Freiwilligenarbeit zwischen Strafe und Pflicht - kkf oca
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<strong>Freiwilligenarbeit</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Strafe</strong> <strong>und</strong> <strong>Pflicht</strong><br />
In meinem Referat werde ich auf die rechtliche, theoretische Seite des Themas<br />
„<strong>Freiwilligenarbeit</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Strafe</strong> <strong>und</strong> <strong>Pflicht</strong>“ eingehen. Dabei werde ich zuerst einen<br />
Überblick über die Strafbestimmungen im Ausländergesetz (AuG) geben, um<br />
mich dann kurz mit der Nothilfe-Gesetzgebung auseinander zu setzen. Schliesslich<br />
will ich einen Einblick in die strafrechtliche Bestimmung geben, die jede Person verpflichtet,<br />
Menschen zu helfen, die unmittelbar in Lebensgefahr schweben.<br />
1. <strong>Strafe</strong><br />
1.1. Strafartikel im Ausländerrecht<br />
Die Strafbestimmungen im Zusammenhang mit Sans-papiers bzw. sich illegal in der<br />
Schweiz aufhaltenden Ausländerinnen <strong>und</strong> Ausländern sind im AuG (Ausländergesetz)<br />
geregelt <strong>und</strong> zwar in den Art. 115 bis 122 AuG (die B<strong>und</strong>esgesetzgebung ist<br />
unter: http://www.admin.ch/ch/d/sr/sr.html, die Berner Gesetzgebung unter:<br />
http://www.sta.be.ch/belex/d/ einsehbar).<br />
Ich beschränke mich im folgenden Referat auf Ausführungen zu Art. 116 AuG mit der<br />
Überschrift „Förderung der rechtswidrigen Ein- <strong>und</strong> Ausreise sowie des rechtswidrigen<br />
Aufenthalts“. Und innerhalb des Art. 116 AuG auf einen Teilausschnitt von<br />
Abs. 1 lit. a, der lautet: „Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe wird bestraft,<br />
wer im Inland einer Ausländerin oder einem Ausländer den rechtswidrigen<br />
Aufenthalt in der Schweiz erleichtert oder vorbereiten hilft.“<br />
Im Strafrecht wird unterschieden <strong>zwischen</strong> dem Haupttäterin bzw. Haupttäter <strong>und</strong> der<br />
Gehilfin bzw. dem Gehilfen. Laut Art. 115 AuG wird unter anderem bestraft, wer sich<br />
„nach Ablauf des bewilligungsfreien oder des bewilligten Aufenthalts in der Schweiz<br />
aufhält“. Art. 116 AuG ist formalrechtlich gesehen als Gehilfenschaft zu Art. 115 AuG<br />
ausgestaltet. M.a.W.: Wer Sans-papiers ist <strong>und</strong> sich illegal in der Schweiz aufhält, ist<br />
Haupttäterin bzw. Haupttäter. Demgegenüber ist laut Art. 116 AuG Gehilfin bzw. Gehilfe,<br />
wer jemandem hilft, sich illegal in der Schweiz aufzuhalten.<br />
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Entstehung von Art. 116 AuG. Das neue Ausländergesetz<br />
(AuG) trat am 16. Dezember 2005 in Kraft. Laut den Botschaften zum<br />
alten Ausländergesetz (ANAG) wie auch zum neuen AuG wurde mit Art. 116 AuG<br />
angestrebt, die Schlepperkriminalität einzudämmen 1 . Die Kommissionsminderheit<br />
beantragte im Parlament eine Unterscheidung <strong>zwischen</strong> Gehilfenschaft zu illegalem<br />
Aufenthalt bzw. Förderung von illegalem Aufenthalt aus humanitären Gründen auf<br />
der einen Seite <strong>und</strong> unrechtmässiger Bereichung (d.h. Förderung von illegalem Aufenthalt<br />
gegen Bezahlung) andererseits. Dieser Antrag wurde vom Parlament abge-<br />
1<br />
BBl 1948 I 1300; BBl 202 3833; Amtl.Bull. NR 2004, S. 1148 ff.
lehnt. Das heisst, dass Art. 116 AuG auch auf Einzelpersonen wie z.B. Freiwillige anzuwenden<br />
ist, die einmalig <strong>und</strong> aus achtenswerten Gründen einer Ausländerin oder<br />
einem Ausländer helfen 2 . Das B<strong>und</strong>esgericht hält dazu fest, dass nach dem Wortlaut<br />
von Art. 116 AuG das Fördern von illegalem Aufenthalt mit Bereicherungsabsicht zu<br />
einer Strafschärfung führt <strong>und</strong> nicht eine Voraussetzung darstellt 3 . Das rechtsanwendende<br />
B<strong>und</strong>esgericht kommt demnach zum selben Resultat wie das gesetzerlassende<br />
Parlament.<br />
Laut Fachliteratur zum Art. 116 AuG bereitet die Anwendung des Tatbestands des<br />
Erleichterns <strong>und</strong> Vorbereiten-Helfens des illegalen Aufenthaltes grosse Probleme,<br />
weil er unbestimmt ist <strong>und</strong> die verwendeten Begriffe offen sind 4 . Es ist praktisch<br />
gar nicht möglich zu bestimmen, welche Verhaltensweisen strafbar sind <strong>und</strong> welche<br />
noch erlaubt sein sollen. Überlegt man es sich theoretisch, so kann schon derjenige,<br />
der jeden Tag ein paar fre<strong>und</strong>liche Worte mit seinem illegal in der Schweiz anwesenden<br />
Nachbarn wechselt, diesem den illegalen Aufenthalt erleichtern. Denn auch psychische<br />
Gehilfenschaft zu einem Strafdelikt ist möglich 5 . Die Entscheidung, was als<br />
straflose Alltagshandlung ausgeschlossen werden kann <strong>und</strong> was nicht, ist bei<br />
Art. 116 AuG besonders schwierig. Die Haupttäterin bzw. der Haupttäter des Delikts<br />
– die sich illegal in der Schweiz aufhaltende Person – verhält sich andauernd illegal<br />
während ihrem rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz. Also könnte jeder Kontakt<br />
mit einem Sans-papiers ein Erleichtern des illegalen Aufenthalts im Sinne von<br />
Art. 116 AuG darstellen. Gleichzeitig könnte der Kontakt aber auch als alltäglich <strong>und</strong><br />
deshalb strafrechtlich unbeachtlich angeschaut werden 6 .<br />
1.2. Rechtsprechung <strong>und</strong> Fachliteratur<br />
Rechtsprechung zu Art. 116 AuG bzw. dem früher geltenden ANAG ist nicht viel vorhanden.<br />
Das B<strong>und</strong>esgericht betont in seinen Urteilen, dass nicht alle Kontakte mit<br />
einer sich illegal in der Schweiz aufhaltenden Person von Art. 116 AuG erfasst sind,<br />
selbst wenn diese Kontakte dieser Person das Leben angenehmer machen.<br />
Ausschlaggebend: ist dabei, ob diese Kontakte den Behörden den Erlass oder<br />
Vollzug von Verfügungen gegen die Ausländerin bzw. den Ausländer erschweren<br />
oder ob die Kontakte die Möglichkeit des Zugriffs der Behörden auf diese Person<br />
einschränken 7 . Das heisst, das B<strong>und</strong>esgericht legt den Begriff des Erleichterns von<br />
illegalem Aufenthalt restriktiv bzw. einschränkend aus. Die Fachliteratur ergänzt dazu,<br />
dass der Kontakt des Gehilfen eine erhebliche zeitliche <strong>und</strong> inhaltliche Erschwernis<br />
für die Behörden bedeuten muss 8 .<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
Vetterli/D'Addario die Paolo, in: Caroni/Gächter/Thurnherr, Stämpflis Handkommentar zum B<strong>und</strong>esgetz<br />
über die Ausländerinnen <strong>und</strong> Ausländer, Art. 116 N 2<br />
BGE 130 IV 77 E. 2.2.<br />
Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 7<br />
Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 7; Basler Kommentar StGB I, Forster, Art. 25 N 9<br />
Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 7<br />
BGE 130 IV 77 E. 2.3.2.<br />
Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 9; Basler Kommentar StGB II, Delnon/Rüdy, Art.<br />
305 N 22
Das B<strong>und</strong>esgericht hat folgende konkrete Urteile dazu gefällt:<br />
Strafbare Handlungen:<br />
- Das Beherbergen während drei Monaten ist zu bestrafen 9 .<br />
- Das Überlassen von Wohnraum für die Dauer von einigen Tagen bis zu mehreren<br />
Monaten genügt ebenfalls, um sich strafbar zu machen. Dabei wurde nicht klar festgehalten,<br />
wo die Grenze ist (eher bei mehreren Wochen oder bei bloss mehreren<br />
Tagen) 10 .<br />
- Das Vermitteln von Prostituierten an Bordelle 11 .<br />
Nicht strafbare Handlungen:<br />
- Wenn die Handlung zugunsten der Ehepartner bzw. des Ehepartners erfolgt 12 .<br />
- Wenn eine Autofahrerin oder ein Autofahrer eine sich illegal in der Schweiz aufhaltende<br />
Person innerhalb der Schweiz auf einer Strecke von ca. 100 km mitnimmt 13 .<br />
Fachliteratur:<br />
Laut Fachliteratur ist strafbar:<br />
- Das Leihen oder Schenken eines grösseren Geldbetrages, insbesondere wenn es<br />
dazu dient, die Miete oder Mitekaution oder den Lebensunterhalt für längere Zeit zu<br />
finanzieren 14 .<br />
Laut Fachliteratur ist nicht strafbar:<br />
- Das Verschenken von Geld, damit der bzw. die Beschenkte eine Anwältin bzw. einen<br />
Anwalt oder eine Ärztin bzw. einen Arzt bzw. eine Ärztin bezahlen kann 15 .<br />
Ob beispielsweise das Vermitteln einer Wohnung strafbar ist oder nicht, ist sich die<br />
Fachliteratur nicht einig 16 .<br />
Damit klarer <strong>und</strong> fassbarer wird, welche Handlungen strafbar sind <strong>und</strong> welche nicht,<br />
müssten mehr Einzelfälle vor Gericht gezogen werden, damit sich nach <strong>und</strong> nach eine<br />
Gerichtspraxis daraus entwickeln könnte. Im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren<br />
drohen jedoch Gerichts- <strong>und</strong> Anwaltskosten, was wohl der Gr<strong>und</strong> dafür ist, dass<br />
verurteilte Freiwillige ihren <strong>Strafe</strong>ntscheid nur selten weiterziehen.<br />
9<br />
BGE 130 IV 77<br />
10 Urteil des B<strong>und</strong>esgerichts vom 18. August 2000, 6S.615/1998<br />
11 Urteil des B<strong>und</strong>esgerichts vom 27. September 2000, 6S.356/1998; neu fällt diese Tathandlung unter<br />
Art. 116 Abs. 1 lit. b AuG<br />
12 BGE 127 IV 27<br />
13 Urteil des B<strong>und</strong>esgerichts vom 8. März 2004, 6S.459/2003<br />
14 Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 12<br />
15 Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 12 <strong>und</strong> dort zitierte Literatur<br />
16 Vetterli/D'Addario die Paolo, a.a.O., Art. 116 N 12 <strong>und</strong> dort zitierte Literatur
2. <strong>Pflicht</strong><br />
2.1. Das Recht auf Hilfe in Notlagen <strong>und</strong> die individuelle Verantwortung in der<br />
BV<br />
Laut Art. 12 B<strong>und</strong>esverfassung (BV) hat, wer in Not gerät <strong>und</strong> nicht in der Lage ist,<br />
für sich zu sorgen, Anspruch auf Hilfe <strong>und</strong> Betreuung <strong>und</strong> auf die Mittel, die für ein<br />
menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Ob die Notlage durch die betroffene<br />
Person verschuldet ist oder nicht, ist nicht massgeblich. Entscheidend ist allein, dass<br />
eine Person in Notlage geraten ist 17 . Das Recht auf Hilfe in Notlagen ist eng mit der<br />
Menschenwürde gemäss Art. 7 BV verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> steht deshalb nicht nur Schweizerinnen<br />
<strong>und</strong> Schweizerin, sondern auch Ausländerinnen <strong>und</strong> Ausländern zu, unabhängig<br />
von deren Aufenthaltsstatus.<br />
Das Recht auf Hilfe in Notlagen ist ein soziales Gr<strong>und</strong>recht, das eine Bedingung der<br />
menschlichen Existenz <strong>und</strong> damit der persönlichen Freiheit darstellt 18 . Es räumt der<br />
einzelnen Person einen unmittelbaren Anspruch auf staatliche Leistungen ein 19 . Das<br />
Recht auf Hilfe in Notlagen ist ein soziales Gr<strong>und</strong>recht. Adressaten der Gr<strong>und</strong>rechte<br />
sind die Staatsorgane. Ob Gr<strong>und</strong>rechte auch die Rechtsbeziehungen <strong>zwischen</strong> Privaten<br />
erfassen, ist umstritten 20 . Eine unmittelbare Bindung der Privaten an die<br />
Gr<strong>und</strong>rechte im Privatrechtsverkehr wird in der Schweiz kaum angenommen 21 . Mit<br />
anderen Worten können sich Private nur dem Staat (bzw. Kanton oder Gemeinde)<br />
gegenüber auf das Recht auf Nothilfe gemäss Art. 12 BV beziehen. Hingegen kann<br />
kein Privater zu einem anderen Privaten gehen <strong>und</strong> gestützt auf Art. 12 BV Nothilfe<br />
von diesem verlangen.<br />
Laut Art. 6 BV nimmt allerdings jede Person Verantwortung für sich selber wahr <strong>und</strong><br />
trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat <strong>und</strong> Gesellschaft bei.<br />
Die Verfassung des Kantons Bern bestimmt in Art. 8 Abs. 1, dass jede Person ihre<br />
<strong>Pflicht</strong>en zu erfüllen hat, die ihr durch die Verfassung <strong>und</strong> der auf ihr beruhenden<br />
Gesetzgebung auferlegt werden. Neben der Verantwortung für sich selbst trägt jede<br />
Person Verantwortung gegenüber den Menschen sowie Mitverantwortung dafür,<br />
dass das Recht zur Selbstbestimmung auch künftigen Generationen gewahrt bleibt<br />
(Art. 8 Abs. 2 KV BE).<br />
Art. 6 BV ist ein präambelartiger Gr<strong>und</strong>werteartikel, der auf die ganze nachstehende<br />
Verfassung ausstrahlt, aber konkretisierungsbedürftig ist 22 . Es ist noch unklar, was<br />
der Sinn von Art. 6 BV ist. Die Fachliteratur spricht teilweise von einer rechtlich kaum<br />
fassbaren Bestimmung, die keine normative Bedeutung hat, das heisst, Art. 6 BV beinhaltet<br />
keine Regel, an die jede Person in der Schweiz sich zu halten hat.<br />
17 BGE 134 I 65 E. 3.3.<br />
18 Häfelin/Haller/Keller, a.a.O., Rz 338<br />
19 Häfelin/Haller/Keller, a.a.O., Rz 214<br />
20 Häfelin/Haller/Keller, a.a.O., Rz 272<br />
21 Häfelin/Haller/Keller, a.a.O., Rz 281<br />
22 Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender, St.Galler Kommentar zu Art. 6 N 10
2.2. Unterlassung der Nothilfe im Strafrecht<br />
Laut Art. 128 Strafgesetzbuch (StGB) wird bestraft, wer einem Menschen, der in unmittelbarer<br />
Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach<br />
zugemutet werden könnte. Das Strafmass lautet Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren<br />
oder Geldstrafe 23 .<br />
Zur Hilfe verpflichtet ist laut Fachliteratur jede Person, die in der konkreten Situation<br />
zu sinnvoller Hilfe in der Lage ist 24 , also auch eine völlig unbeteiligte Person 25 . Gilt<br />
das für mehrere Personen, trifft die <strong>Pflicht</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich jede von ihnen. Sie entfällt<br />
erst dann, wenn das Erforderliche getan wurde. Eine Reihenfolge unter den Hilfsverpflichteten<br />
kann sich aus den Bedürfnissen der verletzten Person, aus den besonderen<br />
Kenntnissen <strong>und</strong> Fähigkeiten der Hilfsverpflichteten sowie aus der Zumutbarkeit<br />
ergeben. Dass eine hilfspflichtige Person Hilfe unterlässt im Vertrauen darauf, andere<br />
unterstünden derselben <strong>Pflicht</strong>, vermag sie nicht zu entlasten 26 .<br />
Die Hilfsverpflichtung erfährt eine Einschränkung auf der Opferseite, indem sie auf<br />
Menschen beschränkt ist, die sich in unmittelbarer Lebensgefahr befinden 27 .<br />
Wer genau darunter fällt, ist unsicher. Das Opfer muss nicht verletzt sein. Eine unmittelbare<br />
Lebensgefahr kann auch einer Person drohen, die noch intakt ist. Die Botschaft<br />
zu Art. 128 StGB nannte als Beispiele Ertrinkende; auf der Strasse liegen gebliebende<br />
Betrunkene oder an einem Herzanfall Zusammengebrochene 28 . Die Fachliteratur<br />
führt beispielsweise Bergsteigererinnen <strong>und</strong> Bergsteiger in Bergnot, in einem<br />
brennenden Haus verletzt Zurückgebliebene oder an einer Überdosis Heroin innert<br />
weniger St<strong>und</strong>en zu sterben drohende Drogenabhängige an 29 . Wegen Unterlassung<br />
von Nothilfe soll nur bestraft werden, wer die akute Lebensgefahr des Opfers erkennen<br />
muss, weil die Lebensgefahr eben unmittelbar <strong>und</strong> offenk<strong>und</strong>ig ist, <strong>und</strong> wer dennoch<br />
keine Nothilfe leistet.<br />
Eine weitere Einschränkung für die Hilfsverpflichtung ist das Kriterium, dass Hilfe nur<br />
im Rahmen des Zumutbaren geleistet werden muss. So kann nicht verlangt werden,<br />
dass jemand durch die Rettung des Opfers das eigene Leben in Gefahr bringt. Bei<br />
der Art <strong>und</strong> Qualität der Hilfe ist auf die individuellen Kenntnisse <strong>und</strong> Fähigkeiten der<br />
Helfenden abzustellen 30 .<br />
Strafbare Tathandlung ist das Nichthelfen. Die Beurteilung, was als Hilfe erwartet<br />
werden kann, ist unter Würdigung aller Umstände <strong>und</strong> unter Berücksichtigung der<br />
Fähigkeiten <strong>und</strong> der Möglichkeiten der zur Hilfe verpflichteten Personen. Eine helfende<br />
Person, die das ihr Erkennbare <strong>und</strong> Mögliche vorkehrt, genügt ihrer <strong>Pflicht</strong>, auch<br />
wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass andere Massnahmen eher geeignet gewesen<br />
wären, das bedrohte Leben zu retten 31 .<br />
23 Seit 1960 sind zu Art. 128 StGB 808 Urteile nachgewiesen. In den letzten 10 Jahren wurden im<br />
Durchschnitt 20 Urteile pro Jahr erlassen (Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128)<br />
24 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 21<br />
25 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 20<br />
26 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 21<br />
27 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 22<br />
28 BBl 1985 II 1009, 1034<br />
29 BGE 121 IV 22; Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 22<br />
30 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 26 ff.<br />
31 Basler Kommentar StGB II, Aebersold, Art. 128 N 25
3. Fazit<br />
Wann die <strong>Pflicht</strong> zur <strong>Freiwilligenarbeit</strong> beginnt, haben wir aus Art. 128 StGB betreffend<br />
Unterlassung der Nothilfe gesehen <strong>und</strong> scheint einigermassen klar: Befindet<br />
sich ein Mensch in Lebensgefahr, hat jede Person, die dem Betroffenen sinnvolle Hilfe<br />
leisten kann, eine Verpflichtung zu helfen.<br />
Wann die <strong>Pflicht</strong> zur <strong>Freiwilligenarbeit</strong> aufhört, ist bedeutend unklarer <strong>und</strong> wirft erste<br />
Fragen auf.<br />
Wann jedoch die Grenze zur Strafbarkeit durch <strong>Freiwilligenarbeit</strong> überschritten wird,<br />
ist leider noch viel unklarer <strong>und</strong> scheint mehr Fragen als Antworten aufzuwerfen. Das<br />
Gesetzesrecht dazu ist sehr unbestimmt. Zwar müssen Gesetze immer Raum zu Interpretationen<br />
lassen, um auf eine Vielzahl von unterschiedlichsten Einzelfällen anwendbar<br />
zu sein. Deshalb ist die Rechtsprechung durch die Gerichte so wichtig.<br />
Doch auch die Urteile des B<strong>und</strong>esgerichts <strong>und</strong> anderer Gerichte in der Schweiz haben<br />
bis heute wenig zur Klärung der insbesondere für Freiwillige brennenden Frage,<br />
wo die <strong>Pflicht</strong> aufhört <strong>und</strong> wo die <strong>Strafe</strong> beginnt, beigetragen.<br />
4. Praxisbeispiel<br />
Eine Freiwillige begegnet einem Asylsuchenden. Er erhält einen negativen Asylentscheid<br />
<strong>und</strong> wird zum Sans-Papiers. Sie beherbergt ihn bei sich zu Hause. Er wird<br />
plötzlich schwer krank. Was soll die Freiwillige tun? Macht sie sich strafbar, wenn sie<br />
es unterlässt, ihm die nötige medizinische Hilfe zu gewähren? Oder macht sie sich<br />
strafbar, wenn sie ihm hilft?<br />
Es liegt an Ihnen, sich darüber Gedanken zu machen <strong>und</strong> danach in Ihrem persönlichen<br />
Alltag entsprechend zu handeln.<br />
5. Strafmass<br />
Die folgende Tabelle gibt einen Einblick in die Empfehlungen der Konferenz der<br />
Strafverfolgungsbehörden der Schweiz. Diese Empfehlungen sind nicht bindend.<br />
Soweit ersichtlich, bewegen sich jedoch die wenigen bisher gefällten Gerichtsurteile<br />
zur Sache innerhalb dieser Empfehlungen. Wir stellen sie hier zur Verfügung, damit<br />
die Lesenden wissen, was sie riskieren, wenn sie Personen ohne Aufenthaltsbewilligung<br />
unterstützen. Wir wollen sie jedoch explizit damit nicht abschrecken, ihrem Gewissen<br />
zu folgen, falls sie denken, dass ihre Unterstützung nötig ist. Im Gegenteil:<br />
Die Tatsache, dass zwar viel Literatur zum Thema vorhanden ist, jedoch wenige Gerichtsfälle<br />
darüber gefällt wurden, sollte die Eine oder den Anderen motivieren, gegen<br />
eine als ungerecht empf<strong>und</strong>ene Bestrafung zu rekurrieren. In einem solchen Fall raten<br />
wir Ihnen, rechtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Quelle: http://www.ksbs-caps.ch/docs_empf/empf_aug_d.pdf (Einsicht am 10.8.12)