Heft 4 - Institut für Zeitgeschichte
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388 H. G. Gelber<br />
zipiell unterschieden, und daß er allein es war, der das wirtschaftliche Programm<br />
radikal ablehnte. Er war auch mit Hulls Gedanken an ein minimales Existenzniveau<br />
nicht einverstanden. Das würde, meinte er, auf eine Versklavung des ganzen deutschen<br />
Volkes hinauslaufen. Die Sitzung endete, ohne daß sich die drei Ministerien einer<br />
Einigung genähert hatten; Stimson ließ ein Memorandum zirkulieren, in dem er<br />
seine Einwände gegen Morgenthau im einzelnen wiederholte. Dessen Vorschläge<br />
würden nicht nur einen neuen Krieg nicht verhüten, so schrieb er, sondern im<br />
Gegenteil neue Unruhen hervorrufen. Die Schuld der Nazis würde nur verdunkelt<br />
und prodeutsche Sympathien in aller Welt erweckt werden. Die Vernichtung der<br />
deutschen Industrie würde die Wirtschaft von ganz Westeuropa, die deutsche Industrieprodukte<br />
nach dem Kriege dringend brauche, ernstlich beeinträchtigen.<br />
Deutschland habe im Augenblick eine Bevölkerung von 30 Millionen Menschen<br />
mehr, als es durch Landwirtschaft allein versorgen könnte. Es wäre einfach nicht<br />
möglich, die Ruhr in ein totes Gebiet in der Mitte eines der wichtigsten Industriekontinente<br />
der Welt zu verwandeln 89 .<br />
Am nächsten Tag, dem 6. September, versammelte sich der Kabinettsausschuß<br />
unter Vorsitz des Präsidenten. Morgenthau bestand auf seinen Ansichten und verlangte<br />
anscheinend auf dieser Sitzung zum erstenmal in aller Form die Vernichtung<br />
der gesamten Ruhr-Industrie 90 . Roosevelt erwähnte die Notwendigkeit einer Lösung,<br />
die Großbritannien in seinen erwarteten wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach dem<br />
Krieg half. Die nächste Sitzung fand am 9. September statt. Morgenthau argumentierte<br />
in einem neuen Schriftstück, daß, wenn der Präsident Sorgen um Großbritannien<br />
habe, seine Vorschläge das beste Hilfsmittel wären. Denn wenn die Ruhr-Industrie<br />
einmal zerstört sei, sagte er, könnte Großbritannien die deutschen Ausfuhrmärkte<br />
übernehmen. Morgenthau sprach sich auch gegen Stimsons Bemerkung aus, daß<br />
die deutsche Industrie <strong>für</strong> die wirtschaftliche Gesundheit Europas notwendig sei.<br />
Auch auf dieser Sitzung kam man zu keiner Einigung, und das einzige Ergebnis<br />
war, daß Hopkins die Wichtigkeit einer Dreimächteübereinstimmung in Angelegenheiten<br />
dieser Art unterstrich.<br />
Das Resultat der Debatte stand daher noch aus, als Roosevelt zu weiteren Treffen<br />
mit Churchill vom 11. bis 16. September nach Quebec abfuhr. Am 12. September<br />
berief der Präsident Henry Morgenthau dorthin, und am Abend des 13. unterbreitete<br />
der Finanzminister seine Ansichten dem britischen Premierminister. Weder<br />
Hull noch Eden waren anwesend; Churchill scheint nach der Meinung des Foreign<br />
Office gar nicht gefragt zu haben 91 . Inzwischen hatte das War Cabinet in London<br />
entschieden, daß die Idee des Präsidenten, das Chaos in Deutschland regieren zu<br />
lassen, als Bestrafung einfach untauglich sei. Die alliierten Handlungen würden<br />
nicht als eine gerechte Strafe, sondern als Verhängung zwecklosen und wahllosen<br />
Leidens erscheinen. Zudem würden solche Maßnahmen keinen wirtschaftlichen<br />
Beitrag Deutschlands zum Wiederaufbau Europas ermöglichen; im Gegenteil, die<br />
89 Stimson and Bundy, a. a. O., S. 570-573.<br />
90 Snell, a. a. O., S. 85.<br />
91 Woodward, a. a. 0., S. 472.