17.11.2013 Aufrufe

Freiwilligenarbeit zwischen Strafe und Pflicht - kkf oca

Freiwilligenarbeit zwischen Strafe und Pflicht - kkf oca

Freiwilligenarbeit zwischen Strafe und Pflicht - kkf oca

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Freiwilligenarbeit</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Strafe</strong> <strong>und</strong> <strong>Pflicht</strong><br />

In meinem Referat werde ich auf die rechtliche, theoretische Seite des Themas<br />

„<strong>Freiwilligenarbeit</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Strafe</strong> <strong>und</strong> <strong>Pflicht</strong>“ eingehen. Dabei werde ich zuerst einen<br />

Überblick über die Strafbestimmungen im Ausländergesetz (AuG) geben, um<br />

mich dann kurz mit der Nothilfe-Gesetzgebung auseinander zu setzen. Schliesslich<br />

will ich einen Einblick in die strafrechtliche Bestimmung geben, die jede Person verpflichtet,<br />

Menschen zu helfen, die unmittelbar in Lebensgefahr schweben.<br />

1. <strong>Strafe</strong><br />

1.1. Strafartikel im Ausländerrecht<br />

Die Strafbestimmungen im Zusammenhang mit Sans-papiers bzw. sich illegal in der<br />

Schweiz aufhaltenden Ausländerinnen <strong>und</strong> Ausländern sind im AuG (Ausländergesetz)<br />

geregelt <strong>und</strong> zwar in den Art. 115 bis 122 AuG (die B<strong>und</strong>esgesetzgebung ist<br />

unter: http://www.admin.ch/ch/d/sr/sr.html, die Berner Gesetzgebung unter:<br />

http://www.sta.be.ch/belex/d/ einsehbar).<br />

Ich beschränke mich im folgenden Referat auf Ausführungen zu Art. 116 AuG mit der<br />

Überschrift „Förderung der rechtswidrigen Ein- <strong>und</strong> Ausreise sowie des rechtswidrigen<br />

Aufenthalts“. Und innerhalb des Art. 116 AuG auf einen Teilausschnitt von<br />

Abs. 1 lit. a, der lautet: „Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe wird bestraft,<br />

wer im Inland einer Ausländerin oder einem Ausländer den rechtswidrigen<br />

Aufenthalt in der Schweiz erleichtert oder vorbereiten hilft.“<br />

Im Strafrecht wird unterschieden <strong>zwischen</strong> dem Haupttäterin bzw. Haupttäter <strong>und</strong> der<br />

Gehilfin bzw. dem Gehilfen. Laut Art. 115 AuG wird unter anderem bestraft, wer sich<br />

„nach Ablauf des bewilligungsfreien oder des bewilligten Aufenthalts in der Schweiz<br />

aufhält“. Art. 116 AuG ist formalrechtlich gesehen als Gehilfenschaft zu Art. 115 AuG<br />

ausgestaltet. M.a.W.: Wer Sans-papiers ist <strong>und</strong> sich illegal in der Schweiz aufhält, ist<br />

Haupttäterin bzw. Haupttäter. Demgegenüber ist laut Art. 116 AuG Gehilfin bzw. Gehilfe,<br />

wer jemandem hilft, sich illegal in der Schweiz aufzuhalten.<br />

Werfen wir einen kurzen Blick auf die Entstehung von Art. 116 AuG. Das neue Ausländergesetz<br />

(AuG) trat am 16. Dezember 2005 in Kraft. Laut den Botschaften zum<br />

alten Ausländergesetz (ANAG) wie auch zum neuen AuG wurde mit Art. 116 AuG<br />

angestrebt, die Schlepperkriminalität einzudämmen 1 . Die Kommissionsminderheit<br />

beantragte im Parlament eine Unterscheidung <strong>zwischen</strong> Gehilfenschaft zu illegalem<br />

Aufenthalt bzw. Förderung von illegalem Aufenthalt aus humanitären Gründen auf<br />

der einen Seite <strong>und</strong> unrechtmässiger Bereichung (d.h. Förderung von illegalem Aufenthalt<br />

gegen Bezahlung) andererseits. Dieser Antrag wurde vom Parlament abge-<br />

1<br />

BBl 1948 I 1300; BBl 202 3833; Amtl.Bull. NR 2004, S. 1148 ff.


lehnt. Das heisst, dass Art. 116 AuG auch auf Einzelpersonen wie z.B. Freiwillige anzuwenden<br />

ist, die einmalig <strong>und</strong> aus achtenswerten Gründen einer Ausländerin oder<br />

einem Ausländer helfen 2 . Das B<strong>und</strong>esgericht hält dazu fest, dass nach dem Wortlaut<br />

von Art. 116 AuG das Fördern von illegalem Aufenthalt mit Bereicherungsabsicht zu<br />

einer Strafschärfung führt <strong>und</strong> nicht eine Voraussetzung darstellt 3 . Das rechtsanwendende<br />

B<strong>und</strong>esgericht kommt demnach zum selben Resultat wie das gesetzerlassende<br />

Parlament.<br />

Laut Fachliteratur zum Art. 116 AuG bereitet die Anwendung des Tatbestands des<br />

Erleichterns <strong>und</strong> Vorbereiten-Helfens des illegalen Aufenthaltes grosse Probleme,<br />

weil er unbestimmt ist <strong>und</strong> die verwendeten Begriffe offen sind 4 . Es ist praktisch<br />

gar nicht möglich zu bestimmen, welche Verhaltensweisen strafbar sind <strong>und</strong> welche<br />

noch erlaubt sein sollen. Überlegt man es sich theoretisch, so kann schon derjenige,<br />

der jeden Tag ein paar fre<strong>und</strong>liche Worte mit seinem illegal in der Schweiz anwesenden<br />

Nachbarn wechselt, diesem den illegalen Aufenthalt erleichtern. Denn auch psychische<br />

Gehilfenschaft zu einem Strafdelikt ist möglich 5 . Die Entscheidung, was als<br />

straflose Alltagshandlung ausgeschlossen werden kann <strong>und</strong> was nicht, ist bei<br />

Art. 116 AuG besonders schwierig. Die Haupttäterin bzw. der Haupttäter des Delikts<br />

– die sich illegal in der Schweiz aufhaltende Person – verhält sich andauernd illegal<br />

während ihrem rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz. Also könnte jeder Kontakt<br />

mit einem Sans-papiers ein Erleichtern des illegalen Aufenthalts im Sinne von<br />

Art. 116 AuG darstellen. Gleichzeitig könnte der Kontakt aber auch als alltäglich <strong>und</strong><br />

deshalb strafrechtlich unbeachtlich angeschaut werden 6 .<br />

1.2. Rechtsprechung <strong>und</strong> Fachliteratur<br />

Rechtsprechung zu Art. 116 AuG bzw. dem früher geltenden ANAG ist nicht viel vorhanden.<br />

Das B<strong>und</strong>esgericht betont in seinen Urteilen, dass nicht alle Kontakte mit<br />

einer sich illegal in der Schweiz aufhaltenden Person von Art. 116 AuG erfasst sind,<br />

selbst wenn diese Kontakte dieser Person das Leben angenehmer machen.<br />

Ausschlaggebend: ist dabei, ob diese Kontakte den Behörden den Erlass oder<br />

Vollzug von Verfügungen gegen die Ausländerin bzw. den Ausländer erschweren<br />

oder ob die Kontakte die Möglichkeit des Zugriffs der Behörden auf diese Person<br />

einschränken 7 . Das heisst, das B<strong>und</strong>esgericht legt den Begriff des Erleichterns von<br />

illegalem Aufenthalt restriktiv bzw. einschränkend aus. Die Fachliteratur ergänzt dazu,<br />

dass der Kontakt des Gehilfen eine erhebliche zeitliche <strong>und</strong> inhaltliche Erschwernis<br />

für die Behörden bedeuten muss 8 .<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Vetterli/D'Addario die Paolo, in: Caroni/Gächter/Thurnherr, Stämpflis Handkommentar zum B<strong>und</strong>esgetz<br />

über die Ausländerinnen <strong>und</strong> Ausländer, Art. 116 N 2<br />

BGE 130 IV 77 E. 2.2.<br />

Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 7<br />

Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 7; Basler Kommentar StGB I, Forster, Art. 25 N 9<br />

Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 7<br />

BGE 130 IV 77 E. 2.3.2.<br />

Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 9; Basler Kommentar StGB II, Delnon/Rüdy, Art.<br />

305 N 22


Das B<strong>und</strong>esgericht hat folgende konkrete Urteile dazu gefällt:<br />

Strafbare Handlungen:<br />

- Das Beherbergen während drei Monaten ist zu bestrafen 9 .<br />

- Das Überlassen von Wohnraum für die Dauer von einigen Tagen bis zu mehreren<br />

Monaten genügt ebenfalls, um sich strafbar zu machen. Dabei wurde nicht klar festgehalten,<br />

wo die Grenze ist (eher bei mehreren Wochen oder bei bloss mehreren<br />

Tagen) 10 .<br />

- Das Vermitteln von Prostituierten an Bordelle 11 .<br />

Nicht strafbare Handlungen:<br />

- Wenn die Handlung zugunsten der Ehepartner bzw. des Ehepartners erfolgt 12 .<br />

- Wenn eine Autofahrerin oder ein Autofahrer eine sich illegal in der Schweiz aufhaltende<br />

Person innerhalb der Schweiz auf einer Strecke von ca. 100 km mitnimmt 13 .<br />

Fachliteratur:<br />

Laut Fachliteratur ist strafbar:<br />

- Das Leihen oder Schenken eines grösseren Geldbetrages, insbesondere wenn es<br />

dazu dient, die Miete oder Mitekaution oder den Lebensunterhalt für längere Zeit zu<br />

finanzieren 14 .<br />

Laut Fachliteratur ist nicht strafbar:<br />

- Das Verschenken von Geld, damit der bzw. die Beschenkte eine Anwältin bzw. einen<br />

Anwalt oder eine Ärztin bzw. einen Arzt bzw. eine Ärztin bezahlen kann 15 .<br />

Ob beispielsweise das Vermitteln einer Wohnung strafbar ist oder nicht, ist sich die<br />

Fachliteratur nicht einig 16 .<br />

Damit klarer <strong>und</strong> fassbarer wird, welche Handlungen strafbar sind <strong>und</strong> welche nicht,<br />

müssten mehr Einzelfälle vor Gericht gezogen werden, damit sich nach <strong>und</strong> nach eine<br />

Gerichtspraxis daraus entwickeln könnte. Im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren<br />

drohen jedoch Gerichts- <strong>und</strong> Anwaltskosten, was wohl der Gr<strong>und</strong> dafür ist, dass<br />

verurteilte Freiwillige ihren <strong>Strafe</strong>ntscheid nur selten weiterziehen.<br />

9<br />

BGE 130 IV 77<br />

10 Urteil des B<strong>und</strong>esgerichts vom 18. August 2000, 6S.615/1998<br />

11 Urteil des B<strong>und</strong>esgerichts vom 27. September 2000, 6S.356/1998; neu fällt diese Tathandlung unter<br />

Art. 116 Abs. 1 lit. b AuG<br />

12 BGE 127 IV 27<br />

13 Urteil des B<strong>und</strong>esgerichts vom 8. März 2004, 6S.459/2003<br />

14 Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 12<br />

15 Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 12 <strong>und</strong> dort zitierte Literatur<br />

16 Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 12 <strong>und</strong> dort zitierte Literatur


2. <strong>Pflicht</strong><br />

2.1. Das Recht auf Hilfe in Notlagen <strong>und</strong> die individuelle Verantwortung in der<br />

BV<br />

Laut Art. 12 B<strong>und</strong>esverfassung (BV) hat, wer in Not gerät <strong>und</strong> nicht in der Lage ist,<br />

für sich zu sorgen, Anspruch auf Hilfe <strong>und</strong> Betreuung <strong>und</strong> auf die Mittel, die für ein<br />

menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Ob die Notlage durch die betroffene<br />

Person verschuldet ist oder nicht, ist nicht massgeblich. Entscheidend ist allein, dass<br />

eine Person in Notlage geraten ist 17 . Das Recht auf Hilfe in Notlagen ist eng mit der<br />

Menschenwürde gemäss Art. 7 BV verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> steht deshalb nicht nur Schweizerinnen<br />

<strong>und</strong> Schweizerin, sondern auch Ausländerinnen <strong>und</strong> Ausländern zu, unabhängig<br />

von deren Aufenthaltsstatus.<br />

Das Recht auf Hilfe in Notlagen ist ein soziales Gr<strong>und</strong>recht, das eine Bedingung der<br />

menschlichen Existenz <strong>und</strong> damit der persönlichen Freiheit darstellt 18 . Es räumt der<br />

einzelnen Person einen unmittelbaren Anspruch auf staatliche Leistungen ein 19 . Das<br />

Recht auf Hilfe in Notlagen ist ein soziales Gr<strong>und</strong>recht. Adressaten der Gr<strong>und</strong>rechte<br />

sind die Staatsorgane. Ob Gr<strong>und</strong>rechte auch die Rechtsbeziehungen <strong>zwischen</strong> Privaten<br />

erfassen, ist umstritten 20 . Eine unmittelbare Bindung der Privaten an die<br />

Gr<strong>und</strong>rechte im Privatrechtsverkehr wird in der Schweiz kaum angenommen 21 . Mit<br />

anderen Worten können sich Private nur dem Staat (bzw. Kanton oder Gemeinde)<br />

gegenüber auf das Recht auf Nothilfe gemäss Art. 12 BV beziehen. Hingegen kann<br />

kein Privater zu einem anderen Privaten gehen <strong>und</strong> gestützt auf Art. 12 BV Nothilfe<br />

von diesem verlangen.<br />

Laut Art. 6 BV nimmt allerdings jede Person Verantwortung für sich selber wahr <strong>und</strong><br />

trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat <strong>und</strong> Gesellschaft bei.<br />

Die Verfassung des Kantons Bern bestimmt in Art. 8 Abs. 1, dass jede Person ihre<br />

<strong>Pflicht</strong>en zu erfüllen hat, die ihr durch die Verfassung <strong>und</strong> der auf ihr beruhenden<br />

Gesetzgebung auferlegt werden. Neben der Verantwortung für sich selbst trägt jede<br />

Person Verantwortung gegenüber den Menschen sowie Mitverantwortung dafür,<br />

dass das Recht zur Selbstbestimmung auch künftigen Generationen gewahrt bleibt<br />

(Art. 8 Abs. 2 KV BE).<br />

Art. 6 BV ist ein präambelartiger Gr<strong>und</strong>werteartikel, der auf die ganze nachstehende<br />

Verfassung ausstrahlt, aber konkretisierungsbedürftig ist 22 . Es ist noch unklar, was<br />

der Sinn von Art. 6 BV ist. Die Fachliteratur spricht teilweise von einer rechtlich kaum<br />

fassbaren Bestimmung, die keine normative Bedeutung hat, das heisst, Art. 6 BV beinhaltet<br />

keine Regel, an die jede Person in der Schweiz sich zu halten hat.<br />

17 BGE 134 I 65 E. 3.3.<br />

18 Häfelin/Haller/Keller, a.a.O., Rz 338<br />

19 Häfelin/Haller/Keller, a.a.O., Rz 214<br />

20 Häfelin/Haller/Keller, a.a.O., Rz 272<br />

21 Häfelin/Haller/Keller, a.a.O., Rz 281<br />

22 Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender, St.Galler Kommentar zu Art. 6 N 10


2.2. Unterlassung der Nothilfe im Strafrecht<br />

Laut Art. 128 Strafgesetzbuch (StGB) wird bestraft, wer einem Menschen, der in unmittelbarer<br />

Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach<br />

zugemutet werden könnte. Das Strafmass lautet Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren<br />

oder Geldstrafe 23 .<br />

Zur Hilfe verpflichtet ist laut Fachliteratur jede Person, die in der konkreten Situation<br />

zu sinnvoller Hilfe in der Lage ist 24 , also auch eine völlig unbeteiligte Person 25 . Gilt<br />

das für mehrere Personen, trifft die <strong>Pflicht</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich jede von ihnen. Sie entfällt<br />

erst dann, wenn das Erforderliche getan wurde. Eine Reihenfolge unter den Hilfsverpflichteten<br />

kann sich aus den Bedürfnissen der verletzten Person, aus den besonderen<br />

Kenntnissen <strong>und</strong> Fähigkeiten der Hilfsverpflichteten sowie aus der Zumutbarkeit<br />

ergeben. Dass eine hilfspflichtige Person Hilfe unterlässt im Vertrauen darauf, andere<br />

unterstünden derselben <strong>Pflicht</strong>, vermag sie nicht zu entlasten 26 .<br />

Die Hilfsverpflichtung erfährt eine Einschränkung auf der Opferseite, indem sie auf<br />

Menschen beschränkt ist, die sich in unmittelbarer Lebensgefahr befinden 27 .<br />

Wer genau darunter fällt, ist unsicher. Das Opfer muss nicht verletzt sein. Eine unmittelbare<br />

Lebensgefahr kann auch einer Person drohen, die noch intakt ist. Die Botschaft<br />

zu Art. 128 StGB nannte als Beispiele Ertrinkende; auf der Strasse liegen gebliebende<br />

Betrunkene oder an einem Herzanfall Zusammengebrochene 28 . Die Fachliteratur<br />

führt beispielsweise Bergsteigererinnen <strong>und</strong> Bergsteiger in Bergnot, in einem<br />

brennenden Haus verletzt Zurückgebliebene oder an einer Überdosis Heroin innert<br />

weniger St<strong>und</strong>en zu sterben drohende Drogenabhängige an 29 . Wegen Unterlassung<br />

von Nothilfe soll nur bestraft werden, wer die akute Lebensgefahr des Opfers erkennen<br />

muss, weil die Lebensgefahr eben unmittelbar <strong>und</strong> offenk<strong>und</strong>ig ist, <strong>und</strong> wer dennoch<br />

keine Nothilfe leistet.<br />

Eine weitere Einschränkung für die Hilfsverpflichtung ist das Kriterium, dass Hilfe nur<br />

im Rahmen des Zumutbaren geleistet werden muss. So kann nicht verlangt werden,<br />

dass jemand durch die Rettung des Opfers das eigene Leben in Gefahr bringt. Bei<br />

der Art <strong>und</strong> Qualität der Hilfe ist auf die individuellen Kenntnisse <strong>und</strong> Fähigkeiten der<br />

Helfenden abzustellen 30 .<br />

Strafbare Tathandlung ist das Nichthelfen. Die Beurteilung, was als Hilfe erwartet<br />

werden kann, ist unter Würdigung aller Umstände <strong>und</strong> unter Berücksichtigung der<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> der Möglichkeiten der zur Hilfe verpflichteten Personen. Eine helfende<br />

Person, die das ihr Erkennbare <strong>und</strong> Mögliche vorkehrt, genügt ihrer <strong>Pflicht</strong>, auch<br />

wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass andere Massnahmen eher geeignet gewesen<br />

wären, das bedrohte Leben zu retten 31 .<br />

23 Seit 1960 sind zu Art. 128 StGB 808 Urteile nachgewiesen. In den letzten 10 Jahren wurden im<br />

Durchschnitt 20 Urteile pro Jahr erlassen (Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128)<br />

24 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 21<br />

25 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 20<br />

26 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 21<br />

27 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 22<br />

28 BBl 1985 II 1009, 1034<br />

29 BGE 121 IV 22; Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 22<br />

30 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 26 ff.<br />

31 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 25


3. Fazit<br />

Wann die <strong>Pflicht</strong> zur <strong>Freiwilligenarbeit</strong> beginnt, haben wir aus Art. 128 StGB betreffend<br />

Unterlassung der Nothilfe gesehen <strong>und</strong> scheint einigermassen klar: Befindet<br />

sich ein Mensch in Lebensgefahr, hat jede Person, die dem Betroffenen sinnvolle Hilfe<br />

leisten kann, eine Verpflichtung zu helfen.<br />

Wann die <strong>Pflicht</strong> zur <strong>Freiwilligenarbeit</strong> aufhört, ist bedeutend unklarer <strong>und</strong> wirft erste<br />

Fragen auf.<br />

Wann jedoch die Grenze zur Strafbarkeit durch <strong>Freiwilligenarbeit</strong> überschritten wird,<br />

ist leider noch viel unklarer <strong>und</strong> scheint mehr Fragen als Antworten aufzuwerfen. Das<br />

Gesetzesrecht dazu ist sehr unbestimmt. Zwar müssen Gesetze immer Raum zu Interpretationen<br />

lassen, um auf eine Vielzahl von unterschiedlichsten Einzelfällen anwendbar<br />

zu sein. Deshalb ist die Rechtsprechung durch die Gerichte so wichtig.<br />

Doch auch die Urteile des B<strong>und</strong>esgerichts <strong>und</strong> anderer Gerichte in der Schweiz haben<br />

bis heute wenig zur Klärung der insbesondere für Freiwillige brennenden Frage,<br />

wo die <strong>Pflicht</strong> aufhört <strong>und</strong> wo die <strong>Strafe</strong> beginnt, beigetragen.<br />

4. Praxisbeispiel<br />

Eine Freiwillige begegnet einem Asylsuchenden. Er erhält einen negativen Asylentscheid<br />

<strong>und</strong> wird zum Sans-Papiers. Sie beherbergt ihn bei sich zu Hause. Er wird<br />

plötzlich schwer krank. Was soll die Freiwillige tun? Macht sie sich strafbar, wenn sie<br />

es unterlässt, ihm die nötige medizinische Hilfe zu gewähren? Oder macht sie sich<br />

strafbar, wenn sie ihm hilft?<br />

Es liegt an Ihnen, sich darüber Gedanken zu machen <strong>und</strong> danach in Ihrem persönlichen<br />

Alltag entsprechend zu handeln.<br />

5. Strafmass<br />

Die folgende Tabelle gibt einen Einblick in die Empfehlungen der Konferenz der<br />

Strafverfolgungsbehörden der Schweiz. Diese Empfehlungen sind nicht bindend.<br />

Soweit ersichtlich, bewegen sich jedoch die wenigen bisher gefällten Gerichtsurteile<br />

zur Sache innerhalb dieser Empfehlungen. Wir stellen sie hier zur Verfügung, damit<br />

die Lesenden wissen, was sie riskieren, wenn sie Personen ohne Aufenthaltsbewilligung<br />

unterstützen. Wir wollen sie jedoch explizit damit nicht abschrecken, ihrem Gewissen<br />

zu folgen, falls sie denken, dass ihre Unterstützung nötig ist. Im Gegenteil:<br />

Die Tatsache, dass zwar viel Literatur zum Thema vorhanden ist, jedoch wenige Gerichtsfälle<br />

darüber gefällt wurden, sollte die Eine oder den Anderen motivieren, gegen<br />

eine als ungerecht empf<strong>und</strong>ene Bestrafung zu rekurrieren. In einem solchen Fall raten<br />

wir Ihnen, rechtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.


Quelle: http://www.ksbs-caps.ch/docs_empf/empf_aug_d.pdf (Einsicht am 10.8.12)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!