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Tristan-Rezeption in deutschen Dramen des frühen 20 - Lear

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CHRISTOPH HUBER<br />

Wir sehen, wie hier Umbesetzungen, welche die Stücke als Zeugnisse der<br />

<strong>Rezeption</strong>sgeschichte selbst verwirklichen, auch <strong>in</strong> die Aufführungspraxis<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> verlängert werden und die Texte auf der Bühne erneut modifizieren.<br />

Das betrifft stilistische Gegensätze oder Ambiguitäten, aber auch <strong>in</strong>haltliche<br />

Akzente, die den E<strong>in</strong>griffen <strong>des</strong> Regisseurs zur Disposition stehen. Werfen<br />

wir an dieser Stelle e<strong>in</strong>en Blick zurück auf die Konstanten <strong>des</strong> stoffgeschichtlichen<br />

Musters, das h<strong>in</strong>ter diesen Modifikationen, den Verzweigungen<br />

und erneuten Anb<strong>in</strong>dungen, erkennbar bleibt und e<strong>in</strong>e gewisse Resistenz<br />

gegen die grenzenlose Veränderbarkeit e<strong>in</strong>es kanonischen Stoffes durchsetzt.<br />

Drei Aspekte erlauben, wie ich me<strong>in</strong>e, e<strong>in</strong>en Vergleich der <strong>Dramen</strong> bei aller<br />

Gegensätzlichkeit.<br />

1. Geme<strong>in</strong>sam mit Hardts klassizistisch gestelztem ‚Tantris‛ ist dem ‚König<br />

Hahnrei‛ die Absage an die absolute, bed<strong>in</strong>gungslose Liebe, die sich als verbotene<br />

bewährt und zuletzt im Doppeltod bestätigt. 17 Aufgegeben werden die<br />

E<strong>in</strong>maligkeit und die Kraft der Gefühle, die im mittelalterlichen M<strong>in</strong>netrank<br />

aus e<strong>in</strong>em über<strong>in</strong>dividuellen Gesetz abgeleitet wurden. Schon Wagner verlegte<br />

den Trank <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e komplizierte Psychologie von Anziehung und Hassliebe;<br />

so hat auch bei Hardt wie bei Kaiser der Trank se<strong>in</strong>e magischen Züge<br />

verloren. 18 E<strong>in</strong> psychologisch entzauberter M<strong>in</strong>netrank kam <strong>in</strong> der mediävistischen<br />

Interpretation von Gottfrieds ‚<strong>Tristan</strong>‛ erst später auf die Tagesordnung;<br />

es ist bemerkenswert, wie hier e<strong>in</strong>e produktive <strong>Rezeption</strong> der Sicht der<br />

Literatur<strong>in</strong>terpreten vorausgeht. Wagner hielt aber fest an e<strong>in</strong>er existentiellen<br />

Verb<strong>in</strong>dlichkeit der Liebespassion, die <strong>Tristan</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Fieberphantasien<br />

durchlebt und die <strong>in</strong> Isol<strong>des</strong> Liebestod e<strong>in</strong>e quasireligiöse, ästhetisch orgiastische<br />

Verklärung erfährt. Aufgegeben wird <strong>in</strong> den modernen Varianten <strong>des</strong><br />

Stoffes der moralische Anspruch, der umwertend gegen die gesellschaftliche<br />

Norm an e<strong>in</strong>er Autonomie personalen Liebens festhält. Der Stoff mit se<strong>in</strong>er<br />

erotischen Dreiecks- bzw. Mehreckskonstellation wird zum Experimentierfeld<br />

für widersprüchliche Affekte, bei denen sich der Egoismus durchsetzt,<br />

zum Darstellungsmedium für seelische Verirrungen, für die Auflösung von<br />

Gefühlssicherheit und Ich-Identität.<br />

2. Geme<strong>in</strong>sam ist den beiden Vorkriegsdramen damit auch das Erkenntnisproblem.<br />

Beide haben e<strong>in</strong>e analytische Struktur, die <strong>in</strong> Kaisers ‚Hahnrei‛<br />

zugleich e<strong>in</strong> großes Verschleierungs- und Vernebelungsprojekt hervorruft.<br />

17 Hauptgesichtspunkt bei Konecny (1978) und Pietsch (<strong>20</strong>01). Beide betonen e<strong>in</strong>e politische<br />

S<strong>in</strong>nebene. Die dem <strong>Tristan</strong>stoff seit den Anfängen <strong>in</strong>härente Kritik an gesellschaftlichen<br />

Normen sche<strong>in</strong>t mir aber mit dem Wegfall der absoluten M<strong>in</strong>ne als normativem Gegenpol<br />

weitgehend ausgeschaltet. Bereits Wagner reduziert die gesellschaftliche Dimension nahezu<br />

vollständig.<br />

18 Ausgabe Hardt (1975: 33, 125). Ausgabe Kaiser (1971: 372f.)<br />

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