br />

er die Jeshiwa, absolvierte ein weltliches<br />

Lehrerseminar und wurde Rabbiner.<br />

Sein Interesse galt der jüdischen<br />

Folklore. Zunächst schrieb Zelkowicz<br />

für die polnische Presse, später aber nur<br />

noch für die jüdische Presse in Łódź,<br />

Warschau und New York. Ab 1929<br />

arbeitete er in der er Abteilung des<br />

Vilnischen Jüdischen Forschungsinstitutes<br />

(YIVO). Verbunden mit der Gruppe<br />

„Jung Jidysz“. Zelkowicz wohnte in Łódź<br />

in der Gdańska 8. Er sammelte auch<br />

nach seiner „Übersiedlung“ in das Getto<br />

weiter ethnographische Materialien.<br />

1940 musste er mit seiner Familie in<br />

das Getto umziehen und wohnte dort<br />

in der Limanowskiego 47 und später in<br />

der Urzędnicza 9. Er war Mitglied der<br />

Archivabteilung. Dort verfasste und<br />

redigierte er Texte des Bulletins der<br />

Tageschronik. Zelkowicz ist Autor eines<br />

Tagebuches auf Jiddisch (es erschien im<br />

Jahre 2002 auf Englisch unter dem Titel<br />

„In those terrible days“). Er wurde im<br />

August 1944 nach Auschwitz-Birkenau<br />

deportiert und dort ermordet.<br />

nähten Unterwäsche, Pelze, stellten Lampenschirme, Möbel,<br />

sogar Spielsachen auf Bestellung deutscher Firmen her. Die<br />

Produkte wurden nach Deutschland transportiert und dort verkauft.<br />

Nur dank der Tatsache, dass die Lodzer Juden als Arbeitskräfte<br />

gebraucht wurden, konnte das Getto bis 1944 existieren.<br />

Die Bewohner des Gettos arbeiteten für den Bedarf der deutschen Armee<br />

Leiter der deutschen Gettoverwaltung war Hans Biebow, ein<br />

Kaufmann aus Bremen. Er wusste genau, wie man so viele Hände<br />

zur Arbeit ausnutzen konnte. Der deutschen Verwaltung unterstand<br />

die jüdische Gettoverwaltung unter Chaim Mordechai<br />

Rumkowski, dem Judenältesten. Vor dem<br />

Krieg war Rumkowski Versicherungsvertreter,<br />

zionistischer Aktivist, u. a. leitete er<br />

ein Waisenheim in Helenówek. Im Getto<br />

war er Herr über Leben und Tod. Manche<br />

Gettobewohner nannten ihn „König des<br />

Ghettos“.<br />

Die Bewohner des Gettos Litzmannstadt starben an Hunger,<br />

Erschöpfung und Seuchen. Die Essensrationen waren sehr<br />

gering, die Versorgung des Gettos schlecht. Mitte des Jahres<br />

1942 betrug z. B. eine Tagesration 600 Kalorien. Im Januar<br />

1942 begannen die Deportationen aus dem Getto Łódź in das<br />

Vernichtungslager Kulmhof am Ner. Bis Mai wurden ca.57.000<br />

Menschen dort vergast. Die weiteren Deportationen erfolgten<br />

im September. Während der sogenannten „Großen Sperre“<br />

verschleppten die Nazis Kinder unter zehn Jahren und Alte<br />

über 65 Jahren. Wie die Nazis betonten, waren sie als arbeitsunfähige<br />

ein „überflüssiges Element“. Insgesamt wurden in den<br />

Vernichtungslagern 15.681 Menschen ermordet. Die Gettobewohner<br />

gingen mit Zügen vom Gettobahnhof Radegast<br />

in den Tod. Ein Gebäude des alten Bahnhofs steht noch. Das<br />

Getto Litzmannstadt bestand bis zum Sommer 1944. Es war das<br />

letzte Getto im besetzen Polen. Alle anderen Gettos wurden


Oskar Singer (1893-1944)<br />

Jurist, Schriftsteller/Journalist. Vor<br />

dem Krieg Autor vieler wichtiger Artikel<br />

, u. a. „Prager Tageblatt“, Montag“,<br />

„Selbstwehr“. Der Literat und Publizist<br />

erfreute sich gro0ßer Anerkennung.<br />

Am 26. Oktober mit einem Transport<br />

der Juden aus Prag in das Getto<br />

Litzmannstadt deportiert. Oskar<br />

Singer arbeitete in der Statistischen<br />

Abteilung des Judenältesten. Ab April<br />

leitete er das Team der „Chronik des<br />

1942 wurden aus dem Getto Litzmannstadt über 70.000 Menschen deportiert<br />

bereits in den Jahren 1942 und 1943 zerstört. Die Auflösung<br />

des Gettos Litzmannstadt begann am 23. Juni 1944. Bis zum<br />

14. Juli wurden über 7.000 Personen nach Kulmhof am Ner<br />

(Chelmno nad Nerem) deportiert und ermordet. Vom 9. bis zum<br />

29. August erfolgte die Deportation von über 70.000 Personen<br />

nach Auschwitz-Birkenau. Auf dem Gettogelände blieben etwa<br />

800 Personen als Aufräumkommando zurück. Einige Hundert<br />

Gettobewohner schickte Hans Biebow zur Arbeit in Fabriken in<br />

der Nähe von Berlin. Der Trannport erfolgte im Oktober 1944.<br />

Als die Rote Armee im Januar 1945 in Łódź einmarschierte, lebten<br />

auf dem ehemaligen Gettogelände von Bałuty noch einige<br />

Hundert Menschen, die sich dort versteckt hatten.<br />

Es gibt keine genauen Angaben, wie viele Juden aus dem Getto<br />

Litzmannstadt überlebten. In verschiedenen Publikationen werden<br />

unterschiedliche Zahlen angegeben: von ein paar Hundert<br />

bis zu einigen Tausend. Auf dem jüdischen Friedhof in der ul.<br />

Bracka sind ca. 45.000 Personen, die im Getto starben, begra-<br />

Die Auflösung des Gettos Litzmannstadt im September 1944<br />

Gettos Litzmannstadt“ und war dort<br />

einer der Autoren. Auch während<br />

des Krieges schrieb er Reportagen.<br />

Manche von ihnen kommentierten<br />

und ergänzten die in der Chronik beschriebenen<br />

Ereignisse, andere schrieb<br />

er heimlich. Singers Reportagen, die<br />

im Staatsarchiv in Łódź und in YIVO<br />

gefunden wurden, erschienen im Jahr<br />

2002 auf Deutsch und Polnisch unter<br />

dem Titel „Im Eilschritt durch den<br />

Gettotag“. Dieses Tagebuch ist ein<br />

wichtiges Zeugnis über das Leben im<br />

Getto Litzmannstadt und über das<br />

Verhältnis zwischen Ost- und Westjuden.<br />

Im Getto wohnte Oskar Singer an<br />

der Limanowskiego 47. Im September<br />

1944 wurde er samt seiner Familie<br />

mit einem der letzten Transporte in<br />

das Vernichtungslager Auschwitz<br />

deportiert und vermutlich auf einem<br />

Todesmarsch im Januar 1945 gestorben.<br />

Seine Kinder, die Tochter Ilza und<br />

der Sohn Erwin, überlebten den Krieg.<br />

11


Oskar Rosenfeld<br />

(1884-1944)<br />

Journalist, Schriftsteller zionistischer<br />

Aktivist. Rosenfeld stammte aus<br />

Mähren. Sein Studium der Philologie<br />

und K<strong>uns</strong>tgeschichte schloss er mit der<br />

Promotion ab. Er war Literat, Redakteur<br />

und Kritiker, Mitbegründer der ersten<br />

jüdischen Bühne in Wien. Nach dem<br />

Anschluss Österreichs floh er nach<br />

Prag, von dort wurde er im Oktober<br />

1941 in das Getto Litzmannstadt<br />

deportiert. In der Statischen Abteilung<br />

arbeitete Oskar Rosenfeld ebenfalls an<br />

12<br />

der Gettochronik. Ähnlich wie Singer<br />

führte er sein privates Tagebuch, das ein<br />

wichtiges Zeugnis und ein erschütterndes<br />

Dokument ist - eine Sammlung<br />

von Notizen, Reflexionen, literarischen<br />

Skizzen für zukünftige Erzählungen,<br />

die den dramatischen Alltag des Gettos<br />

zeigen. Im August 1944 wurde er<br />

nach Auschwitz deportiert und starb<br />

dort. Sein auf Deutsch geschriebenes<br />

Tagebuch wurde 1994 unter dem Titel<br />

„Wozu noch Welt. Aufzeichnungen<br />

aus dem Getto Lodz“, veröffentlicht.<br />

Die englische Ausgabe erschien 2007,<br />

Titel „In the beginning was the Ghetto:<br />

Notebooks from Lodz“.<br />

Bernard Heilig<br />

(1902-1943)<br />

Wirtschaftshistoriker/Geschäftsmann.<br />

Heilig beschäftigte sich u. a. mit der<br />

Wirtschaftsgeschichte der Juden. Im<br />

Oktober 1941 wurde er aus Prag in<br />

das Getto Litzmannstadt deportiert.<br />

Im Getto wohnte er zunächst an der<br />

Franciszkańska 13 und später an der<br />

Dolna 13. Im März 1943 erkrankte<br />

Bernard Heilig an Tuberkulose und<br />

starb am 29 Juni 1943 im Getto. Heilig<br />

wurde auf dem jüdischen Friedhof an<br />

der Bracka beigesetzt.<br />

Eines der Tausend Begräbnisse auf dem sogenannten Gettofeld auf dem jüdischen<br />

Friedhof<br />

ben. Die meisten ruhen auf dem so genannten Ghettofeld. Viele<br />

wurden aber entlang der Mauer und an den Wegen auf dem<br />

„Neuen Feld“ beerdigt. Die Grabstätten des Malers Maurycy<br />

Trębacz und von David Sierakowiak wurden z. B. in der Nähe<br />

des Poznański- Mausoleums gefunden.<br />

Diejenigen, die das Getto überlebten, verließen Polen nach<br />

dem Krieg und zogen u. a. in die USA und nach Palästina<br />

(Israel). Ihre Nachkommen wohnen heute u.a. in Israel, Frankreich,<br />

den USA, Argentinien, Australien und in vielen anderen<br />

Ländern. Ihre Erinnerungen, Tagebücher sowie Gedichte,<br />

Erzählungen, Zeichnungen, Fotos und verschiedene Erinnerungsstücke<br />

sind ein einmaliges Zeugnis jener Zeit. Durch<br />

sie können wir heute einen Abschnitt der Geschichte kennen<br />

lernen, der nicht in den offiziellen Gettodokumenten zu finden<br />

ist. Sie machen deutlich, dass<br />

in den grausamen Kriegsund<br />

Besatzungsjahren, trotz<br />

Hunger, Verfolgung und Tod<br />

die Hoffnung auf eine bessere<br />

Zukunft zum Überleben <strong>half</strong>.<br />

Diese Hoffnung gab den Gettobewohnern<br />

Literatur, K<strong>uns</strong>t,<br />

Musik und Unterricht.<br />

Geburtstagsglückwünsche für den<br />

Vorsitzenden Rumkowski aus den<br />

Sammlungen des Staatsarchivs Łódź<br />

Łódź wurde während des<br />

Krieges nicht zerstört. Zahlreiche<br />

Gebäude im ehemaligen<br />

Gettobezirk blieben<br />

erhalten. Die fast vollständige<br />

Dokumentation des Gettos<br />

ist noch vorhanden und im<br />

Staatsarchiv von Łódź, im<br />

Jüdisch-Historischen Institut


in Warschau, Yad Vashem in Jerusalem, dem YIVO-Institut in New<br />

York, im Holocaustmuseum in Washington einzusehen. Alben,<br />

Bilder, Arbeitsausweise, Schulzeitungen und Tausende von Fotos<br />

die den Krieg überdauerten befinden sich in den Archiven. Zu<br />

den wichtigsten Dokumenten des Gettos gehört „Die Chronik<br />

des Gettos Litzmannstadt“. Sie wurde in dem von Rumkowski<br />

gegründeten Archiv, in der Statistischen Abteilung, geschrieben.<br />

Jüdische Publizisten und Schriftsteller verfassten die Chronik. Ab<br />

12. Januar 1941 erschien ein „Bulletin der Tageschronik“ in polnischer<br />

Sprache. Ab Herbst 1941 arbeiteten auch aus dem Westen,<br />

z. B. aus Prag und Wien, deportierte Juden an der Chronik. Vom<br />

September an bis Ende Dezember 1942 erschien die Chronik<br />

auf Deutsch und Polnisch. Ab Januar 1943 bis zum 30. Juli 1944<br />

wurde sie nur auf Deutsch als Tageschronik geschrieben<br />

Der erste Archivleiter war Stanisław Cukier-Cerski, vor dem Krieg<br />

Journalist der „Republik“. Ab Februar 1943 leitete Oskar Singer<br />

aus Prag das Archiv. Die in der Chronik enthaltenen Informationen<br />

geben ihren Lesern ein genaues Bild vom Leben im Getto.<br />

Man erfährt, welche Verordnungen erschienen, welche Reden<br />

Rumkowski hielt, wer das Getto besuchte, wie viele Personen<br />

geboren wurden und wie viele starben. Der Umfang der Lebensmittelzuteilungen<br />

und die Preise auf dem Schwarzmarkt<br />

sind ebenfalls vermerkt. Welche Probleme das Getto beschäftigten,<br />

worüber geklatscht wurde, wohin man ins Konzert ging,<br />

alles wurde dokumentiert. Nur selten nahmen die Chronisten<br />

persönlich zu den Ereignissen Stellung. Obwohl die Chronik<br />

zensiert und in einem sehrsachlichen, teilweise ironischen Stil<br />

geschrieben wurde, gilt sie als eine <strong>uns</strong>chätzbare Quelle über<br />

das Leben im Getto. Im Jahre 1944 begann die Arbeit an der<br />

Enzyklopädie des Gettos. Hier sollten die wichtigsten Personen<br />

und Institutionen stichwortartig beschrieben werden. Die Mitarbeiter<br />

der Chronik waren auch die Verfasser der Enzyklopädie.<br />

Bisher wurde die Enzyklopädie noch nicht veröffentlicht.<br />

In den sechziger Jahren erschienen zwei Bände der „Chronik<br />

des Lodzer Gettos“ in polnischer Sprache (die Jahre 1943und<br />

1944). Herausgeber waren Danuta Dąbrowska und Lucjan Dobroszycki.<br />

Das Erscheinen der weiteren Bände wurde, obwohl<br />

sie schon für den Druck fertig waren, nach dem März 1968<br />

gestoppt. Lucjan Dobroszycki veröffentlichte in den USA eine<br />

gekürzte Fassung der Chronik auf Englisch, eine Auswahl der<br />

Jahre 1941-1944. Vier Bände wurden in Hebräisch publiziert.<br />

Die vollständige Edition, an der Wissenschaftler der Universitäten<br />

Giessen und Łódź gemeinsam mit dem Staatsarchiv in<br />

Łódź einige Jahre gearbeitet haben, ist in deutscher Sprache<br />

im November 2007 erschieben. Die polnische Fassung wird<br />

wahrscheinlich im Jahr 2008 veröffentlicht.<br />

Samuel (Szmul) Hecht<br />

(1923 – 1943)<br />

Schäftemacher, später Archivmitarbeiter.<br />

Der jüngste Chronist stammte<br />

aus Wieluń, von dort wurde er in das<br />

Getto Litzmannstadt deportiert. Er<br />

erkrankte ebenfalls an Tuberkulose<br />

und starb am 12. Oktober 1943 im<br />

Getto. Er wurde auf dem jüdischen<br />

Friedhof in Łódź bestattet.<br />

Alice (Chana) de Buton<br />

(1901-1944)<br />

Geboren in Berlin, ging nach Wien<br />

und wurde von dort am 15.10.1941 in<br />

das Getto Litzmannstadt deportiert.<br />

Alice de Buton war Sekretärin/Mitarbeiterin<br />

im Archiv und schrieb nicht<br />

nur für die Gettochronik sondern<br />

verfasste auch Essays, Gedichte und<br />

Skizzen. Im August 1944 wurde sie<br />

nach Auschwitz deportiert.<br />

Dr. Peter Wertheimer<br />

(1890-1944)<br />

Man weiß nicht viel über ihn. Wertheimer<br />

war Philologe und Industrieller<br />

und wurde mit seiner gesamten<br />

Familie am 21. Oktober 1941 aus Prag<br />

in das Getto Litzmannstadt deportiert.<br />

Gestorben in Auschwitz.<br />

Die Aussicht aus dem Fenster der Statistischen<br />

Abteilung am Kościelny Plac 4, wo<br />

die Chronik entstand<br />

13


14<br />

Mendel Grosman<br />

(1913-1945)<br />

Maler und Fotograf. Er wurde in<br />

einer chassidischen Familie in Gorzkowice<br />

geboren. Seit seiner früheren<br />

Jugendzeit befasste er sich mit K<strong>uns</strong>t.<br />

Er zeichnete, malte, fotografierte. Die<br />

künstlerische Begabung erbte er von<br />

seinem Vater, Szmul David, der –wie<br />

Arie Ben Menachem schreibt- nicht<br />

nur auf Glas malte sondern sich auch<br />

mit der typischen jüdischen Scherenschnittk<strong>uns</strong>t<br />

befasste. Seine Mutter<br />

hieß Hanna –Ruda Grosman. Die<br />

Grosmans zogen nach dem Ersten<br />

Weltkrieg nach Łódź . Sie wohnten in<br />

der Piłsudskiego 58 (heute Wschodnia).<br />

Mendel Grosman war Autodiktat.<br />

In den dreißiger Jahren gehörte er<br />

zur Lodzer künstlerischen Boheme.<br />

Seine Zeichnungen aus dieser Zeit<br />

blieben erhalten. Sie werden im<br />

Ghetto Fighters House (Lohamei Hagetaot)<br />

in Israel aufbewahrt. Außer<br />

den ausgezeichneten Skizzen aus den<br />

zwanziger und dreißiger Jahren, u. a.<br />

Portraits alter, die Tora studierenden<br />

Juden, Kinder und Frauen, Landschaften,<br />

gibt es Fotos, die den Besuch<br />

des Theaters „Habima“ im Jahre<br />

1938 zeigen. Grosman machte damals<br />

einmalige Fotos der Schauspieler,<br />

die er von einer Seite der Bühne<br />

aus aufnahm. Dr. Prima Rosenberg ist<br />

der Meinung, dass dies eine Wende<br />

in der künstlerischen Wahrnehmung<br />

des jungen Fotografen war. „Versteckt<br />

in einem Flügel der Bühne machte er<br />

eine erstaunliche Fotoreihe, indem er<br />

sich auf die Bewegung konzentrierte.“<br />

Später fotografierte er auf die gleiche<br />

Art und Weise das geschlossene jü-<br />

Die Fotografen des Ghettos<br />

Fotos sagen oft viel mehr über das Leben im Getto aus als<br />

in Tagebüchern, Erinnerungen und Dokumenten steht. Sie<br />

zeigen die Vielfalt, Normalität, Schönheit und Grausamkeit des<br />

Lebens im Getto.<br />

Im Staatsarchiv in Łódź werden 27 Fotoalben aus dem Getto<br />

Litzmannstadt aufbewahrt. Jedes enthält 800 bis 1000 Kontaktabzüge<br />

von Kleinbildnegativen. Insgesamt über 20.000<br />

Fotos, die in den Jahren 1940-1944 im Getto Litzmannstadt<br />

gemacht wurden. Die Alben wurden noch im Getto mit Informationen<br />

versehen. In jedem gibt es handgeschriebene Informationen<br />

auf Deutsch und Polnisch. Fotos aus den Arbeitsressorts<br />

und aus der Gesundheitsabteilung, der Schulabteilung,<br />

der Versorgungsabteilung geben ein Bild vom Alltag wieder.<br />

Abgebildet sind Menschen bei der Arbeit und mit von ihnen<br />

hergestellte Waren: Strohschuhe, Teppiche, Eimer. Zahlreiche<br />

Fotos zeigen Gettobewohner bei normalen alltäglichen Verrichtungen:<br />

Sie sitzen mit Kollegen oder Bekannten am Tisch,<br />

sie kochen, sie sind in ihrem häuslichen Umfeld zu sehen. Man<br />

könnte meinen, sie trotzen dem Krieg und den schrecklichen<br />

Lebensumständen. Die Fotos sind häufig nicht mit den Namen<br />

der Fotografen unterschrieben. Es waren aber ohne Zweifel<br />

vor allem Mendel Grossmann und Henryk Ross, offiziell angestellt<br />

in der Statischen Abteilung. Beide Fotografen haben<br />

aber häufig ihre Fotos auf der Rückseite beschriftet und die<br />

Situation und die Menschen beschrieben.<br />

Es gab aber vermutlich noch mehr Fotografen: In der „Chronik<br />

des Lodzer Gettos“ ist unter dem 10.-13. Januar 1942 über eine<br />

Einer der Kontaktabzüge aus dem im Staatsarchivs Łódź aufbewahrten Album


Henryk Ross nimmt die Gettobewohner für seine eigene Dokumentation auf<br />

Fotografengenossenschaft zu lesen: Der Judenaelteste erteilte<br />

der Genossenschaft der vereinigten Fotografen eine Konzession.<br />

Als Mitglieder traten 11 Fotografen bei mit Ausnahme derjenigen,<br />

die in den Gemeindeinstitutionen taetig sind. Die Genossenschaft<br />

verfügt über zwei Fotoateliers in der Brzezińska 11 und der Lutomierska<br />

34. Es ist nicht auszuschließen, dass die Genossenschaft<br />

in Zukunft von der Gemeinde übernommen wird.<br />

Mehr weiß man nicht darüber. In der Chronik wurde die<br />

Genossenschaft bis zum Ende der Aufzeichnungen nicht<br />

mehr erwähnt. Die letzten Notizen stammen vom Juli 1944.<br />

der letzte Transport fuhr am 29. August vom Bahnhof Radegast<br />

nach Auschwitz-Birkenau ab. Wir wissen nicht, welche<br />

Fotografien die Angehörigen der Genossenschaft machten,<br />

für wen sie arbeiteten und wo ihre Fotos sind. Man kann aber<br />

doch annehmen, dass manche der in den Alben aufbewahrten<br />

Fotografien von ihnen stammen. Es ist gelungen, den Namen<br />

eines Fotografen herauszufinden: Lajb Maliniak (geboren<br />

1908). Vor dem Krieg wohnte er an der Środmiejska 18, im<br />

Getto an der Młynarska 25. In den Jahren 1940-1943 hatte er<br />

einen Fotoladen an der Zawiszy.<br />

Mendel Grosman vermutlich mit Lajb Maliniak<br />

dische Wohnviertel in Łódź. Als die<br />

Nazis ein Getto in Bałuty errichteten,<br />

wurde Mendel Grosman als Fotograf<br />

in der Statistischen Abteilung eingestellt.<br />

Zu seinen Aufgaben gehörte<br />

Anfertigung der Fotos für Arbeitskarten,<br />

von im Getto hergestellten Produkten<br />

und der Menschen bei ihrer<br />

Arbeit. Mit seiner Familie wohnte er<br />

an der Marysinska 55, wo sich auch<br />

sein Studio befand. Grosman konnte<br />

die Filme entwickeln und hatte<br />

Zugang zu Fotomaterialien. Im Getto<br />

machte er Tausende von Fotos, einen<br />

Teil illegal. Er verewigte das Gettobild<br />

und seine Bewohner für immer. Man<br />

vermutet, dass seine illegale Tätigkeit<br />

dem Judenältesten Rumkowski<br />

bekannt wurde. Sein Brief an Grosman,<br />

in dem er ihm streng verbietet<br />

nach der Arbeit zu fotografieren, ist<br />

erhalten geblieben. Grosman hielt<br />

sich aber offensichtlich nicht an das<br />

Mendel Grosman vor der Bücke über die<br />

Zgierska Straße<br />

Verbot. Es gelang ihm, der Deportation<br />

im August 1944 zu entkommen,<br />

wurde aber im Oktober 1944 aus<br />

dem Getto deportiert und kam später<br />

nach Sachsenhausen. Grosman blieb<br />

bis zur Auflösung des Lagers im April<br />

1945 in Sachsenhausen und wurde<br />

auf einem der berüchtigten Todesmärsche<br />

erschossen.<br />

Arie Ben Menachem stellte fest, dass<br />

der Fotograf auf dem letzten Weg<br />

seine Kamera bei sich hatte, weil er<br />

sich nie von ihr trennte. Es gibt viele<br />

Fotos, die Grosman bei seiner Arbeit<br />

zeigen: Beim Fotografieren, beim<br />

Retuschieren, beim Gang durch die<br />

Straßen des Gettos, die Kamera unter<br />

seinem langen Mantel verborgen.<br />

15


16<br />

Die Negative von Grosmans Fotos<br />

wurden nach dem Krieg von seiner<br />

Schwester Szoszana Grosman Zil-<br />

Bar (Zylberstein) nach Israel gebracht<br />

und dem Kibbuz Nazranim überreicht.<br />

1948 geriet der Kibbuz unter<br />

die ägyptische Militärherrschaft<br />

und die Fotos kamen abhanden. Es<br />

besteht aber noch die Hoffnung,<br />

dass sie überdauerten und dass man<br />

sie irgendwann wieder findet.<br />

Henryk Ross<br />

(1910-1991)<br />

Henryk Ross wurde 1910 in Warschau<br />

geboren. Vor dem Krieg war er Sportjournalist<br />

und arbeitete für die Lodzer<br />

Zeitungen. An der 6. Sierpnia 9 hatte<br />

er eine eigene Firma mit dem Namen<br />

„Sfinks“. Ross hatte eine andere Art zu<br />

fotografieren als Mendel Grossman.<br />

Im Getto fand er ziemlich schnell eine<br />

Anstellung in der Statischen Abteilung.<br />

Henryk Ross fertigte die Fotos<br />

für die Arbeitsausweise im Getto an<br />

und machte Fotos auf Bestellung.<br />

Kurz vor der Auflösung des Gettos<br />

vergrub er einige Tausende Negative<br />

auf einem Grundstück an der<br />

Jagielońska 12.<br />

Bei der Liquidierung des Gettos<br />

wurde Ross nicht nach Auschwitz<br />

deportiert. Er gehörte zu den ca.<br />

800 Menschen, die das Gettogebiet<br />

aufräumen sollten. In Łódź blieb er bis<br />

zum Einmarsch der sowjetischen Armee.<br />

Nach der Befreiung grub er sein<br />

Eine der Propagandatafeln, die von der Statistischen Abteilung hergestellt wurden.<br />

Mit vielen der von den jüdischen Fotografen gemachten Fotos<br />

sollte wahrscheinlich gezeigt werden, dass das Getto von<br />

großem Nutzen war. In der Statistischen Abteilung wurden von<br />

den dort Angestellten überwiegend Demonstrationsmaterialien<br />

angefertigt. Im Lodzer Staatsarchiv sind unter anderem Tabellen<br />

und Statistiken vorhanden, die die Produktion der Arbeitsressorts<br />

darstellen. In der Mehrheit sind es offizielle Dokumente,<br />

die für Zwecke der Gettoverwaltung aufbewahrt wurden. Die<br />

Gettofotografen waren sich wohl bewusst, dass sie Augenzeugen<br />

wichtiger historischer Ereignisse waren, und dass ihre Fotos<br />

die Wirklichkeit im Gettozeigen. Da sie auch zu verbotenen und<br />

unzugänglichen Materialien Zugang hatten, machten sie inoffizielle<br />

Fotos, die das Leben in dem geschlossenen Stadtviertel<br />

dokumentierten und verteilten sie an Freunde und Bekannte.<br />

So geschah es, dass sie gefährliche Situationen fotografierten,<br />

wie z.B. die Deportation der Kinder im September 1942. Mendel<br />

Grossmann verteilte seine Fotografien an jüngere Kollegen.<br />

Collage, die von den Mitarbeitern der Statistischen Abteilung angefertigt wurde.


Archiv wieder aus. Nach dem Krieg<br />

betrieb Henryk Ross einige Jahre lang<br />

einen Fotoladen an der Piotrkowska<br />

121.<br />

Im Jahre 1956 ging er nach Israel. Dort<br />

arbeitete Henryk Ross als Fotograf<br />

und Setzer. 1960 erschien sein Fotoband<br />

„The Last Journey of the Jews of<br />

Lodz“. Seine Fotos wurden im Prozess<br />

gegen Adolf Eichmann als Beweismaterial<br />

für die Vernichtung der Juden<br />

verwendet. Ross katalogisierte seine<br />

Fotos1987. Er starb im Jahr 1991.<br />

Sechs Jahre später übergab sein Sohn<br />

die Fotos dem „Archive of Modern<br />

Conflict“ in London.<br />

Collage, die von den Mitarbeitern der Statistischen Abteilung angefertigt wurde.<br />

Arie Ben Menachem (im Getto Arie Printz) fertigte daraus eine<br />

Reihe von Collagen an, die eine authentische Geschichte vom<br />

Leben im Getto erzählen, von Hunger und von Deportationen<br />

ins Unbekannte. Viele Fotos wurden auch an Menschen weitergegeben,<br />

die sie außerhalb des Gettos versteckten. Diese Fotos<br />

wurden nach dem Krieg gefunden.<br />

Unmittelbar vor der Auflösung des Gettos versteckten die<br />

beiden offiziellen Gettofotografen die Negative ihrer Fotos.<br />

Sie hofften, dass ihre Fotos die Geschichte der Juden aus dem<br />

Getto Litzmannstadt erzählen werden, falls sie selber nicht<br />

<strong>überleben</strong> sollten. Und so ist es auch geschehen.<br />

Der umstrittene Fotoband „Lodz<br />

Ghetto Album” wurde im Jahre 2004<br />

herausgegeben. Henryk Ross zeigt hier<br />

ein vollkommen anderes Gettobild:<br />

hohe Beamte der jüdischen Gettoverwaltung,<br />

Polizisten sowie einfache<br />

Gettobewohner, private Feiern,<br />

spielende Kinder.<br />

17<br />

Collage, die von den Mitarbeitern der Statistischen Abteilung angefertigt wurde.


18<br />

Arie Ben Menachem<br />

(1922-2006)<br />

wurde als Arie Printz in Łódź geboren,<br />

Sohn von Menachem und Hinda, geb.<br />

Kopel. Den neuen Namen nahm er<br />

nach seiner Ankunft in Palästina an.<br />

Auf diese Weise würdigte er seinen<br />

Vater, der den Krieg nicht überlebte.<br />

Beide wurden aus dem Getto<br />

Litzmannstadt nach Auschwitz deportiert.<br />

Aries Vater starb vermutlich im<br />

April 1945.<br />

Vor dem Krieg besuchte Arie Printz<br />

die Industrieschule in Lodz an der<br />

Pomorska und wohnte an der Narutowicza.<br />

Er war zionistischer Aktivist.<br />

Im Getto arbeitete er im Teppichressort.<br />

Fasziniert von der Fotografie<br />

arbeitete er mit Mendel Grossmann<br />

zusammen. Arie Printz <strong>half</strong> ihm bei<br />

der Entwicklung von Fotos und verteilte<br />

sie unter Bekannten. Als Rumkowski<br />

veranlasste, unidentifizierte<br />

Tote im Getto zu fotografieren, fertigte<br />

Arie Namensschilder an, damit die<br />

Familien ihre Angehörigen erkennen<br />

konnten. Gemeinsam mit Grosman<br />

fotografierte er die Deportationen.<br />

1943 fertigte Arie einen eigenen<br />

Band mit Collagen und ironischen<br />

Kommentaren an. Er verwendete<br />

hierfür Fotos von Mendel Grosman.<br />

Das Album bestand aus 18 Seiten<br />

im Format A1. Es erzählte über das<br />

Getto, von Hunger und Not, die dort<br />

herrschten und von Menschen, die<br />

ins Unbekannte gebracht wurden.<br />

Arie nahm 1944 das Album mit nach<br />

Auschwitz, es wurde ihm aber gleich<br />

abgenommen. 1946 wurden seine<br />

Collagen von der Jüdisch-Historischen<br />

Kommission veröffentlicht. Niemand<br />

weiß, auf welchem Weg die Collagen<br />

dorthin kamen. Jede Seite war mit der<br />

Aufschrift „Hilfe für KZ-Häftlinge“<br />

versehen. Man weiß auch nicht, was<br />

mit dem Album geschah. Das Original<br />

ist bis heute nicht gefunden worden.<br />

Nach dem Krieg ging Arie Ben Menachem<br />

auf illegalem Weg nach Palästina.<br />

Er tat sehr viel für das Andenken<br />

an die Menschen, die ins Getto<br />

Litzmanstadt deportiert worden wa-<br />

Hunderte der entwickelten Fotos Grosmanns fand Nachmann<br />

Zonabend, ein Gettobewohner, der den Krieg überlebt hatte.<br />

Er rettete einen wesentlichen Teil des Gettoarchivs und zeigte<br />

die Fotos im Jahre 1947, als der Prozess gegen Hans Biebow,<br />

den Leiter der deutschen Gettoverwaltung in Łódź, stattfand.<br />

Nach dem Krieg nahm Zonabend die Fotos mit nach Schweden.<br />

Sie sind jetzt u.a. in YIVO-Institut in New York, in Yad Vashem<br />

in Jerusalem, im Holocaustmuseum Washington und im<br />

Ghetto Fighters House im Kibbuz Lohamei Haghetaot in Israel.<br />

1970 gab das Ghetto Fighters House einen Band mit Fotos von<br />

Mendel Grosmann „With the camera in the Ghetto“ heraus.<br />

Im Jahre 2000 erschien der Fotoband „ My secret camera“ mit<br />

dem Nachtrag „Life in the Lodz Ghetto”. Es wurde auch ein<br />

biographischer Film über Grosman gedreht.


Collagen von Arie Printz (Ben Menachena) (auf der Seite gegenüber und oben) aus<br />

Fotos von Mendel Grosman, die 1946 in Polen veröffentlicht wurden. Die Originale sind<br />

verschwunden. Auf dem Bild oben der Autor des Albums<br />

Die im Getto Litzmannstadt angefertigten Alben, die die Arbeit<br />

in den Ressorts zeigten, viele wurden meistens Chaim Rumkowski,<br />

dem Judenältesten, oder anderen hohen Beamten der Jüdischen<br />

Ghettoverwaltung gewidmet. Andere Alben waren für die<br />

deutsche Gettoverwaltung bestimmt und wurden auf Messen<br />

z. B. in Leipzig gezeigt und deutschen Firmen, die im Getto<br />

Waren anfertigen ließen. In den Alben präsentieren die Abteilungen<br />

und Werkstätten ihre Produkte: Kleidung, Schuhe,<br />

Werkzeug.<br />

Aber es gibt auch einmalige Alben, wie das mit dem „Märchen<br />

von einem Prinzen und einem wunderbaren Land“<br />

ren. Arie Ben Menachem übersetzte<br />

die Gettochronik ins Hebräische und<br />

arbeitete mit an der „Enzyklopädie<br />

der Gerechten unter den Völkern“, die<br />

von der Nationalen Gedenkstätte Yad<br />

Vashem in Jerusalem herausgegeben<br />

wurde.<br />

Pinkus Szwarc<br />

(1923-1996)<br />

war von Beruf Maler und Bühnenbilder.<br />

Er war Schüler Strzemińskis und<br />

gehörte vor dem Krieg zur Lodzer<br />

Avantgarde. Im Getto arbeitete<br />

Szwarc in der Statistischen Abteilung.<br />

Dort fertigte er Alben und Collagen<br />

an, die die Produktion in den<br />

Arbeitsressorts des Gettos zeigten.<br />

Dank einer Empfehlung Rumkowskis<br />

wurde er in der Versorgungsabteilung<br />

angestellt. So gelang es ihm, dem<br />

Hungertod zu entkommen.<br />

19<br />

Bühnendekoration von Pinkus Szwarc<br />

Seite aus einem der zahlreichen Alben der Statistischen Abteilung<br />

Szwarc überlebte den Krieg. Bekannt<br />

wurde er unter dem Namen Pinchas<br />

Shaat. Pinkus Szwarc entwarf<br />

zusammen mit Ignacy Gutman die<br />

Gettowährung. Nach seinem Entwurf<br />

wurden auch die Fünf- und Zehn-<br />

Mark Münzen produziert. Szwarc<br />

fertigte sehr interessante Dekorationen<br />

für Theateraufführungen an. Pinkus<br />

Szwarc fertigte1994 die Dekorationen<br />

für die Ausstellung „The last Ghetto“<br />

in Yad Vashem in Jerusalem an. Die<br />

Ausstellung wurde anlässlich des 50.<br />

Jahrestages der Liquidierung des Gettos<br />

Litzmannstadt konzipiert.


Ein Märchen mit<br />

wahrem Hintergrund<br />

In der Gedenkstätte Yad Vashem in<br />

Jerusalem wird ein Album aufbewahrt<br />

mit einer in Versen verfassten<br />

Geschichte mit dem Titel „Das Märchen<br />

von einem Prinzen und einem<br />

wunderbaren Land“. Illustriert ist<br />

dieser Band mit außergewöhnlichen<br />

Zeichnungen.<br />

Die Geschichte ist ein Gleichnis<br />

über das Getto und seine Bewohner.<br />

Erschütternd, wenn man das wahrscheinliche<br />

Entstehungsdatum und die<br />

Märchen von einem Prinzen und einem<br />

wunderbaren Land,<br />

in dem über Winter, Herbst, Sommer und Frühling<br />

drei Generationen vor Glück strahlend arbeiteten.<br />

Unter schwerem Joch bückt sich das Kind:<br />

„Soll es immer auf dieser Welt so werden?“,<br />

bekümmert sich das Herz des Prinzen,<br />

wenn er ein trauriges Kinderantlitz sieht<br />

und wenn Stille im Hof herrscht und Hähne krähen<br />

und die königlichen Träume durch die Lüfte schweifen.<br />

Teiche und Flüsse sind eingefroren,<br />

ein flauschiger sanfter Schneeteppich umhüllt die Erde.<br />

Trotzdem setzt sich <strong>uns</strong>er gnädiger König<br />

mit Leib und Seele für <strong>uns</strong> ein.<br />

20<br />

Titelblatt des „Märchens...“<br />

Botschaft berücksichtigt, die das Märchen<br />

vermittelt. Die Erzählung und<br />

das Album entstanden wahrscheinlich<br />

1942, während der Deportationen aus<br />

dem Getto, vielleicht noch später.<br />

Zwischen Januar und Mai 1942<br />

deportierten die Deutschen über<br />

55.000 Menschen aus dem Getto in<br />

das Vernichtungslager Kulmhof am<br />

Ner. Der Deportation konnten nur<br />

An einem sommerlichen Nachmittag,<br />

als die Sonne wunderschön schien<br />

auf der Wiese am Bach,<br />

verkündeten die Engel:<br />

Wer im Paradies bleiben möchte,<br />

sollte sich schnellstens, ohne Zeit zu<br />

verlieren,<br />

zum Ziel begeben.<br />

Derjenige, der stolpert,<br />

wird leider aus dem Paradies<br />

Prinz mit dem Gesicht von Leon Glaser<br />

in das alte Land abgeschoben.<br />

Vom weiten sieht man schon die Hürde:<br />

Ein Klotz liegt quer,<br />

wer nicht stolpert und ihn nicht berührt,<br />

der wird zum Ritter,<br />

und die Auszeichnung als Ritter wird derart sein,<br />

dass man ihn ins Gefolge aufnimmt.


Alle arbeiten, um das Land zu rühmen,<br />

sitzen stundenlang an den Nähmaschinen.<br />

Kleider kriechen durch die Türen heraus,<br />

Gürtel liegen haufenweise da,<br />

davon hängt ja<br />

das Schicksal im Paradies ab.<br />

Wer bei dieser Hürde nicht zusammenbricht,<br />

wer seinen Arm und Kopf hochhält,<br />

wird reichlich gepriesen sein.<br />

Sie sind schon am Ziel, der glatte Weg liegt zurück,<br />

ein Häuschen ist schon zu sehen,<br />

bescheiden und klein.<br />

Durch seine geöffneten Pforten<br />

treten weinend drei Paare:<br />

eine Nadel mit tränendem Auge<br />

hinterher in winzigen Schritten eine<br />

Garnspule,<br />

dann eine Schere hüpfend und<br />

heulend,<br />

gleich danach kommt wie ein Kreisel,<br />

eine Spule mit gesenktem Kopf,<br />

neben ihnen rollt<br />

mit einer bösen Miene eine Nähmaschine.<br />

„Ein Häuschen ist schon zu sehen...”<br />

Der Hocker weint,<br />

alle Augen leuchten wütend:<br />

„Schönes Schicksal! Kinder kommen!“,<br />

„Streitereien sind jetzt an der Reihe“.<br />

Die Spule aber sagt resolut: „Nehmt Platz im kleinen Saal“.<br />

„Da ist ja <strong>uns</strong>er Platz“, rufen die vielen Kinder und laufen herein.<br />

Alle eilen zu Maschinen, wo schon eine lange Schlange steht.<br />

Ein Arbeitstag beginnt.<br />

Der Schweiß fließt dem Mädchen über die Stirn,<br />

hilflos schaut sie herum,<br />

denn die trotzigen Gnome<br />

die Menschen entgehen, die Arbeit<br />

hatten. In dieser Zeit begann man, in<br />

verschiedenen Arbeitsbereichen Kinder<br />

zu beschäftigen, um die jüngsten<br />

Bewohner vor der Deportation zu<br />

retten.<br />

Die Jüngsten arbeiteten in Schneider-,<br />

Schuh-, und Metallfabriken. Alle<br />

bemühten sich, eine Anstellung zu<br />

bekommen um so eine Chance zum<br />

Überleben zu haben. Kleine Mädchen<br />

mussten Nähmaschinen bedienen,<br />

schnitten Schuheinlagen aus, flochten<br />

Strohzöpfe. Jungen richteten krumme<br />

Nadeln, nagelten Schuhsohlen an.<br />

Diese Arbeit überstieg oft über Kräfte.<br />

Eine der Fabriken in denen Kinder<br />

eine Anstellung bekamen war die<br />

Fabrik Leon Glaser, in der Wäsche<br />

und Kleidung hergestellt wurden. Zu<br />

Beginn des Jahres 1941 gab es dort<br />

77 Nähmaschinen und 157 Personen<br />

waren beschäftigt, ein Jahr später<br />

arbeiteten 1500 Personen an 800<br />

Nähmaschinen. In der Glaser-Fabrik<br />

war die so genannte „kleine Schule“<br />

untergebracht, in der die Kinder<br />

während der Arbeitspausen ein wenig<br />

21


22<br />

lernen und spielen konnten. Dort<br />

entstand sogar ein Kindertheater, von<br />

dem diejenigen, die den Krieg überlebten,<br />

erzählten. Es gab außerdem einen<br />

Chor und es wurde K<strong>uns</strong>tunterricht<br />

erteilt.<br />

Bis heute ist unbekannt, wer der Autor<br />

des Märchens vom Prinzen war und<br />

wer die hervorragenden Zeichnungen<br />

angefertigt hat. Der Verfasser dieses<br />

Werkes versuchte vielleicht, mit dem<br />

Märchen und den Zeichnungen ein<br />

wenig Licht in das Dunkel des Gettos<br />

zu bringen. Das Märchen scheint eine<br />

einfache Kindererzählung zu sein von<br />

Gnomen, die Mädchen bei der Arbeit<br />

stören und von einem Prinzen, der sie<br />

rettet. Aber man kann der Geschichte<br />

viel über das Schicksal der Gettobewohner<br />

entnehmen.<br />

Das Album enthält 17 technisch<br />

ausgezeichnete Zeichnungen. Ohne<br />

Zweifel stammen sie nicht von einem<br />

Amateur sondern von einem der<br />

Künstler im Getto. Den Prinzen verkörperte<br />

Leon Glaser, und der Engel<br />

war Maryla Diamant, die Leiterin der<br />

Schule. Ihre Gesichter wurden aus Fotos<br />

geschnitten. und eingeklebt. (Die<br />

Collage war eine beliebte K<strong>uns</strong>ttechnik<br />

im Getto.)<br />

Der Text ist in einem sehr guten<br />

Polnisch geschrieben. Wahrscheinlich<br />

wurde er von verschiedenen Personen,<br />

machen Späße und Streiche.<br />

Sie amüsieren sich böswillig und<br />

verderben ihr ständig das Spiel.<br />

Heia, plötzlich verschwanden alle<br />

Hürden,<br />

das Eis ist gebrochen,<br />

die Gnome stören nicht mehr,<br />

und die Kinder haben Freude daran.<br />

Geh weg, Trauer, geh weg, verschwinde!<br />

Freude zu <strong>uns</strong>.<br />

Heia, heia, heia,<br />

bald vergeht der Kummer.<br />

Und schon freuen sich alle wieder:<br />

In einem großen und hellen Zimmer<br />

vergisst das Mädchen Arbeit und „Trotzige Gnome...”<br />

Mühe,<br />

wenn sie mit einem selbst hergestellten Schnittmuster,<br />

das von der Wand weg springt,<br />

vor Freude und mit Lust das Tanzbein schwingt.<br />

Und sie nahmen sich an der Hand,<br />

Trauer und Sorge zusammen.<br />

Um die Glaser-Schule mussten sie einen Bogen machen,<br />

aber die Prinzessin Freude und der Prinz Glück<br />

verweilten lange in dieser berühmten Schule.<br />

Man springt vor goldener Freude herum,<br />

man macht sich zusammen mit der Prinzessin Lust an die Arbeit,<br />

und der Bengel Streich kippt ihre Hocker um<br />

während der Arbeit, und danach wälzt er sich herum.<br />

Die Tage vergehen wie im Märchen, die Tage vergehen bunt wie ein<br />

Regenbogen,<br />

jeder Tag bringt eine bunte Freude mit.<br />

Auf den Feldern liegt noch weißer Schnee,<br />

aber Schneiderinnen gibt es immer mehr,<br />

Die Pforten des Hauses sind weit geöffnet,


und ein neuer Mädchenschwarm tritt<br />

durch sie hinein!<br />

Als sich die Tore öffneten, riefen sie:<br />

„Wir treten jetzt hinein!“<br />

Ihre Gesichter leuchten rundherum:<br />

Heia, hurra, lebe hoch!!!<br />

Sie strömen herein,<br />

schon füllt sich der Raum, er füllt sich<br />

immer mehr,<br />

schon sind die Flure voll,<br />

und überall immer neue Gesichter.<br />

Oh, wie eng, ich kann nicht mehr!<br />

Durch den Schornstein, strecke ich<br />

mein Bein aus,<br />

„I wzięli się pod rękę Smutek razem<br />

z Troską...”<br />

durch einen Schlitz in der Wand meine Hand.<br />

Oh, mein Liebling, ich kann nicht mehr,<br />

wir liegen hier wie Heringe im Fass.<br />

Mein Kopf in einer fremden Mappe.<br />

Oh, helft mir, ich kann nicht mehr!!!<br />

„Schaut?! ... da drüben! ... Sie zeigen den Weg!“<br />

Es dämmert ... hinter dem Berg strahlt die Sonne,<br />

hinter den Büschen kommen Schatten empor<br />

und verschwinden langsam.<br />

Die Sonne beleuchtet den Gipfel mit goldenen Strahlen, und gleich überragen<br />

Vergissmeinnichtköpfchen das Gras<br />

und umgeben das Schloss sagenhaft:<br />

langsam gehen seine Pforten auf<br />

hauptsächlich Kindern, abgeschrieben,<br />

wovon die Handschrift zeugt.<br />

Es ist möglich, dass das Märchen nach<br />

der Deportation von Tausenden von<br />

Kindern im Alter bis zu 10 Jahren aus<br />

dem Getto entstand. In den Augen der<br />

Nazis und auch Rumkowskis waren<br />

arbeitsunfähige Menschen, z. B. Kinder<br />

und Menschen über 65 Jahre, und auch<br />

Kranke „nutzlos“. Die meisten Kinder<br />

wurden Anfang September 1942 unter<br />

dramatischen Umständen „ausgesiedelt“.<br />

Diese Deportationen werden als<br />

„Große Sperre“ bezeichnet. Niemand<br />

durfte für einige Tage seine Wohnung<br />

verlassen, die Arbeitsressorts waren<br />

geschlossen Nur die Kinder und die<br />

alten Angehörigen der Gettobeamten<br />

und der Rabbiner wurden von diesen<br />

Deportationen auf Geheiß des Judenältesten<br />

verschont. Kinder, die überlebten,<br />

arbeiteten in den Ressorts oder<br />

wurden von ihren Familien versteckt.<br />

Die kleinen Kinder verschwanden<br />

ganz aus dem Getto. Den tragischen<br />

Zusammenhang zwischen der Zeichnung<br />

aus dem Märchen und einem der<br />

23<br />

Heia, heia, hu, hu, hip, hip, holla,<br />

schnaufen Kinderchen wie kleine Federbälge,<br />

mit ihnen wachen aus winterlichen Träumen Felder auf.<br />

Wie viel Glück, wie viel Freude:<br />

Alles lebt wieder auf, in der Luft ist Frühling zu spüren,<br />

zum Himmel erhebt sich frohes Schreien.<br />

Singende Kinder im blühenden Mai gehen ins Schloss – ins Paradies<br />

hinein,<br />

das Glück begleitet sie stets.


24<br />

Archivfotos entdeckte die kanadische<br />

Forscherin Irene Kohn. Das Album<br />

mit dem „Märchen vom Prinzen“ fand<br />

Abram Jasni in den Ruinen des Gettos.<br />

Nach seinem Tod wurde es 1971 von<br />

seiner Frau der Gedenkstätte Yad Vashem<br />

überreicht. Das 1997 erschienene<br />

Handbuch für Lehrer, das im Auftrag<br />

der „International School for Holocaust<br />

Studies“ in Yad Vashem von Carmit<br />

Sagie und Naomie Morgenstern bearbeitet<br />

wurde, hilft die Geschichte des<br />

Gettos den Schülern zu vermitteln.<br />

Über<br />

„die kleine Schule”<br />

Die kleine Schule, die im „Märchen<br />

vom Prinzen“ erwähnt wird,<br />

beschreibt Ruth Eldar im 2004 herausgegebenen<br />

Buch „Die Pfeiler des<br />

Tempels ins Wanken bringen“.<br />

Die „kleine Schule“ gehörte zum Ressort<br />

„Wäsche- und Kleiderabteilung“ und<br />

befand sich an der Żydowska 19. Nach<br />

der Auflösung des Gymnasiums 1941<br />

kümmerte sich Chaim Rumkowski um<br />

Jugendliche und bot ihnen eine Möglichkeit,<br />

einen Beruf zu erlernen. Für<br />

viele bedeutete es das Recht auf Brot<br />

Von weitem hört man Flehen,<br />

aber mit ihnen schreitet Freude.<br />

Dort drüben verdeckt noch die Trauer die Augen<br />

jener weinenden Kinder,<br />

die so viele Hürden auf ihrem Weg haben<br />

Sie richten ihre Augen empor<br />

auf die unerreichbare Mauer, da entlang, wo der Graben verläuft<br />

und jenseits die goldene Bruderschaft singt,<br />

wo sich die Mauern mit Freude und Wonne füllen.<br />

Dort dröhnt vom Abend bis zum<br />

Morgenanbruch<br />

ihr Flehen,<br />

sie steigen einen schmalen Steg<br />

hinauf,<br />

düstere Wälder ringsum, Büsche strecken<br />

ihre dornigen Stachel aus,<br />

Abgründig gähnen die Höhlen, in<br />

denen<br />

listig giftige Schlangen lauern,<br />

glatt und klebrig.<br />

Diverse Reptilien kriechen vor die Füße,<br />

Monster, Kellerasseln, kleben an den<br />

Beinen.<br />

Doch der Forst liegt bereits zurück.<br />

Am Scheideweg atmen sie auf,<br />

„Och! jak ciasno! już nie mogę!<br />

Przez komin wytknęłam nogę!...”<br />

aber ... täuschend ist der glückliche Augenblick,<br />

da ein riesiger Drachen aus der Erde hervorblickt,<br />

ein verbissener Kampf wieder beginnt.<br />

Wie kann man solch einen Bösewicht besiegen?<br />

Schon beginnt erneut die Schlacht und neue Sorgen und neue Qual.<br />

Manche ziehen sich zurück, mühevoll besiegt,<br />

andere gingen furchtlos voran,<br />

da der starke Wille siegen muss!<br />

Sie werden alles überwinden und sich nicht verlocken lassen,<br />

sie fürchten sich weder vor der Hexe, noch vor der Katze, noch vor der Eule;<br />

sich fürchten sich nicht vor dem Drachen, obwohl er drei Köpfe hat.<br />

Und plötzlich schreien sie lauthals im Chor,


weil sie vor einer mächtigen Mauer stehen.<br />

Die Mauer ist hoch, dick und nicht zu bezwingen, und vorne klafft ein<br />

Festungsgraben mit fließendem Wasser.<br />

Doch was ist das?! ... Der Prinz kommt aus seinem Versteck heraus,<br />

wunderschön gewandet, hübsch und jung.<br />

Die Kinder öffnen staunend die Augen,<br />

weil der Prinz so schön, weil der Prinz so zauberhaft ist.<br />

Er wirft eine große Zugbrücke über den Graben,<br />

reicht ihnen seine Rechte:<br />

Fröhlich blicken seine Augen, strahlt er vor Glück, leuchtet sein Gesicht.<br />

Der Morgen war zauberhaft,<br />

leichter Wind wiegte die Baumkronen,<br />

ein milder Hauch kühlte die Kindergesichter.<br />

Das Gras voller Tau heilte verwundete und schwache nackte Füße.<br />

Sie werden in eine geräumige Kammer hineingeführt,<br />

dort offenbart sich ihnen ein fremde Kleider tragender Engel.<br />

Sein Blick löscht Sorgen aus Kindergesichtern, alle sind wie verzaubert:<br />

Gottes Zauber ist das. Der Engel hat eine Waage und einen goldenen Pfeil,<br />

trennt große und kleine Mädchen voneinander:<br />

Auf diese Weise beginnen für zwei neue Gruppen Berufskurse.<br />

und Suppe. „In dieser Schule lernten<br />

wir Schnitt- und Näharbeiten. Nach<br />

dem abgeschlossenen Kurs nähten wir<br />

schon – wie die Erwachsenen – Kleider<br />

für Mädchen. Ich erinnere mich, als ob<br />

es heute wäre, an die Haufen von kleinen<br />

Kleidern aus einem rot-schwarz<br />

kleinkarierten Stoff mit einem weißen<br />

Kragen fertig zum Bügeln. (…)<br />

Das rhythmische Rattern der Nähmaschinen,<br />

Dünste der Kleider beim<br />

Bügeln, ausgehängte Leinen und Angst<br />

davor, die Produktion nicht fertig zu<br />

schaffen, kreisten über <strong>uns</strong>eren Köpfen<br />

wie die Geister.<br />

25<br />

Fotografie von Mendel Grosman von der<br />

Deportation der Kinder aus dem Getto<br />

1942<br />

„Jedne się cofnęły, trudem zwyciężone, a<br />

drugie szły naprzód wciąż nieustraszone”<br />

Aber trotz Not, Hunger und Kälte<br />

gelang es den Deutschen nicht, <strong>uns</strong><br />

alles zu entreißen. Sie konnten <strong>uns</strong> eine<br />

Scheibe Brot, eine Suppe wegnehmen,<br />

aber es war ihnen nicht möglich <strong>uns</strong>ere<br />

Träume und kindlichen Fantasien<br />

an sich zu raffen. Am besten erinnere<br />

ich mich an <strong>uns</strong>ere Theatergruppe,<br />

an der ich mich lebhaft beteiligte. (…).<br />

Wir hatten <strong>uns</strong>ere Lehrer, eine eigene<br />

Zeitschrift. Wir fertigten Illustrationen<br />

an, malten Wandplakate und spielten<br />

Theater. Für <strong>uns</strong> trugen die Herren<br />

Moszkowicz aus Wieluń, Grabowiecki<br />

aus Vilnius, Szamaj Rosenbaum<br />

und Markowicz aus Łódź vor. Den<br />

Chor leitete Herr Sander. Sie waren<br />

Professoren an privaten Vorkriegsschulen.<br />

Jeder von ihnen konnte<br />

gut vortragen. Jeder förderte seinen<br />

Lieblings-National dichter. Jeder las<br />

<strong>uns</strong> mit seinem spezifischen jüdischen


Akzent vor. Die Tatsache vom sterbenden<br />

jüdischen Volk, gemeinsame<br />

tragische Erlebnisse schmiedeten <strong>uns</strong><br />

zusammen. Ich muss zugeben, dass<br />

auf Jiddisch alles sehr wahrhaft klang…<br />

Mit großer Hingabe brachten sie <strong>uns</strong><br />

die jiddische Literatur bei, indem sie<br />

<strong>uns</strong> in die Welt von Szolem Alejchem,<br />

Jizchak Leib Perec, Mendele Mojcher,<br />

Sforim Chaim Nachman Bialik oder<br />

Jizchak Katzenelson versetzten.<br />

Ruth Eldae (Berlińska) Die Pfeiler des<br />

Tempels ins Wanken bringen. Lodz 2004<br />

Das kulturelle Leben im Getto Litzmannstadt<br />

GAls das Getto entstand, waren dort viele Künstler:<br />

Maler, Musiker, Sänger, Schriftsteller, Journalisten und<br />

Schauspieler. Sie waren es, die eine Insel des freien und<br />

unabhängigen Lebens im Getto schufen. Es wurden offizielle<br />

Theatervorstellungen, Revuen und Aufführungen organisiert,<br />

sogar Puppentheater für Kinder. Der Saal des Kulturhauses<br />

in der Krawiecka platzte aus allen Nähten vor Menschen, die<br />

begierig auf Kultur waren. Das traf besonders zu, als Juden aus<br />

26<br />

Das Kulturhaus<br />

In einem kleinen Gebäude in der<br />

Krawiecka 3 spielte sich das kulturelle<br />

Leben im Getto ab. Dort fanden<br />

Konzerte, Theateraufführungen und<br />

Ausstellungen statt.<br />

Vor dem Krieg hatte es dort ein Kino<br />

gegeben. Der Saal verfügte über 400<br />

Plätze und über eine Bühne, auf der<br />

sowohl ein Orchester als auch eine<br />

Theatergruppe auftreten konnten.<br />

Das Kulturhaus wurde offiziell am 1.<br />

März 1941 eröffnet, obwohl schon<br />

vorher Aufführungen und Konzerte<br />

stattgefunden hatten. Aber seit diesem<br />

Tag fanden regelmäßig Auftritte statt.<br />

Einladungen erhielten die Arbeiter<br />

verschiedener Ressorts, vor allem<br />

Angehörige der jüdischen Verwaltung<br />

des Gettos. Gerne hörten sie sowohl<br />

Konzerte ernster Musik, als auch die<br />

leichte Unterhaltung der meist jiddischen<br />

Revuen. Allein im ersten Jahr<br />

fanden 85 Aufführungen von Revuen<br />

statt. Zur Besetzung gehörten herausragende<br />

Vorkriegskünstler, u.a. Mosze<br />

Puławer, bekannt aus dem Theater<br />

Ararat, die Tänzerin Halina Krukowska,<br />

das Orchester dirigierte Dawid Bajgelman,<br />

ein hervorragender Komponist,<br />

und die Dekorationen stammten<br />

von Pinchas Schwarz. Es wurde über<br />

K<strong>uns</strong>t diskutiert, Gedichte wurden<br />

rezitiert, Bilder ausgestellt. Hochkarätige<br />

Musiker gaben Konzerte, u.a. die<br />

Violinistin Bronisława Rotsztatówna,<br />

vor und nach dem Krieg Mitglied der<br />

Łódźer Philharmonie.<br />

In den ersten Reihen des Kulturhauses nahmen die Repräsentanten der Macht im<br />

Getto Platz<br />

dem Westen ins Getto deportiert worden waren. Unter ihnen<br />

befanden sich viele bekannte Musiker.<br />

Für die Künstler bedeutete eine offizielle Anstellung in ihrem<br />

Beruf die Chance, eine zusätzliche Zuteilung an Lebensmitteln,<br />

Marken u.a.m. zu bekommen. Darum bemühten sich die Maler<br />

um die Möglichkeit, Rumkowski zu porträtieren. Andere Künstler<br />

versuchten die Erlaubnis zu erhalten, Kulturveranstaltungen<br />

zu organisieren oder Arbeit in einer offiziellen Institution zu finden.<br />

Es gab dabei jedoch viele einschränkende Bedingungen.<br />

Rumkowski vertrug keine Kritik, reagierte empfindlich auf alle<br />

Anspielungen und Anzüglichkeiten und erwartete, dass die<br />

Künstler seine Erwartungen erfüllten. Im Getto entstanden<br />

daher zum einen Werke von Hofdichtern, voll Bewunderung<br />

und Unterwürfigkeit gegenüber dem Judenältesten und<br />

seinem Umfeld. Es gab aber auch inoffizielle, oft im Verborgenen<br />

und geheim geäußerte kritische Stimmen. Im September<br />

1942, nach den großen Deportationen, verlagerten sich die<br />

offiziellen Kulturveranstaltungen in die Arbeitsressorts, aber<br />

sie verschwanden nie ganz aus den Getto.<br />

„Die Lodzer Gettochronik“, die alle Ereignisse im Getto registrierte,<br />

vermerkt unter dem Datum vom 9. Juni 1943 das<br />

Folgende zum kulturellen Leben:


Der künftige Leser wird vielleicht mit einigem Kopfschütteln in<br />

diesen Blättern allzu oft Meldungen über verschiedene Aufführungen,<br />

gesellschaftliche Veranstaltungen finden, und er wird sich wohl<br />

sagen müssen, dass die Lage der Gettobevölkerung wohl nicht so<br />

tragisch gewesen sein kann, wenn das gesellschaftliche Leben so<br />

reichhaltig und lebhaft war. Es gibt natürlich viele Menschen im<br />

Getto, die schon jetzt ablehnen, diesen Zauber mitzumachen; sie<br />

stehen auf dem Standpunkt, dass die Lage im Getto keine solche<br />

Verflachung des gesellschaftlichen Lebens erlaube. Einmal wieder in<br />

einem Theatersaal zu sitzen abseits von der trockenen Atmosphäre,<br />

einmal wieder in der Pause im Foyer des Kulturhauses zu plauschen,<br />

zu flirten, ein neues Kleid zu zeigen, gut frisiert zu sein, ist nun einmal<br />

ein nicht zu unterdrückendes Bedürfnis von Menschen. So will auch<br />

der Chronist diese Vorgänge mit Nachsicht verzeichnen und dem<br />

künftigen Leser sagen, dass das Leid im Getto deswegen nicht geringer<br />

war, weil es auch einige frohe Stunden gegeben hat.<br />

Zum einen gab es offizielle Konzerte und Geburtstagsfeiern,<br />

an denen Rumkowski und andere jüdische Repräsentanten<br />

der Macht im Getto teilnahmen. Zum anderen gab es auch<br />

einige kleine private Treffen im Freundeskreis, von denen nur<br />

wenige wussten. In Privatwohnungen wurden geheime Autorentreffen<br />

organisiert, es wurden gemeinsam Gedichte gelesen,<br />

über Literatur diskutiert und Kammerkonzerte gegeben.<br />

Für die auf einem so kleinen Raum wie dem Getto eingepferchten,<br />

von Hunger und Terror gequälten Menschen, die<br />

sich nicht sicher waren, ob es für sie ein Morgen geben würde,<br />

waren diese Aktivitäten etwas Besonderes. Sie boten ihnen die<br />

Möglichkeit, sich von der sie umgebenden Wirklichkeit abzulenken,<br />

sie waren ein Moment der Freude beziehungsweise<br />

der Aufrechterhaltung des Lebens- und Überlebenswillens für<br />

die Bewohner des Gettos.<br />

Laut der „Lodzer Gettochronik”<br />

verfolgten allein im ersten Jahr etwa<br />

70.000 Zuschauer die Veranstaltungen.<br />

1941 organisierte man auch<br />

speziell für Kinder Veranstaltungen.<br />

Eine wurde von der Schulabteilung<br />

an Purim, einem der Feiertage, veranstaltet,<br />

eine andere mit dem Titel:<br />

„Sommerfest” von der Verwaltung<br />

von Marysin. Nach der Ankunft der<br />

Transporte aus Westeuropa im Getto<br />

wurden die Konzerte in der Krawiecka<br />

zu einem wirklichen Festtag für<br />

K<strong>uns</strong>tliebhaber, denn es traten dort<br />

weltbekannte Musikvirtuosen auf.<br />

Die Konzert- und Theaterabende<br />

boten zudem dem Judenältesten<br />

Rumkowski die Möglichkeit, eine<br />

Rede zu halten.<br />

Ab Herbst 1942 bemühte man sich<br />

weiter, den Status des Arbeitsgettos<br />

aufrecht zu erhalten: alle Kinder und<br />

alten Leute waren ja deportiert und<br />

das Getto sollte wegen seiner Arbeitsleistungen<br />

noch möglichst lange<br />

existieren. Das Kulturhaus war nun<br />

seltener der Ort großer künstlerischer<br />

Ereignisse. Das Kulturleben, soweit es<br />

noch vorhanden war, verlagerte sich in<br />

die Arbeitsressorts. Im Sommer 1943<br />

wurde das Gebäude des Kulturhauses<br />

in das Ressort für Federbetten und<br />

Decken umgestaltet.<br />

27


28<br />

Von Zeit zu Zeit nahm Rumkowski<br />

dort noch Trauungen vor. Wenigstens<br />

sporadisch konnte man dort noch<br />

Musik hören.<br />

„Gemäß der Verfügung des Präses<br />

fertigt das Kulturhaus gerade eine Liste<br />

aller Musiker und Maler an, die in der<br />

letzten Zeit im Getto eingetroffen sind.<br />

Bis heute sind ca. 60 Musiker, Sänger,<br />

Theaterschauspieler sowie 10 Maler<br />

registriert worden. Unter den Letzteren<br />

sei besonders der bekannte Porträtist<br />

Gutman aus Prag genannt. Mit seinem<br />

originellen Äußeren, das wahrhaftig die<br />

Künstlergestalten vom Montparnasse<br />

in Erinnerung ruft, gewann er bereits<br />

im Ghetto eine ungeheuere Popularität“<br />

Die Chronik des Ghettos Lodz,<br />

6. Dezember 1941<br />

Jankiel Herszkowicz<br />

(1910-1972)<br />

Vor dem Krieg war er Schneider. Im<br />

Getto eine der bekanntesten Gestalten,<br />

der beliebteste Gettosänger. Er verfasste<br />

einfache satirische jiddische Lieder,<br />

die er auf den Straßen des Gettos sang.<br />

Sie erzählten von Armut, Hunger<br />

Der Troubadour des Getto<br />

Im Getto gab es eine Künstlergruppe, die sehr bekannt und<br />

beliebt war. Sie bestand aus Straßensängern, die ihre Lieder<br />

bei zufälligen öffentlichen Ansammlungen von Passanten<br />

vortrugen. Zwar unterlagen sie nicht der Zensur Rumkowskis,<br />

konnten aber wegen des Inhalts eines Stückes in Konflikt mit<br />

der Gettopolizei geraten. Diese Straßenlieder, die verschiedene<br />

Aspekte des Lebens im Getto thematisierten, waren oft<br />

improvisiert, existierten in der Regel nicht in schriftlicher Form.<br />

Überlebende des Gettos haben sie später aus dem Gedächtnis<br />

zitiert. Der populärste Straßensänger und Kommentator der<br />

Gettowirklichkeit war Jankele Herszkowicz. Dank der Tatsache,<br />

dass er überlebte, sind seine außergewöhnlich treffenden Lieder<br />

heutzutage weitgehend aus erster Hand in ihrer ursprünglichen<br />

Form bekannt.<br />

Andere „Poeten der Straße“, von denen einzelne Werke erhalten<br />

sind, waren Dawid Zisman, Abram Majzel, Mendel Mołczacki<br />

und der wahrscheinlich jüngste der ganzen Gruppe, der 1925<br />

geborene Hirsz Albus.<br />

„Getto, Gettochen, geliebtes Gettolein<br />

Du bist so winzig und so mies“<br />

Teil des Liedes „Geto Getuniu“ von Jankele Herszkowicz<br />

»Es gajt a jeke mit a teke« lautet der Refrain des neuesten, nach<br />

der Melodie des bekannten Soldatenliedes »Das Maschinenge-<br />

Jankiel Herszkowicz und Karl Rosenzweig, Seite aus dem Album der Brot- und Kolonialwarenabteilung, im Hintergrund handschriftlich<br />

das Lied ‚Rumkowski Chaim’. Collage aus Fotografien Mendel Grossmans.


wehr« gesungenen Gettoschlagers. Er parodiert die Abenteuer der<br />

hier kürzlich angekommenen »Deutschen«, die man in jiddischer<br />

Mundart »Jeken« nennt. In lustiger Manier wird Glück und Unglück<br />

dieser immer hungrigen und stets Essen suchenden Menschen geschildert,<br />

die von den »Einheimischen« sogar ein wenig aufs Korn<br />

genommen und oft wegen ihrer Naivität und Unkenntnis der lokalen<br />

Verhältnisse ausgenutzt werden. Es ist auch von den Frauen<br />

die Rede, die mit Hosen bekleidet in den Baluter Gassen herum stolzieren.<br />

Autor und Interpret des Liedes ist der im Getto sehr beliebte<br />

»Straßentroubadour« Herszkowicz, ehemals gelernter Schneider.<br />

Letztes Jahr komponierte er ein durchaus aktuelles und populäres<br />

Lied »Rumkowski Chaim«, mit dessen Darbietung er monatelang<br />

Geld verdiente, wobei er einmal vom Präses höchstpersönlich mit<br />

5 Mark beschenkt wurde, als der Gettovorsteher sich zufällig unter<br />

den Zuhörern befand. Ein anderes Mal erhielt der »Gettotroubadour«<br />

vom Präses ebenfalls höchstpersönlich eine Packung Matze,<br />

als er sein Lied vor Beginn der Feiertage vor einem Laden vortrug,<br />

der gerade zu diesem Zeitpunkt vom Judenältesten visitiert wurde.<br />

Zur Zeit hat sich dem Sänger ein ehemaliger Handlungsreisender,<br />

der Wiener Karol Rozenzwaig zugesellt, der Herszkowicz auf der<br />

Gitarre oder auf der Zither begleitet. Dieses – wie sonst alles andere<br />

im Getto – recht seltsame Duo: ein Baluter Schneider und ein Wiener<br />

Geschäftsreisender, erfreut sich bei den Zuhörern enormer Beliebtheit.<br />

Dabei macht das Paar kein schlechtes Geschäft. und nicht<br />

selten hat es nach einem ganzen Tag ehrlicher Arbeit bis zu 6 Mk.<br />

untereinander zu teilen. In den letzten Tagen präsentiert das Duo<br />

einen neuen Schlager nach der Melodie der Wiener Fiakerkutscher<br />

(komponiert nota bene von einem Juden namens Pik).. Ähnlich wie<br />

das früher speist sich auch dieses Lied aus den unzähligen Kalauern,<br />

die über die »Jeken« hier zirkulieren. Zu Ehren des Präses hat<br />

der Gettosänger seinerzeit einen ebenfalls sehr populären »Schlager«<br />

mit dem Titel »Leben sol prezes Chaim« komponiert“.<br />

Die Chronik des Gettos Lodz, 5. Dezember 1941<br />

Der Getto-Troubadour Herszkowicz<br />

Der Getto-Troubadour Herszkowicz komponierte vor kurzem zwei<br />

aktuelle Lieder. Das erste ist den unvergesslichen Taten Hercbergs<br />

gewidmet, die ein so trauriges Kapitel der Gettogeschichte<br />

darstellen, das zweite hingegen der letzten Küchenorganisation.<br />

Herszkowicz, der seinen ehemaligen Partner verloren hat, einen<br />

Wiener Handlungsreisenden, der seinen Gesang auf der Zither<br />

begleitete, hat seit kurzem keine Zeit mehr vor dem Strassenpöbel<br />

aufzutreten. Er bekleidet nämlich den Posten eines Hausmeisters.<br />

Mit seinen Liedern erheitert er nur noch diejenigen, die zufällig an<br />

verschiedenen Arbeitsstätten während der Pausen zuhören.<br />

Bernard Ostrowski „Die Chronik des Gettos Lodz“, 9 Juni 1942<br />

und Kälte, aber gleichzeitig gab er den<br />

Gettobewohnern Hoffnung und ein<br />

bisschen Freude.<br />

Herszkowicz wurde 1910 in Opatów<br />

geboren. Seine Familie kam kurz vor<br />

dem Krieg nach Łódź. Er lebte mit<br />

seinen Eltern und Geschwistern im<br />

Getto. Erst wohnte er in der ul. Rybna 6<br />

und 13, dann in der ul. Starosikawska 1<br />

und schließlich in der Barek Joselewicz<br />

20. Die Eltern und der jüngste Bruder<br />

wurden 1942 nach Kulmhof am Ner<br />

(Chełmno nad Nerem) deportiert<br />

und dort ermordet. Er selbst erhielt<br />

erst Arbeit in einem Geschäft, dann in<br />

einer Bäckerei und schließlich in einer<br />

Druckerei. In seiner Freizeit verfasste er<br />

Lieder und sang auf den Straßen. Seine<br />

Lieder kannte und summte das ganze<br />

Getto. Manche Zuhörer ergänzten sie<br />

um eigene Strophen.<br />

Jankiel Herszkowicz kommentierte<br />

die Situation im Getto witzig, machte<br />

Scherze und kritisierte die hohen Gettobeamten,<br />

auch den Ältesten der Juden,<br />

Chaim Mordechai Rumkowski. Deshalb<br />

ließ der Vorsitzende den Troubadour in<br />

den Arrest werfen. In der Gettochronik<br />

wird aber auch berichtet, dass Rumkowski<br />

ihn sogar wegen seines Talents<br />

zweimal beschenkte. Herszkowicz war<br />

auch der Verfasser des Schlagers ‚Leben<br />

zol prezes Chaim’ (Hoch)Leben soll der<br />

Vorsitzende Chaim.<br />

Ab Ende 1941 trat der Sänger zusammen<br />

mit Karl Rosenzweig auf, der ihn<br />

auf der Gitarre oder Zither begleitete.<br />

1944 wurde er nach Aschwitz-Birkenau<br />

deportiert, danach gelangte er in<br />

weitere Lager. Das Kriegsende erlebte<br />

er in Bra<strong>uns</strong>chweig. 1945 kehrte er<br />

29


30<br />

nach Łódź zurück, wo er seinen älteren<br />

Bruder Majer wiedertraf, der den Krieg<br />

in der UdSSR überlebt hatte, aber leider<br />

schon 1946 starb. Jankiel Herszkowicz<br />

beteiligte sich am jüdischen Leben<br />

nach dem Krieg. Anfang der fünfziger<br />

Jahre heirate er die Polin Bogomiła<br />

Niewiadomska, mit der er zwei Söhne<br />

hatte. 1966 wurden Herszkowiczs<br />

Lieder im Rahmen des Programmzyklus’<br />

‚Za nią było łatwiej przeżyć’ (Mit<br />

ihm war es leichter zu <strong>überleben</strong>) vom<br />

Polnischen Radio Łódź aufgenommen.<br />

Dank dieser Aufnahmen blieb die<br />

Stimme des Gettotroubadours auf<br />

Band erhalten. Seine Geschichte wurde<br />

zur Vorlage für den Film ‚Król i błazen’<br />

(Der König und sein Hofnarr), in dem<br />

der Sänger Rumkowski gegenübergestellt<br />

wird. Herszkowicz kam mit der<br />

polnischen Nachkriegsrealität und<br />

dem Antisemitismus nicht zurecht<br />

und beging 1972 Selbstmord. Seine<br />

Lieder jedoch leben bis heute weiter.<br />

1994 erschien in Paris im Verlag seines<br />

Freundes Josef Wajsblat das Buch<br />

‚Jankl Herszkowicz. Der gezang fun<br />

lodzer geto’ (Jankiel Herszkowicz. Die<br />

Ballade vom Łódźer Ghetto). Gila Flam<br />

beschreibt Herszkowicz in ihrem Buch<br />

‚Singing for Survival’ (University of<br />

Illinois Press, 1992).<br />

Plattenaufnahmen mit seinen Liedern,<br />

gesungen von den nächsten Generationen.<br />

sind in Kanada, Italien und<br />

Frankreich erschienen,<br />

Dawid Bajgelman<br />

(1888-1944)<br />

Geboren in Ostrowiec Świętokrzyski,<br />

Violinvirtuose, Theaterkritiker,<br />

Mitglied der Lodzer Philharmonie.<br />

Bajgelman ist in einer traditionellen<br />

jüdischen Familie aufgewachsen. Sehr<br />

früh zeigte er<br />

Interesse für<br />

Musik. Schon<br />

1906 wurde er<br />

erster Geiger<br />

im Jizchak-<br />

Zanberg-Theater<br />

in Łódź,<br />

später Dirigent<br />

im Theater<br />

Musik im Getto<br />

Die Musiker, sowohl professionelle als auch Amateure, waren<br />

die stärkste Künstlergruppe im Getto. Sie begannen gleich<br />

nach der Absperrung des Gettos, Konzerte und Vorführungen<br />

zu organisieren. Das erste Konzert fand am 13. Juli 1940<br />

im Saal an der Jonszera 25 statt. Das Orchester wurde von R.<br />

Piaskowski geleitet, Pianist war Teodor Ryder (vor dem Krieg<br />

leitete er das Lodzer Philharmonieorchester). Man spielte<br />

Bach, Schubert, Vivaldi. Da die Veranstaltung großes Interesse<br />

fand wurden weitere Konzerte geplant. Zwei Monate später<br />

gab es ein Konzert mit Werken von Mozart, Vivaldi, Beethoven.<br />

Am 30.Oktober 1940 fand im Kulturhaus in der Krawiecka ein<br />

Inaugurationskonzert der noch aus der Vorkriegszeit bekannten<br />

Gesangsgesellschaft „Hazomir“ statt. Alle Künstler waren<br />

festlich gekleidet, nur ein gelber Flecken in Form des Davidssterns<br />

ließ sie nicht die Realität vergessen.<br />

Mosze Pulawer schrieb nach dem Krieg über die Tätigkeit des<br />

Symphonieorchesters im Getto: „ Es bestand aus vierundvierzig<br />

ausgezeichneten Künstlern. Man benutzte Musikinstrumente,<br />

die im Kulturhaus gefunden wurden. Die Konzerte mit<br />

traditioneller jüdischer Musik wurden von David Bajgelman<br />

geleitet und das erste Konzert fand im Februar 1941 statt.<br />

Die Konzerte erfreuten sich einer großen Beliebtheit, fanden<br />

zwei Mal in der Woche statt, meist mittwochs und samstags.<br />

Die Eintrittskarten waren relativ teuer, ihr Preis schwankte<br />

zwischen 20 Pfennig und einer Mark, trotzdem war es nicht<br />

einfach sie zu bekommen.“<br />

Da das Interesse an Musikveranstaltungen immer größer<br />

wurde, beschloss die Schulabteilung, eine Musik- und Gesangsklasse<br />

zu eröffnen. Es ist nicht sicher, ob dieses Projekt<br />

zustande kam, zumal das Schulwesen im Getto nur zwei Jahre<br />

existierte.


Im Jahre 1941 spielten im Orchester ins Getto deportierte<br />

Westjuden, die zusammen mit den Lodzer Musikern auftraten.<br />

Das bestätigt eine Aufzeichnung aus der Chronik.<br />

Es ist erwähnenswert, dass das Getto durch die Ansiedlung der<br />

Neuankömmlinge eine Reihe von talentierten Interpreten - Pianisten<br />

und Sänger – gewann. Eine besondere Erwähnung verdienen<br />

die Darbietungen des Klaviervirtuosen Birkenfeld aus Wien. Auf<br />

Anordnung des Präses hat das Kulturhaus bereits Mitte November<br />

alle mit den neuen Transporten gekommenen Musiker, Bühnenschauspieler,<br />

sowie K<strong>uns</strong>tmaler registriert. Die Zahl der registrierten<br />

Künstler beläuft sich auf einige Dutzend.<br />

In der ersten Hälfte des Jahres 1942 werden in der Chronik nur<br />

einige Veranstaltungen erwähnt – in dieser Zeit begannen die<br />

Deportationen aus dem Getto nach Kulmhof am Ner. Aber im<br />

Mai und Juni fand trotzdem ein Konzert statt, das ausschließlich<br />

der Musik Beethovens gewidmet wurde. Im November<br />

dirigierte Bajgelman ein Konzert mit Variationen jüdischer<br />

volkstümlicher Motiven. Solopartien spielte Bronisława Rothstadt.<br />

Wie ein Chronist schreibt: “Das Orchester wies Lücken<br />

auf. Es fehlte der Konzertmeister, der verstorben ist, und einige<br />

Ausgesiedelte, wie z. B. Prof. Wachtl (Bratsche). Jetzt können<br />

die Musiker nur noch nebenamtlich spielen, da das Kulturhaus<br />

als selbständige Abteilung nicht mehr besteht und alle Musiker<br />

in den Ressorts bzw. Abteilungen arbeiten. “ Nach dem<br />

Konzert hielt der Judenälteste Rumkowski eine Ansprache. Er<br />

versprach weitere „von da an regelmäßige Konzertveranstaltungen“<br />

und hielt sein Wort.<br />

Die Konzerte wurden mit der Verordnung Rumkowskis vom<br />

17. Januar 1944 über die Registrierung von Musikinstrumenten<br />

beendet. „Auf Befehl der Behörden rufe ich alle Gettobewohner<br />

auf, ihre Musikinstrumente im Sekretariat in der<br />

Dworska1 abzuliefern. Die Registrierung findet vom 18. Januar<br />

bis zum 22 Februar 1944, statt. Dieser Termin ist endgültig.“<br />

Plattenspieler und Schallplatten wurden<br />

bereits am 14 Dezember 1941 konfisziert .<br />

Scala. Nach dem ersten Weltkrieg war<br />

er Komponist im Avangarde-Theater<br />

Ararat und später sein Leiter. Er<br />

wohnte an der Gdańska 31 a. Dawid<br />

Bajgelman schrieb Musik zu Texten<br />

von Mosze Broderson und zu Theateraufführungen,<br />

sowie eigene Lieder.<br />

Im Getto wohnte er an der Pieprzowa<br />

4. Er leitete das Orchester des Gettos<br />

Lodz, das im Kulturhaus seinen Sitz<br />

hatte. Am 1. März 1941 fand das erste<br />

Konzert statt. Im August 1944 wurde<br />

Bajgelman nach Auschwitz deportiert<br />

und sofort in der Gaskammer<br />

ermordet.<br />

Teodor Ryder<br />

(1881-1944)<br />

Von Beruf Dirigent, Pianist, Pädagoge.<br />

Er wurde in Piotrków geboren und begann<br />

dort seine musikalische Kariere.<br />

Viele Jahre lang studierte und arbeitete<br />

Ryder als Dirigent im Ausland, und<br />

an der Oper in Warschau. In der<br />

Zwischenkriegszeit wohnte er in Łódź<br />

und leitete in den Jahren 1927-39 das<br />

Lodzer Philharmonieorchester. Im<br />

Getto war Ryder Leiter des Symphonieorchester,<br />

er unterrichtete Gesang<br />

und Musik. Teodor Ryder starb in<br />

Birkenau.<br />

Oskar Rosenfeld kommentierte in der<br />

Chronik den Beschluss der Gettobehörden<br />

vom Januar 1944:<br />

Wir haben öfter berichtet, dass das kulturhungrige<br />

Getto in kleinem Ausmasse,<br />

in engen privaten Zirkeln, Musik<br />

betreibt. Nunmehr soll auch dieses letzte<br />

Restchen von Glück schwinden. Man<br />

31


32<br />

kann sich <strong>uns</strong>chwer vorstellen, was es<br />

für einen Berufsmusiker, Virtuosen, ja<br />

selbst für den Dilettanten bedeutet, seine<br />

geliebte Geige hergeben zu müssen,<br />

und das Getto hat einige Geigenvirtuosen<br />

von Rang. Wir erwähnen hier<br />

nur die Rotstatowna, die Prager Geiger<br />

Kraft und Weinbaum. Die wenigen<br />

Stuben, die noch ein Pianino oder einen<br />

wackeligen Flügel besitzen und so zum<br />

K<strong>uns</strong>ttempel geworden waren, werden<br />

wieder vereinsamt sein. Beethoven,<br />

Mozart, Chopin, Schumann, werden<br />

im Getto für immer verstummen. Die<br />

Strasse wird nichts merken, das harte<br />

Leben geht weiter und zu den Qualen<br />

des Hungers und des Frostes tritt noch<br />

der <strong>uns</strong>tillbare Hunger nach Musik.<br />

Miriam Ulinower<br />

(1894-1944)<br />

In Łódź lebende, auf Jiddisch schreibende<br />

Dichterin.<br />

In ihrer Wohnung im Getto in der<br />

Jakuba trafen sich Dichter und<br />

Schriftsteller.<br />

Miriam Ulinower wurde in dem<br />

Städtchen Krzepice unweit Radomsk<br />

geboren. Sie entstammte einer traditionellen<br />

jüdischen Familie. Das hinderte<br />

sie jedoch nicht daran, sich einer<br />

„sinnlosen und weltlichen“ Tätigkeit<br />

zu widmen - in orthodoxen Kreisen<br />

ist dies das Schreiben. Und damit<br />

nicht genug, Ulinower versammelte<br />

schon damals junge Leute mit künstlerischen<br />

Ambitionen um sich. Die<br />

Treffen fanden nicht im Café statt, wie<br />

es in Künstlerkreisen die Regel war,<br />

sondern in ihrer privaten Wohnung in<br />

der Narutowicza. Die erste und einzige<br />

nach ihrem Tod herausgegebene<br />

Gedichtsammlung „Der bobes ojcer“<br />

ist ein in Form und Auffassung sehr<br />

traditionell gehaltener Gedichtband.<br />

Die Dichterin stellt in ihm jüdische<br />

und volkstümliche Motive vor, die in<br />

den durch die Großmutter im fernen<br />

Schtetl übermittelten Erinnerungen<br />

und Erzählungen aufleben.<br />

Die Familie Ulinower wurde sehr früh<br />

gezwungen ins Getto zu ziehen – die<br />

schönsten Wohnungen im Zentrum<br />

Das Theater im Getto Litzmannstadt<br />

Gleich nach der Errichtung des Gettos fing man an, Theater<br />

zu spielen. Im Sommer 1940 wurde das „Theater Avantgarde“<br />

gegründet. Sein Leiter war Mosze Puławer, Schauspieler<br />

und Regisseur des aus der Vorkriegszeit bekannten literarischen<br />

Kabaretts Ararat. Das erste Theaterstück unter seiner<br />

Regie mit dem Titel „Jidn Szmidn“ bestand aus den Werken von<br />

Mosze Broderson, Icchok Perec, Icyk Manger, Mordechai Gebirtig<br />

mit der Musik von David Bajgelman, Herz Rubin, Henoch Kohn.<br />

Eine weitere Aufführung fand in der Sporthalle des Gymnasiums<br />

in der Franciszkańska 76 statt. Der Schulleiter genehmigte dort<br />

eine provisorische Bühne. Das Stück wurde enthusiastisch aufgenommen<br />

und der Saal platzte aus allen Nähten. Der nächste<br />

Auftritt fand während der „Großen Kulturveranstaltung“ am 24.<br />

Oktober 1940 im Kulturhaus an der Krawiecka 3 statt. Dies löste<br />

einen Skandal aus, weil sich der Judenälteste beleidigt fühlte.<br />

Bei den nächsten Aufführungen bemühte man sich, das Programm<br />

immer zur Rumkowskis Zufriedenheit zu gestalten.<br />

Bühnendekoration von Pinkus Szwarc für die Vorstellung des Avantgarde Theaters<br />

Das Theater Puławers stellte nur einige ausgebildete Schauspieler<br />

an, aber mit der Zeit wurde das Theater immer professioneller.<br />

Seit Beginn arbeiteten mit dem Theater Pinkus Szwarc als<br />

Bühnenbildner und David Bajgelman als Komponist sowie Tänzerinnen<br />

der Halina-Krakowska-Eljasberg-Tanzschule zusammen.<br />

Die Theateraufführungen und Revuen erfreuten sich einer<br />

großen Popularität. Sie waren immer vollständig ausverkauft.<br />

Puwałer erzählte, dass man im Kulturhaus bis Ende 1943 spielte,<br />

später wurden Veranstaltungen in verschiedene Ressorts verlegt.<br />

Zum Repertoire gehörten Sketsche und Lieder. Es gab auch<br />

einige neue Texte über das Leben im Getto, von Zeit zu Zeit<br />

wurden neue musikalische Stücke komponiert. Um die guten


Beziehungen mit den Gettobeamten nicht zu gefährden,<br />

vermied man politische Inhalte. Es wurden Stücke aus der<br />

jiddischen Literatur, Poesie und Folklore aufgeführt. In den<br />

meisten Aufführungen wurden Lieder gesungen, die die neue<br />

Situation im Getto schilderten. Sie erzählten von Hunger und<br />

Leid und vom Leben vor dem Krieg. Aber es wurden auch<br />

Liebeslieder und Wiegenlieder gesungen.<br />

Die Theaterstücke wurden auch in den Ressorts gezeigt. Sie<br />

wurden von den ressortseigenen Künstlergruppen vorbereitet.<br />

Die meisten Auftritte waren verschiedenen Jubiläen in den<br />

Ressorts gewidmet. Dazu gehörten auch die Präsentationen<br />

der vor Ort hergestellten Ware, Gesang und Tanz.<br />

Jakub Poznański kritisierte scharf diese Neigung, so oft Jubiläen<br />

zu feiern:<br />

Jede Woche feiern eine Abteilung oder ein Ressort zweijähriges<br />

oder wie die Feuerwehr und die Polizei ein dreijähriges Jubiläum<br />

ihres Bestehens. Es passiert aber auch, dass die Institutionen<br />

bereits nach einem Jahr eine Jubiläumsfeier veranstalten. Am<br />

27. Februar wird es zwei Jahre her sein, dass das Papierressort<br />

errichtet wurde, Die Leitung beschloss „dieses historische Datum<br />

zu würdigen, indem man eine Ausstellung der Produkte, ein Ressortsfest<br />

und eine Revue veranstaltet. Selbstverständlich wurde<br />

nichts rechzeitig fertig. Weder die Ausstellung noch die Revue.<br />

Wenn man eine Ausstellung unter Umständen als zweckmäßig<br />

betrachten könnte, so ist eine Revue in <strong>uns</strong>eren Verhältnissen<br />

geschmacklos. (..)Die Leitung begründet die Veranstaltung sei<br />

eine Höflichkeitsgeste gegenüber dem Präses(..). Ich stimmte<br />

damit nicht überein. Diese Gewohnheit in <strong>uns</strong>eren Bedingungen<br />

ist schlimm und verletzt die Menschenwürde. Es gibt leider fast<br />

keine Ethik im Getto.<br />

Am 21 Juni 1943 verbiet Rumowski, weitere Revuen in den<br />

Ressorts aufzuführen. Laut Anna Kuligowska-Korzeniowska war<br />

der unmitteilbare Grund dafür das von den Polizeibeamten<br />

gesungene Lied „ Zorg niszt bruder, morgen zejn besser“ (Keine<br />

Sorge Bruder,<br />

morgen wird<br />

es besser<br />

sein). Infolge<br />

der Entscheidung<br />

Rumkowskis<br />

wurde<br />

auch das<br />

Kulturhaus<br />

endgültig<br />

geschlossen.<br />

Großer Popularität<br />

erfreu-<br />

Theateraufführung im Getto<br />

wurden rasch von den Besatzern<br />

bezogen. Zu Beginn der Entstehung<br />

des Gettos ging es ihnen verhältnismäßig<br />

gut. Der Ehemann der<br />

Dichterin, Wolf (Wowcze) Ulinower,<br />

der in der zweiten Runde in den<br />

Judenrat gewählt wurde, eröffnete ein<br />

Restaurant. Dank seiner privilegierten<br />

Position konnte er sich dies in der<br />

Anfangszeit der Gettos erlauben.<br />

Nach der Schließung des Restaurants<br />

folgte eine Krise, während der die<br />

Dichterin Hunger litt und ernsthaft<br />

erkrankte. Danach begann Ulinower<br />

eine Lohnarbeit im eigenen Haus.<br />

Ulinower verarbeitete Stoffreste, die<br />

in großer Menge im Getto eintrafen<br />

(wahrscheinlich nicht brauchbare<br />

Kleiderreste von in Chełmno<br />

ermordeten Menschen). Aus jenen<br />

Stoffstücken wurden Teppiche geflochten.<br />

Rachmiel Bryks, der damals<br />

in der Färberei arbeitete, sagte, dass<br />

er selbst Rohmaterial ins Haus der<br />

Dichterin lieferte. Die Dichtertreffen<br />

fanden regelmäßig und in geheimer<br />

Atmosphäre statt. Man nimmt an,<br />

dass das Thema des Krieges bei Ulinower<br />

nur in dem vor der Schließung<br />

des Gettos geschriebenen Gedicht<br />

„Jasia“ vorkommt, ein Gedicht über<br />

ein polnisches Mädchen, das die eingerollte<br />

Thora rettete und sie auf das<br />

Gebiet des späteren geschlossenen<br />

Judenviertels brachte.<br />

Aus der Anfangszeit des Krieges<br />

stammt auch das Gedicht „Alf, bejs“.<br />

Es gibt unterschiedliche Meinungen<br />

darüber, ob Miriam Ulinower nach<br />

dem Frühjahr 1940 überhaupt noch<br />

schrieb. Einige behaupten es, da sie<br />

sich erinnern, dass die Dichterin bei<br />

den Treffen in ihrer Wohnung Gedichte<br />

vortrug. Ohne Zweifel hatten<br />

der Charakter der durch sie ins Leben<br />

gerufenen Treffen, ihre geäußerte<br />

Meinung und die Tatsache, dass sie<br />

junge Leute stark zum Schreiben motivierte,<br />

keine ebenso große Bedeutung<br />

wie ihre Werke selbst. „Wenn es<br />

für die im Getto verbliebenen Schriftsteller<br />

dort noch etwas Würdevolles<br />

gegeben hat, so war es die heimische<br />

Atmosphäre bei Miriam Ulinower“ –<br />

33


34<br />

stellte der Schriftsteller Jeszaja Spiegel<br />

nach dem Krieg fest.<br />

Im August 1944, als das Getto Lodz<br />

aufgelöst wurde, wurde die Familie<br />

Ulinower nach Auschwitz deportiert.<br />

Dies ist eines der Vorkriegsgedichte<br />

von Ulinower, das während der<br />

Dichtertreffen in ihrer Wohnung<br />

vorgetragen worden sein könnte.<br />

Butterbrot<br />

Wenn das Butterbrot mir aus der Hand<br />

fällt<br />

Der Großmutter die Augen anfangen<br />

zuzufallen,<br />

ist das ein Zeichen, meine kleine Seele,<br />

ist das ein untrügliches<br />

Zeichen<br />

Dass Dein Liebster jetzt irgendwo<br />

Hunger leidet.<br />

Jeszaja Szpigiel<br />

(1906-1990)<br />

Dichter, Übersetzer und Essayist.<br />

Einer der Wenigen, der den Holocaust<br />

überlebte.<br />

Er wurde im Bałuty geboren. Sein<br />

Vater, Moise Spiegel, hatte keine<br />

feste Anstellung, er bestritt seinen<br />

Lebensunterhalt mit verschiedenen<br />

Beschäftigungen. Die Mutter Gittl<br />

sorgte sich um das Haus und die<br />

acht Kinder. Schaje (auch Jeschajahu<br />

genannt) war der Älteste und musste<br />

der Familie helfen. Er erhielt eine orthodoxe<br />

Erziehung. Zuerst im Cheder,<br />

danach in einer Berufsschule mit religiösem<br />

Profil, die Talmud-Thoraschule<br />

beendete er nicht. Erst 1919 besuchte<br />

er eine Volksschule, in der nach dem<br />

deutschen Ausbildungsprogramm<br />

unterrichtet wurde.<br />

Damals erhielt er den Beinamen „<br />

der Schriftsteller“ und am Ende der<br />

Ausbildung eine Auszeichnung. Er<br />

interessierte sich für die polnische Literatur<br />

und für die Weltliteratur, übertrug<br />

u.a. „Kain Byron“ ins Jiddische<br />

und in dieser Sprache begann er auch<br />

selbst zu schreiben. Schon 1922 fand<br />

sich sein Debüt-Gedicht „Moische“<br />

im „Lodzer Folksblat“, dessen Inhalt<br />

ten sich auch die von Kindern und Jugendlichen vorbereitete<br />

Aufführungen. Das Theater war einer der Bildungsfaktoren.<br />

Alle diese Veranstaltungen entstanden unter der Leitung von<br />

Betreuern und Instruktoren, u.a. anlässlich des Purim- oder<br />

Chanukkafestes, zum Abschluss des Schuljahres oder eines<br />

Ferienlagers. Eine Veranstaltung am 6. September 1941erwähnt<br />

die Chronik: Am Samstag, dem 6. September, wurde von der<br />

Verwaltung des Stadtviertels Marysin eine Veranstaltung unter<br />

dem Motto »Sommerfest« im Saal des Kulturhauses organisiert.<br />

Das mehrstündige Programm wurde ausschließlich von Kindern,<br />

die in Marysin lernen oder sich erholen, dargeboten. Es bestand<br />

aus Chorgesängen, Rezitationen, Genreszenen aus dem Leben der<br />

Kinder in Marysin, Tänzen, Grotesken usw. Das Ganze fiel imposant<br />

aus. Viele Darbietungen wurden mit großem Talent ausgeführt.<br />

Während solcher Feiern war Chaim Rumkowski immer anwesend.<br />

Die Kinder bildeten nach der Ansprache einen Kreis um ihn und<br />

tanzten fröhlich, unter Hochrufen auf den Vorsitzenden, zu den<br />

Klängen der Musik im Reigen. Alle jugendlichen Darsteller wurden<br />

vom Präses mit Brot und Bonbons beschenkt.


Ab 1940 bis zur Auflösung des Gettos fanden illegale Künstlerabende<br />

statt. An solch einem nahm Lucille Eichengreen<br />

(damals Cecilie Landau) teil, die Sekretärin von Oskar Singer,<br />

Sie erinnert sich nach Jahren an diesen Abend:<br />

Und jetzt habe ich noch eine Überraschung für dich. Am Sonntagabend<br />

wird es in einer Wohnung ein Konzert geben. Ich bin<br />

eingeladen worden und möchte dich mitnehmen.<br />

„Ein Konzert im Getto?“<br />

Er nickte. »Es wird Kammermusik gespielt, und es werden zwei<br />

meiner Wiegenlieder aufgeführt. Ich habe die Texte geschrieben<br />

und ein anderer die<br />

Melodie.« Dies war für<br />

mich ein sehr aufregender<br />

Gedanke, und<br />

ich konnte es kaum<br />

abwarten.<br />

Am Sonntag holte mich<br />

Szaja um sieben Uhr<br />

ab, und wir gingen zu<br />

einem alten, heruntergekommenen<br />

Gebäude<br />

in der Marynarska.<br />

Die Zuhörer saßen auf<br />

dem Fußboden, an die<br />

Wände gelehnt. Sie<br />

unterhielten sich laut<br />

miteinander, bis sie Szaja<br />

bemerkten. Danach<br />

wurde es still im Zimmer.<br />

Offenbar kannten<br />

sie ihn und blickten ihn<br />

neugierig an. Wir suchten <strong>uns</strong> auf dem Fußboden zwei Sitzplätze<br />

und warteten. Es war ein grauer, düsterer Raum. In der Mitte standen<br />

vier Stühle, auf denen die Musiker, mit dem Stimmen ihrer<br />

Instrumente beschäftigt, Platz genommen hatten. Das Publikum<br />

saß jetzt still. Jemand kündigte das Programm an: »Wir beginnen<br />

mit zwei Wiegenliedern von Szaja Spiegel. Bitte applaudieren Sie<br />

leise, wir haben unnötigen Lärm zu vermeiden.«<br />

Eine junge Frau ging zu den Musikern, gab ihnen ein Zeichen, und<br />

sie fingen an. Mit ihrer wunderbaren Sopranstimme sang sie sanfte,<br />

wiegende Melodien zu Szajas gefühlvollen Texten. Der Applaus war<br />

gewaltig: ein stilles, eindringliches Klatschen. Danach setzten die<br />

Musiker ihr Konzert mit verschiedenen Kammermusikstücken fort.<br />

Der Klang dieser Musik versetzte mich in die Vergangenheit…“<br />

thematisch mit der Ausgabe anlässlich<br />

des Pessach-Festes übereinstimmte.<br />

Danach veröffentlichte er hauptsächlich<br />

in Lodzer und Warschauer Zeitschriften,<br />

einmal sogar in der in den Vereinigten<br />

Staaten herausgegebenen und<br />

sozialistisch ausgerichteten intellektuelloffenen<br />

Schrift „Freiheit“. Seit 1925<br />

gehörte er zum jüdischen Schriftstellerverband.<br />

Die zwanziger Jahre<br />

waren unter den jugendlichen Lodzer<br />

Literaten geprägt von gesellschaftlichen<br />

Themen und sozialistischen Idealen.<br />

Spiegel freundete sich in dieser Zeit mit<br />

Chaim König, Israel Rabon und Isaak<br />

Berliner an.<br />

1930 erschien im Lodzer Verlag Alef<br />

der erste Band seiner Gedichte „Mitn<br />

ponim cu der zun“ (Mit dem Gesicht<br />

zur Sonne). In den dreißiger Jahren war<br />

für sein Schaffen die Atmosphäre des<br />

Hauses von Jizchak Katzenelson von<br />

Bedeutung. Außer dem Lodzer hielten<br />

sich dort häufig Warschauer Gäste auf,<br />

darunter Jechiel Jesaja Trunk, Herschek<br />

Danielewicz und Israel Singer. Eine<br />

zweite sehr einflussreiche Gestalt in<br />

diesem Kreis war Moische Broderzon.<br />

Ab Ende der zwanziger Jahre lehrte<br />

Spiegel jüdische Sprache und Literatur<br />

an Lodzer Schulen.<br />

1933 erhielt er den Posten eines<br />

Buchhaltungsgehilfen in einem Unternehmen,<br />

das zahlreiche polnische und<br />

ausländische Zeitschriften vertrat. Ins<br />

Getto kam er 1940. Er arbeitete in der<br />

Statistischen Abteilung und war auch<br />

einer der Autoren der „Getto-Enzyklopädie“.<br />

Er schrieb im Getto Erzählungen<br />

und Gedichte, die u.a. dem verstorbenen<br />

Töchterchen Eva gewidmet waren<br />

(sie ist auf dem jüdischen Friedhof im<br />

Stadtteil Bałuty begraben). Die Lieder<br />

„Mach zu die eigelchen“ und „Nich kajn<br />

rozinkes nich kein mandeln“ sowie die<br />

Musik von David Baigelmann waren<br />

im Getto sehr beliebt. Rumkowski<br />

wollte ihn, als er das Wiegelied während<br />

eines Konzertes gehört hatte, aus dem<br />

Getto „aussiedeln“. Zur Rettung kam<br />

ihm Henryk Neftalin, der Leiter der<br />

Statistischen Abteilung und Spiegel<br />

blieb bis zum August 1944 im Getto.<br />

Ihm gelang es vor der Auflösung des<br />

35


36<br />

Gettos seine Werke in einem Haus an<br />

der Łagiewnicka zu verstecken (nur<br />

ein Teil davon blieb erhalten).<br />

Spiegel wurde erst nach Auschwitz,<br />

später auch in andere Lager deportiert.<br />

Nach dem Krieg kam er nach<br />

Łódź zurück und publizierte das Buch<br />

„Malches Getto“ (Königreich Getto)<br />

sowie den Gedichtband „Un geworn<br />

iz licht“ (Und es ward Licht).<br />

1951 wanderte er nach Israel aus. Er<br />

schrieb einige Bücher u.a. Erinnerungen<br />

an den Lodzer Stadtteil Bałuty mit<br />

dem Titel „Leiter zum Himmel“.<br />

Alter Sznor<br />

(1910-1944)<br />

Eigentlich Israel Ber Icinger, Journalist<br />

und Dichter. Er stammte aus Galizien.<br />

Als Waisenkind wuchs er bei seinem<br />

Großvater, einem überzeugten Chassiden,<br />

auf. Dieser religiösen Weltanschauung<br />

blieb auch Sznor, der einzige<br />

Vertreter der religiösen Dichtung<br />

im Getto, treu. Seine Erinnerungen<br />

aus der Kindheit fasste er in der im<br />

Getto entstandenen Reihe aus über 50<br />

Gedichten „Majn zejde“ „ Mein Opa“,<br />

zusammen.<br />

Er absolvierte das Lehrerseminar<br />

in Kraków und dort lernte er seine<br />

Ehefrau kennen. Sie ließen sich in<br />

Łódź nieder und arbeiteten als Lehrer<br />

in einer durch die Einrichtung Bejt<br />

Jaakow gegründeten Mädchenschule.<br />

Vor dem Krieg war er Mitverfasser der<br />

Wochenzeitschrift der orthodoxen Arbeiterpartei<br />

Agudas Israel: „Der jidszer<br />

arbeter sztime“ . Er schrieb Gedichte<br />

auf Hebräisch und sammelte Sprüche<br />

von Zaddikim. In Lodz unterrichtete<br />

er an einigen religiösen Schulen. Im<br />

Das Buch im Getto<br />

Den Juden wurde erlaubt soviel ins Getto mitzunehmen,<br />

wie sie selber tragen konnten. Da Bücher nicht als verboten<br />

erklärt wurden, nahmen die Juden ihre heiligen<br />

und weltlichen Bücher ins Getto mit. In vielen Erinnerungen<br />

wird erwähnt, dass Bücher und Unterricht zum Überleben<br />

<strong>half</strong>en.<br />

Untern vielen jüdischen Vorkriegsbibliotheken überdauerte<br />

nur die Bücherei von J.W. Zonenberg. Oskar Rosenfeld schreibt<br />

im „Kleinen Getto-Spiegel“ unter dem Datum 26 April 1944:<br />

Leihbibliotheken: Gleich nach der Errichtung des Gettos, bevor<br />

noch die aus Lodz ausgesiedelten Juden in ihrem neuen Wohngebiet<br />

heimisch waren, machte sich das Lesebedürfnis beim »Volk<br />

des Buches« geltend. Es wurde befriedigt durch die Leihbibliothek<br />

J.W. Sonnenberg/Zgierska, d. i. Hohensteinerstr. 19/, welche ohne<br />

Unterbrechung seit 1931 an dieser Stelle funktionierte. Alle anderen<br />

Leihbuchhandlungen wurden im ersten Kriegswinter 1939/40<br />

durch das Propaganda-Amt des Warthegau liquidiert. Sonnenberg<br />

hatte anfangs rund 19 Bücher in polnischer Sprache und Leser aus<br />

dem Mittelstand und Balut. Vom April 1940 an kaufte er von den<br />

Lodzen und andern Eingesiedelten Bücher in allerlei Sprachen,<br />

hauptsächlich deutscher und englischer Zunge. Anfang 1944<br />

besaß die Bibliothek bereits 7500 Bände, darunter 800 deutsche.<br />

Außer literarischen Werken kaufte Sonnenberg auch Schulbücher<br />

Enzyklopädien, Kompendien aller wissenschaftlichen Kategorien<br />

und Lehrbücher fremder Sprachen. Das Abonnement kostete 2 Mk<br />

monatlich, außerdem war eine Kaution von 5 Mk erforderlich. Seit<br />

Mai 1942 musste der deutsche Leser, der ein Abonnement erstrebte,<br />

ein deutsches Buch als Einschreibhonorar zur Verfügung stellen,<br />

sodass der deutschsprachige Teil der Bibliothek sehr rasch wuchs.<br />

Bernard Ostrowski, Mitglied des Archivteams berichtet unter<br />

dem Datum 9. Juni 1942 in der Chronik: (…) Der Hunger nach<br />

dem gedrucktem Wort ist im Getto stark zu spüren. Um festzustellen<br />

wie begierig die Menschen<br />

nach Büchern sind, reicht es,<br />

die kilometerlange Schlange,<br />

(selbst hier!) In der Leihbibliothek<br />

von Sonnenberg anzuschauen.<br />

Die Leser werden dort in einer<br />

Kooperative abgefertigt. Jeder<br />

kommt an den Tisch nennt ein<br />

paar Titel, hört ob das betreffende<br />

Buch da ist, (was übrigens<br />

gewöhnlich nicht der Fall ist) und<br />

muss sich geschwind entscheiden.<br />

Ein längeres Überlegen


Sznor war auch Redakteur der illegalen<br />

Schrift „ Min hamejcar“. Während der<br />

„Großen Sperre“ nahm die Gestapo<br />

zwei Kinder des Dichters mit. Nach<br />

der „Sperre“ waren weder weltliche<br />

noch religiöse Schulen im Betrieb. Die<br />

wenigen Kinder unter 10 Jahren, denen<br />

es in jenen Tagen gelang, sich zu retten,<br />

mussten im Versteck bleiben. Alter<br />

Sznor war aber tief davon überzeugt,<br />

dass man die mosaischen Gesetze der<br />

religiösen Bildung auch unter diesen<br />

tragischen Umständen beachten sollte.<br />

Er wurde zum Melamed (religiöser<br />

Lehrer für Kinder), der Kinder zu Hause<br />

unterrichtete, ohne ein Entgelt dafür<br />

zu bekommen. Für ältere Jugendliche<br />

gab er samstags abends Thora-Stunden<br />

in seiner eigenen Wohnung. Es gab<br />

eine Schülergruppe, mit der er bei dicht<br />

zugezogen Vorhängen gemeinsam<br />

betete und studierte. Sie hielten religiöse<br />

Gebote ein, weigerten sich sogar,<br />

Produkte der Gettoküche zu essen,<br />

bis sie unter Aufsicht des Rabbiners<br />

gestellt wurden. Trotz der Verordnung<br />

rasierten sie nicht ihre Bärte. Angeblich<br />

wickelte sich Sznor wegen seines<br />

Bartes, auch während der warmen<br />

Jahreszeit ein Tuch um das Gesicht,<br />

um Zahnschmerzen vorzutäuschen.<br />

Er war auch ein aktives Mitglied der<br />

Schriftstellergruppe, die sich um Ulinower<br />

sammelte. Es ist möglich, dass<br />

er ihr Sekretär war. 1944 wurde Alter<br />

Sznor nach Auschwitz-Birkenau<br />

deportiert und dort in der Gaskamwie<br />

früher kommt nicht in Frage. Man muss nehmen, was einem<br />

gegeben wird. Um die heutigen Zeiten zu charakterisieren sei<br />

betont, dass das Bibliothekpersonal mit dem Besitzer an der Spitze<br />

aus bekannten verständlichen Gründen in den Ressorts arbeitet;<br />

die Tätigkeit im Lesesaal dagegen ist eine mühevolle, zusätzliche<br />

Arbeit, die – zugegeben - sehr lukrativ ist. Das Monatsabonnement<br />

kostet gegenwärtig 2 Mk., außerdem wird bei der Anmeldung<br />

eine Gebühr von 3 Mark bzw. ein Buch als eine nicht rückzahlbare<br />

Kaution verlangt.<br />

Bis zum Frühling 1944 hatte Sonnenbergs Leihbücherei 4000<br />

Leser, sie bestand bis zum August 1944, d.h. bis zur Auflösung<br />

des Gettos.<br />

Eine andere große Leihbücherei befand sich an der Wolborska<br />

44 und gehörte S. Atlasberg, der vor dem Krieg eine Buchhandlung<br />

besaß. Seine Bücherei verfügte über 2000 Bücher<br />

und hatte die gleiche Leserzahl, seine Büchersammlung war<br />

also stets „im Umlauf“.<br />

Es gab auch einige kleinere Leihbüchereien in Privathäusern<br />

des Gettos. Die Besitzer verliehen ihre Bücher in Jiddisch<br />

gegen eine kleine Gebühr. Sie brachten an den Haustüren<br />

eine Information an: „ Achtung: ich leihe Bücher in Jiddisch<br />

aus“, dank der die Interessierten immer wussten, wo man die<br />

Bücher findet. Die Juden aus Hamburg, die ins Getto deportiert<br />

wurden, errichteten im Februar 1942 auch eine Bücherei,<br />

in der sie eigene Bücher zur Verfügung stellten. Zwei andere<br />

große Bibliotheken gab es an der Wolborska und der Jakuba.<br />

Es gelang, die Büchersammlung der Medizinbibliothek des<br />

Poznański-Krankenhauses, das sich im Krieg auf der arischen Seite<br />

befand, ins Getto zu transportieren. Diese Bücher wurden von<br />

Ärzten im Getto oft benutzt. Sie sammelten selber auch Fachbücher<br />

aus privaten Sammlungen und organisierten eine weitere<br />

Bibliothek, die in der Notstation an der Łagiewnicka 36 entstand.<br />

Getto arbeitete Sznor er als Pförtner<br />

in einer Färberei und revidierte die<br />

Verzeichnisse, wenn Arbeiter das<br />

Ressort verließen. Er schrieb viel, fast<br />

ununterbrochen und überall. „In jedem<br />

seiner Kleidungstücke befanden sich<br />

Gedichte“ erinnert sich Rachmil Bryka.<br />

Auf Hebräisch schrieb er ein Tagebuch,<br />

eine Art Tageschronik, auf Jiddisch<br />

nachdenkliche Poesie für Erwachsene,<br />

kurze Theateraufführungen und Gedichte<br />

für Kinder. Alter Sznor stammte<br />

nicht nur aus einer chassidischen Familie<br />

mit bedeutenden Gelehrten, er war<br />

selber ein Gelehrter, las stundenlang die<br />

Gemara, studierte und forschte viel. Er<br />

verband das Getto mit der Vergangenheit,<br />

mit verschiedenen Epochen der<br />

Verfolgung.<br />

37


38<br />

mer umgebracht. Seine Frau geriet ins<br />

Lager Bergen-Belsen. Sie überlebte<br />

den Krieg. Ihr gelang es, manche<br />

seiner Manuskripte zu redigieren.<br />

Einen Teil der Gedichte und Novellen<br />

rekonstruierte sie aus dem Gedächtnis<br />

und schenkte sie der Gedenkstätte Yad<br />

Vashem und dem Katzenelson-Museum<br />

im Ghetto Fighters House..<br />

Simcha Binem Szajewicz<br />

(1908-1944)<br />

Dichter und<br />

Schriftsteller.<br />

Fast alle Menschen,<br />

die mit<br />

ihm in Kontakt<br />

waren, erinnerten<br />

sich lebhaft<br />

an ihn. Besonders<br />

aber jene,<br />

die als junge<br />

Menschen die<br />

ersten literarischen<br />

Schritte<br />

im Getto<br />

machten. Szajewicz<br />

wurde 1908 in Łęczyca geboren.<br />

Er stammte aus einer orthodoxen<br />

Familie, die nach Łódź zog. Er erhielt<br />

eine gründliche jüdische Ausbildung,<br />

erwarb sogar eine rabbinische Ordination,<br />

nahm aber nie diese Stellung<br />

an. Obwohl er nicht den religiösen<br />

Weg einschlug (er arbeitete eine Zeit<br />

lang in einer Sockenfabrik) blieb er<br />

den Werten, die seine Jugend prägten<br />

treu. Er betonte die Zugehörigkeit<br />

zum jüdischen Leben seiner Familie,<br />

indem er einen langen Kittel trug.<br />

Seine Dichtung und Schriften wurden<br />

von religiösen Einflüssen geprägt. In<br />

den Vorkriegsjahren war Szajewicz<br />

ein häufiger Gast im Cafe „Unterm<br />

Glas“, wo die jüngste Schriftstellergeneration<br />

ihren Stammtisch hatte. Er<br />

begann mit Prosa, war sich aber seiner<br />

Begabung nicht sicher und hielt sich<br />

im Schatten seiner Kollegen zurück.<br />

Unter ihrem Einfluss gelang es ihm<br />

Mitte der dreißiger Jahre lediglich, die<br />

Erzählung „Amerikaner“ zu publizieren.<br />

Nach seiner Eheschließung und<br />

der Geburt der Tochter Bluma (1936)<br />

nahm er selten am literarischen und<br />

1942 stellte Henryk Naftalin, der Leiter der Statistischen Abteilung,<br />

ein Projekt zur Rettung der von den Ausgesiedelten zurückgelassenen<br />

Bücher im Getto vor. Die Hausverwalter und die<br />

Ressortleiter waren verpflichtet, die Statistische Abteilung über<br />

alle Bücher, die in Häusern, in Kellern, auf Dachböden gefunden<br />

wurden, zu informieren. Die Mitarbeiter der Statistischen Abteilung<br />

mussten anschließend alle Bücherabholen. Über das ganze<br />

Jahr 1942 und am Anfang des Jahres 1943 wurden 3 Räume und<br />

der Keller der Statistischen Abteilung mit Büchern gefüllt. Es<br />

kamen 30.000 Bücher zusammen. Bald entstand ein Lesesaal für<br />

Kinder und Jugendliche.<br />

Außer der Abenteuer- und Sensationsliteratur<br />

wurden im Getto<br />

polnische Autoren wie Żeromski,<br />

Prus, Orzeszkowa, Sienkiewicz,<br />

Strug gern gelesen. Von den<br />

russischen Autoren waren es Boris<br />

Pilniak, Ilja Erenburg und Maksim<br />

Gorki. Deutsche Juden wählten<br />

deutsche historische und philosophische<br />

Werke. Man las auch<br />

die deutsche Literatur von Heine,<br />

Feuchtwanger, Ludwig. Von den<br />

auf Jiddisch schreibenden Autoren wurden vor allem die Werke<br />

von Izchak Lejb Perec und Szymon Asza gelesen.<br />

Simcha Szajewicz in der Schriftstellergruppe, erster von rechts in der<br />

hinteren Reihe<br />

Wie wichtig die Bücher im Getto waren, kann man den Erinnerungen<br />

der Gettobewohner entnehmen. In Not und Leid waren sie<br />

oft die einzige Rettung. Nach ihnen griff man, um wenigstens für<br />

eine Weile zu vergessen, wo man sich befand, um aus der Stagnation<br />

herauszukommen, um den Lebenswillen zu steigern oder<br />

Mut zu fassen. Die Bücher gaben Hoffnung. Einen Moment lang<br />

schien das das Leben im Getto ertragbar.<br />

Bücherlesen war für die Gettobewohner eine Flucht aus dem Alltag


Rundfunkempfänger<br />

Das Getto Litzmannstadt war isoliert, es gab keinen Kontakt<br />

zur Außenwelt. Man durfte keine Rundfunkgeräte<br />

besitzen, es gab keinen Zugang zur Presse, auch der<br />

Briefwechsel wurde beschränkt.<br />

Nicht nur die Künstler gaben den Gettobewohnern Hoffnung.<br />

Genauso wichtig wie der Kontakt zur K<strong>uns</strong>t waren auch die<br />

Nachrichten über das, was außerhalb des Gettos geschah. Es<br />

gelang, ein Radio im Getto zu installieren. Hören konnten es<br />

nur wenige Personen, sie vermittelten aber die Informationen<br />

weiter. Einer der Organisatoren dieser Aktion war Chaim<br />

Widawski<br />

Chaim Natan Widawski (1904-1944)<br />

Er stammte aus Zduńska Wola, lebte aber seit seiner Kindheit<br />

in Łódź. Von Beruf war er Kaufmann. In Łódź arbeite er, bekam<br />

eine Ausbildung, war aktiv in der zionistischen Bewegung „Hatechija“.<br />

Im Getto wohnte er in der Młynarska 38. Widawski war<br />

weiterhin ein Mitglied der zionistischen Partei und einer der<br />

Organisatoren „des Hörens“,<br />

überwiegend des Londoner<br />

Senders. Seine Aufgabe war es,<br />

gute, optimistische, hoffnungsvolle<br />

Nachrichten zu verbreiten.<br />

Über eine lange Zeit ist es<br />

ihm gelungen, den Radiozugang<br />

zu verheimlichen.<br />

Dass etwas im Getto nicht<br />

stimmte, fiel den Deutschen<br />

erst im Juli 1944 auf, als die<br />

Juden ihre Freude darüber,<br />

dass die Alliierten in der Normandie<br />

gelandet waren, offen zeigten. Die Radiohörer wurden<br />

angezeigt und verhaftet. Widawski gelang es, der Haft zu<br />

entkommen. Aber da er befürchtete, doch festgenommen zu<br />

werden und diejenigen, die mitgemacht haben, zu verraten,<br />

beging er am 9. Juni Selbstmord. Er wurde auf dem Friedhof<br />

an der Bracka bestattet. Vor dem Tod äußerte er den W<strong>uns</strong>ch,<br />

in Israel beerdigt zu werden. Dieser W<strong>uns</strong>ch ging am 17. Mai<br />

1972 in Erfüllung.<br />

Angeblich regte die Person Widawskis den aus Łódź stammenden<br />

Schriftsteller Jurek Becker (er war auch mit seinen Eltern<br />

im Getto) zu dem Buch „Jakob der Lügner“ an. Der Roman<br />

wurde zweimal verfilmt: 1974 von Frank Beyer in der DDR<br />

(ausgezeichnet mit dem silbernen Bären) und 1999 von Peter<br />

Kassovitz (Robin Williams spielte den Jakob).<br />

gesellschaftlichen Leben teil. Er widmete<br />

sich dem Familienleben, dem<br />

Schreiben und versuchte Geld zu<br />

verdienen. Kurz vor dem Ausbruch<br />

des Krieges war sein Buch „Der<br />

weg kajn Błękitne“ druckfertig und<br />

sollte durch die jüdische Sektion des<br />

PEN-Clubs herausgegeben werden.<br />

Das wurde aber nie realisiert. Im<br />

Getto erhielt er eine Pförtnerstelle in<br />

der Versorgungsabteilung, wo faules<br />

Gemüse verteilt wurde. Ein persönliches<br />

Zeugnis über seine Lebensbedingungen<br />

und die Bemühungen sie<br />

zu bewältigen, stellen seine Briefe<br />

an Szmul Rozenstejn dar. Sie wurden<br />

nach dem Kriege zusammen mit<br />

seinen Gedichten veröffentlicht. Die<br />

geringen finanziellen Mittel reichten<br />

nicht aus, um seine Eltern vor dem<br />

Tod zu schützen und um später die<br />

fünfjährige Tochter zu versorgen. Als<br />

es sich abzeichnete, dass die ersten<br />

Deportationen zuerst die Menschen<br />

in seiner Situation betreffen würden,<br />

begann er an seinem Gedicht „Lech.<br />

Lecho“ (Geh weg) zu arbeiten. Seine<br />

prophetische Aussage gibt die Stimmung<br />

jener Zeit wieder.<br />

Wie durch ein Wunder blieb das<br />

Gedicht erhalten: Es wurde gleich<br />

nach dem Krieg im Müll gefunden<br />

und 1946 veröffentlicht. Kurz vor der<br />

„Großen Sperre“ im September 1942<br />

kam das zweite Kind von Szajewicz<br />

zur Welt, ein Junge. Er wurde in<br />

einer Schublade und seine Schwester<br />

Blimde in einem Schrank versteckt,<br />

Szajewicz Ehefrau lag kurz nach der<br />

Entbindung im Bett. Am ersten Tag<br />

kamen weder die Polizei noch die<br />

Deutschen. Am nächsten Tag hörte<br />

der Dichter, dass die Lebensmittel<br />

verteilt würden und verließ das Haus.<br />

Währenddessen wurden seine Kinder<br />

und ihre Mutter mitgenommen. Als<br />

seine Verzweiflung nachließ, nahm er<br />

wieder seine literarische Tätigkeit auf.<br />

Im Sommer 1944 versteckte er sich<br />

mit der Familie Chaja Rosenfarb, um<br />

der Deportation zu entgehen. Aber<br />

am 28. August wurden sie festgenommen<br />

und nach Auschwitz deportiert.<br />

Später geriet er ins Lager Kaufering,<br />

wo er an Typhus starb.<br />

39


40<br />

Die erwähnten: Briefe, das Gedichte<br />

„Lech lecho“ und „ Friling taszaw“<br />

sind das ganze Erbe des Dichters.<br />

Izrael Lejzerowicz<br />

(1902-1944)<br />

Von Beruf Maler und Schriftsteller. Er<br />

begann während des Krieges Gedichte<br />

zu schreiben und ähnlich wie Ulinower<br />

hatte er regelmäßig Schriftsteller zu<br />

Gast. In der Zwischenkriegszeit gehörte<br />

Lejzerowicz der Gruppe „Trojz Rojt“ an.<br />

Die apokalyptischen Themen seiner<br />

K<strong>uns</strong>t spiegelten sich in seiner Dichtung<br />

im Getto wieder. In der Malerei<br />

wandte er sich dem Naturalismus zu.<br />

Sein Atelier an der Rybna 14, ein Treffpunkt<br />

für Künstler, verhältnismäßig<br />

geräumig im Vergleich zu der sonstigen<br />

Enge im Getto, war voll von Bildern.<br />

Vermutlich konnte Lejzerowicz so<br />

bequem wohnen, weil er Portraits von<br />

Rumkowski und Genrebilder vom<br />

Gettoleben malte. Er arbeitete in der<br />

Statistischen Abteilung, illustrierte auch<br />

die für den Judenältesten angefertigten<br />

Alben. Dank dieser Tätigkeit<br />

hatte er wohl Zugang zu Leinwänden<br />

und Farben, dem Handwerkszeug<br />

eines Malers, das im Getto schwer<br />

zu bekommen war. Der Künstler war<br />

leicht aber deutlich sichtbar behindert,<br />

und als „arbeitsunfähig“ bemühte er<br />

sich der Deportation zu entkommen.<br />

Seine damals entstandenen Portraits<br />

waren wie ein Passierschein fürs Leben.<br />

In seinen Aufzeichnungen wurden die<br />

Schreiben an Rumkowski und Gertler<br />

gefunden, in denen er um Aufträge für<br />

Bilder bittet. Der Künstler starb in der<br />

Gaskammer von Auschwitz-Birkenau.<br />

Nach dem Krieg wurden in seiner<br />

Wohnung seine letzten Bilder gefunden.<br />

Von seinen poetischen Werken<br />

blieben nur wenige erhalten. Ber Mark<br />

charakterisiert sie als „komisch, teilweise<br />

mystisch, oft unverständlich. Man<br />

hat den Eindruck als ob der Autor<br />

unter einem ständigen Nervenschock<br />

stünde, als ob er unter seltsamen<br />

Halluzinationen litt. Diese Gedichte<br />

hauchen die Todesstimmung“. Die plastischen<br />

Werke Lejzerowiczs werden im<br />

Jüdisch- Historischen Institut und in<br />

anderen Archiven aufbewahrt.<br />

Künstler<br />

Im Getto Litzmannstadt mangelte es nicht an Vertretern unterschiedlicher<br />

K<strong>uns</strong>trichtungen. Unter den Malern befand sich<br />

der aus der alten Schule stammende Maurycy Trębacz, der<br />

1941 an Erschöpfung und Hunger starb. Im Łódź der Vorkriegszeit<br />

hatten bekannte Maler und Grafiker ihre Ateliers, z. B. Józef<br />

Kowner oder Icchak Meir Brauner und weniger bekannte aber<br />

vor einer großen Zukunft stehende Künstler wie z.B. Hersz Szylis,<br />

Szymon Szerman. Viele setzten ihre künstlerische Tätigkeit im<br />

Im Atelier Józef Kowners<br />

Getto fort. Einige arbeiteten in der Statistischen Abteilung,<br />

manche konnten ihre Werke ausstellen. Wir werden nur einige<br />

Künstler, deren Bilder und Aquarelle den Krieg überdauerten, in<br />

Erinnerung rufen. Die Mehrheit der Werke ist jedoch verschollen,<br />

und sie gerieten zusammen mit ihren Autoren in Vergessenheit.<br />

Izrael Lejerowicz vor dem Übergang an der Zgierska Straße


.Józef Gotlib Kowner<br />

(1895-1967)<br />

Hersz Szylis bei der Arbeit am Bild, das Rumkowski mit dem Getto im Hintergrund darstellt<br />

Geboren in Vilnius, gestorben in<br />

Schweden. Studierte Malerei in Kiew<br />

und Düsseldorf. In der Zwischenkriegszeit<br />

wohnte er in Łódź, gehörte<br />

der Gruppe „Start“ sowie dem Redaktionskomitee<br />

der Fachzeitschrift „Forma“<br />

an. Seine Werke präsentierte er<br />

zum ersten Mal im Herbst1928 während<br />

einer Gemäldeausstellung in der<br />

Städtischen K<strong>uns</strong>tgalerie. Kowner war<br />

ein Teilnehmer weiterer Ausstellungen<br />

des Verbandes Polnischer Künstler<br />

sowie der zweiten Ausstellung<br />

des Jüdischen Forschungsinstitutes<br />

in Vilnius, die 1939 in Łódź stattfand.<br />

Er malte vor allem städtische und<br />

41<br />

Szymon Szerma, Szene aus dem Getto, Guasch<br />

Vernissage der Ausstellung Józef Kowners im Getto<br />

dörfliche Landschaften darunter die<br />

Schlupfwinkel der Lodzer Hinterhöfe<br />

sowie symbolische Kompositionen<br />

und Stilleben. Vor dem Krieg wohnte<br />

er an der Południowa 94 (heute<br />

Rewolucji). Im Getto wohnte er<br />

zuerst an der Gnieźnieńska und später<br />

an der Żydowska 8. Seine Wohnung<br />

war ein Treffpunkt für Maler, Schriftsteller,<br />

Musiker und Schauspieler. Im<br />

August 1944 wurde er nach Auschwitz<br />

deportiert, von dort in andere<br />

Konzentrationslager. Er ist einer der<br />

wenigen jüdischen Künstler aus dem<br />

Getto, die den Krieg überlebten. Nach<br />

dem Krieg ging er nach Schweden zur<br />

medizinischen Behandlung und ließ<br />

sich dort nieder.<br />

Józef Kowner, Die Fäkalienfahrer, Bild, das eine Szene aus dem Getto darstellt.


42<br />

Maurycy Trębacz<br />

(1861-1941)<br />

Maler, wurde 1861 in Warschau<br />

geboren. Schon als kleines Kind lernte<br />

er Zeichnen. Dank seiner Begabung<br />

bekam er ein Stipendium in der<br />

Krakauer Schule der schönen Künste.<br />

studierte in München und debütierte<br />

im Münchener K<strong>uns</strong>tverein mit dem<br />

Bild „Die Armen“. Seine weiteren Werke<br />

brachten ihm Ruhm und Interesse<br />

der K<strong>uns</strong>tkritiker.<br />

Sogar der<br />

Bayerische<br />

Prinzregent<br />

Luitpold<br />

von Bayern<br />

besuchte<br />

angeblich<br />

sein Atelier<br />

und soll<br />

den Künstler zur weiteren Arbeit<br />

angeregt haben. Maurycy Trębacz<br />

stellte seine Bilder sehr erfolgreich in<br />

Paris, Wien, München und Warschau<br />

aus. Sie schmückten die Wände in<br />

den Häusern von Lodzer Fabrikanten<br />

u.a. Poznanski und Prussak. 1918 zog<br />

er nach Łodź um und unterrichtete<br />

Zeichnen und Malerei.<br />

Trębacz war in Łódź sehr populär. Er<br />

wurde als Nestor der Lodzer Maler<br />

bezeichnet. Obwohl er kein gebürtiger<br />

Lodzer war, wurde er beinahe zum<br />

Hofporträtist der Lodzer Fabrikanten.<br />

1932 war Trębacz einer der Kandidaten<br />

für den Künstlerischen Preis der<br />

Stadt Łódź, schließlich erhielt ihn aber<br />

Władysław Strzemiński.<br />

1940 kam der achtzigjährige Maurycy<br />

Trębacz ins Getto Lodz. Erhalten blieb<br />

ein erschütterndes Foto von Mendel<br />

Grossmann, das den Maler in seinem<br />

Studio zeigt.<br />

Der kranke bettlägerige Trębacz widmete<br />

sich bis zuletzt der K<strong>uns</strong>t. Seine<br />

Bilder gingen während des Krieges<br />

verschollen oder wurden vernichtet.<br />

Sie wurden hauptsächlich in den<br />

verlassenen jüdischen Häusern aufbewahrt.<br />

Erhalten blieben nur die, die<br />

sich in seinem Studio im Getto Lodz<br />

Schulen im Getto<br />

Über zwei Jahre lang gab es Schulen im Getto. Die Kinder<br />

lernten schreiben und rechnen, man legte sogar Abiturprüfungen<br />

ab. Auch nach der Auflösung des Schulwesens<br />

im Getto hörte der Unterricht nicht auf.<br />

Die Lage, in der sich jüdische Schulen im Winter 1939 befanden,<br />

war sehr weit von der Normalität entfernt, auch wenn eine<br />

gewisse Stabilisierung erreicht worden war. Dieser Zustand<br />

fand bis zur Errichtung des Gettos statt. Die besten Bedingungen<br />

für den Unterricht waren nur in acht auf dem Gettogelände<br />

befindlichen Volksschulen. Insgesamt wurden Schulen<br />

in siebzehn Räumlichkeiten eingerichtet. Im Getto gab es<br />

insgesamt 35 Volksschulen, 2 religiöse Schulen, 2 Oberschulen<br />

und eine Berufsschule. Diese Zahl war während des Schuljahres<br />

1939/40 bis zum 15.September nicht stabil.<br />

Die Unterrichtszeit wurde an die räumliche Kapazität und den<br />

Straßenverkehr im Getto angepasst.<br />

Der Unterricht erfolgte in zwei Schichten zu je fünf Unterrichtstunden,<br />

morgens und nachmittags; eine Unterrichtsstunde<br />

dauerte 35 Minuten mit einer fünfminütigen und zwei zehnminütigen<br />

Pausen.<br />

Es galt ein modifizierter Lehrplan aus der Vorkriegszeit. Die<br />

Modifizierung beruhte auf<br />

der Einführung der jiddischen<br />

und der deutschen<br />

Sprache ins Unterrichtsprogramm,<br />

ab 1. Mai 1940<br />

wurden auch Hebräisch<br />

und die Geschichte des<br />

Judentums unterrichtet.<br />

Man stieß dabei auf viele<br />

Schwierigkeiten. Es fehlten<br />

qualifizierte Lehrkräfte,<br />

die des Jiddischen und<br />

seiner Grammatik mächtig<br />

waren. Deshalb hatte man<br />

im nächsten Schuljahr fünf<br />

Fortbildungskurse angeboten.<br />

Dies bezog sich auch<br />

auf den Hebräischunterricht.<br />

Das Problem wurde<br />

gelöst, indem man Absolventen<br />

der hebräischen<br />

Oberschulen anstellte. Es<br />

fehlte an didaktischem<br />

Material, an einheitlichen


Schulbüchern für alle Schularten. Man unterrichtete nur<br />

anhand vorhandener Titel, oft kam es nach dem Unterricht<br />

zum Austausch der Schulbücher unter den Schülergruppen.<br />

Für den Religionsunterricht benutzte man den Pentateuch<br />

und Gebetbücher. Jiddisch wurde anhand alter Ausgaben der<br />

„Gettocajtung“ unterrichtet, indem man für Jugendliche geeignete<br />

Artikel behandelte. Die Schulabteilung gab daraufhin lose<br />

Zettel mit Texten in Jiddisch für Anfänger und Fortgeschrittene<br />

heraus. Auf Initiative von Eliasz Tabaksblat wurde ein kleines<br />

Jiddischwörterbuch für Mathematik und Geometrie herausgegeben.<br />

Die Schulabteilung berief eine Kommission zur Erstellung einer<br />

Fibel mit drei Niveaustufen<br />

für den Jiddischunterricht.<br />

Dieses Projekt kam<br />

jedoch wegen technischer<br />

Schwierigkeiten nicht<br />

zustande.<br />

Nach der Hospitation einer<br />

deutschen Kommission<br />

am 14. Juli 1941 wurde die<br />

Schulabteilung aufgefordert,<br />

alle in den jüdischen<br />

Schulen benutzten Bücher<br />

und Fachbücher einzusammeln.<br />

Eine aus Lehrkräften<br />

zusammengesetzte Kommission<br />

sollte die Bücher<br />

befanden. Von dort stammt auch ein<br />

Album, das 130 Bildreproduktionen<br />

des Malers enthält, mit seinen handgeschriebenen<br />

Notizen zum Bildtitel,<br />

dem Datum des Entstehens und sogar<br />

des Besitzers des Bildes.<br />

Szymon Szerman<br />

(1917-1943)<br />

Bild Szymon Szermans im Getto auf der Grundlage einer Fotografie<br />

von Mendel Grosman gemalt<br />

unter dem Aspekt patriotischer Inhalte prüfen. Das Ergebnis<br />

war, die polnische Geschichte und Geografie zu entfernen,<br />

sowie Inhalte, die in den Augen der deutschen Behörden gesetzwidrig<br />

waren. Ein Teil der Bücher wurde ganz verboten.<br />

Maler. Im Getto Lodz arbeitete er<br />

in der Graphischen Sektion der<br />

Statistischen Abteilung. Einige seiner<br />

Guachen blieben erhalten und befinden<br />

sich in Israel. Auf<br />

einem sieht man einen<br />

Jungen, abgebildet<br />

nach einem Foto<br />

Grossmans. Szerman<br />

und seine Familie<br />

starben im Getto.<br />

Icchak Wincent<br />

Brauner<br />

(1887-1944)<br />

Maler und Grafiker. Beeindruckt vom<br />

Werk van Goghs nahm er seinen<br />

Namen (Vincent) an. Er wurde in<br />

Łódź in einer wohlhabenden Familie<br />

geboren. Brauener lernte Zeichnen<br />

in der Jakub-Kacenbogen-Schule und<br />

studierte später in der Musikschule<br />

und Hochschule der schönen Künste<br />

in Berlin. In der Zwischenkriegszeit<br />

war er in der Gruppe „Jung Jidisz“<br />

tätig. Er beschäftigte sich mit dem<br />

Malen von Bühnenbildern, fertigte die<br />

Dekorationen für das Theaterstück<br />

„Dybuk“ an und Marionetten für das<br />

Puppentheater. Im Getto wohnte er an<br />

der Piwna 21. Er arbeitete mit Metall,<br />

leitete ein Keramikstudio und entwarf<br />

Geldscheine für die Gettowährung<br />

(sie wurden nicht angenommen). Außerdem<br />

malte ein Portraits Rumkowskis.<br />

Ermordet wurde Brauener 1944 in<br />

Auschwitz-Birkenau.<br />

43


44<br />

Junge Schriftsteller<br />

Im Getto Litzmannstadt lebten viele<br />

talentierte junge Schriftsteller. Leider<br />

hatten sie keine Chance, ihre Begabung<br />

zu entfalten.<br />

Dawid Sierakowiak<br />

(1925-1943)<br />

war der Sohn von Majlehem<br />

und Sura. Er wurde<br />

im Jahre 1925 geboren.<br />

Mitte der dreißiger Jahre<br />

wohnte er im Haus in der<br />

Sanocka 22. Vor dem Krieg war er ein<br />

sehr guter Schüler im Gymnasium der<br />

„Vereinigung Jüdischer Schulen“. Am<br />

11. November 1940 zog er mit seinen<br />

Eltern und seiner Schwester Natalia<br />

ins Getto in die Spacerowa 7/9. Dieses<br />

Haus steht heute noch.<br />

Im Getto führte Sierakowiak ein<br />

Tagebuch. Es ist ein besonderes Zeugnis<br />

jener Zeit. Fast jeden Tag schrieb er<br />

seine Reflexionen und Beobachtungen<br />

vom Gettoleben auf. Nach dem Krieg<br />

fand man seine Hefte mit den Aufzeichnungen.<br />

Der vollständige Text wurde<br />

in Englisch veröffentlicht. In Polnisch<br />

erschienen nur zwei Hefte, herausgegeben<br />

in den sechziger Jahren. Seine<br />

Mutter wurde im September während<br />

der Gehsperre ins Vernichtungslager<br />

Chełmno am Ner deportiert. Sein Vater,<br />

Tischler von Beruf, starb am 6. März<br />

1943 an Erschöpfung. Seine Schwester<br />

wurde im August 1944 während der<br />

Auflösung des Gettos nach Auschwitz<br />

deportiert. David starb am 8. August<br />

1943 an Hunger. Sein Grab befindet sich<br />

auf dem neuen jüdischen Friedhof, nicht<br />

weit vom Izrael Poznański-Mausoleum.<br />

Jehuda Lajb Lubiński<br />

(1923-1944)<br />

In der Familie und unter Freunden<br />

Lolek genannt, Sohn<br />

von Mosze und Chana<br />

Lubiński. Vor dem Krieg<br />

wohnte er mit seinen<br />

Eltern an der 11. Listopada.<br />

Er besuchte die Industrieschule<br />

der „Gesellschaft zur Verbreitung<br />

Die Kinder wurden durch die Schulabteilung eingeschult. Bei<br />

der Einteilung wurden der Wohnort und die Entfernung zur<br />

Schule berücksichtigt. Die Volksschulen hatten sechs Jahrgänge.<br />

Im Vergleich mit dem Schulsystem aus der Vorkriegszeit war<br />

dies eine Veränderung. Man verzichtete auf den letzten, siebten<br />

Jahrgang, was von Vorteil war, weil man dadurch mehr Schüler<br />

aufnehmen konnte. Auf der anderen Seite trug diese Lösung<br />

zur Verlängerung der Zeit der beruflichen Untätigkeit der<br />

Jugendlichen nach dem Volksschulabschluss bei. Ein Absolvent<br />

der sechsten Klasse musste nämlich zwei Jahre warten, um eine<br />

Arbeit ausüben zu dürfen. Das damalige Gesetz erlaubte erst<br />

mit fünfzehn Jahren eine Arbeit aufzunehmen.<br />

Der Lehrplan sah Unterricht in 13 Fächern vor. Es waren dies<br />

Jiddisch, Hebräisch, Polnisch, Deutsch, Arithmetik, Sport,<br />

Werken, Gesang, Nuturkunde und Religion – auch Geografie<br />

und Geschichte. Nach der Hospitation der deutschen Behörde<br />

wurden diese Fächer offiziell verboten, sie wurden jedoch in<br />

einem beschränkten Umfang weiterhin unterrichtet. In den<br />

religiösen Schulen wurde die Stundenzahl des Religionsunterrichts<br />

erhöht.<br />

Ab dem Schulanfang des Schuljahres 1939/40, am 29, Oktober<br />

wurde der Lehrplan aus der Vorkriegszeit nicht mehr in Betracht<br />

gezogen. Die Mehrheit der Unterrichtsstunden wurde<br />

in Jiddisch gegeben. Die schulischen Aktivitäten erfolgten mit<br />

einigen Unterbrechungen bis zum 21. September 1941.<br />

Während des Schuljahres 1939/1940 gab es 10 906 eingeschulte<br />

Schüler. Diese Zahl stimmte nicht mit der Zahl der Schüler<br />

überein, die die Schulen wirklich besuchten. Harte Bedingungen<br />

im Getto hatten zur Folge, dass Kinder und Jugendliche<br />

überwiegend in der Mittagspause erschienen. Im Winter kamen


wenige zur Schule, besonders dorthin, wo die Schulräume nicht<br />

geheizt wurden. Die gleichen Zustände herrschten auch im<br />

nächsten Schuljahr.<br />

An den Volksschulen, deren Zahl von 31 im November 1940 bis<br />

36 im Juli 1936 schwankte, waren 12.940 Schüler eingeschrieben.<br />

Durchschnittlich besuchten 75% der Schüler die Schule<br />

nicht. Die wenigsten erschienen im Januar 1941; die Abwesendheitsquote<br />

betrug 90.5%. Die meisten Schüler kamen zur<br />

Schule im September 1941, dem letzten Unterrichtsmonat; hier<br />

betrug die Abwesendheitsquote 45%. Als Ursachen der Abwesendheit<br />

waren Krankheit, schlechtes Wetter, nicht geheiztes<br />

Klassenzimmer, zu Hause helfen zu müssen und Mangel an<br />

Kleidung angegeben.<br />

Die Krankheiten und die hohe Sterblichkeit wurden zum Problem,<br />

nicht nur unter den Jugendlichen im Schulalter sondern<br />

im ganzen Getto. Unter den Schülern waren Tuberkulose und<br />

Unterernährung die häufigsten Todesursachen. Um den Kindern<br />

zu helfen, führte man eine umfangreiche Speisungsaktion<br />

in den Schulen ein. Die Eröffnung von Küchen in allen Bildungseinrichtungen<br />

durch den Judenältesten Rumkowski war eine<br />

der fundamentalen Voraussetzungen für den Schulbesuch und<br />

die Gesundheit der Kinder.<br />

Neben den Volksschulen gab es auch andere Bildungseinrichtungen.<br />

Im Schuljahr 1939/1940 existierten in den ehemaligen<br />

Räumen der Mariaviten ein Knabengymnasium an der<br />

Franciszkańska 27. Ein Mädchengymnasium, auch Lyzeum<br />

genannt, befand sich im Gebäude der Vorkriegsschule für<br />

geistig behinderte Kinder an der Łagiewnicka 53 und ein<br />

Berufsgymnasium im ehemaligen Gebäude der Volksschule an<br />

Franciszkańska 76. An diesen Schuleinrichtungen waren insgesamt<br />

689 Schüler eingeschrieben. Im Schuljahr 1940/41 stieg<br />

die Zahl der Oberschüler auf 1808.<br />

der Bildung und des Technischen<br />

Wissens unter Juden“ und absolvierte<br />

dort ein Jahr in der Weberklasse.<br />

Im Getto wohnte Lolek an der<br />

Franciszkańska 38. Er war in der zionistischen<br />

Jugendorganisation Chazit<br />

Dor Bnej Midbar (Generationenfront<br />

der Wüstensöhne.) Nach der Auflösung<br />

der Jugendgruppen in Marysin<br />

arbeite er im Zentralbüro für die<br />

Versorgung des Gettos. Während der<br />

endgültigen Liquidierung des Gettos<br />

wurde er nach Auschwitz deportiert<br />

und von dort ins Lager Kaufering, wo<br />

er an Erschöpfung starb. Er ist Autor<br />

eines Tagebuches, das 2003 in Bałuty<br />

gefunden wurde. Dieses Tagebuch<br />

wurde vom Museum für Stadtgeschichte<br />

in Łódź gekauft. Es ist noch<br />

nicht veröffentlicht.<br />

Abram Cytryn<br />

(1927-1944)<br />

Vor dem Krieg besuchte<br />

er die Kazenelson-Schule<br />

in der Próchnika, wohnte<br />

in der 11. Listopada 49.<br />

Seine Eltern Jakub und Golda waren<br />

Besitzer von zwei Textilfabriken. Mit<br />

dem Schreiben begann er sehr früh,<br />

als achtjähriger Junge. Er schrieb sogar<br />

unter den schrecklichen Bedingungen<br />

im Getto. Dort entstanden einige Dutzend<br />

seiner Werke. Einen Teil seiner<br />

Gedichte nahm er nach Auschwitz<br />

mit, wohin er am 28. August – zusammen<br />

mit seiner Mutter und seiner<br />

Schwester – deportiert wurde. Er<br />

starb in der Gaskammer. Seine Hefte<br />

wurden im Jahre 1945 im Mietshaus<br />

in der Starosikawska 14 von seiner<br />

Schwester, Lucie Cytryn-Bialer,<br />

gefunden. Es handelt sich um über 240<br />

Werke, hauptsächlich Gedichte und<br />

Erzählungen.<br />

Dank der Bemühungen seiner<br />

Schwester wurden die Gedichte und<br />

Erzählungen Abrams in Französisch,<br />

Englisch, Hebräisch und Polnisch<br />

veröffentlicht.<br />

Die Originale befinden sich im<br />

Wiesenthal-Museum in Los Angeles.<br />

45<br />

Abiturball im Getto Litzmannstadt


46<br />

Abram Koplowicz<br />

(1930-1944)<br />

wurde am 18. Februar<br />

1930 in Łódź geboren.<br />

Er war das einzige Kind<br />

von Mendia und Yochet<br />

Gittel Koplowicz. Als er<br />

neun Jahre alt war, marschierte die<br />

deutsche Armee in Łódź ein.<br />

Er wurde im August 1944 mit dem<br />

letzten Transport nach Auschwitz<br />

deportiert und starb im September in<br />

der Gaskammer. Sein Vater Mendel<br />

Koplowicz überlebte den Krieg. Nach<br />

der Rückkehr nach Łódź fand er auf<br />

dem Dachboden des Hauses, in dem<br />

sie gewohnt hatten, ein Heft mit den<br />

Werken seines Sohnes sowie ein von<br />

ihm gemaltes Bild, das einen alten<br />

Juden mit dem Tallit (Gebetsschal)<br />

darstellt. Auf der Umschlagseite des<br />

Heftes gibt es eine Zeichnung der Kirche<br />

und der Brücke über die Zgierska-<br />

Straße. Das Orginalheft befindet sich<br />

in der Holocaust-Gedenkstätte Yad<br />

Vashem in Jerusalem. Es wurde von<br />

Abrams Vetter Eliezer Grynfeld der<br />

Gedenkstätte geschenkt. Die Auswahl<br />

von Abram Koplowicz’s Gedichten<br />

erschien 1993 in Polnisch. Die Zeichnung<br />

von Abram wurde 2004 zum<br />

Symbol der Gedenkfeier anlässlich<br />

des 60. Jahrestages der Auflösung des<br />

Ghettos Litzmannstadt.<br />

Vierzehntausend Namen<br />

Das Album, aus dem wir einzelne<br />

W<strong>uns</strong>chkarten vorstellen, entstand<br />

1941 (5702). Es wurde am 23. September<br />

als ein Geschenk zum jüdischen<br />

Neuen Jahr, kurz vor den Festtagen dem<br />

Judenältesten Rumkowski überreicht.<br />

Das Buch und das Datum sind sehr<br />

symbolträchtig. Es enthält Zeichnungen<br />

und Neujahrswünsche von allen<br />

Schulen im Getto für den Judenältes-<br />

Im Getto Litzmannstadt<br />

wurden auch<br />

Abiturprüfungen<br />

abgelegt. Zu den Abiturfächern<br />

gehörten<br />

allgemeinbildende Fächer<br />

und Judaistik. Es<br />

gab Fälle, in denen aus<br />

Mangel an ausgebildeten<br />

Lehrkräften Prüfungen<br />

nur in Arithmetik<br />

abgenommen wurden.<br />

Trotzdem standen im<br />

Abiturzeugnis Noten<br />

für alle Fächer. Dieses<br />

Dokument wurde in 3<br />

Sprachen ausgestellt:<br />

Deutsch, Polnisch, Hebräisch.<br />

Im Getto gab<br />

es auch kleinere Schuleinrichtungen:<br />

zwei Sonderschulen, eine Schule am Gefängnis<br />

für jugendliche Verbrecher und eine Musikschule.<br />

Ab 1939/40 wurden Schulen für taube und geistig behinderte<br />

Kinder eingerichtet. Dort waren 63 Schüler eingeschrieben. Die<br />

Musikschule befand sich an der Franciszkańska 27, ihr Leiter<br />

war Teodor Ryder. Das Lehrkollegium bestand aus 8 Personen.<br />

Geplant waren 4 Kurse für Klavier, Geige, Gesang und Kantoren.<br />

Höchst wahrscheinlich wurde jedoch kein Unterricht durchgeführt<br />

oder damit sehr schnell aufgehört. Die Namen der Lehrer<br />

wurden registriert, um ihnen ihre Löhne auszahlen zu können.<br />

In Marysin wurden im Juli 1940 Ferienlager und Freizeiten für<br />

Kinder und Jugendliche organisiert. Die Heime übernahmen<br />

teilweise die Bildungsaufgaben. Aber ihr Hauptziel war die Erholung<br />

und Heilung<br />

der Kinder. Insgesamt<br />

durften über<br />

10 000 Kinder und<br />

Jugendliche an den<br />

von der Schulabteilung<br />

organisierten<br />

Ferienmaßnahmen<br />

teilnehmen. In<br />

Marysin gab es drei<br />

Volksschulen, davon<br />

eine religiöse, so dass dort alle Kinder Unterricht erhielten. Das<br />

Lehrprogramm war jedoch sehr begrenzt, für den Unterricht<br />

wurde nur eine halbe Stunde täglich eingeplant.


Trotz der getroffenen Vorkehrungen<br />

begann im Herbst 1941<br />

kein neues Schuljahr. In den<br />

Schulgebäuden wurden ca.<br />

20.000 Juden aus Westeuropa,<br />

die ins Getto deportiert worden<br />

waren, untergebracht. Die<br />

Lehrpause wurde als einstweilig<br />

betrachtet, die Speisungsmaßnahmen<br />

für Kinder und<br />

Jugendliche wurden fortgesetzt.<br />

Mit der Fortsetzung des Unterrichts wurde gewartet, bis<br />

die Räumlichkeiten nicht mehr als Unterkünfte benutzt wurden.<br />

Die Schulen wurden jedoch nicht mehr in Betrieb genommen.<br />

Nach der Deportation eines großen Teiles der Westjuden wurden<br />

in den Schulen neu eingesiedelte polnische Juden untergebracht<br />

oder aber Arbeitsressorts. Die Schulabteilung wurde in<br />

die Umschichtungskommission umgewandelt. Bis zur sogenannten<br />

„Grossen Sperre“ im September 1942 waren in Marysin<br />

fünf kleine „Dorfschulen“ tätig. Es gibt aber dazu keine Informationen,<br />

weder zu den Lehrprogrammen noch zur Schülerzahl.<br />

Mit den Deportationen in die Vernichtungslager endete endgültig<br />

die Tätigkeit der Bildungsinstitutionen. Nach der Aussiedlungsaktion<br />

übernahmen die Arbeitsressorts die Organisation<br />

von „Berufskursen“, in denen Kinder und Jugendliche auf die<br />

Arbeit in der Produktion vorbereitet wurden. Sie hatten damit<br />

die Funktion der Berufsschulen übernommen. Bis zu einem<br />

gewissen Grad erfolgte noch Privatunterricht zu Hause und in<br />

autodidaktischen Gruppen der Jugendorganisationen im Getto.<br />

ten. Jede Eintragung ist eine Danksagung<br />

für die lebensrettende Nahrung.<br />

Es gibt insgesamt vierzehntausend<br />

Schülerunterschriften.<br />

Im September 1941 wurden die<br />

Schulen offiziell geschlossen, da sie als<br />

Unterkunft für 20.000 aus Deutschland,<br />

Österreich, Luxemburg und<br />

der Tschechoslowakei deportierte<br />

Juden dienen sollten. Die Mehrheit<br />

der Kinder, die sich ins Rumkowskis<br />

Album eintrugen, wurden entweder<br />

im Vernichtungslager Kulmhof am<br />

Ner oder in Auschwitz-Birkenau<br />

ermordet. Dies ist also ihr besonderes<br />

und einzigartiges Testament.<br />

Das Album befindet sich imYIVO-<br />

Institut in New York. Es wurde 2006<br />

zum Anlass für die Ausstellung des<br />

Holocaust-Memorial-Museums in<br />

Washington mit dem Titel „Give me<br />

your Children, Voices from the Lodz<br />

Ghetto“.<br />

47


Für die Hilfe bei der Vorbereitung der Publikation und der Ausstellung sowie für die zahlreichen Auskünfte<br />

möchten wir <strong>uns</strong> bei folgenden Personen und Institutionen besonders bedanken:<br />

Julian Baranowski, Andrzej Kempa, Irena Kohn, Natalia Krynicka, Anna Kuligowska-Korzeniewska<br />

sowie<br />

Markek Szukalak, dem Leiter der Stiftung Monumentum Judaicum Lodzense<br />

Urie Wizenberg vom Verband der Ehemaligen Bewohner von Łódż in Israel,<br />

Piotr Zawilski, dem Leiter des Staatsarchivs in Łódź<br />

und<br />

dem Institut Yad Vashem in Jerusalem,<br />

dem Institute for Jewish Research YIVO in New York,<br />

dem Jüdischen Historischen Institut in Warszawa<br />

Wir bedanken <strong>uns</strong> herzlich bei <strong>uns</strong>eren deutschen Freunden: Birgit Fleischer, Frank Schuster, Dani Jütte ,<br />

die <strong>uns</strong> bei der Entstehung der deutschen Version geholfen haben.<br />

Ein besonderer Dank gilt Hannelore Steinert und Ingo Loose für die wissenschaftliche Beratung.<br />

Wir bedanken <strong>uns</strong> bei der Europäischen Kommission und der Nationalen Agentur des Programms<br />

Sokrates für die Förderung <strong>uns</strong>eres Projektes, insbesondere beim Grundtvig 2-Team für das<br />

Entgegenkommen und die Hilfe bei der Lösung <strong>uns</strong>erer Probleme<br />

Wir benutzten viele Publikationen über das Getto Litzmannstadt, u.a.:<br />

„Kronika getta łódzkiego, Redaktion. D. Dąbrowska, L. Dobroszycki, Band 1-2, Łódź 1965-1966; „Fenomen<br />

getta łódzkiego 1940-1944” Red. P. Samusia, W. Pusia, Verlag der Universität zu Łódź, Łódź<br />

2006;I. Trunk, Łódź Ghetto. A History, Indiana 2006; J. Baranowski, Łódzkie getto 1940-1944 Vademecum,<br />

Łódź 2003, A. Kempa, M. Szukalak, Żydzi dawnej Łodzi, t. I-IV, Verlag Oficyna Bibliofilów 2001-2004;<br />

Materialien von Arie Ben Menachem.<br />

Szmul Grosman auf einer Fotografie aus<br />

dem Getto, aufgenommen von seinem<br />

Sohn Mendel Grosman

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