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Der Einfluss von Höflichkeit auf die mittelalterliche Briefkunst

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Christian Wehr<br />

«Phantasiebilder der Merkgegenstände» sollen <strong>die</strong>se um der Einprägsamkeit willen<br />

«in besonderem Maße affektisch sein» und «ungewöhnliche Dinge enthalten».<br />

Diese «intensiv-pathoshaltigen [...] Einzelbilder» 8 erzeugen den Zustand größtmöglicher<br />

Erregung. Sie sind somit dem höchsten der genera dicendi, dem movere<br />

und seinem Wirkziel des pathos, 9 zuzuordnen. Ignatius nutzt also <strong>die</strong> ureigenste<br />

Bestimmung der Redekunst: <strong>die</strong> affektische Manipulation der Zuhörer, <strong>die</strong> schon<br />

Aristoteles in das Zentrum seiner Rhetorik stellt. In den Persuasionsstrategien der<br />

Gerichtsrede findet hierfür vor allem <strong>die</strong> affektische Figur der evidentia Verwendung.<br />

Sie sagt nicht, sondern zeigt: Durch <strong>die</strong> lebhafte Schilderung drastischer<br />

Details – meist im Zusammenhang mit dem Tathergang eines Verbrechens − wird<br />

<strong>die</strong> Illusion der Gleichzeitigkeit erzeugt. Redner, Richter und Publikum sollen<br />

innerlich in <strong>die</strong> Situation unmittelbarer Augenzeugen versetzt werden, mit der Absicht<br />

einer Provokation physischer Reaktionen des Schmerzes und der Betroffenheit.<br />

Dabei gilt, wie Quintilian in seiner umfassenden Ausbildung des Redners<br />

hervorhebt, eine wichtige Bedingung: Wer nicht selber betroffen ist, kann auch<br />

nicht andere betroffen machen. Die Selbstaffektion des Redners ist unabdingbare<br />

Voraussetzung erfolgreicher Fremdaffektion. 10<br />

Die Analogien zum Wirkziel der Meditationspraxis sind offensichtlich. Auch<br />

composición del lugar und vista imaginativa kompensieren reale Distanz durch phantasmatische<br />

Nähe. Sie <strong>die</strong>nen einer Evokation überlieferter sujets – etwa der Passionsgeschichte<br />

−, in der <strong>die</strong> verschiedenen Sinne sukzessive aktiviert werden, bis das<br />

synästhetische Gesamterlebnis der inneren Vorstellungswelt <strong>die</strong> Meditationssituation<br />

transzen<strong>die</strong>rt und den Status eines äußerlich-realistischen Vorganges<br />

gewinnt. 11 So entsteht im Exerzitanden <strong>die</strong> Illusion, unmittelbarer Beobachter der<br />

vorgestellten Ereignisse zu sein, und damit ein Martyrium im ursprünglichen<br />

Wortsinn zu erleiden. 12<br />

8 Lausberg 1960, § 1089.<br />

9 Quintilian 1995, III, 5, 2.<br />

10 Quintilian 1995, VI, 2. Cf. zur evidentia auch <strong>die</strong> Rhetorica ad Herennium (1954, IV, 55, 68) bzw.<br />

Cicero 1987, III, 202. Siehe zu ihrer Bedeutung für <strong>die</strong> Exerzitien Dubost 1988, 205-226, bzw. Siegert<br />

1990, 85-97, 90.<br />

11 Die «aplicación de los sentidos» demonstriert Ignatius in der berühmten Höllenmeditation (San<br />

Ignacio 1963, 214s.). Cf. hierzu allgemein auch Sudbrack (S. J.) 1990, 96-119, zur Praxis der geistlichen<br />

Sinne vor allem 115ss.<br />

12 Hier kommt eine zweite Bedeutung der compositio zum Tragen, wobei nicht zweifelsfrei nachgewiesen<br />

werden kann, inwieweit sie <strong>von</strong> Ignatius tatsächlich inten<strong>die</strong>rt war. Als Verfahren der<br />

dispositio verweist der Begriff <strong>auf</strong> <strong>die</strong> vier grundlegenden Kategorien der Veränderung eines Beschreibungsobjektes<br />

(a<strong>die</strong>ctio, detractio, transmutatio, immutatio; cf. Quintilian 1995 I,5, 38-41). Er bezeichnet<br />

damit genau <strong>die</strong> vorgeschriebene Dynamisierung eines imaginierten tableau: Ziel der Meditation ist ja<br />

nicht <strong>die</strong> serielle Aneinanderreihung einzelner Bilder, sondern eine bruchlose, dramatisch fließende<br />

und szenische Vergegenwärtigung. Die Mnemotechnik der handelnden Bilder (imagenes agentes) geht<br />

gleichfalls <strong>auf</strong> antike Traditionen zurück (cf. Yates 1966, vor allem 9-26.) Es entspricht dem<br />

theatralischen Charakter der Meditation, daß sich der Exerzitand, gleich dem identifikatorischen<br />

Bezug des Schauspielers zu seiner Rolle, in eine Person der inneren Welt versetzt. Explizit <strong>von</strong><br />

«Meditation als Theater» spricht darum auch Föcking 1994, 161ss.<br />

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