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Vom “Sturm und Drang” zur Romantik 8 - Heinrich Detering

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Vorlesung Sommersemester 2013:<br />

<strong>Vom</strong> „Sturm <strong>und</strong> Drang“ bis <strong>zur</strong> <strong>Romantik</strong><br />

8. Pietismus <strong>und</strong> Ich-Erzählung:<br />

Neue Ausdrucksformen des Individuellen


Der große Nachzügler:<br />

Friedrich Schiller, Die Räuber (1782)<br />

<strong>Vom</strong> Familienkonflikt über reflektierte Aufklärungskritik<br />

<strong>zur</strong> Theodizeefrage –<br />

<strong>und</strong> ihrer psychologischen <strong>und</strong> moralphilosophischen<br />

Beantwortung.


Individualisierung, Subjektivierung, Emotionalisierung des Glaubens<br />

<strong>und</strong> der Rede vom Glauben:<br />

der „Pietismus“ seit dem späten 17. Jahrh<strong>und</strong>ert als ein<br />

Ermöglichungsgr<strong>und</strong> des „Sturm <strong>und</strong> Drang“ <strong>und</strong> der Goethezeit<br />

• Subjektivität der Bibellektüre <strong>und</strong> Biblizismus<br />

• Kirchenkritik, Anti-Orthodoxie (Gottfried Arnolds Unpartheyische<br />

Kirchen- <strong>und</strong> Ketzerhistorie, um 1700)<br />

• Überkonfessionalität (protestantischer Ursprung <strong>und</strong> Konvergenz mit<br />

katholischer Mystik: Madame Guyon)<br />

• praxis pietatis (so Philipp Jacob Spener, ähnlich Graf Zinzendorf)<br />

• Mission zum ‚wahren’ Christentum <strong>und</strong> ekstatische „Aussprache“<br />

• Gemeindeorientierung mit Gefahr der Separatismen <strong>und</strong> Sekten<br />

(Zinzendorf <strong>und</strong> die Herrnhuter „Brüdergemeine“ / „Brüder-Unität“,<br />

die „Losungen“; Schwärmer-Gruppen etwa um die chiliastischen<br />

Sektenführer Johann Wilhelm <strong>und</strong> Johanna Eleonora Petersen u. a.


August Hermann Francke (1663-1727) in Halle: das Halle‘sche System<br />

der pietistischen Bekehrung; der Wortschatz des Pietismus (Aug. Langen)<br />

Pietistische Autobiographik:<br />

Der Bekehrungsbericht als individuelle Selbstüberprüfung vor Gott <strong>und</strong><br />

der Gemeinde – <strong>und</strong> als neuartige Form der Selbstaussage.<br />

Johann Henrich Reitz, Historie der Wiedergebohrnen (1698-1745):<br />

pietistische Sammelbiographie aus allen soziale Gruppen, Individualität<br />

vs. zunehmende diskursive Einebnung <strong>und</strong> Zurichtung


– <strong>und</strong> die radikalpietistischen „Inspirierten“ um Johann Friedrich Rock<br />

(1678-1749): „Propheten der Goethezeit“ (U.-M. Schneider) in ihren<br />

Proklamationen einer buchstäblich ‚enthusiastischen‘ Inspiration, ihrer<br />

Individualisierung des religiösen, mystischen Erlebens <strong>und</strong> Redens, ihrer<br />

Metaphorik der Affekte – Genealogie oder Analogie <strong>zur</strong> Genieästhetik.<br />

Einer von Rocks Zuhörern:<br />

Johann He[i]nrich Jung, gen. Stilling<br />

(1740-1817), trifft Goethe in Straßburg.<br />

Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte<br />

Geschichte. 1777, hg. von Johann<br />

Wolfgang Goethe: Autobiographie – in der<br />

3. Person Singular!<br />

Fortsetzungen: Henrich Stillings<br />

Jünglings-Jahre, 1778;<br />

… Wanderjahre, 1778;<br />

… häusliches Leben, 1789;<br />

… Lehr-Jahre, 1804;<br />

… Alter, 1817 (hg. von seinem Enkel)


Goethes pietistische Erfahrungen in Frankfurt 1769<br />

• Fre<strong>und</strong>schaft mit Susanna Catharina von Klettenberg (1723-1774)<br />

• Lektüre von Gottfried Arnolds Unpartheyischer Kirchen- <strong>und</strong> Ketzer-<br />

Historie<br />

• Annäherung an die Frankfurter „Brüdergemeine“ (des Graf Zinzendorf,<br />

1700-1760)<br />

• Besuch der Herrenhuter Synode in Marienborn<br />

• Versuche der psychologischen Selbsterk<strong>und</strong>ung <strong>und</strong> -beschreibung (in<br />

Briefen) mithilfe pietistischer Darstellungs- <strong>und</strong> Sprachformen


Stammbucheintrag<br />

Diner zu Coblenz im Sommer 1774<br />

Zwischen Lavater <strong>und</strong> Basedow<br />

Saß ich bei Tisch des Lebens froh.<br />

Herr Helfer, der war gar nicht faul,<br />

Setzt' sich auf einen schwarzen Gaul,<br />

Nahm einen Pfarrer hinter sich<br />

Und auf die Offenbarung strich,<br />

Die uns Johannes, der Prophet,<br />

Mit Rätseln wohl versiegeln tät;<br />

Eröffnet' die Siegel kurz <strong>und</strong> gut,<br />

Wie man Theriaksbüchsen öffnen tut,<br />

Und maß mit einem heiligen Rohr<br />

Die Kubusstadt <strong>und</strong> das Perlentor<br />

Dem hocherstaunten Jünger vor.<br />

Ich war indes nicht weit gereist,<br />

Hatte ein Stück Salmen aufgespeist.<br />

Vater Basedow, unter dieser Zeit,<br />

Packt' einen Tanzmeister an seiner Seit,<br />

Und zeigt‘ ihm, was die Taufe klar<br />

Bei Christ <strong>und</strong> seinen Jüngern war;<br />

Und daß sich‘s gar nicht ziemet jetzt,<br />

Daß man den Kindern die Köpfe netzt.<br />

Drob ärgert‘ sich der andre sehr,<br />

Und wollte gar nichts hören mehr,<br />

Und sagt‘: es wüßte ein jedes Kind,<br />

Daß es in der Bibel anders stünd‘.<br />

Und ich behaglich unterdessen<br />

Hätt einen Hahnen aufgefressen.<br />

Und, wie nach Emmaus, weiter ging’s<br />

Mit Sturm- <strong>und</strong> Feuerschritten:<br />

Prophete rechts, Prophete links,<br />

Das Weltkind in der Mitten.


Übergänge von der pietistischen Autobiographie<br />

• zum Roman: Goethe, Wilhelm Meisters<br />

Lehrjahre (1795/96), 6. Buch: Bekenntnisse einer<br />

schönen Seele nach den Aufzeichnungen der<br />

Susanna Catharina von Klettenberg<br />

• <strong>zur</strong> Idee des „Bildungsromans“ selbst:<br />

Wilhelms Bestreben, „mich ganz auszubilden,<br />

wie ich da war“<br />

• <strong>zur</strong> zwischen Romanfiktion <strong>und</strong> Dokumentation<br />

changierenden Autobiographie: Dichtung <strong>und</strong><br />

Wahrheit (1811-1814) als „meine Bekenntnisse“<br />

• auch dank Friedrich von Blan[c]kenburgs<br />

Versuch über den Roman (1774): psychologische<br />

Innensicht, „Empfindungen“ vor Begebenheiten“,<br />

von ‚Alltagsmenschen’


Gottfried August Bürger (1747-1794) Pfarrerssohn, 1764 Theologiestudium<br />

in Halle, 1768 Jura in Göttingen, Fre<strong>und</strong>schaft mit H. Chr. Boie,<br />

Amtmann in Gelliehausen, Mitglied des „Hainb<strong>und</strong>es“. Übersetzung von<br />

Macbeth, Bearbeitung der Münchhausen-Geschichten von Rudolf Erich<br />

Raspe, Lenore u. a. „Volksballaden“, satirische Gedichte, 1789 ao. Prof.


G. A. Bürgers öffentliches Unglück<br />

1774 Heirat mit Dorothea Leonart, bald darauf Liebe zu deren Schwester<br />

„Molly“, Versuch einer menage-à-trois (vgl. Goethe, Stella).<br />

1784 Tod Dorotheas, 1785 Hochzeit mit Molly, 1786 Tod Mollys im<br />

Kindbett.<br />

1790 Hochzeit mit Elise Hahn aufgr<strong>und</strong> eines missverstandenen<br />

Studentenscherzes, öffentliche unglückliche Ehe, 1791 Geburt eines<br />

geistig behinderten Sohnes,<br />

1792 Scheidung.<br />

Jan. 1791 Friedrich Schillers<br />

Verriss Rezension Über<br />

Bürgers Gedichte in der Allg.<br />

Litteratur-Zeitung, Bürgers<br />

Antikritik. 1792 Schwindsucht,<br />

Verlust der Stimme<br />

(<strong>und</strong> der Vorlesungen).<br />

1794 stirbt Büger verarmt <strong>und</strong><br />

vereinsamt in Göttingen.

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