Globalisierung und die Regierung Lula - GIGA German Institute of ...
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Lateinamerika Analysen 17, 2/2007, S. 119-138. Hamburg: ILAS <br />
Thomas Stehnken<br />
<strong>Globalisierung</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong>:<br />
Auf der Suche nach linker Außenpolitik<br />
Zusammenfassung<br />
Wirtschaftspolitisch setzt <strong>die</strong> <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong> den stabilitätsorientierten<br />
Kurs der <strong>Regierung</strong> Cardoso augenscheinlich fort,<br />
bringt aber deutlich mehr sozialpolitische Akzente mit ins<br />
Spiel. Bei Amtsantritt waren <strong>die</strong> H<strong>of</strong>fnungen groß, dass <strong>Lula</strong><br />
auch im Hinblick auf <strong>die</strong> <strong>Globalisierung</strong> etwas „anders“ machen<br />
werde. Es bestand <strong>die</strong> Chance einer neuen Außenpolitik,<br />
welche <strong>die</strong> Vertiefung der südamerikanischen Integration als<br />
Gegenpol zu den übermächtigen USA versteht. Eine weitere<br />
H<strong>of</strong>fnung war sicherlich das Eintreten für eine „gerechte <strong>Globalisierung</strong>“,<br />
wie <strong>Lula</strong>s Auftritte beim Weltsozialforum in Porto<br />
Alegre glauben machen konnten. Anhand der beiden wichtigsten<br />
außenpolitischen Projekte (dem Mercosul <strong>und</strong> den WTO-<br />
Verhandlungen) soll versucht werden, dass „linke Element“<br />
herauszuarbeiten.<br />
Schlüsselbegriffe:<br />
Brasilien, Außenpolitik, Linksruck, Pragmatismus<br />
Thomas Stehnken<br />
arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Angestellter am Lehrstuhl<br />
für Politik in Lateinamerika <strong>und</strong> Entwicklungstheorie von Pr<strong>of</strong>. Dr.<br />
A. Boeckh am Institut für Politikwissenschaft der Uni Tübingen.<br />
Arbeitsschwerpunkte sind vorrangig wirtschaftspolitische Themen<br />
sowie Technologiepolitik in Lateinamerika. Derzeit schreibt er<br />
seine Dissertation zum Thema „The Politics <strong>of</strong> Interaction in Innovation<br />
Systems. A Comparative Study <strong>of</strong> Brazilian Regions.“<br />
Melanchtonstr. 36, 72074 Tübingen<br />
E-Mail: thomas.stehnken@uni-tuebingen.de<br />
120<br />
Thomas Stehnken <br />
Thomas Stehnken<br />
Globalización y el Gobierno <strong>Lula</strong>:<br />
en búsqueda de una política exterior de izquierda<br />
Resumen<br />
La política económica del Gobierno <strong>Lula</strong> ha sido evidentemente una<br />
continuación de la política de estabilidad del gobierno de Cardoso, pero<br />
con mayor énfasis en aspectos sociales. Al inicio del Gobierno <strong>Lula</strong><br />
se esperaba que él haría algo diferente con respecto a la globalización.<br />
Por un lado cabia la posibilidad de una nueva política exterior que ayudaría<br />
pr<strong>of</strong><strong>und</strong>izar la integración sudamericana como un polo opuesto a<br />
la super potencia, los EE.UU. Por otro lado se esperaba la exigencia de<br />
una globalización más justa, como lo harian creer los discursos de <strong>Lula</strong><br />
en el Foro Social M<strong>und</strong>ial en Porto Alegre. Utilizando los dos proyectos<br />
más importantes de la política exterior brasileña (el Mercosur y las<br />
negociaciones en la Ronda de Doha de la OMC) se intentará definir el<br />
“elemento de izquierda”.<br />
Thomas Stehnken<br />
Globalization and the <strong>Lula</strong> Government:<br />
Searching for a Leftist Foreign Policy<br />
Summary<br />
The <strong>Lula</strong> Government’s economic policy is evidently a continuation <strong>of</strong><br />
the stability orientated course <strong>of</strong> the Cardoso Government with a greater<br />
emphasis on social policy issues. When <strong>Lula</strong> took <strong>of</strong>fice there were<br />
hopes that he would do something different with regard to globalization.<br />
There was a possibility for a new foreign policy, which would<br />
deepen South American integration as an antipode to the US-<br />
American super power. Another hope was definitely the advocacy <strong>of</strong> a<br />
“fair globalization”, as <strong>Lula</strong>’s appearances in the World Social Forum<br />
in Porto Alegre would make believe. With help <strong>of</strong> the two most important<br />
foreign policy projects (the Mercosul and the WTO Doha-Ro<strong>und</strong><br />
negotiations) it will be attempted to filter out the “leftist element”.
Brasiliens linke Außenpolitik?<br />
121 <br />
1. „<strong>Lula</strong> promete o primeiro m<strong>und</strong>o“ 1<br />
Luis Ignacio da Silva, genannt <strong>Lula</strong>, war einer der Vorreiter des viel zitierten<br />
Linksrucks in Lateinamerika. Nachdem er in den Wahlen 1994 <strong>und</strong> 1998<br />
gegen Fernando Henrique Cardoso (FHC) verloren hatte, setzte er sich 2002<br />
mit großer Mehrheit gegen José Serra durch, einen blassen Technokraten aus<br />
FHCs Partei . <strong>Lula</strong>, der in armen Verhältnisse aufgewachsen ist <strong>und</strong> lange Zeit<br />
Vorsitzender des größten Gewerkschaftsverbandes (Central Única dos Trabalhadores,<br />
CUT) war, stellte für einen Großteil der Bevölkerung so etwas wie <strong>die</strong><br />
letzte H<strong>of</strong>fnung auf eine Verbesserung der soziale Situation (Massenarmut,<br />
ungleiche Einkommensverteilung, Bildungssituation, etc.) dar (Desposato<br />
2006). So überzogen <strong>die</strong> Erwartungen gewesen sein mögen, so verständlich<br />
sind sie. Fakt ist, dass <strong>die</strong> graduell eingeleiteten Strukturanpassungsmaßnahmen<br />
nach mittlerweile zwei verlorenen <strong>und</strong> h<strong>of</strong>fenden Dekaden kein aufholendes<br />
Wachstum induziert haben, welches in irgendeiner Art <strong>und</strong> Weise <strong>die</strong><br />
soziale Situation nachhaltig verbessert hätte. In den beiden Amtszeiten von<br />
FHC änderten sich <strong>die</strong> einschlägigen sozialen Indikatoren wenig, aber <strong>die</strong><br />
FHC-Ära hatte etwas anderes zur Folge, nämlich relative makroökonomische<br />
Stabilität, <strong>und</strong> vielleicht noch wichtiger: Eine Art Pr<strong>of</strong>essionalisierung der<br />
Politik (Samuels 2006: 5). Innenpolitisch hält <strong>die</strong> <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong> <strong>die</strong>sen Kurs<br />
(H<strong>of</strong>meister 2004). Auch wenn <strong>die</strong> jüngsten Korruptionsskandale ein anderes<br />
Bild vermitteln mögen, gehen viele Analysten davon aus, dass populistische<br />
Tendenzen – entgegen anderen lateinamerikanischen Ländern – in Brasilien<br />
derzeit nicht zu befürchten sind. Nicht ohne Gr<strong>und</strong> wird <strong>Lula</strong> daher der sogenannten<br />
„guten Linken“ zugeordnet (Castañeda 2006).<br />
Auf den ersten Blick hinterließ FHC am Ende seiner beiden Amtszeiten<br />
ein stabiles ökonomisches Umfeld. Das große Problem in Brasilien bleibt aber<br />
<strong>die</strong> Verschuldung, genauer gesagt <strong>die</strong> interne Verschuldung, wobei es weniger<br />
<strong>die</strong> Höhe als vielmehr <strong>die</strong> Struktur der Schulden ist, <strong>die</strong> finanzpolitische Spielräume<br />
raubt. 2 Die <strong>Regierung</strong> FHC nahm immens hohe Zinssätze in Kauf, um<br />
<strong>die</strong> Inflation einzudämmen, wodurch wiederum das nötige Wachstum gedrosselt<br />
wird. Samuels (2003) spricht von einem fiscal straitjacket, das auch zukünftige<br />
<strong>Regierung</strong>en in ihren Bemühungen extrem einschränken wird. Entgegen<br />
der Befürchtungen der internationalen Finanzwelt führte <strong>Lula</strong> <strong>die</strong>sen makroökonomischen<br />
Kurs fort, setzt aber vor allem im Bereich der Sozialpolitik<br />
<strong>und</strong> der Außenpolitik andere Akzente, so dass schon von einem „economic<br />
1 Headline im Journal do Brasil, 30.10.2006, nach dem Wahlsieg.<br />
2 Ein großer Teil der Schulden ist kurzfristiger Natur, so dass <strong>die</strong> Refinanzierung schwierig werden<br />
kann. Des Weiteren sind viele Titel an den US-Dollar gekoppelt, was bei Währungsschwankungen<br />
problematisch ist (<strong>und</strong> 1999 auch der Fall war), <strong>und</strong> letztlich ist ein großer Teil an den Basiszins<br />
geknüpft, der in Brasilien um <strong>die</strong> 20% liegen kann (Samuels 2003: 546f.).
122<br />
Thomas Stehnken <br />
pragmatism with a human face“ gesprochen wird. (Faro de Castro/ Valladão<br />
de Carvalho 2003: 485). Dennoch muss er sich den Vorwurf gefallen lassen,<br />
dass seine Politiken denen von FHC gleichen <strong>und</strong> <strong>die</strong> soziale Situation des<br />
Landes nicht verbessern (Panizza 2005). Das Dilemma ist <strong>of</strong>fensichtlich:<br />
Einerseits ist <strong>die</strong> <strong>Regierung</strong> gezwungen, <strong>die</strong> Reformen von FHC weiterzuführen,<br />
den Staatshaushalt zu konsoli<strong>die</strong>ren <strong>und</strong> den Wettbewerb zu fördern,<br />
wenn Brasilien in der Ersten Welt mitspielen möchte (Bear/ Amann 2005).<br />
Andererseits jedoch sehnt sich das Land, vor allem <strong>die</strong> Millionen von Armen<br />
<strong>und</strong> Marginalisierten, nach einer wirksamen Armutsbekämpfung. Nicht ohne<br />
Gr<strong>und</strong> gewann <strong>Lula</strong> im besonders armen Norden <strong>und</strong> Nordosten des Landes<br />
bei seiner Wiederwahl <strong>die</strong> meisten Stimmen (Hunter/ Power 2007).<br />
Es ist schwer, Brasilien ohne <strong>die</strong>se interne Dimension zu begreifen, aber<br />
im Folgenden soll versucht werden, <strong>die</strong> Außenpolitik der <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong><br />
näher zu beleuchten. Wenn <strong>die</strong> Wirtschafts- <strong>und</strong> <strong>die</strong> Innenpolitik schon tendenziell<br />
dem neoliberalen Kurs von FHC folgt, soll nun der Frage nachgegangen<br />
werden, ob es zumindest im Bereich der Außenpolitik etwas „Linkes“<br />
vorzuweisen gibt. Bei Amtsantritt waren <strong>die</strong> H<strong>of</strong>fnungen groß, dass <strong>Lula</strong> im<br />
Hinblick auf <strong>die</strong> <strong>Globalisierung</strong> etwas „anders“ machen werde. Bei seiner<br />
Wahl wurde <strong>die</strong> Chance einer neuen Außenpolitik gesehen, <strong>die</strong> beispielsweise<br />
den Mercosul als südamerikanischen Integrationsmotor ansieht <strong>und</strong> <strong>die</strong> Vergrößerung<br />
<strong>und</strong> Vertiefung der Integration vorantreibt – vor allem als Gegenpol<br />
zu den übermächtigen USA (Sader 2003). Eine weitere H<strong>of</strong>fnung war<br />
sicherlich das Eintreten für eine „gerechte <strong>Globalisierung</strong>“, wie <strong>Lula</strong>s Auftritte<br />
beim Weltsozialforum in Porto Alegre glauben machen konnten. Anhand<br />
<strong>die</strong>ser außenpolitischen Themen (regionale Integration <strong>und</strong> den Verhandlungen<br />
der Welthandelsorganisation, WTO) soll nun versucht werden, dass „linke<br />
Element“ herauszuarbeiten. Der folgende Teil stellt zunächst in aller gebotenen<br />
Kürze <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>züge der brasilianischen Außenpolitik dar <strong>und</strong> versucht<br />
anschließend, linke Außenpolitik zu definieren. In Kapitel 3 werden<br />
schließlich <strong>die</strong> beiden derzeit wichtigsten konkreten Projekte der brasilianischen<br />
Außenpolitik näher betrachtet, nämlich <strong>die</strong> Erweiterung <strong>und</strong> Vertiefung<br />
des Mercosul <strong>und</strong> <strong>die</strong> verstärkte Süd-Süd-Kooperation mit Gründung der G-20<br />
im Vorfeld der gescheiterten WTO-Verhandlungen in Cancún. 3 Im Fazit wird<br />
<strong>die</strong> Frage geklärt, ob <strong>und</strong> wenn ja inwiefern man der „linken“ <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong><br />
eine ebensolche Außenpolitik unterstellen kann.<br />
3 Der Mercosul (spanisch Mercosur) ist ein Integrationsbündnis zwischen Brasilien, Argentinien,<br />
Paraguay, Uruguay <strong>und</strong> seit jüngstem Venezuela (Mitte 2006). Die restlichen Staaten in Südamerika<br />
sind zumindest assoziiert. Die G-20 stellen eine schwankende Anzahl von Entwicklungs- <strong>und</strong><br />
Schwellenländern dar, deren f<strong>und</strong>amentales Interesse es ist, für ihre Agrarerzeugnisse Zugang zu<br />
den europäischen <strong>und</strong> US-amerikanischen Märkten zu erlangen. Aufgr<strong>und</strong> der wechselnden Mitgliederzahl<br />
wird manchmal auch von G-21 gesprochen. Der Einfachheit halber wird hier durchgängig<br />
von G-20 gesprochen (siehe auch ).
Brasiliens linke Außenpolitik?<br />
123 <br />
2. Linke Außenpolitik?<br />
Die Außenpolitik Brasiliens hier ausführlich <strong>und</strong> angemessen darzustellen ist<br />
unmöglich <strong>und</strong> wurde an anderer Stelle schon getan (Barrios 1999, H<strong>of</strong>meister<br />
2002). Außenpolitik wurde in Brasilien lange Zeit als Außenwirtschaftspolitik<br />
begriffen. Dieses über Jahrzehnte gültige Paradigma scheint heute nicht<br />
mehr zu gelten, da einerseits <strong>die</strong> Wichtigkeit einzelner Länder nicht mehr dem<br />
Gewicht des Außenhandels entspricht (s.u.) <strong>und</strong> andererseits hat Brasilien<br />
sich mittlerweile mit seiner Rolle einer regionalen Führungsmacht angefre<strong>und</strong>et<br />
(Bernal-Meza 2005). Sowohl unter FHC als auch unter <strong>Lula</strong> waren <strong>die</strong><br />
dominierenden Themen in der Außenpolitik <strong>die</strong> Stärkung des Mercosul <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Öffnung der Außenpolitik im Sinne von der Suche nach neuen Partnern bei<br />
den WTO-Verhandlungen. Kontinuität ist in drei Themenbereichen erkennbar:<br />
1.) Skepsis gegenüber der Área de Libre Comercio de las Américas (ALCA),<br />
zumindest unter den von den USA vorgeschlagenen Bedingungen, 2.) Starker<br />
Multilateralismus, vor allem erkennbar an den Verhandlungen über Partnerschaften<br />
(strategisch oder nicht) mit einer Reihe von Ländern <strong>und</strong> 3.) Hinwendung<br />
zu Entwicklungs- <strong>und</strong> Schwellenländern, vor allem in Afrika (Gratius<br />
2004: 11).<br />
Die Gretchenfrage ist nun, was unter „linker Außenpolitik“ zu verstehen<br />
ist. Angesichts der Tatsache, dass kaum Konsens darüber herrscht, was denn<br />
links sei, aber viel darüber geschrieben wird, so wird bei der Analyse der Außenpolitik<br />
das Problem noch verschärft, da es wenige bis gar keine nennenswerten<br />
Aufsätze zum Thema „linke Außenpolitik“ gibt. Castañeda (2006)<br />
definiert links als „that current <strong>of</strong> thought, politics, and policy that stresses<br />
social improvements over macroeconomic orthodoxy, egalitarian distribution<br />
<strong>of</strong> wealth over its creation, sovereignty over international cooperation, democracy<br />
[…] over governmental effectiveness […].“ Im Gegensatz dazu<br />
beschreibt Petras (2006: 280f.) in einer 14-Punkte umfassenden Liste sehr<br />
detailliert, was sich historisch als Konsens eines minimalen linken Programms<br />
zwischen Akademikern <strong>und</strong> Aktivisten entwickelt hat. Die Außenpolitik sollte<br />
demnach so gestaltet sein, dass sich im Zuge der <strong>Globalisierung</strong> laissez faire<br />
economics nicht weiter verbreiten kann. Linke Außenpolitik wird <strong>of</strong>tmals (auch<br />
bei Petras) mit progressive foreign policy gleichgesetzt, worunter wiederum eine<br />
interessante Mixtur von Prinzipien des Multilateralismus über eine neue<br />
Weltordnungspolitik bis hin zu einem Wiederaufleben des tercerm<strong>und</strong>ismo verstanden<br />
werden kann. Die genaue Abgrenzung fällt somit schwer <strong>und</strong> eine<br />
exakte Definition des Phänomens ist letztlich wohl unmöglich, weil <strong>die</strong> Diskussion<br />
zu einem nicht unerheblichen Teil ideologisch aufgeladen ist.<br />
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit können folgende Aspekte auch mit in<br />
eine Beschreibung des Phänomens einfließen: Eine deutlich anti-hegemoniale<br />
Haltung oder zumindest ein expliziter Diskurs gegen <strong>die</strong> Vormachtstellung
124<br />
Thomas Stehnken <br />
einzelner Länder, eine Ablehnung des Unilateralismus <strong>und</strong> <strong>die</strong> Wahrung nationaler<br />
Souveränitätsrechte, das Drängen auf eine „gerechte <strong>Globalisierung</strong>“<br />
<strong>und</strong> das Streben nach einer neuen Weltordnungspolitik mit Umverteilung zu<br />
Gunsten der <strong>Globalisierung</strong>sverlierer, mehr Mitspracherecht der so genannten<br />
Dritten Welt in den bedeutenden Gremien der wichtigen internationalen<br />
Organisationen, sowie ein Wiederaufleben des tercerm<strong>und</strong>ismo <strong>und</strong> ein verstärkter<br />
Süd-Süd-Austausch mit solidarischem Technologietransfer. 4<br />
3. Mercosul <strong>und</strong> Süd-Süd-Kooperation als wichtige<br />
Pfeiler der brasilianischen Außenpolitik<br />
<strong>Lula</strong> bekräftigt in jedem Interview, dass der Mercosul für seine <strong>Regierung</strong> das<br />
bedeutsamste außenpolitische Projekt darstellt. Auch wenn <strong>die</strong> Integrationsdynamik<br />
in den letzten Jahren mit Gründung des technischen Sekretariats <strong>und</strong><br />
der Schaffung der ständigen Vertreter etwas zugenommen hat, so bleibt er in<br />
den wirtschaftlichen Erwartungen zurück. Deutliche handelsschaffende Effekte<br />
sind bislang ausgeblieben, was nicht zuletzt durch <strong>die</strong> Wirtschaftskrise in<br />
Argentinien <strong>und</strong> <strong>die</strong> geringe Größe der immer noch unvollständigen Zollunion<br />
herrührt. Durch <strong>die</strong> Aufnahme Venezuelas bekam das Projekt in jüngster<br />
Vergangenheit neue (linke?) Dynamik. Auf globaler Ebene ist das wohl ambitionierteste<br />
Projekte der <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong> <strong>die</strong> Gründung der G-20 im Vorfeld<br />
der WTO-Verhandlungen in Cancún. <strong>Lula</strong>’s Strategie ist hier, <strong>die</strong> Verhandlungsmacht<br />
der Entwicklungs- <strong>und</strong> Schwellenländer zu erhöhen, um so größere<br />
Zugeständnisse von Industrienationen bei den konfliktträchtigen Agrarverhandlungen<br />
zu bekommen. Die Forderungen sind reichhaltig <strong>und</strong> man<br />
könnte hier unterstellen, dass <strong>die</strong> H<strong>of</strong>fnung, <strong>die</strong> <strong>Globalisierung</strong> so zu gestalten,<br />
dass auch <strong>die</strong> Entwicklungsländer davon pr<strong>of</strong>itieren können, hier ausschlaggebend<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> verstärkte Süd-Süd-Kooperation ein Anzeichen für ein<br />
Wiederaufleben eines tercerm<strong>und</strong>ismo sei.<br />
3.1 Mercosul<br />
In der Reihe von ambitionierten Integrationsversuchen, <strong>die</strong> in Lateinamerika<br />
größten Teils gescheitert sind, nimmt der Mercosul eine fast außergewöhnliche<br />
4 Wohl wissend, dass der Begriff „Dritte Welt“ <strong>und</strong> tercerm<strong>und</strong>ismo ursprünglich gerade auf das<br />
Ausbleiben jeglicher politisch-ideologischer Zuordnung abzielten, soll <strong>die</strong>ser Komplex trotz aller<br />
richtigen Einwände hier unter linker Außenpolitik subsumiert werden. Dies geschieht deswegen,<br />
da tendenziell linke Gruppierungen jene solidarische, multilaterale <strong>und</strong> anti-hegemoniale Haltung<br />
in den internationalen Beziehungen für sich beanspruchen.
Brasiliens linke Außenpolitik?<br />
125 <br />
Position ein. 5 Zwar wurden auch hier <strong>die</strong> hochgesteckten Ziele nicht erreicht,<br />
<strong>die</strong> im Gründungsvertrag von Asunción 1994 vereinbart wurden, aber trotzdem<br />
hat das Integrationsprojekt eine erstaunliche Krisenresistenz bewiesen.<br />
Für <strong>die</strong> <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong> hat der Mercosul vielmehr politische als wirtschaftliche<br />
Bedeutung. Der intraregionale Handel stagniert wie <strong>die</strong> nachfolgende Tabelle<br />
1 verdeutlicht. Der brasilianische Außenhandel in <strong>die</strong> Mitgliedsstaaten ist<br />
relativ gering.<br />
Tabelle 1: Exporttrends im Mercosul (in Mio US$ <strong>und</strong> Prozent)<br />
1990 1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005<br />
Jan.-<br />
Juni<br />
2006 a<br />
Gesamtexporte<br />
(1)<br />
46.403 70.129 85.692 89.078 89.500 106.674 134.196 162.512 84.772<br />
jährliches<br />
Wachstum -0,3 13,3 12,3 4,0 0,5 19,2 25,8 21,1 12,8<br />
(%)<br />
Exporte in<br />
den MER- 4.127 14.199 17.710 15.298 10.197 12.709 17.319 21.406 11.468<br />
COSUL (2)<br />
jährliches<br />
Wachstum 7,6 17,8 16,8 -13,6 -33,3 24,6 36,3 23,6 16,3<br />
(%)<br />
Exporte innerhalb<br />
des<br />
MECOSUL<br />
8,9 20,2 20,7 17,2 11,4 11,9 12,9 13,2 13,5<br />
(2/1)<br />
a vorläufige Schätzung<br />
Quelle: CEPAL 2006: 81, auf Basis der <strong>of</strong>fiziellen Informationen des Mercosul Sekretariats <strong>und</strong><br />
<strong>of</strong>fizieller Länderinformationen (Sekretariat für Außenhandel in Brasilien [SECEX], Nationales<br />
Institut für Statistik <strong>und</strong> Zensus in Argentinien [INDEC], Zentralbanken von Uruguay <strong>und</strong><br />
Paraguay).<br />
Durch <strong>die</strong> Aufnahme Venezuelas hat <strong>die</strong> jüngere Geschichte des Mercosul eine<br />
für viele unverständliche Wendung genommen. Sind sozialistische Bruderliebe<br />
zwischen Hugo Chávez <strong>und</strong> <strong>Lula</strong> <strong>und</strong> der gemeinsame Kampf gegen den<br />
Hegemon im Norden Gründe für <strong>die</strong> Aufnahme Venezuelas als neues Mitglied?<br />
Ohne Zweifel gibt es in der Hemisphäre mit den USA einen Hegemon, der<br />
den Ländern Lateinamerikas militärisch <strong>und</strong> ökonomisch weit überlegen ist. Die<br />
Hegemonialpolitik der USA hat auf dem Kontinent eine lange Tradition (Re-<br />
Vista 2005) <strong>und</strong> auch <strong>die</strong> (mittlerweile gescheiterten) ALCA-Verhandlungen<br />
5 Das zweite wichtige Integrationsprojekt in Südamerika, <strong>die</strong> Comunidad Andina (CAN), litt zuletzt<br />
unter dem Austritt Venezuelas. Auflösungserscheinungen machten sich auch bei den Verhandlungen<br />
mit den USA über ein Freihandelsabkommen bemerkbar, bei denen es den Mitgliedsstaaten<br />
nicht gelang, eine gemeinsame Position vorzulegen, sodass es letztlich zu bilateralen Verhandlungen<br />
kam.
126<br />
Thomas Stehnken <br />
wurden lange von den US-amerikanischen Interessen geprägt. Während der<br />
Verhandlungen nahm Brasilien eine „pragmatisch autonome“ Rolle ein (Calcagnotto<br />
2002: 93). Im Falle Brasiliens stellt sich <strong>die</strong> Sache relativ deutlich dar:<br />
Wenn man verhindern will, dass das US-amerikanische Projekt einer ALCA<br />
(light oder wie auch immer) zu deren Bedingungen realisiert wird, braucht man<br />
Partner. Die <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong> hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie sich<br />
auch ein rein südamerikanisches Integrationsprojekt verstellen könnte – mit<br />
dem Mercosul als Gr<strong>und</strong>lage, den es schließlich zu erweitern <strong>und</strong> zu vertiefen<br />
gilt. 6 Der Mersocul wird somit für <strong>die</strong> brasilianische <strong>Regierung</strong> einerseits zu<br />
einem politischen Gegengewicht zu den USA <strong>und</strong> andererseits zur Gr<strong>und</strong>lage<br />
einer South American Free Trade Area (SAFTA) oder eine tiefer gehenden Südamerikanischen<br />
Union (SU), <strong>die</strong> sich am Vorbild der Europäischen Union<br />
(EU) orientieren könnte. Über <strong>die</strong> Notwendigkeit einer verstärkten Integration<br />
bestehen kaum Zweifel <strong>und</strong> im Zuge dessen war das „Patria Grande“ für<br />
Lateinamerika schon seit jeher ein verlockender Gedanke (Grabendorff 2002:<br />
73ff).<br />
Die Integration in Südamerika voranzutreiben gestaltet sich zunehmend<br />
schwieriger. Bernal-Meza (2005) behauptet, dass es derzeit so wenig politische<br />
Elemente wie selten zuvor in der Geschichte Lateinamerikas gibt, <strong>die</strong> eine<br />
gemeinsame Vorstellung hinsichtlich der regionalen Integration <strong>und</strong> globalen<br />
Eingliederung ermöglichen. Trotz der viel zitierten Einheit des Subkontinents<br />
wäre es falsch zu denken, dass es in Lateinamerika eine vorherrschende Meinung<br />
über den Hegemon gibt. Ebenso wenig existiert eine Vision über <strong>die</strong><br />
internationale Eingliederung in den Weltmarkt, <strong>die</strong> Gründung einer ALCA<br />
<strong>und</strong> einer Sicherheitspolitik. Der Hegemon spielt für eine Reihe von Ländern<br />
eine ökonomisch herausragende Rolle. Es gibt einige, <strong>die</strong> auch aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
Außen(handels)politik den Hegemon begrüßen (Chile, Mexiko, Kolumbien)<br />
<strong>und</strong> andere, <strong>die</strong> damit Schwierigkeiten haben (Brasilien, Venezuela, Argentinien).<br />
7 Ein Südamerika umfassendes Integrationsprojekt, so wie es Brasilien<br />
6 Außenminister Amorim sagte in seiner Antrittsrede: „Under the <strong>Lula</strong> Administration, South<br />
America will be our priority. […] We will reinforce Mercosur’s political and social aspects without<br />
losing sight <strong>of</strong> the need to overcome the difficulties <strong>of</strong> the economic and trade agenda […] We<br />
will attach importance to the setting up <strong>of</strong> common institutions, social policies, and partnerships<br />
in the areas <strong>of</strong> education and culture, the free circulation <strong>of</strong> individuals, and financial and monetary<br />
mechanisms for the promotion <strong>of</strong> trade and integration. […] We deem it essential to intensify<br />
integration among South American countries at the most varied levels. The creation <strong>of</strong> a unified<br />
economic space, based on free trade and on infrastructure projects will have positive repercussions<br />
both internally and in the region’s relations with the rest <strong>of</strong> the world.“ S.<br />
, (15.4.2007).<br />
7 Für Chile stellte <strong>die</strong> Unterzeichnung des Freihandelsabkommen mit den USA einen Meilenstein<br />
in einer langen Reihe bilateraler Freihandelsverträge dar. Kolumbien, das auch ein Handelsabkommen<br />
mit den USA unterzeichnet hat <strong>und</strong> zudem sicherheitspolitisch mit den USA verb<strong>und</strong>en<br />
ist (Plan Colombia) begrüßt <strong>die</strong> herausragende Stellung der USA sehr.
Brasiliens linke Außenpolitik?<br />
127 <br />
anstrebt, kann sich somit nicht auf rein anti-hegemonialen Prinzipien beruhen.<br />
Mit Blick auf <strong>die</strong> ALCA wird auch deutlich: Es gibt <strong>die</strong>jenigen Länder,<br />
<strong>die</strong> schon freien Zugang zum US-amerikanischen Markt haben <strong>und</strong> um <strong>die</strong><br />
Exklusivität <strong>die</strong>ses fürchten (Mexiko, Chile) <strong>und</strong> wiederum andere, <strong>die</strong> durch<br />
komplett liberalisierten Handel zu Recht Gefahren für <strong>die</strong> heimische Wirtschaft<br />
sehen (Argentinien, Brasilien).<br />
Zwei Szenarien ließen sich kurz skizzieren: 1.) Südamerika spaltet sich. Mit<br />
dem Beitritt Venezuelas wandelt sich der Mercosul in ein „linkes Projekt“ mit<br />
einem deutlichen anti-amerikanischen Diskurs, defensiver Weltmarktintegration,<br />
etwa nach der von Chávez vorgeschlagenen Alternativa Bolivariana para las<br />
Américas (ALBA), <strong>und</strong> mit Brasilien <strong>und</strong> Venezuela als Protagonisten (siehe<br />
auch den Beitrag von Jörg Husar in <strong>die</strong>sem Band). Bolivien hat bereits Interesse<br />
an einer Vollmitgliedschaft signalisiert <strong>und</strong> würde ein solches Projekt<br />
wahrscheinlich mittragen. Auf der anderen Seite gründet sich eine ALCA light<br />
angeführt von den USA, Mexiko <strong>und</strong> Chile. Diese ist geprägt von Freihandelsinteressen<br />
<strong>und</strong> erstreckt sich von Alaska über Zentralamerika bis nach<br />
Feuerland. Für <strong>die</strong>se Pazifikanrainer wären <strong>die</strong> dynamischen ostasiatischen<br />
Märkte greifbar nahe. Die Anden würden nach <strong>die</strong>sem Szenario gewissermaßen<br />
als natürliche Grenze zwischen den Integrationsabkommen in Südamerika<br />
fungieren. 2.) Südamerika gelingt <strong>die</strong> politische <strong>und</strong> ökonomische Integration.<br />
Nach <strong>die</strong>sem Szenario würde der Mercosul als Basis für <strong>die</strong> weiteren Integrationsschritte<br />
<strong>die</strong>nen. Vorraussetzung hierfür wäre, dass Brasilien es<br />
schafft, Chávez zu „beruhigen“ <strong>und</strong> ein Projekt vorzulegen, das auch für <strong>die</strong><br />
anderen Länder interessant ist. Zwischen den beiden Ländern herrschen traditionell<br />
gute Beziehungen, <strong>die</strong> „sich weitgehend unabhängig von den hochgespannten<br />
Absichtserklärungen von Hugo Chávez entwicklen“ (Werz 2002:<br />
210). Chávez’ bolivarianischen Träume wurden wohl schon von FHC skeptisch<br />
betrachtet (ebda.), was auch für <strong>Lula</strong> gilt.<br />
Eine Einschätzung <strong>die</strong>ser beiden Szenarien fällt deutlich aus: Brasilien<br />
würde sich nie auf ein „linkes“ Projekt wie <strong>die</strong> ALBA einlassen. Es gab zwar<br />
während der ALCA-Verhandlungen äußerst polemische Töne auf allen Seiten,<br />
aber Brasilien hat das Projekt aus guten Gründen abgelehnt: Aufgr<strong>und</strong> der<br />
geringeren Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA wäre Brasilien ein klarer<br />
Verlierer des ALCA-Projektes geworden – zumindest zu den Bedingungen,<br />
<strong>die</strong> von den USA vorgegeben waren. Ein politisches Gegengewicht zu<br />
den USA zu entwickeln ist auch im brasilianischen Führungsanspruch in<br />
Lateinamerika erkennbar, aber sich gänzlich von den USA zu distanzieren<br />
kann nicht in Brasiliens Interesse liegen. Zum einen ist der US-amerikanische<br />
Markt zu wichtig, als dass Brasilien auf ihn verzichten könnte, zum anderen,<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Gr<strong>und</strong> wiegt schwerer, würde eine Abschottung nach Chávez’<br />
Vorstellungen bedeuten, dass <strong>die</strong> Anpassungsleistungen der vergangenen<br />
Jahre <strong>und</strong> <strong>die</strong> mühsame Eingliederung in <strong>die</strong> Weltmärkte umsonst gewesen
128<br />
Thomas Stehnken <br />
wären. Die Kosten für einen neuen Kurs in der Außenwirtschaftspolitik<br />
könnte sich Brasilien nie leisten.<br />
Die von Itamaraty formulierte Außenpolitik trägt seit Mitte der 1990er<br />
Jahre den veränderten globalen Rahmenbedingungen Rechnung. Innerhalb<br />
der neuen Außenpolitik wird Südamerika als „valid geopolitical and geoeconomic<br />
entity“ angesehen (Burgess 2006: 24). Brasilien würde einer ALCA also<br />
erst nach einer Vertiefung <strong>und</strong> Erweiterung des Mercosul zustimmen. Problematisch<br />
ist hier jedoch, dass man selbst keine klar definierte gemeinsame<br />
Position über <strong>die</strong> Zukunft desselben hat. Der Mercosul ist derzeit nicht in der<br />
Lage, Integrationsmotor zu sein, wie das Gipfeltreffen Anfang 2007 verdeutlicht<br />
hat. Zu groß scheinen <strong>die</strong> Differenzen zwischen den Mitgliedsländern. 8<br />
Fazit: Die brasilianische Position ist bis zu einem gewissen Grade durch<br />
<strong>die</strong> Existenz des Hegemons im Norden zu erklären, dessen Einfluss in der<br />
Region hinlänglich bekannt ist (ReVista 2005). Wenn linke Außenpolitik also<br />
bedeuten sollte, sich gegen den Hegemon zu stellen, dann könnte man den<br />
Mercosul als Teil einer solchen verstehen. Dennoch, da <strong>die</strong> Vergrößerung des<br />
Mercosul oberste Priorität in der brasilianischen Außenpolitik genießt, kann<br />
man den Beitritt Venezuelas auch pragmatisch begreifen. Da man sich mit<br />
Chile <strong>und</strong> der Andengemeinschaft nicht auf einen Beitritt, sondern nur auf<br />
eine Assoziierung einigen konnte, hat man hier <strong>die</strong> Gelegenheit genutzt, um<br />
wieder ein Land in das eigene Projekt zu integrieren. Ob <strong>die</strong> Haltung in den<br />
ALCA-Verhandlungen „links“ ist, kann auch deswegen bezweifelt werden, da<br />
sie sich nicht gänzlich von der Haltung FHCs unterscheidet, <strong>und</strong> da <strong>die</strong> AL-<br />
CA vor allem aufgr<strong>und</strong> der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen<br />
Wirtschaft abgelehnt wurde. Man kann also festhalten, dass hier ganz<br />
pragmatisch gehandelt wurde <strong>und</strong> Brasilien dem ALCA-Projekt aus guten<br />
Gründen nicht zugestimmt hat. Anti-hegemonial war es sicherlich nicht. Sollte<br />
<strong>die</strong> Südamerikanische Union wirklich das langfristige Ziel der brasilianischen<br />
Integrationsbemühungen sein, so müssten unzählige Interessen vereinigt<br />
werden <strong>und</strong> der notwendige Pragmatismus mit diplomatischem Geschick<br />
verb<strong>und</strong>en werden. Ob es der neuen Führungsmacht gelingt, <strong>die</strong> spezifischen<br />
Interessen der Nachbarländer zu bedenken <strong>und</strong> den Multilateralismus auch<br />
auszuleben, sich also auch überstimmen zu lassen (Grabendorff 2002), bleibt<br />
mithin abzuwarten.<br />
8 „Cúpula do Mercosul termina com polêmicas sobre desigualdades entre países”, so Folha Online,<br />
19.1.2007.
Brasiliens linke Außenpolitik?<br />
129 <br />
3.2 Das Streben nach „gerechter“ <strong>Globalisierung</strong> <strong>und</strong> verstärkter Süd-<br />
Süd-Kooperation<br />
Ein Blick auf <strong>die</strong> wichtigsten wirtschaftlichen Kennzahlen verdeutlicht, dass<br />
für Brasilien seit Mitte der 1990er Jahre ein kontinuierliches Anwachsen der<br />
Exporte <strong>und</strong> Importe zu beobachten ist. Die Eingliederung in den Weltmarkt<br />
schreitet stetig voran, auch wenn der Anteil Brasiliens an den weltweiten Exporten<br />
mit 1,13% bescheiden ist. Die Exporte setzen sich zusammen aus 52%<br />
verarbeiteten Produkten, 29,6% Agrarprodukten <strong>und</strong> 16% Brennst<strong>of</strong>fen <strong>und</strong><br />
Bergbauprodukten. Die EU <strong>und</strong> <strong>die</strong> USA sind mit jeweils circa 20% <strong>die</strong> wichtigsten<br />
Zielregionen der brasilianischen Exporte (alle Zahlen gelten für 2005,<br />
WTO 2006). Bei einem Handelsbilanzüberschuss von circa US$ 40 Mrd. im<br />
Jahre 2005 kann man davon ausgehen, dass das Land zu den Gewinnern der<br />
<strong>Globalisierung</strong> gehört.<br />
Brasilien konnte sich in den vergangenen Jahren nicht nur auf regionaler<br />
Ebene eine Führungsposition erarbeiten, sondern auch auf globaler Ebene.<br />
Besonders hervorzuheben ist hierbei <strong>die</strong> Arbeit der brasilianischen Delegation<br />
im Vorfeld der WTO-Verhandlungen in Cancún im Rahmen der Doha-<br />
R<strong>und</strong>e, bei der mit der Gründung der G-20 ein mächtiger Block von Schwellen-<br />
<strong>und</strong> Entwicklungsländern entstanden ist. 9 Diese Gruppe wird letztlich<br />
durch gemeinsame Interessen im Bereich des weltweiten Agrarhandels zusammengehalten<br />
<strong>und</strong> erweckt durch <strong>die</strong> Mitgliedschaft von Brasilien, In<strong>die</strong>n,<br />
China <strong>und</strong> Südafrika den Eindruck, ein mächtiger Akteur im internationalen<br />
Handelssystem zu sein, der sich durch eine verstärkte Süd-Süd-Kooperation<br />
gebildet hat <strong>und</strong> für eine „gerechte“ <strong>Globalisierung</strong> eintritt. <strong>Lula</strong> verspricht<br />
sich von der Kooperation mit anderen Entwicklungs- <strong>und</strong> Schwellenländern<br />
gar eine „neue globale Handelsgeographie“ (Gratius 2004: 16). Nach eigenen<br />
Angaben vertritt <strong>die</strong> G-20 circa 60% der Weltbevölkerung, 70% der ländlichen<br />
Weltbevölkerung <strong>und</strong> ist verantwortlich für circa 20% der Weltagrarexporte<br />
(). Vorrangiges Ziel ist<br />
ein verbesserter Marktzugang für Agrarprodukte sowie <strong>die</strong> Abschaffung der<br />
Verzerrungen im Agrarhandel <strong>und</strong> in der Agrarproduktion (ausführlich: Hauser<br />
2003).<br />
Die Strategie der <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong>, <strong>die</strong> Verhandlungsmacht der Entwicklungs-<br />
<strong>und</strong> Schwellenländer bei weiteren Welthandelsr<strong>und</strong>en zu erhöhen,<br />
um auf <strong>die</strong>se Weise größere Zugeständnisse von den Industrieländern zu<br />
erreichen, ist recht <strong>of</strong>fensichtlich. Die Forderungen sind reichhaltig, <strong>die</strong> Inte-<br />
9 Brasilien konnte sich in <strong>die</strong>sem Kontext als Sprachrohr der Entwicklungs- <strong>und</strong> Schwellenländer<br />
pr<strong>of</strong>ilieren. Brasilien war zudem Mitglied einer kleinen exklusiven Gruppe (G-6), <strong>die</strong> zudem aus<br />
Australien, der EU, In<strong>die</strong>n, Japan <strong>und</strong> den USA bestand, <strong>und</strong> versuchte, im Vorfeld der Verhandlungen<br />
in Cancún überhaupt erst einmal verschiedene Handlungskorridore auszuleuchten. Die<br />
Treffen endeten bekanntlich ergebnislos, da <strong>die</strong> Interessen der Vermittler zu weit auseinander lagen.
130<br />
Thomas Stehnken <br />
ressenlage hingegen so festgefahren, dass in absehbarer Zukunft keine substanziellen<br />
Ergebnisse zu erwarten sind. 10 Problematisch bei der G-20 ist vor<br />
allem <strong>die</strong> Heterogenität der beteiligten Länder. Hier kommen Länder zusammen,<br />
deren Exporterlöse zu einem überwiegenden Teil aus Agrarprodukten<br />
bestehen, mit Ländern, deren Anliegen ihre diversifizierte Exportstruktur<br />
widerspiegelt, in der Agrarprodukte nur einen Teil der Exporte ausmachen.<br />
Die G-20 wird somit anscheinend nur durch das Interesse geeint, Marktzugang<br />
für <strong>die</strong> heimischen Agrarexporteure zu den Märkten der Industrienationen<br />
zu erhalten. Da <strong>die</strong>ses Thema allerdings noch einige Zeit auf der Agenda<br />
der WTO stehen wird, gibt es keinen Gr<strong>und</strong> anzunehmen, dass <strong>die</strong> G-20 in<br />
absehbarer Zeit zerfallen wird. Es ließe sich trefflich darüber streiten, ob der<br />
Abbruch der Verhandlungen in Cancún als Erfolg zu werten sei <strong>und</strong> ob <strong>die</strong><br />
G-20 denn substanziell überhaupt etwas erreicht hätten. Aber immerhin wurden<br />
ihre Forderungen wahrgenommen. Außerdem bekommt <strong>die</strong> H<strong>of</strong>fnung,<br />
<strong>die</strong> <strong>Globalisierung</strong> so zu gestalten, dass auch <strong>die</strong> Schwellen- <strong>und</strong> Entwicklungsländer<br />
vermehrt davon pr<strong>of</strong>itieren können, durch <strong>die</strong> Mitgliedschaft der<br />
vier großen Länder eine neue Dimension. Ein kurzer Blick auf <strong>die</strong> Außenbeziehungen<br />
Brasiliens mit China, In<strong>die</strong>n <strong>und</strong> Südafrika mag Aufschluss darüber<br />
geben, inwiefern hier eine neue Süd-Süd-Kooperation entstehen kann.<br />
Die verstärkte Kooperation Brasiliens mit In<strong>die</strong>n <strong>und</strong> Südafrika, <strong>die</strong> sich<br />
zur so genannten IBSA, einem präferentiellen Handelsabkommen, zusammengeschlossen<br />
haben, ist hier besonders hervorzuheben. Noch in seinem<br />
ersten Amtsjahr überzeugte <strong>Lula</strong> <strong>die</strong> <strong>Regierung</strong>en beider Länder eine gemeinsame<br />
Position in den WTO-Verhandlungen zu vertreten <strong>und</strong> darüber hinaus<br />
<strong>die</strong> Kooperation bei Sicherheitspolitik, Transportwesen, Wissenschafts- <strong>und</strong><br />
Technologiepolitik zu verbessern. Sie haben Anfang 2005 ein Dialogforum<br />
eingerichtet <strong>und</strong> wollen somit ihr Verhalten in internationalen Foren koordinieren<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Kooperation in ökonomischen, sozialen <strong>und</strong> multilateralen<br />
Bereichen vertiefen. Über <strong>die</strong> Zukunft <strong>die</strong>ser Partnerschaft <strong>und</strong> darüber, ob<br />
sich hiermit eine dauerhafte <strong>und</strong> nachhaltige Süd-Süd-Kooperation anbahnt,<br />
lässt sich freilich noch nicht viel sagen. Bislang gab es jedenfalls keine nennenswerten<br />
(Handels-)Beziehungen zwischen <strong>die</strong>sen Ländern, wie Tabelle 2<br />
verdeutlicht. Die Vereinbahrungen deuten auf ein politisches Projekt hin,<br />
dessen Gelingen von dem Willen der jeweiligen <strong>Regierung</strong> abhängt.<br />
10 Um <strong>die</strong> Verhandlungen der Doha-R<strong>und</strong>e weiterzuführen, <strong>die</strong> im Juli 2006 ausgesetzt wurden,<br />
müssen von den Protagonisten substanzielle Zugeständnisse gemacht werden: Die EU muss ihre<br />
Agrarzölle senken, <strong>die</strong> USA ihre Agrarsubventionen abbauen <strong>und</strong> <strong>die</strong> G-20 ihre Märkte für Industriegüter<br />
<strong>und</strong> Dienstleistungen öffnen.
Brasiliens linke Außenpolitik?<br />
131 <br />
Tabelle 2: Bilateraler Handel zwischen Brasilien, In<strong>die</strong>n <strong>und</strong> Südafrika<br />
(1989-2004, in Mio. US$ <strong>und</strong> Prozent)<br />
Jahr<br />
Gesamter Handel mit % des Außen- Gesamter Handel mit % des Außenhandels<br />
Südafrika<br />
handels In<strong>die</strong>n<br />
1989 256,04 0,5 233,93 0,4<br />
1990 246,76 0,5 183,99 0,4<br />
1991 236,26 0,4 198,27 0,4<br />
1992 267,62 0,5 148,69 0,3<br />
1993 324,81 0,5 215,94 0,3<br />
1994 467,56 0,6 709,20 0,9<br />
1995 597,86 0,6 487,79 0,5<br />
1996 710,29 0,7 370,68 0,4<br />
1997 683,05 0,6 382,44 0,3<br />
1998 507,06 0,5 356,55 0,3<br />
1999 409,60 0,4 482,94 0,5<br />
2000 529,89 0,5 488,72 0,4<br />
2001 709,81 0,6 828,08 0,7<br />
2002 629,35 0,6 1226,78 1,1<br />
2003 935,38 0,8 1039,01 0,9<br />
2004 330,81 196,83<br />
Total 7842,23 0,5 7550,91 0,4<br />
Quelle: Soares Lima 2005: 49.<br />
Neben In<strong>die</strong>n <strong>und</strong> Südafrika ist China ein bedeutsamer Partner Brasiliens innerhalb<br />
der G-20. Zwischen Brasilien <strong>und</strong> China bestehen schon seit geraumer<br />
Zeit Partnerschaftsabkommen im Bereich der wissenschaftlich-technologischen<br />
Zusammenarbeit (Oliveira 2004), aber eine nachhaltige strategische Bindung hat<br />
sich bislang nicht eingestellt (Barbosa/ Mendes 2006). Brasilien h<strong>of</strong>ft von der<br />
derzeitigen Dynamik der chinesischen Volkswirtschaft zu pr<strong>of</strong>itieren <strong>und</strong><br />
einen weiteren Absatzmarkt zu erschließen. Die jüngsten Handelsbeziehungen<br />
zwischen Brasilien <strong>und</strong> China lassen sich in zwei Phasen unterteilen. Zwischen<br />
1999 <strong>und</strong> 2003 gab es einen deutlichen Handelsbilanzüberschuss für<br />
Brasilien aufgr<strong>und</strong> hoher chinesischer Nachfrage nach Rohst<strong>of</strong>fen <strong>und</strong> weltweit<br />
hohen Rohst<strong>of</strong>fpreisen. Seit 2004 dreht sich das Bild deutlich zu Ungunsten<br />
Brasiliens. China konnte seine Marktanteile in dynamischen Sektoren<br />
wie Elektro/Elektronik ausbauen. Die chinesischen Exporte nach Brasilien<br />
bestehen zu 91% aus verarbeiteten Gütern, 25% davon technologieintensiv,<br />
während <strong>die</strong> brasilianischen Exporte nur zu 52% aus verarbeiteten Gütern<br />
bestehen <strong>und</strong> nur zu 12% technologieintensiv sind. Ein deutliches Zeichen<br />
für Nichtreziprozität der Partnerschaft wird bei der Forderung Brasiliens nach<br />
einem Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) deutlich, eine Forderung<br />
<strong>die</strong> China nicht unterstützt – obwohl Brasilien sich sogar in der Men-
132<br />
Thomas Stehnken <br />
schenrechtskommission der UN jeglicher Rügen gegenüber China enthalten<br />
hat (Barbosa/ Mendes 2006). Angesichts der Tatsache, dass <strong>die</strong> G-20 vornehmlich<br />
für <strong>die</strong> Interessen der agrarexportierenden Länder eintritt, ist es<br />
erstaunlich, dass Brasilien <strong>und</strong> China sich ausgerechnet in <strong>die</strong>sem Rahmen auf<br />
multilateraler Ebene zusammengeschlossen haben. Zwar spielt <strong>die</strong> Landwirtschaft<br />
in beiden Ländern eine bedeutsame Rolle, aber in Bezug auf den Außenhandel<br />
ist <strong>die</strong> Bedeutung für Brasilien um ein Vielfaches größer als für<br />
China, das im Jahre 2003 zum Netto-Importeur von Agrarprodukten wurde<br />
(Monteiro Jales 2006: 23).<br />
Trotz der Mitgliedschaft Brasiliens in der G-20 darf nicht der Eindruck<br />
entstehen, dass Brasilien ein reiner Agrar- oder Primärgüterexporteur ist.<br />
Schon vor der Liberalisierung des Außenhandels hat sich eine Konsum- <strong>und</strong><br />
Industriegüterindustrie herausgebildet, <strong>die</strong> heute in einigen Branchen sehr<br />
wohl international konkurrenzfähig ist. Erinnert sei an das viel zitierte Beispiel<br />
Empresa Brasileira de Aeronáutica (EMBRAER), einem der weltweit größten<br />
Hersteller für Mittelstreckenflugzeuge. Eine Erweiterung des Handels mit<br />
Agrarprodukten ist für Brasilien sowohl aus ökonomischen Gründen wichtig<br />
(aufgr<strong>und</strong> komparativer Vorteile, Entwicklungsmöglichkeit für ländliche Regionen,<br />
etc.) als auch aus politischen (befriedigen der Agrarlobby), kann aber<br />
nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Weltmarkt für Agrarprodukte<br />
nicht durch seine Dynamik auszeichnet. Das Drängen Brasiliens auf einen<br />
liberalisierten Handel mit Agrarprodukten mag ein Zeichen für <strong>die</strong> Forderung<br />
nach einem „gerechteren“ Welthandel sein, ist aber angesichts der Tatsache,<br />
dass es ausgerechnet <strong>die</strong> technologieintensiven Produkte sind, deren Handel<br />
lukrativ ist, eine Forderung, <strong>die</strong> zu kurz greift. Ein gr<strong>und</strong>sätzliches Problem<br />
der brasilianischen Exporte ist ohnehin, dass der Anteil am global erwirtschafteten<br />
Mehrwert seit 1980 rückläufig ist, wie <strong>die</strong> folgende Tabelle 3 verdeutlicht.<br />
Dies ist ein Anzeichen dafür, dass Brasilien weiterhin den Anschluss<br />
an <strong>die</strong> internationale Wissensgemeinschaft <strong>und</strong> <strong>die</strong> dynamischen Märkte verpasst.
Brasiliens linke Außenpolitik?<br />
133 <br />
Tabelle 3: Anteil ausgewählter Entwicklungsländer <strong>und</strong> Weltregionen in weltweitem<br />
Vergleich des erzielten Mehrwerts <strong>und</strong> der Exporte von verarbeiteten<br />
Produkten (prozentuale Veränderungen)<br />
Anteil an der weltweiten Wertschöpfung<br />
der verarbeitenden Industrie<br />
Anteil an den weltweiten Industriegüterexporten<br />
Region/ Land 1980 1990 2000 2003 1980 1990 2000 2003<br />
Industrieländer<br />
64,5 74,1 74,9 73,3 74,1 77,9 67,3 65,4<br />
Entwicklungsländer<br />
16,6 17 22,8 23,7 18,9 18,3 28,9 29,7<br />
Lateinamerika<br />
<strong>und</strong> Karibik<br />
7,1 5,6 5,4 4,4 4,3 2,4 4,7 4,1<br />
Argentinien 0,9 0,8 0,8 0,5 0,2 0,3 0,3 0,3<br />
Brasilien 2,9 2,2 1,1 0,9 0,8 0,8 0,8 0,8<br />
Chile 0,2 0,1 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2<br />
Mexiko 1,9 1,1 2,0 1,7 0,8 0,5 2,7 2,2<br />
Südostasien 7,4 8,7 15,2 17,2 7,6 13,6 21,7 22,7<br />
Taiwan 0,6 1,1 1,3 1,1 1,3 2,3 2,7 2,3<br />
Südkorea 0,7 1,4 2,2 2,3 1,1 2,2 3,1 3,0<br />
ASEAN-4 1,2 1,5 2,4 2,8 1,0 2,0 4,2 3,7<br />
Indonesien 0,4 0,5 0,9 1,1 0,2 0,4 0,8 0,6<br />
Malaysia 0,2 0,2 0,5 0,5 0,4 0,7 1,6 1,5<br />
Philippinen 0,3 0,2 0,3 0,3 0,2 0,2 0,7 0,5<br />
Thailand 0,3 0,5 0,7 0,8 0,2 0,6 1,1 1,1<br />
China 3,3 2,6 6,6 8,5 1,0 1,7 4,3 6,5<br />
In<strong>die</strong>n 1,1 1,1 1,2 1,4 0,3 0,5 0,7 0,9<br />
Afrika 0,9 0,9 0,8 0,8 5,4 2,6 1,8 2,0<br />
a Um <strong>die</strong> Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten folgt <strong>die</strong> Definition <strong>die</strong>ser Produktkategorie gängigen<br />
Industriestatistiken. Daher werden neben Industrieerzeugnissen auch verarbeitete Primärgüter mit<br />
eingrechnet.<br />
b Um <strong>die</strong> Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten folgt <strong>die</strong> Definition <strong>die</strong>ser Gruppe derjenigen, <strong>die</strong><br />
von UNIDO vor 2006 benutzt wurde. Im Gegensatz zu gängigen UN-Definitionen sind Tschechien,<br />
Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Slowakei nicht eingeschlossen.,<br />
Quelle: UNCTAD 2006: 181.<br />
Auch hier muss abschließend <strong>die</strong> Frage gestellt werden, ob Obiges „links“ ist.<br />
Außenminister Amorim sah <strong>die</strong> gescheiterten Verhandlungen jedenfalls als<br />
Sieg des Multilateralismus an: „The Doha mandate had provided developing<br />
countries with a platform for associating trade liberalisation with social justice.<br />
The banner <strong>of</strong> free and fair trade was now being waved by the poor“ (Amorim<br />
2004). Der Diskurs <strong>Lula</strong>s zur Verteidigung der Interessen von Entwicklungs-<br />
<strong>und</strong> Schwellenländern hat nicht seine Basis verloren, ist aber heute<br />
anders als früher. Es geht Brasilien nicht darum, <strong>die</strong> F<strong>und</strong>amente des internationalen<br />
Handelssystems zu verändern (also den globalen Kapitalismus abzuschaffen),<br />
sondern seinen Interessen entsprechend kleine aber dafür nachhaltige<br />
Veränderungen zu erreichen. Dass <strong>die</strong>se nicht von allen Entwicklungsländern<br />
geteilt werden, liegt auf der Hand.
134<br />
Thomas Stehnken <br />
<strong>Lula</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> PT haben eine dezi<strong>die</strong>rte Vorstellung von der <strong>Globalisierung</strong>:<br />
Eine multipolare Welt basierend auf gerechtem Handel. Dabei ist er wahrlich<br />
kein <strong>Globalisierung</strong>sgegner: „Globalization is not synonymous with development,<br />
it is not a substitute for development, but it can be used as an instrument<br />
for development“ (<strong>Lula</strong> nach: The Miami Herald, 16.6.2004). Der Gedanke,<br />
<strong>die</strong> <strong>Globalisierung</strong> mit Hilfe von China, Südafrika <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n zu<br />
Gunsten der Schwellenländer zu gestalten ist angesichts der heutigen <strong>of</strong>fensiven<br />
Weltmarkteingliederung f<strong>und</strong>amental anders als ähnliche Koordinierungsversuche<br />
der Süd-Süd-Kooperation der 1960er <strong>und</strong> 1970er Jahre, <strong>die</strong><br />
wesentlich defensiver ausgerichtet waren (Harris 2005). Diese Länder verfügen<br />
über leistungsfähige Volkswirtschaften, Zugang zu Direktinvestintionen,<br />
Zugang zu Kapital, Zugang zur globalen Wertschöpfungskette, grenzüberschreitenden<br />
Joint Ventures – sie werden somit auch politisch wahrgenommen.<br />
Ein echter institutionalisierter Zusammenschluss von Brasilien, China,<br />
In<strong>die</strong>n, Südafrika <strong>und</strong> möglicherweise Russland hätte heutzutage allerdings<br />
eine ganz andere Qualität. Sie sind ökonomisch potent <strong>und</strong> würden zusammen<br />
mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung vertreten. Wie weit <strong>die</strong>se Strategie<br />
allerdings tragfähig ist, bleibt <strong>of</strong>fen.<br />
4. Fazit<br />
Der Vorwurf der „Linken“ an <strong>Lula</strong> steht im Raum <strong>und</strong> scheint berechtigt:<br />
Nachdem er Jahre um das Präsidentenamt gerungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> sozialen Missstände<br />
angeprangert hat, änderte <strong>Lula</strong> nichts, sondern führte <strong>die</strong> Politik seines<br />
Vorgängers weiter. Die Wirtschaftspolitik ist bisher wenig innovativ <strong>und</strong> zu<br />
orthodox, <strong>die</strong> Fiskalpolitik zu restriktiv, <strong>die</strong> Umverteilungspolitiken <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Landreform nicht ausreichend. <strong>Lula</strong> hat dem Neoliberalismus <strong>und</strong> der <strong>Globalisierung</strong><br />
nichts entgegengesetzt <strong>und</strong> vor den Kräften des Marktes kapituliert.<br />
Er sei das beste Beispiel für eine feige, pragmatische Politik. Harris (2003:<br />
372) meint, dass <strong>die</strong> Pragmatiker der Linken in Lateinamerika den wirtschaftspolitischen<br />
Kurs ihrer Vorgänger mit Abstrichen weiterführen, aber<br />
keiner von ihnen (mit der Ausnahme von Chávez) ist der „transnationalen<br />
Elite“ in irgendeiner Form entgegengetreten. Ein Vorwurf kommt von Linken<br />
<strong>und</strong> Neoliberalen gemeinsam: In Zeiten eines rapide anwachsenden globalen<br />
Handels hat weder <strong>die</strong> <strong>Regierung</strong> Cardoso noch <strong>die</strong> <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong> es<br />
geschafft, <strong>die</strong> traditionelle Rolle Brasiliens als Primärgüterexporteur signifikant<br />
zu verändern. Ein nicht unerheblicher Teil des dennoch geringen Wachstums<br />
rührt einzig <strong>und</strong> allein aus der Tatsache, dass <strong>die</strong> Preise für Primärgüter<br />
(z.B. Eisenerz) in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind (UNCTAD 2006:<br />
27ff).<br />
Ein kurzer Vergleich der Außenpolitiken von FHC <strong>und</strong> <strong>Lula</strong> verdeutlicht,<br />
dass beide <strong>die</strong> <strong>Globalisierung</strong> als wichtigsten Parameter ihrer Außenpolitik
Brasiliens linke Außenpolitik?<br />
135 <br />
gesehen haben (Soares de Lima 2005: 33ff.) Während FHC jedoch hauptsächlich<br />
darauf bedacht war, <strong>die</strong> Glaubwürdigkeit Brasiliens im internationalen<br />
System zu verbessern um <strong>die</strong> benefits einer funktionierenden Marktwirtschaft<br />
zu ernten, strebt <strong>Lula</strong> danach, zwar <strong>die</strong> Vorteile der ökonomischen <strong>Globalisierung</strong><br />
zu nutzen, dabei aber gleichzeitig möglichst viel Autonomie zu bewahren,<br />
um dem Staat eine aktive Rolle im Entwicklungsprozess einzuräumen<br />
(ebda.). 11 Bei den einzelnen Themen ähneln sich beide Administrationen sehr:<br />
(Re-)vitalisierung <strong>und</strong> Vergrößerung des Mercosul, nachbarschaftliche Beziehungen<br />
zu den USA (relações maduras), bilaterale Verhandlungen mit anderen<br />
Regionalmächten, tragende Rolle in internationalen Gremien, Verteidigung<br />
der Interessen der Entwicklungsländer. Sicher haben einige <strong>die</strong>ser Belange<br />
unter <strong>Lula</strong> eine neue Qualität bekommen. Allein <strong>die</strong>s bedeutet aber nicht, dass<br />
man im brasilianischen Fall von „linker Außenpolitik“ sprechen kann.<br />
Die beiden hier kurz umrissenen großen Projekte der brasilianischen Außenpolitik<br />
stehen nicht unter Ideologieverdacht. Im Falle des Mercosul <strong>und</strong> der<br />
Aufnahme Venezuelas liegt <strong>die</strong> Vermutung nahe, dass Brasilien hier relativ<br />
pragmatisch <strong>die</strong> Chance ergriffen hat, ein weiteres Land zu integrieren. Es<br />
lässt sich vielmehr damit erklären, dass der Mercosul für Brasilien <strong>die</strong> einzig<br />
veritable Gr<strong>und</strong>lage für eine weitere Integration in Südamerika ist, im Gegensatz<br />
zu einem anti-hegemonialen Verhalten gegenüber den USA. Auch im<br />
Hinblick auf <strong>die</strong> gerechtere <strong>Globalisierung</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> verstärkte Süd-Süd-<br />
Kooperation kann man wenig „Linkes“ erkennen. Für ein Land, zu dessen<br />
Gesamtexporten Agrarprodukte 30% beitragen, ist es nicht verw<strong>und</strong>erlich,<br />
wenn es auf den Marktzugang der Industrienationen drängt. Zudem muss<br />
betont werden, dass <strong>die</strong> G-20 wohl mehr den Außenhandelsinteressen der<br />
großen Agrarunternehmen <strong>die</strong>nt als den Kleinbauern (Keet 2006: 16). Auch<br />
<strong>die</strong> Zusammenarbeit mit In<strong>die</strong>n, Südafrika <strong>und</strong> sogar China kann kaum als<br />
Solidargemeinschaft bezeichnet werden. Für <strong>die</strong> <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong> ist <strong>die</strong> neue<br />
Süd-Süd-Kooperation kein Substitut für <strong>die</strong> Beziehungen zu den USA <strong>und</strong><br />
der EU. Diese sind zu wichtig, als dass sie aufs Spiel gesetzt werden könnten.<br />
Vielmehr stellt <strong>die</strong> Süd-Süd-Kooperation eine Möglichkeit dar, <strong>die</strong> Handelsmöglichkeiten<br />
auszuweiten <strong>und</strong> <strong>die</strong> Destinationen weiter zu diversifizieren<br />
(Maag 2005: 11). Auch hier kann man der <strong>Regierung</strong> <strong>Lula</strong> somit pragmatisches<br />
Vorgehen unterstellen.<br />
Boeckh (2006: 1) brachte es auf den Punkt: „Es gibt kaum etwas Nüchterneres<br />
als außenpolitische Kalküle.“ Man liest auch in brasilianischen Veröffentlichungen<br />
<strong>of</strong>t ein Wort, dass sowohl <strong>die</strong> Wirtschaftspolitik als auch <strong>die</strong><br />
Außenpolitik beschreibt: pragmático. Der Kurswechsel zu „Neoliberalismus mit<br />
11 Dieses darf nicht so gedeutet werden, dass <strong>Lula</strong> zum Entwicklungsstaat der 1960er <strong>und</strong> 1970er<br />
Jahre zurück möchte. Vielmehr geht es ihm darum, <strong>die</strong> Folgen der <strong>Globalisierung</strong> mit einer ausgeprägten<br />
Sozialpolitik abzufedern.
136<br />
Thomas Stehnken <br />
menschlichem Gesicht“ scheint auch mit einer neuen Außenpolitik gekoppelt<br />
zu sein, <strong>die</strong> externe Unterstützung für <strong>die</strong> soziale <strong>und</strong> wirtschaftliche Entwicklung<br />
Brasiliens erlaubt (Faro de Castro/ Valladão de Carvalho 2003). Jede<br />
<strong>Regierung</strong> in Brasilien wird in den nächsten Jahren jedoch vor dem gleichen<br />
Dilemma stehen wie <strong>Lula</strong>: Angesichts der prekären Lage der Staatsfinanzen<br />
gibt es wenig Handlungsspielräume. Die Zeit der Ideologien ist in Brasilien<br />
erst einmal vorbei <strong>und</strong> der Pragmatismus hat sowohl in der Innen- als auch in<br />
der Außenpolitik gewonnen.<br />
Literaturverzeichnis<br />
Amorim, Celso (2004): „Comment. The New Dynamic in World Trade is Multipolar“,<br />
in: Financial Times, 4.8.2004.<br />
Baer, Werner/ Amann, Edm<strong>und</strong> (2005): Economic Orthodoxy Versus Social Development?<br />
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