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Der Einfluss von Höflichkeit auf die mittelalterliche Briefkunst

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Franz Lebsanft<br />

Das «Individuelle» steht bei Coseriu in einer dreifachen Opposition, und zwar<br />

zum «Universellen», zum «Choralen» und zum «Historischen». Wichtig für meinen<br />

Zusammenhang ist <strong>die</strong> Gegenüberstellung mit dem «Choralen» und dem<br />

«Historischen». Als Tätigkeit ist das Sprechen «nicht choral», weil wir eben nicht «im<br />

Chor», d. h. nicht gemeinsam, sprechen (Coseriu 1988, 70). Zugleich ist das<br />

individuelle Sprechen insofern nicht «historisch», als es keine «Gemeinschaft»<br />

konstituiert, <strong>die</strong> in der Geschichte wirksam geworden ist. Damit ist nach <strong>die</strong>ser<br />

Auffassung «historisch» eng mit dem aus der Auseinandersetzung mit de Saussure<br />

gewonnenen Begriff des Sozialen verknüpft. Ganz offensichtlich denkt Coseriu das<br />

Historische, auch wenn er das nicht expressis verbis sagt, in der Kategorie des durch<br />

<strong>die</strong> Einzelsprache definierten Nationalen, sei es als Kultur- oder Staatsnation. 10<br />

Weil er Coserius Begriff des «Individuellen» nicht richtig fasst, meint Koch<br />

(1997, 50), das individuelle Sprechen sei ein Bereich, in dem <strong>die</strong> «drei übrigen<br />

Bereiche lediglich angewandt werden». In Wahrheit ist es ja der Ort, an dem der<br />

Sprecher Neues durch Anknüpfen an Bekanntes schafft. Das macht <strong>die</strong> Kreativität<br />

des Sprechens aus. Daraus ergibt sich, dass auch <strong>die</strong> individuelle Ebene ihre<br />

Geschichte hat, «weil Texte ihre historischen Traditionen haben» (Coseriu 1988,<br />

86). Allerdings ist <strong>die</strong>ser Begriff des Historischen <strong>von</strong> dem zuvor eingeführten<br />

verschieden: 11<br />

32<br />

«Die Ebene der Texte ist jedoch nicht in dem Sinn historisch wie <strong>die</strong> Ebene der Einzelsprachen.<br />

Die Sprachgemeinschaften gelten nämlich gerade wegen des Sprachlichen als Gemeinschaften,<br />

z. B. <strong>die</strong> deutsche oder <strong>die</strong> französische Sprachgemeinschaft. Es gibt zwar auch bei<br />

Texten oder Textsorten Gemeinschaften. Sie sind es aber nicht deshalb, weil sie bestimmte<br />

Texte oder Textsorten verwenden. Es ist gerade umgekehrt: Sie sind zuerst Gemeinschaften,<br />

und eben deshalb verwenden sie <strong>die</strong>se oder jene Texte. Es gibt beispielsweise Texte, <strong>die</strong> nur<br />

Priester verwenden. Die Priester bilden aber nicht deshalb eine Gemeinschaft, weil sie <strong>die</strong>se<br />

Texte verwenden, sondern sie verwenden <strong>die</strong> Texte, weil sie Priester sind» (Coseriu 1988, 86).<br />

Das «Individuelle» beruht dar<strong>auf</strong>, dass <strong>auf</strong> <strong>die</strong>ser Ebene als Tätigkeit des Sprechers<br />

der «Diskurs», als Produkt der «Text» entsteht. Das impliziert, dass ein entsprechendes<br />

«expressives» oder «textbezogenes» Wissen vorhanden ist, das<br />

selbstverständlich mit anderen geteilt wird. Coseriu (1988, 161ss.) nennt hier ein<br />

Wissen gerade in Bezug <strong>auf</strong> Textgattungen oder -sorten. Das, was an individuellen<br />

«Diskursen» «traditionell» ist, macht also – in Kochs Diktion – <strong>die</strong> «Diskurstraditionen»<br />

aus, und es besteht aus nichts anderem als der Gesamtheit der «Normen»<br />

und «Regeln», <strong>die</strong> deren Gestaltung zugrunde liegen. 12<br />

10 Zur romanischen Sprachhistoriographie, <strong>die</strong> weitgehend <strong>auf</strong> <strong>die</strong>ser Geschichtlichkeit <strong>von</strong> Nationen<br />

<strong>auf</strong>baut, cf. Lebsanft 2003.<br />

11 Albrecht 2003, 50, spricht zu Recht <strong>von</strong> einer Historizität «aus zweiter Hand».<br />

12 Aschenberg 2003, 5, argumentiert in genau <strong>die</strong>selbe Richtung: «Es erscheint mir als sinnvoll, den<br />

Begriff Diskurstradition in einem ersten Schritt im Sinne <strong>von</strong> konkret am Text selbst <strong>auf</strong>zeigbaren<br />

Formen textueller Generizität zu fassen [...]». Und weiter (2003, 7): «Darüber hinaus läßt sich der<br />

Begriff Diskurstradition auch im Hinblick <strong>auf</strong> <strong>die</strong> kommunizierenden Subjekte verstehen, als habitualisiertes<br />

Wissen <strong>die</strong>ser Subjekte [...]». Die bei mir angefertigte Dissertation <strong>von</strong> Kött 2004 zur Geschichte<br />

des Interviews in Frankreich stellt ein sehr schönes Fallbeispiel für <strong>die</strong> Entstehung und<br />

Entwicklung einer Texttradition aus dem expressiven Wissen <strong>von</strong> Sprachsubjekten dar.

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