21.11.2013 Aufrufe

Leseprobe als PDF - E-cademic

Leseprobe als PDF - E-cademic

Leseprobe als PDF - E-cademic

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Rolf Castell (Hg.)<br />

Hundert Jahre<br />

Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />

Biografien und Autobiografien<br />

Mit einem Begleitwort von Walter Bettschart<br />

und 6 Fotografien<br />

V&R unipress


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

ISBN 978-3-89971-509-5<br />

© 2008, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de<br />

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung in anderen <strong>als</strong> den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen<br />

schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine<br />

Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich<br />

gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und<br />

Unterrichtszwecke. Printed in Germany.<br />

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.


INHALTSVERZEICHNIS<br />

GELEITWORT<br />

W. BETTSCHART …………………………………………………………...... 7<br />

EINLEITUNG<br />

R. CASTELL ………………………………………………………………...... 9<br />

JOHANNES TRÜPER – DIE ENTSTEHUNG DER KINDER- UND<br />

JUGENDPSYCHIATRIE IN JENA UNTER DEM EINFLUSS UND IN<br />

WECHSELWIRKUNG MIT DER PÄDAGOGIK<br />

U.-J. GERHARD UND A. SCHÖNBERG…………………………….…............ 17<br />

LEO KANNER<br />

K.-J. NEUMÄRKER ………………………………………………….… ........ 47<br />

JAKOB LUTZ (LEBENSLAUF 1903 – 1998)<br />

B. MATILE-LUTZ ………………………………………………………… ... 73<br />

JAKOB LUTZ (KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRISCHES WERK).<br />

W. FELDER ………………………………………………………….…........ 79<br />

HANS ASPERGER (1906 – 1980, LEBEN UND WERK)<br />

M. ASPERGER FELDER…………………………………………………….... 99<br />

MEIN WEG IN DER KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE – EINE KINDER-<br />

UND JUGENDPSYCHIATRISCHE AUTOBIOGRAFIE<br />

R. LEMPP ………………………………………………………………… . 119<br />

EIN ETWAS ANDERER RÜCKBLICK<br />

M. MÜLLER-KÜPPERS …………………………………………………… . 209<br />

EPILOG<br />

R. CASTELL ……………………………………………………………….. 273<br />

PERSONENREGISTER ……………………………………………………… 277<br />

ADRESSENVERZEICHNIS …………………………………………………... 285<br />

5


Walter Bettschart<br />

Geleitwort 1<br />

Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist noch wenig erforscht.<br />

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier etwas wie eine »infantile<br />

Amnesie« vorliegt. Es ist dies eine subjektive Beurteilung, schließt indessen<br />

andere Gründe für die spärliche historische Forschung in unserem fachspezifischen<br />

Gebiet nicht aus. Unsere Geschichte scheint im Schatten der<br />

außerordentlichen, man kann sagen, rasanten Entwicklung der letzen Jahrzehnte<br />

der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu stehen. So erlebten wir den Aufbau einer<br />

ausgezeichneten wissenschaftlichen Forschung der Entwicklung und Pathologie<br />

des Kindes und Jugendlichen und seiner Umwelt. Die Weiter- und Fortbildung<br />

wurde neu gestaltet und verfeinert. Es sollen auch die Schaffung und Erweiterung<br />

vieler ambulanter, halbstationärer und stationärer klinischer Einrichtungen und die<br />

Vertiefung unseres Faches in Säuglings-, Kleinkinder- und Jugendpsychiatrie<br />

sowie die neuen Therapieformen erwähnt werden. Verschiedene Bereiche, welche<br />

seit jeher dem Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugehörten, mussten<br />

klinisch und theoretisch neu definiert werden. Hier können unter anderem die<br />

Liaisonpsychiatrie, die forensische Psychiatrie, die Präventionsarbeit, die Epidemiologie,<br />

die Nosologie und Entwicklungspsychiatrie angeführt werden. Die<br />

engere Zusammenarbeit und die gemeinsamen Forschungsarbeiten mit der<br />

Neuroscience sowie den sozialen und pädagogischen Wissenschaften, erfordern<br />

die Einführung neuer Methodologien. Dazu kommt die immer wichtigere Arbeit<br />

in der Öffentlichkeit, in der Politik, um unsere Identität und die psychiatrischen<br />

und psychotherapeutischen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in ihren<br />

Familien und ihrer Umwelt zu erläutern. Man könnte in einem gewissen Sinne<br />

sagen, dass wir so sehr in der Gegenwart leben und arbeiten müssen, dass wir<br />

kaum mehr Zeit für unsere eigene geschichtliche Entwicklung haben. Nicht nur in<br />

der Medizin, sondern in allen staatlichen und privaten Betrieben wird geplant,<br />

rationalisiert und muss »zukunftsorientiert« gearbeitet werden. Jeder ist aufgerufen<br />

»funktionstüchtiger« zu werden. Jahresplanungen, neue Organigramme werden<br />

erstellt und Objektive festgelegt. Nicht nur das Bestehende, sondern vor allem<br />

auch das Vergangene wird entwertet, verworfen.<br />

Der Drang nach dem Neuen ist allgegenwärtig: Auch bei jeder Berufung,<br />

innerhalb und außerhalb der Universität, geht es darum, die letzen Entdeckungen,<br />

Forschungsergebnisse und »modernen Tendenzen« einzuführen und zu entwickeln;<br />

mit Recht! Aber geht dies nicht häufig auf Kosten einer kontinuierlichen<br />

1 Verfasst: Crissier, Februar 2008.<br />

7


Geleitwort<br />

Entfaltung und mit der unausgesprochenen Forderung das »Alte zu verschrotten«?<br />

Die Erforschung des Gewesenen, der Vergangenheit, erweckt dann den Eindruck<br />

von etwas »Aufgewärmtem«. Wer hat schon Zeit, sich wissenschaftlich mit der<br />

Geschichte auseinanderzusetzen, oder wie ein bekannter Kollege sich mir<br />

gegenüber ausdrückte: Wenn man nichts Neues mehr zu sagen hat, so greift man<br />

in die Geschichte zurück – geschichtliche Forschung, eine Flucht in die<br />

Vergangenheit? Eine schöne Beschäftigung für alternde Kinder- und Jugendpsychiater?<br />

Oder ist es nicht so, dass Gegenwart Geschichte wird und dass der<br />

Verlust einer Erinnerung, um einen bekannten Spruch zu erwähnen, dem Verlust<br />

einer Bibliothek entspricht?<br />

Geschichtsforschung muss unterrichtet und gelernt werden. Sie hat ihre eigene<br />

Methodologie, deren Forderungen häufig schwierig zu erfüllen sind. Oft fehlen<br />

Dokumente, sie wurden vernichtet, nicht archiviert oder ihr Vorhandensein ist<br />

unbekannt. Nachforschungen werden schwierig oder scheitern.<br />

R. Castell et. al. »Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland<br />

in den Jahren 1937 bis 1961«, haben wichtige Forschungsarbeit geleistet und die<br />

reichen Ergebnisse so zusammengestellt, dass der Leser zu weiteren Untersuchungen<br />

angeregt wird. Mit der Veröffentlichung von sechs Biografien bedeutender<br />

Vertreter unseres Faches eröffnet sich eine andere Seite historischer<br />

Arbeit. Die vorgestellten Biografien und Autobiographien fesseln den Leser durch<br />

die lebhafte Beschreibung des persönlichen Lebens und Erlebens sowie der<br />

klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit. Die Darstellung der persönlichen<br />

Entwicklung, der zwischenmenschlichen Begegnungen und der beruflichen Arbeit<br />

führt zu einem dem Leser mitgeteilten – und geteilten – Erlebnis. Es ist lebendige<br />

historische Psychiatrie. Doch es soll hier nichts vorweggenommen, sondern nur<br />

die Hoffnung ausgesprochen werden, dass weitere Biografien folgen. In diesem<br />

Sinne kann ich mir vorstellen, unter einer Rubrik »Erlebte Geschichte der Kinderund<br />

Jugendpsychiatrie« eine Sammlung von Autobiografien (und Biografien)<br />

wegweisender Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten erstellt zu<br />

sehen. Diese Dokumentation wäre ein bemerkenswerter und bereichernder<br />

geschichtlicher Beitrag zu unserer beruflichen Identität. Denn wir wissen, dass<br />

unser Arbeitsinstrument im Wesentlichen in unserer Persönlichkeit liegt.<br />

8


Rolf Castell<br />

Einleitung<br />

»Dies eine fühl ich und erkenn es klar,<br />

Das Leben ist der Güter höchstes nicht,<br />

Der Übel größtes aber ist die Schuld.«<br />

Friedrich Schiller (1803).<br />

Die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus dem Fach Psychiatrie<br />

war ein übernationaler Prozess. Die auf Kinder- und Jugendliche bezogene<br />

Spezialisierung brachte eine Verengung des Blickwinkels, aber gleichzeitig eine<br />

Öffnung zu Nachbardisziplinen wie Pädiatrie, Pädagogik, Psychologie, Jurisprudenz<br />

und der Sozialverwaltung. Obwohl der Entwicklungsjahre wenige sind,<br />

fühlen wir uns an die Worte Thomas Manns erinnert: »Tief ist der Brunnen der<br />

Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?« 1<br />

Staatliche Obrigkeit hatte im 19. Jahrhundert Gesetze zur allgemeinen<br />

Schulpflicht und gegen Kinderarbeit erlassen. 1900 und 1901 war in das<br />

Bürgerliche Gesetzbuch Art. 136 die Berufsvormundschaft für uneheliche Kinder,<br />

für arme Pflegekinder und für gefährdete Kinder (auch die Zwangserziehung)<br />

eingeführt worden. Nun folgte 1922 das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt 2 . Vor<br />

1922 gab es Gesetze über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger auf Länderebene<br />

3 . Es ging um das Recht des Kindes »auf Erziehung zur leiblichen,<br />

seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit«. Das Reichsgesetz, niedergelegt auf<br />

16 eng bedruckten Seiten mit 78 Paragraphen, schloss die Hilfe, aber auch den<br />

Zugriff des Staats auf die Jugend durch Jugendämter in Fragen der Unterbringung,<br />

Vormundschaft und Fürsorgeerziehung ein. Für diesen Zugriff waren immer<br />

wieder Gutachten von dritten Seiten notwendig. Das Reichsgesetz von 1922 sah<br />

dafür in § 65 die ärztliche Untersuchung von jugendlichen Psychopathen in Heilund<br />

Pflegeanstalten bis zu 6 Wochen Dauer vor. Die Abteilung für Kinder und<br />

Jugendliche der Psychiatrischen Klinik in Frankfurt/M. war die erste in<br />

Deutschland, an der man sich seit 1900 und seit 1914 <strong>als</strong> Universitätsabteilung mit<br />

dieser Aufgabe beschäftigte. Es folgten Tübingen 1919, Heidelberg, Berlin und<br />

Leipzig 1926.<br />

Schiller, Friedrich (1803) der Dichter der Tugend und der Freiheit; hier die Schlussverse<br />

aus »Die Braut von Messina«.<br />

1 Mann, Th. (1933).<br />

2 Reichsgesetzblatt (1922, S. 102).<br />

3 z.B. in Preußen vom 13.3.1878 und 2.7.1900.<br />

9


Einleitung<br />

Schon 1907 und 1908 hatte Emil Sioli (1852–1922), der Nachfolger Heinrich<br />

Hoffmanns (1809–1894) in Frankfurt, aber auch die Psychotherapie bzw. die<br />

medizinisch-pädagogische Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit<br />

Störungen des Sozialverhaltens (wörtlich: »verbrecherisches und antisoziales<br />

Verhalten«) in Angriff genommen. Die Behandlungsdauer lag zwischen wenigen<br />

Wochen und zwei bis drei Jahren. In Tübingen war dann 1919 die wissenschaftliche,<br />

universitäre Kinder- und Jugendpsychiatrie ein Kind des Ersten<br />

Weltkriegs. Etwas allgemeiner formuliert lässt sich folgern: Die Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie an deutschen Universitäten war eng verbunden mit der<br />

allgemein konstatierten Zunahme der Störungen des Sozialverhaltens nach dem<br />

Ersten Weltkrieg und verbunden mit dem Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt 1922<br />

und den vorausgehenden Gesetzen über die Fürsorgeerziehung.<br />

Von 1933 bis 1945 lag über der Entwicklung des Faches Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie der Schatten der Zwangssterilisation von Patienten auch von<br />

sozial gestörten Jugendlichen, und der Schatten der Euthanasie von etwa zehntausend<br />

Kindern und Jugendlichen durch die T4-Aktion (Januar 1940 bis August<br />

1941) und in den Fachabteilungen (1939–1945).<br />

Die Frühgeschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie lag in einer Zeit mit<br />

großen neuropathologischen Fortschritten und einer somatisch ausgerichteten<br />

Krankheitsauffassung in der Psychiatrie. H. Emminghaus (1845–1904) und<br />

natürlich auch E. Kraepelin vertraten diese Auffassung. Zwischen 1895 und 1925<br />

wurde das Thema Euthanasie psychiatrischer Patienten intensiv diskutiert. Adolf<br />

Jost 4 sah in der Entfernung von Schmerz und der Herbeiführung von Lust das<br />

letzte und einzige Lebensziel. Jost fordert »das qualvolle Leben nutzloser<br />

Geisteskranker« durch Euthanasie zu beenden. Bei unheilbar Kranken »wird der<br />

Wert ihres Lebens negativ«. Die Verwaltung des Rechts, den Tod zu vollziehen,<br />

geht bei Entmündigten an den Staat zurück. Binding und Hoche publizierten 1920<br />

ihre »theoretische Erörterung« 5 : »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten<br />

Lebens«; gemeint waren »Zustände geistigen Todes bei hoffnungslos<br />

Blödsinnigen«. Das galt auch für Kinder. »Dagegen kann von der Freigabe der<br />

Tötung bei Geistesschwachen, die sich in ihrem Leben glücklich fühlen, nie die<br />

Rede sein.« Das Problem wurde durch Juristen, Ärzte und Theologen diskutiert<br />

und zum Teil eine »Erlösung« auch bejaht. Meltzer 6 wandte sich 1925 gegen<br />

Euthanasiemaßnahmen, publizierte aber eine Befragung, erhoben 1920, von ca.<br />

100 betroffenen Vätern und erhielt eine Zustimmung zur Euthanasie von etwa<br />

70% – ein Ergebnis, das er nicht für repräsentativ hielt. Trotzdem war er betroffen,<br />

besonders angesichts von Fanatikern wie Ernst Mann 7 , die in Publikationen die<br />

Tötung von jugendlichen Psychopathen wünschten. Ernst Mann plädierte 1922 für<br />

4 Jost, A. (1895).<br />

5 Binding, K. u. Hoche, A. (1920).<br />

6 Meltzer, E. (1925).<br />

7 Mann, E. (1922).<br />

10


Rolf Castell<br />

die »Ausmerze« der Unheilbaren in seiner Schrift: »Die Erlösung der Menschheit<br />

vom Elend«. Er forderte eine Selektionskommission mit polizeilicher Macht. Die<br />

Heil- bzw. Sonderpädagogik vertrat eine gegensätzliche Haltung. J. Trüper in Jena<br />

arbeitete religiös gebunden und verstand es, zur Klärung von psychischen<br />

Problemen bei Kindern und Jugendlichen Kontakt zu Vertretern der Theologie,<br />

Psychiatrie und Psychologie herzustellen. Nach dem internationalen Kongress für<br />

Kinder- und Jugendpsychiatrie 1937 in Paris kam es 1940 zu der Gründung der<br />

deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik in Wien unter<br />

dem Vorsitzenden Paul Schröder. Die Gründung erfolgte zu einem Zeitpunkt, zu<br />

dem sein Schüler Hans Heinze (sen.) in Brandenburg-Görden kinderpsychiatrische<br />

Patienten zu töten bereits begonnen hatte und in Moringen ein polizeiliches<br />

Jugendschutzlager eingerichtet worden war. Zwangssterilisation und Euthanasie<br />

waren die schlimmsten Folgen von Selektion. Der Gedanke der Selektion<br />

zwischen heilbar und unheilbar fand auch in dem bekannten Buch von Schröder<br />

und Heinze: »Kindliche Charaktere und ihre Abartigkeit« seinen Platz 8 . Der<br />

Gedanke der sozialen Selektion war von 1919 bis 1951 in der Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie immer wieder zu finden. Es wurde insbesondere zwischen<br />

erziehbaren und unerziehbaren Patienten unterschieden. Die Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie hatte seit 1920 einen Bereich besetzt, der vor 1900 Arbeitsfeld<br />

von Pädagogen und Theologen war, in dem man soziale Selektion wohl so nicht<br />

kannte.<br />

In den 50er Jahren war die Bildung des Fächerkanons in der Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie endgültig etabliert. Er wurde gefördert durch Fachzeitschriften<br />

und Lehrbücher. Einen begrenzten Einfluss auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />

hatte seit 1952 die Psychoanalyse. Die Zeitschrift »Die Kinderfehler, Zeitschrift<br />

für pädagogische Pathologie und Therapie in Haus, Schule und sozialem Leben«,<br />

später »Zeitschrift für Kinderforschung«, wurde 1896 von J. Trüper, von Beruf<br />

Lehrer, in Jena gegründet. Er leitete seit 1892 auf der Jenaer Sophienhöhe ein<br />

Heim für entwicklungsgestörte Kinder 9 . Der Kontakt zur Psychiatrie war hier<br />

durch Otto Binswanger und Julius Koch, der zur Theologie durch Friedrich<br />

Zimmer gegeben. In der Zeitschrift vollzog sich nachvollziehbar die Akzentverschiebung<br />

von der Pädagogik zur Psychiatrie. 1923 bezeichnete M. Isserlin die<br />

Psychiatrie <strong>als</strong> Fundament der Zeitschrift. Ab 1936 bis 1944 waren W. Villinger<br />

u.a. die Herausgeber der jetzt somatisch ausgerichteten Zeitschrift. Die analytische<br />

Ausrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie dauerte in der IACP vom<br />

2. Kongress in London 1948 bis zum 4. Kongress in Lissabon 1958. Dort kam es<br />

durch G. Heuyer zum deutlichen Protest gegen die 10 Jahre psychoanalytische<br />

Dominanz. 1962 in Scheveningen war die Psychoanalyse <strong>als</strong> Thema der IACP<br />

nahezu verschwunden.<br />

8 Schröder, P. (1931).<br />

9 Siehe S. 29f.<br />

11


Einleitung<br />

In Deutschland etablierte sich die Kinderpsychoanalyse 1952 durch das erste<br />

Heft der Zeitschrift »Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie,<br />

Zeitschrift für analytische Kinderpsychologie, Psychotherapie und Psychagogik in<br />

Praxis und Forschung«, herausgegeben von Dührssen und Schwidder. Beide<br />

wurden nicht Ordinarien oder Extraordinarien in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.<br />

Die Psychoanalyse in der Kindertherapie fand nur in wenigen<br />

Universitäten eine Heimstadt; hier seien pars pro toto Freiburg und Heidelberg<br />

genannt. Von Stockert, Stutte und Göllnitz waren der Psychoanalyse im<br />

Nachkriegsdeutschland abhold. Dagegen hatte schon 1936 Moritz Tramer in der<br />

Schweiz ein Heft in der Schweizer Zeitschrift »Kinderpsychiatrie – Acta<br />

paedopsychiatrica« dem 80. Geburtstag Sigmund Freuds gewidmet. Diese Zeitschrift<br />

war die Klammer der Kinder- und Jugendpsychiater in Deutschland,<br />

Österreich, Frankreich, Schweiz, Italien und Spanien. Sie wurde 1949 das<br />

offizielle Organ der IACP. Sie veröffentlichte 1955 die Satzung der UEP.<br />

Herausragende Persönlichkeiten gestalteten <strong>als</strong> Psychiater die Sonderdisziplin<br />

Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie standen für Integrität und Internationalismus.<br />

Es waren dies Moritz Tramer 10 in Biel/Solothurn, George Heuyer in Paris, Paul<br />

Schröder in Leipzig und Hans Asperger in Innsbruck und Wien.<br />

Moritz Tramer kam 35-jährig im Jahr 1917 zur Kinder- und Jugendpsychiatrie.<br />

Er war 72 Jahre, <strong>als</strong> er zusammen mit Heuyer 1954 die Union Europäischer<br />

Paedopsychiater gründete. Eines der Ziele war die Erhaltung und Förderung der<br />

europäischen Tradition der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese bezog sich<br />

dam<strong>als</strong> auf das Konzept eines Gleichgewichts von somatischen und psychogenen<br />

Ursachen bei Erkrankungen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />

und den sich daraus ergebenden Therapieverfahren. Moritz Tramer war mit allen<br />

Verfahren vertraut, von Hypnose und Kinderanalyse bis Massed Practice, Arbeitsund<br />

Beschäftigungstherapie, Gruppentherapie und Heilkrampfbehandlung und<br />

Psychopharmakotherapie. Er reintegrierte die deutschen Kinder- und Jugendpsychiater<br />

in die internationale Gemeinschaft. 1954 war es noch nicht allgemein<br />

üblich sieben deutsche Teilnehmer (Freund, Koch, Schmitz, Sieverts, v. Stockert,<br />

Stutte und Villinger) nach Magglingen bei Solothurn zur Gründung der UEP<br />

einzuladen. Tramer gab 1942 die erste Auflage seines Lehrbuchs der<br />

»Allgemeinen Kinderpsychiatrie, einschließlich der allgemeinen Psychiatrie der<br />

Adoleszenz« heraus; dieses Buch war das umfassendste Lehrbuch seiner Zeit.<br />

Besonders ging er in seinem Buch auf den Entwicklungsaspekt und die<br />

Klassifikation von Störungsbildern ein. Auch die gesetzlichen Regelungen von<br />

Sterilisation wurden besprochen. Er zog den freiwilligen Verzicht auf Nachkommen<br />

bei Belastung der Zwangssterilisation vor. Euthanasiemaßnahmen<br />

erwähnte er mit keinem Wort – auch nicht in der 4. Auflage seines Buchs 1964,<br />

und das obwohl es viele geschichtliche Bezüge aufwies. Verständlich war das:<br />

10 Er stammte aus Zawada bei Auschwitz (Gebiet Teschen, Galizien; Stadtarchiv Zürich,<br />

4.10.2005).<br />

12


Rolf Castell<br />

Handelte es sich doch dabei aus Schweizer Sicht um ein ausländisches Problem.<br />

Und erst in den 1960er Jahren liefen staatsanwaltliche Ermittlungen gegen Täter<br />

der Kindereuthanasie in Deutschland an.<br />

Seine Zeitschrift »Kinderpsychiatrie, Acta paedopsychiatrica« gründete er<br />

1934. Später bezeichnete Tramer, der jüdischer Herkunft war, die Zeitschrift <strong>als</strong><br />

»unausgesprochenes Dennoch« angesichts der politischen Lage in Deutschland 11 .<br />

Er war persönlich mit über 1000 Franken jährlich potenziell an der Deckung der<br />

Kosten beteiligt. Die Zeitschrift war das bedeutendste, überwiegend deutschsprachige<br />

Fachorgan außerhalb Deutschlands und das fachliche Forum für die<br />

meisten europäischen Länder von Spanien bis Norwegen und Schweden.<br />

Vor Tramer sind <strong>als</strong> Persönlichkeiten Emil Sioli, Frankfurt, Hermann<br />

Emminghaus, Dorpart und Freiburg, Theodor Ziehen, Jena und Berlin, und Paul<br />

Schröder, Leipzig, zu nennen, auch Wilhelm Strohmayer, Jena, gehörte dazu.<br />

Jünger <strong>als</strong> Tramer waren Georges Heuyer, Paris, und Franz-Günther Ritter v.<br />

Stockert, Frankfurt; er verstarb 1967. Er war der letzte Erwachsenenpsychiater,<br />

der sich Kindern und Jugendlichen zuwandte; nach ihm haben wir es mit<br />

Fachvertretern zu tun, die ihr berufliches Lebenswerk ausschließlich der Kinderund<br />

Jugendpsychiatrie widmeten.<br />

Die Fachvertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie wussten nur zum Teil von<br />

der hier angesprochenen Problemgeschichte des Fachs. Erst M. Müller-Küppers<br />

wagte sich ihr <strong>als</strong> Erster in einem öffentlichen Vortrag 1989 auf dem Kongress der<br />

Gesellschaft in München zu stellen. Dafür gebührt ihm Dank.<br />

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Pädiatrie einen bisher nicht<br />

bekannten Aufschwung. Hintergrund war unter anderem die hohe<br />

Säuglingssterblichkeit von 25% Ende des 19. Jahrhunderts, die durch die Aktivität<br />

der Pädiater gesenkt wurde. 1918 gab es sechs Ordinariate für Pädiatrie im<br />

Reichsgebiet. In den Jahren 1919 und 1920 wurden 14 neue Ordinariate an<br />

deutschen Universitäten geschaffen. Es ging um die »Aufforstung« des deutschen<br />

Volkes, so hieß das ganz offiziell. Zwei Millionen Tote waren im Ersten<br />

Weltkrieg auf deutscher Seite zu beklagen. Zu dieser Zeit versuchte die Kinderund<br />

Jugendpsychiatrie Boden zu gewinnen, und der wurde ihr von der Pädiatrie<br />

nicht ohne weiteres gewährt. Köhnlein hat das für Tübingen dargestellt 12 . Auch<br />

1950 war das so in Lübeck. Dam<strong>als</strong> verhinderte wohl die Deutsche Gesellschaft<br />

für Kinderheilkunde im Vereinsnamen »Kinder«-psychiatrie. Die Kinder- und<br />

Jugendpsychiater mussten ihre Gesellschaft »Deutsche Vereinigung für<br />

Jugendpsychiatrie« nennen.<br />

Wie es die Protagonisten des Fachs Kinder- und Jugendpsychiatrie im<br />

20. Jahrhundert geschafft haben, jeweils an der Universität, der sie <strong>als</strong> Fachvertreter<br />

angehörten, das Fach zu gestalten und zu fördern, zeigen uns die folgenden<br />

Biografien und Autobiografien. Wir können sie <strong>als</strong> Aphorismen sehen. Der Blick<br />

11 Castell, R. et. al. (2003, S. 16).<br />

12 Castell, R. et. al. (2003, S. 30).<br />

13


Einleitung<br />

in den »Brunnen der Vergangenheit« muss in einem Buch von ca. 300 Seiten<br />

aphoristisch bleiben; die Möglichkeiten des Herausgebers sind beschränkt.<br />

Der Dank des Herausgebers gebührt allen Autorinnen und Autoren, dem Verlag<br />

Vandenhoeck & Ruprecht und Herrn Matthias Stuck für Schreib- und Korrekturarbeit.<br />

Es war eine große menschliche Erfahrung die acht Manuskripte des vorliegenden<br />

Buches anvertraut bekommen zu haben.<br />

München, im Dezember 2007.<br />

14


Rolf Castell<br />

Quellenverzeichnis<br />

Binding, K. und Hoche, A. (1920): Die Freigabe der Vernichtung<br />

lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Leipzig: Felix<br />

Meiner.<br />

Castell, R., Nedoschill, J., Rupps, M. und Bussiek, D. (2003): Geschichte der<br />

Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937<br />

bis 1961. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.<br />

Jost Adolf (1895): Das Recht auf Tod, Sociale Studie. Göttingen:<br />

Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung.<br />

Meltzer, Ewald (1925): Das Problem der Abkürzung »Lebensunwerten«<br />

Lebens. Halle: Carl Marhold.<br />

Mann, Ernst (1922): Die Erlösung der Menschheit vom Elend. Weimar: Fritz<br />

Fink Verlag.<br />

Mann, Thomas (1933): Die Geschichten Jaakobs. Berlin: S. Fischer.<br />

Reichsgesetzblatt (1922): Gesetz für Jugendwohlfahrt. Vom 9. Juli 1922.<br />

Berlin.<br />

Schröder, Paul (1931): Kindliche Charaktere und ihre Abartigkeit. Breslau:<br />

Ferdinand Hirt.<br />

15


Uwe-Jens Gerhard und Anke Schönberg<br />

Johannes Trüper<br />

– Die Entstehung der Kinder- und Jugendpsychiatrie <strong>als</strong><br />

medizinische Fachdisziplin in Jena unter dem Einfluss und<br />

in Wechselwirkung mit der Pädagogik 1<br />

Die Friedrich-Schiller-Universität, die 1934 ihren Namen 2 erhielt, hat in ihrer<br />

über 450-jährigen Geschichte eine Vielzahl großer Geister hervorgebracht. Die<br />

Gründung der Universität wurde im Ergebnis der Niederlage des Schmalkaldischen<br />

Bundes, in deren Folge der Ernestiner Johann Friedrich I. (1503–1554)<br />

<strong>als</strong> Führer der protestantischen Allianz die Kurwürde, zwei Drittel seines Landes<br />

und die Universität Wittenberg verlor, vollzogen. Somit war die führende<br />

lutheranische Reformhochschule 1548 <strong>als</strong> akademisches Gymnasium, das 1558<br />

das Universitätsprivileg erhielt, geboren. An der Alma mater jenensis formierte<br />

sich 1815 die Urburschenschaft, deren schwarz-rot-goldene Fahne in der<br />

Weimarer Republik und heute die deutschen Nationalfarben darstellt. In Jena<br />

lehrten bzw. studierten und lebten berühmte Persönlichkeiten: Friedrich Hegel,<br />

Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Schelling, Novalis, Friedrich Hölderlin,<br />

Clemens Brentano, Ernst Moritz Arndt, Gottlob Frege und Ernst Haeckel.<br />

Friedrich Schiller, der zum Namenspatron der Universität wurde, war in der<br />

Saalestadt <strong>als</strong> Geschichtsprofessor tätig, während Johann Wolfgang Goethe <strong>als</strong><br />

Oberaufseher über die unmittelbaren Anstalten für Wissen und Kunst im<br />

damaligen Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach verantwortlich für die<br />

Universität zeichnete. Im Jahr 1841 wurde Karl Marx in Jena promoviert. Auch<br />

die Medizin und die Pädagogik haben große Namen hervorgebracht. Hier sind<br />

insbesondere die Nervenärzte Hans Berger, der das Enzephalogramm des<br />

Menschen entdeckt hat, Otto Binswanger, Hermann Emminghaus, Theodor<br />

Ziehen, Wilhelm Strohmayer sowie der Physiologe William Preyer und die<br />

Pädagogen Karl Volkmar Stoy, Wilhelm Rein, Johannes Trüper, Peter Petersen<br />

und Adolf Reichwein zu nennen. Einen besonderen Aufschwung erhielt Jena<br />

durch die enge Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft im 19. Jahrhundert,<br />

die mit den Namen Ernst Abbe, Carl Zeiss und Otto Schott verbunden ist.<br />

1 Revidierte Fassung: Jena, Mai 2007.<br />

2 1608 lautete der Name: »Academia Jenensis«; 1742: »Fürstlich-Sächsische gesamte<br />

Universität hierselbst zu Jena«; 1826: »Großherzoglich Herzoglich-sächsische Gesamt-<br />

Universität zu Jena«; 1922: »Thüringische Landesuniversität Jena« (UAJ; 1. März<br />

2007).<br />

17


Johannes Trüper<br />

Entwicklungslinien<br />

Die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie <strong>als</strong> eigenständige<br />

Fachrichtung ist nicht nur <strong>als</strong> Resultat einer Spezialisierung innerhalb der Medizin<br />

bzw. der Psychiatrie zu werten, sondern geht aus dem Zusammenspiel<br />

medizinischer, pädagogischer, psychologischer und philosophischer Einflüsse<br />

hervor. Innerhalb der wissenschaftlichen Nachbardisziplinen nimmt die Pädagogik<br />

und insbesondere die Heilpädagogik eine entscheidende Rolle ein. Die sozialen<br />

und wissenschaftlichen, insbesondere die philosophischen Einflüsse im 19.<br />

Jahrhundert führten zu einem neuen Menschenbild und zu einer veränderten<br />

Betrachtung des Kindes, was sich in der Pädagogik, Psychologie und Medizin<br />

niederschlug. Neue Wissenschaftszweige wie Kinderheilkunde sowie Kinderpsychiatrie<br />

und -psychologie bildeten sich heraus. Gerade in der Pädagogik<br />

wurden Vorstellungen der Romantik durch Nützlichkeitserwägungen <strong>als</strong> eine<br />

notwendige Konsequenz aus der zunehmenden Industrialisierung ersetzt. Bildung<br />

wurde damit auch <strong>als</strong> Grundlage für die ökonomische Weiterentwicklung<br />

verstanden. Diese neuen Anschauungen standen zunächst im Widerspruch zur<br />

reaktionären Schulpolitik, die im Vordergrund der Erziehung die Religion und die<br />

Staatskonformität sah. Mit dem Ziel der Reform des mathematisch-naturwissenschaftlichen<br />

Schulunterrichts wurde zum Beispiel 1868 die »Sektion für<br />

naturwissenschaftliche Pädagogik« auf der Naturforscherversammlung gegründet.<br />

Während die pädagogische Lehre am Ende des 19. Jahrhunderts noch durch die<br />

Herbartsche 3 Psychologie geprägt wurde, wie sie besonders der Jenaer Pädagoge<br />

Wilhelm Rein in der Nachfolge seines Vorgängers in Jena Karl Volkmar Stoy<br />

vertrat, nahm der experimentelle Ansatz um die Jahrhundertwende immer<br />

größeren Raum ein. In diesem Zusammenhang sind die Entstehung der<br />

»Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der pädagogischen Psychologie<br />

und Physiologie« durch Herman Schiller und Theodor Ziehen 1897 sowie die<br />

»Experimentelle Didaktik« durch Wilhelm August Lay 1903 und der »Abriß der<br />

experimentellen Pädagogik« durch Ernst Meumann 1914 zu sehen. Wiederum<br />

währte die Dominanz der experimentalpsychologischen Pädagogik nicht sehr lang,<br />

da sich ihre Beschränkung insbesondere das Gefühls- und Willensleben betreffend<br />

zeigte. Als Kritik zum intellektualistischen und mechanistischen Konzept wurden<br />

ganzheitliche Werte vermittelnde, persönlichkeitsbildende pädagogische Theorien<br />

kreiert. Letztendlich wurde ein Erziehungsstil vom Kind ausgehend angestrebt,<br />

der von Anpassung frei sein sollte. In der Abbildung 1 ist die Entwicklungslinie<br />

der Jenaer Pädagogik dargestellt, wobei die Pädagogen mit unmittelbarer<br />

Beziehung zur Kinderpsychiatrie unterlegt sind (Abb. 1). Die frühe Kinderpsychologie<br />

diente besonders der Schulpädagogik und beschäftigte sich mit der<br />

Intelligenzforschung. Pädagogische Aspekte fanden auch ihren Eingang in die<br />

Medizin. Erziehung bestimme die Entwicklung des Kindes in dem Sinne, dass das<br />

Nervensystem sich an die Erfordernisse der Umwelt anpassen würde. Die<br />

3 Herbart, J. H., Oldenburg, Göttingen (1776–1841).<br />

18


Uwe-Jens Gerhard und Anke Schönberg<br />

psychischen und physischen Besonderheiten des Kindes wurden allerdings nicht<br />

erfasst, da man die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen <strong>als</strong> gradlinig<br />

betrachtete. Die Entwicklungstheorien Charles Darwins und des Jenaers Ernst<br />

Haeckel gaben erst Anlass, sich mit der Andersartigkeit und Eigengesetzlichkeit<br />

des kindlichen Seins auseinanderzusetzen. Der Jenaer Physiologe William Preyer<br />

veröffentlichte 1882 die erste Abhandlung über »Die Seele des Kindes.<br />

Beobachtungen über die Entwicklungen des Menschen in den ersten<br />

Lebensjahren« und leistete damit einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der<br />

Kinderpsychologie. Sie war das Ergebnis sorgfältiger Untersuchungen eines<br />

Kleinkindes und diente dem Aufbau einer »physiologischen Pädagogik«. So<br />

formulierte er: »Die Kunst, das kleine Kind werden zu lassen, ist viel schwerer <strong>als</strong><br />

die, es vorzeitig zu dressieren.« 4<br />

Die Jenaer Pioniere der Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />

Ärzte und Pädagogen nahmen sich gleichermaßen der Problematik des<br />

psychisch abnormen Kindes an. Innerhalb der Medizin hatten sich die Psychiater<br />

gegenüber den Pädiatern bei der Versorgung dieser Patienten in der zweiten Hälfte<br />

des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Dadurch wurden erste Ansätze einer<br />

eigenständigen Betrachtung des psychisch kranken Kindes aufgegeben. Die<br />

Pädagogen sahen ihre Aufgabe in der öffentlichen Betreuung und Erziehung der<br />

gestörten Kinder. Diese Kompetenz wurde ihnen jedoch von den Ärzten<br />

zunehmend zum Ende des 19. Jahrhunderts streitig gemacht, insbesondere in dem<br />

Maß, in dem sich der Arzt selbst <strong>als</strong> Erzieher des Kindes betrachtete. Dieser<br />

Anspruch ließ sich aber in der Realität aufgrund der entwickelten pädagogischen<br />

Praxis schlecht durchsetzen. Die entsprechenden Anstalten, anders <strong>als</strong> zum<br />

Beispiel das Trüpersche Erziehungsheim in Jena, wurden von Psychiatern meist<br />

nur weitmaschig konsiliarisch betreut. Bei der Erarbeitung des Fürsorgeerziehungsgesetzes,<br />

das der Gefahr der Verwahrlosung in sittlicher, geistiger und<br />

körperlicher Beziehung von Kindern und Jugendlichen entgegentreten sollte und<br />

1901 in Preußen in Kraft trat, wurden keine Psychiater einbezogen. Dieses trat<br />

anstelle des Gesetzes vom 13. März 1878, das die Unterbringung verwahrloster<br />

Kinder regelte 5 . Insgesamt jedoch nahm die Entwicklung einen positiven Verlauf,<br />

so dass Kinderpsychiater und Heilpädagogen in vielen Kliniken eng zusammenarbeiteten.<br />

Die Wurzeln von Hermann Emminghaus (1845–1904), der mit seinem<br />

Lehrbuchbeitrag »Die Psychischen Störungen des Kindesalters« von 1887 <strong>als</strong><br />

Begründer der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland gilt, liegen ebenfalls<br />

in Jena. 6 Bereits in seiner Dissertation mit dem Thema »Über hysterisches Irrsein«<br />

4 Preyer, W. T. (1882).<br />

5 Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900 (§1–§21 und<br />

3 Ausführungsbestimmungen).<br />

6 Vgl. Gerhard, U.-J. (2003a).<br />

19


Johannes Trüper<br />

(1870) aus der Jenaer Zeit fanden Entwicklungsaspekte und pädagogische<br />

Sichtweisen Eingang. Mit dem Lehrbuch »Allgemeine Psychopathologie« (1878)<br />

hat er den Begriff Psychopathologie in den allgemeinen psychiatrischen<br />

Sprachgebrauch eingeführt. In besonderer Weise hat das Buch durch Kraepelin<br />

eine Würdigung erfahren, indem er ganze Passagen für sein Werk »Compendium<br />

der Psychiatrie« (1883) übernahm. Die besondere Art der Zusammenarbeit<br />

zwischen Pädagogen und Medizinern in Jena soll hier anhand des Wirkens von<br />

verschiedenen Ärzten an dem bereits erwähnten Trüperschen Erziehungsheim<br />

dargestellt werden. Zunächst einige Anmerkungen zu dem Arzt, Psychologen und<br />

Philosophen Theodor Ziehen, der sich selbst publizistisch mit pädagogischen<br />

Fragen auseinandersetzte 7 .<br />

Theodor Ziehen wurde 1862 in Frankfurt a. M. geboren. Interessanterweise<br />

wurden seine Brüder Julius und Ludwig Ziehen <strong>als</strong> Pädagogen bekannt. Theodor<br />

Ziehen zeigte bereits <strong>als</strong> Schüler ein starkes philosophisches Interesse. Die<br />

Psychiatrie mit ihren engen Beziehungen zur Psychologie und damit zur<br />

Philosophie erschien ihm <strong>als</strong> das geeignetste Fach innerhalb der Medizin.<br />

Nachdem er 1885 promovierte, ging er <strong>als</strong> Assistent an die Privatirrenanstalt von<br />

Karl Ludwig Kahlbaum in Görlitz (Niederschlesien). Hier beschäftigte er sich<br />

insbesondere mit dem »Medizinischen Pädagogikum«, in dessen Rahmen<br />

jugendliche Patienten am Schulunterricht, an ergotherapeutischen Maßnahmen<br />

und am Turnen teilnehmen konnten. Entscheidend für Ziehens berufliche Zukunft<br />

war die Begegnung mit Otto Binswanger, der ihn 1886 <strong>als</strong> Oberarzt an der<br />

Psychiatrischen Universitätsklinik in Jena einstellte. In die 14 Jenaer Jahre, die er<br />

selbst <strong>als</strong> die fröhlichste und sorgloseste Zeit seines Lebens bezeichnete, fielen<br />

1887 die Habilitation und 1892 die Berufung zum außerordentlichen Professor für<br />

Psychiatrie. Nachdem er erfolglos versucht hatte, einen Lehrauftrag für<br />

Psychologie in Jena zu erhalten, nahm er 1900 eine Berufung auf den psychiatrischen<br />

Lehrstuhl in Utrecht (Niederlande) an. 1903 war er Ordinarius für<br />

Psychiatrie und Neurologie in Halle und ab 1904 in Berlin. 1912 ließ er sich von<br />

seinen Lehrverpflichtungen befreien, um sich <strong>als</strong> Privatgelehrter seinen<br />

philosophischen und psychologischen Studien in Wiesbaden zu widmen. 1917<br />

wurde er zum Ordinarius für Philosophie in Halle bestellt. Eine erneute Berufung<br />

nach 1945 an die Pädagogische Fakultät in Halle verhinderte sein sich<br />

verschlechternder Gesundheitszustand. Theodor Ziehen verstarb 1950 in<br />

Wiesbaden. Als sein wichtigstes Werk auf psychiatrischem Gebiet kann das<br />

Lehrbuch »Psychiatrie« (1894) betrachtet werden. Ziehen versuchte hier, die von<br />

ihm vertretene Assoziationspsychologie auf die Psychiatrie zu übertragen. Die<br />

Neugruppierung der Psychosen und der Terminus »Affektive Psychose« gehen auf<br />

ihn zurück. Eine Neuerung in seinem Klassifikationssystem war die Einführung<br />

des Begriffs der psychopathischen Konstitution, den er von seinem akademischen<br />

Lehrer Otto Binswanger übernahm und durch den er die Kategorie der<br />

7 Vgl. Gerhard, U.-J. (2002a, b, 2004).<br />

20


Uwe-Jens Gerhard und Anke Schönberg<br />

psychopathischen Minderwertigkeit von Julius Ludwig August Koch ersetzte. Von<br />

Ziehens 445 Publikationen befassen sich 52 mit kinderpsychiatrischen Themen im<br />

engeren und weiteren Sinn (Abb. 2, S. 42). Mit seinem Lehrbuch »Die<br />

Geisteskrankheiten des Kindesalters«, welches in drei Teilen von 1902 bis 1906<br />

verlegt wurde, gehört er zu den Begründern der Kinder- und Jugendpsychiatrie.<br />

Diese Schrift sollte sowohl der Ausbildung von Ärzten <strong>als</strong> auch der Beratung von<br />

Pädagogen dienen. Ziehens wissenschaftliches Werk ist sehr umfangreich und<br />

umfasst ebenso die Psychologie und die Philosophie. Außerdem beschäftigte er<br />

sich sehr intensiv mit pädagogischen Fragestellungen (Abb. 3, S. 42). Erste<br />

entwicklungspsychologische Untersuchungen unternahm Ziehen in Zusammenarbeit<br />

mit dem Pädagogen Wilhelm Rein, der ihm eine große Zahl von<br />

Schulkindern aus seiner Seminarschule an der Jenaer Universität vermittelte. Er<br />

verfolgte Untersuchungen zur Ideenassoziation hinsichtlich des Vorstellungsschatzes<br />

und Vorstellungsablaufs, die er 1898 in seinem Werk »Die Ideenassoziation<br />

des Kindes« veröffentlichte. In dem von Rein herausgegebenen<br />

»Enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik« verfasste Ziehen zudem eine Reihe<br />

von Artikeln. Der Spät-Herbartianer Wilhelm Rein studierte in Jena Theologie<br />

sowie Pädagogik bei dem Reformpädagogen Karl Volkmar Stoy. Nachdem er am<br />

Pädagogischen Universitätsseminar in Leipzig tätig war, führte ihn sein<br />

beruflicher Weg 1871 <strong>als</strong> Re<strong>als</strong>chullehrer nach Barmen, dann 1872 <strong>als</strong><br />

Seminaroberlehrer nach Weimar und schließlich 1876 <strong>als</strong> Seminarleiter nach<br />

Eisenach. Nach einer Honorarprofessur 1886 in Jena wurde er dort 1912 zum<br />

ordentlichen Professor ernannt und war bis 1917 der einzige Lehrstuhlinhaber für<br />

Pädagogik in Deutschland. In Jena baute Rein das von Stoy begründete<br />

Pädagogische Seminar und die angegliederte Übungsschule zu einem Zentrum<br />

von Weltruf aus. Die entstehende Volksschulbewegung verdankt Rein wesentliche<br />

Impulse. Er trat 1905/06 gegen die Rekonfessionalisierung der Volksschule und<br />

für die Simultanschule ein.<br />

Nun zurück zu Theodor Ziehen. Ziehen war Mitbegründer des Vereins für<br />

Kinderforschung und leistete mit einer Vielzahl von Arbeiten einen großen<br />

Beitrag zur wissenschaftlichen Fundierung der Heilpädagogik. Seit 1897 war er<br />

wie bereits erwähnt zunächst mit Herman Schiller und später mit Theobald Ziegler<br />

Herausgeber der »Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der<br />

Pädagogischen Psychologie und Physiologie«. Zudem propagierte er die Beratung<br />

der Eltern von ethisch verwahrlosten, nicht eigentlich kranken Kindern und<br />

Jugendlichen und dürfte damit der heutigen Erziehungsberatung Pate gestanden<br />

haben. In Jena beteiligte sich Ziehen mit großem Anklang an Lehrerfortbildungsund<br />

Volkshochschulkursen. Das Erziehungsheim für psychopathische Knaben in<br />

Templin und der Berliner »Erziehungs- und Vorsorgeverein für geistig<br />

zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder« verdankten ihm ihre Entstehung. In<br />

einer Abhandlung über Theodor Ziehens pädagogische Bedeutung von 1912<br />

wurde betont, dass er in seiner Person gewissermaßen den Idealtypus des<br />

21


Johannes Trüper<br />

Schularztes der Zukunft geschaffen hat und damit sein Fortgang einen<br />

empfindlichen Verlust für das Schul- und Erziehungswesen Berlins darstellt[e]. 8<br />

Neben Hermann Emminghaus und Theodor Ziehen gilt Wilhelm Strohmayer<br />

<strong>als</strong> ein Wegbereiter der Kinderpsychiatrie in Deutschland. 9 Er wurde 1874 in<br />

Memmingen geboren. Auf Anraten Otto Binswangers begann er 1893 das<br />

Medizinstudium in Jena, wo er auch Vorlesungen von Theodor Ziehen besuchte.<br />

1898 schloss er in Leipzig sein Studium ab. 1899 erhielt er den medizinischen<br />

Doktorgrad und wurde Assistenzarzt an der Psychiatrischen Klinik sowie der<br />

Binswangerschen Privatklinik in Jena. Außerdem übernahm er die ärztliche<br />

Beratung und Behandlung von »nervösen und geistig zurückgebliebenen<br />

Jünglingen« einer Jenaer Gartenbauschule. Nach seiner Habilitation 1906 erhielt<br />

er die Venia legendi. Seine ersten Vorlesungen hielt er über »nervöse und<br />

psychische Anomalien des schulpflichtigen Alters«. Seine Lehrveranstaltungen<br />

richteten sich auch an Pädagogen. 1911 wurde er zum außerordentlichen Professor<br />

berufen. 1914 wurde er stellvertretender Oberarzt, wobei ihm auch die Versorgung<br />

der Privatpatienten Binswangers oblag. Nach dem Ausscheiden Binswangers<br />

wurde Hans Berger 1919 zum Ordinarius für Psychiatrie und zum Klinikdirektor<br />

ernannt. Strohmayer wurde offiziell Hausarzt und planmäßiger Oberarzt der<br />

Landesirrenanstalt und Psychiatrischen Klinik. Nach langer Krankheit verstarb<br />

Strohmayer 1936 in Jena. Der Schwerpunkt Strohmayers lag in seinem Wirken auf<br />

kinder- und jugendpsychiatrischem Gebiet (Abb. 4). Wie Theodor Ziehen war<br />

auch Wilhelm Strohmayer <strong>als</strong> Konsiliararzt der Trüperschen Anstalten tätig. Sein<br />

Buch »Vorlesungen über die Psychopathologie des Kindesalters für Mediziner<br />

und Pädagogen« erschien in zwei Auflagen 1910 und 1923 und kann <strong>als</strong> drittes<br />

größeres deutschsprachiges kinderpsychiatrisches Werk gelten. Allerdings schuf<br />

er mit diesem Werk nichts grundsätzlich Neues, sondern fasste Bekanntes<br />

zusammen, gliederte es entsprechend der aktuellen Lehrmeinungen und erweiterte<br />

es um pädagogische Gesichtspunkte. August Homburger hob die Breitenwirkung<br />

der Schrift besonders in ärztlichen Kreisen und unter Erziehern hervor. Weiterhin<br />

ist von besonderem Interesse die Arbeit »Über die Pubertätskrisen und die<br />

Bedeutung des Kindheitserlebnisses« von 1922, in dem der Autor Hermann<br />

Hesses Werk »Demian, die Geschichte einer Jugend« und Leonhard Franks »Die<br />

Ursache« einer kritischen Betrachtung unterzog und sich dabei auch mit der<br />

Freudschen Schule auseinandersetzte. Obwohl Strohmayer und Ziehen aus der<br />

Binswangerschen Schule kamen, waren sie in ihren Auffassungen doch sehr<br />

unterschiedlich, was sich nicht zuletzt in ihrer Haltung gegenüber der<br />

Zwangssterilisierung ausdrückte. Während Ziehen vor dem Hintergrund seiner<br />

wissenschaftlichen Überzeugungen die zwangsweise Sterilisierung »geistig<br />

Minderwertiger« ablehnte, befürwortete Strohmayer dieses Vorgehen und schloss<br />

sich der Auffassung von Karl Binding und Alfred Hoche (1920) an, dass bei<br />

8 Schauer, R. (1912).<br />

9 Vgl. Gerhard, U.-J. (1998, 2003b).<br />

22


Uwe-Jens Gerhard und Anke Schönberg<br />

»tödlicher Krankheit oder unrettbare[m] Idiotentum« 10 die Tötung durch »die<br />

Freigabe durch eine Staatsbehörde« 11 erfolgen kann, das aber bei »volle[r]<br />

Achtung des Lebenswillens aller, auch der kränksten und gequältesten und<br />

nutzlosesten Menschen«. 12 Auch hinsichtlich der Psychoanalyse waren ihre<br />

Überzeugungen konträr. Ziehen befürchtete schwere Schäden namentlich beim<br />

Kind durch diese Methode.<br />

Der Nachfolger Binswangers, Hans Berger, der seit 1919 die Jenaer Psychiatrie<br />

leitete, engagierte sich ebenfalls <strong>als</strong> Konsiliarius in der Betreuung von Kindern des<br />

Erziehungsheims von Johannes Trüper auf der Sophienhöhe in Jena. Er wurde<br />

mehrfach zum Nobelpreis für die Entwicklung der Elektroenzephalografie beim<br />

Menschen vorgeschlagen. 13<br />

Johannes Trüper<br />

Den exakten Lebensweg von Johannes Trüper nachzuvollziehen, erweist sich<br />

<strong>als</strong> schwierig, da sich mitunter eigene Äußerungen, Aussagen der Trüperschen<br />

Kinder und anderer Biografen sowie Quellenangaben widersprechen (Abb. 5).<br />

Johann (er nannte sich später Johannes) Trüper wurde im Jahre 1855 <strong>als</strong> viertes<br />

von sechs Kindern in Rekum, einem kleinen Ort bei Bremen, geboren. Sein Vater,<br />

Johann Trüper, war Schiffszimmermann und Bootsbauer und betrieb zudem eine<br />

kleine Landwirtschaft (Kötner). Seine Mutter, Anna Metta Trüper, geborene<br />

Chantelau, eine Hugenottin, starb, <strong>als</strong> er zwölf Jahre alt war. Johannes Trüper<br />

wurde <strong>als</strong> zarter, aber geistig reger und wissbegieriger Junge beschrieben. 14<br />

Bereits vor seiner Einschulung mit sechs Jahren konnte er lesen. Er besuchte vier<br />

Jahre lang die einklassige Dorfvolksschule. Im Anschluss absolvierte er für<br />

weitere vier Jahre die im benachbarten Neurönnebeck gelegene höhere<br />

Privatschule. Hier traf er auf einen Lehrer, der für ihn Vorbild war und sein<br />

Interesse am Lehrerberuf weckte, so dass »… hier der Grund für sein späteres<br />

Wirken gelegt wurde …«. 15 Im Herbst 1870 wurde er »... obgleich selber noch ein<br />

Knabe, <strong>als</strong> 2. Lehrer der zweiklassigen Volksschule in Neuenkirchen angestellt<br />

...«, wo er ca. 90 Kinder unterrichtete. 16 Während dieser Zeit begann er sich mit<br />

den Schriften Pestalozzis auseinanderzusetzen, von dessen pädagogischen Ideen er<br />

begeistert war. So wollte Trüper »...kein Stundengeber, sondern Volkserzieher<br />

sein ...«. 17 Er trat mit 17 Jahren dem königlichen Lehrerseminar in Stade bei,<br />

10 Binding, K. u. Hoche, A, (1920, S. 35).<br />

11 Binding, K. u. Hoche, A. (1920, S. 36).<br />

12 Binding, K. u. Hoche, A. (1920, S. 28).<br />

13 Vgl. Gerhard, U.-J. (2005a).<br />

14 Trüper, H. u. Trüper , I. (1978, S. 12).<br />

15 Trüper, H. u. Trüper, I. (1978, S. 12).<br />

16 Album des Pädagogischen Universitätsseminars zu Jena, 1886-1914, UAJ, Bestand<br />

S Abt. I, Nr.: 221, S. 30-32.<br />

17 Lassahn, R. (1984, S. 277).<br />

23


Johannes Trüper<br />

wobei sein ursprünglicher Enthusiasmus »…bitter enttäuscht vom formalen<br />

Betrieb, mit Wissensüberfütterung und Mangel an psychologischer Schulung …«<br />

wurde. 18 Das Seminar schloss er 1875 mit der ersten Lehrerprüfung <strong>als</strong> 20-jähriger<br />

ab. Danach unterrichtete er an mehreren Volks- und Mittelschulen in Stade,<br />

Emden und Bremen. 1878 wurde er in den Bremischen Staatsdienst übernommen<br />

und bestand 1880 die zweite Lehrerprüfung. Bereits während der eigenen<br />

Schulzeit sowie der Ausbildung und Tätigkeit <strong>als</strong> Lehrer erlebte er, dass seine<br />

Vorstellungen von einer erziehenden Pädagogik mit der Realität des dam<strong>als</strong><br />

bestehenden Schulwesens nicht vereinbar waren. Trüper übte leidenschaftlich<br />

Kritik am vorherrschenden Schulsystem und trat vehement für dessen<br />

Reformierung ein, wodurch er den Unmut der Schuladministration auf sich zog.<br />

Er wurde aktiv im »Bremischen Lehrerverein« und zum Schriftführer der<br />

»Konferenz Bremischer Landschullehrer« gewählt, wo er besonders unter der<br />

jüngeren Lehrerschaft Anklang fand. Die persönliche, später freundschaftlich<br />

geprägte Bekanntschaft mit dem Schul- und Sozialpädagogen Friedrich Wilhelm<br />

Dörpfeld, der durch einen Artikel Trüpers auf diesen aufmerksam wurde, führte zu<br />

einem anhaltenden Austausch über pädagogische, psychologische und<br />

philosophische Fragen. Trüpers Schriften »Die Familienrechte an der öffentlichen<br />

Erziehung« (1890) und »Friedrich Wilhelm Dörpfelds Sociale Erziehung in<br />

Theorie und Praxis« (1901) sind unter diesem Eindruck entstanden. Wie Dörpfeld<br />

war Trüper der Meinung, dass die entscheidende gesellschaftliche Problematik die<br />

Situation der Arbeiterschaft darstellte und damit die soziale Frage nur durch<br />

Verbesserung der Lebensverhältnisse der Lohnarbeiter gelöst werden konnte.<br />

Allerdings sollten sich Veränderungen im Rahmen der staatlichen Ordnung<br />

vollziehen. In diesem Sinn strebte er nach Reformen zur Besserung des<br />

Bildungsniveaus der Arbeiterkinder. Schwerpunkte sah er unter anderem in der<br />

Begrenzung der Klassenstärken, der Gleichbehandlung von Elementar- und<br />

höheren Schulen, der Einrichtung moderner, großzügiger Klassenzimmer sowie<br />

der Schaffung adäquater Freizeitangebote. »Dadurch, dass Dörpfeld die Frage<br />

nicht so stellt, ob Individual- oder Sozialpädagogik, sondern dass er nachzuweisen<br />

sucht, dass der wahren Pädagogik sowohl ein individuales <strong>als</strong> ein soziales Prinzip<br />

inne wohnt und dass die pädagogischen Fragen sowohl von der individualen <strong>als</strong><br />

auch von der sozialen Seite her betrachtet und behandelt sein wollen, können seine<br />

Gedanken ein Wesentliches nicht bloß zur Verständigung in diesem Streite,<br />

sondern auch zur Befruchtung der Pädagogik in Theorie und Praxis beitragen. Bei<br />

Dörpfeld war das individuale Moment mit dem sozialen in natürlichster und<br />

darum glücklichster Einheit.« 19 Durch Dörpfeld wurde Trüper auch mit den<br />

Schriften Wilhelm Reins konfrontiert, mit dem er später in Briefwechsel trat.<br />

Nach 12 Jahren der Berufsausübung <strong>als</strong> Lehrer, erforderte sein schlechter<br />

Gesundheitszustand, der sich unter anderem in einer chronischen<br />

18 Trüper, H. (1966, S. 302).<br />

19 Trüper, J. (1901, S. III).<br />

24


Uwe-Jens Gerhard und Anke Schönberg<br />

Kehlkopferkrankung niederschlug, eine längere Unterbrechung seiner Tätigkeit.<br />

Er beantragte eine zunächst halbjährige Beurlaubung vom Schuldienst »…zur<br />

Wiederherstellung s. erkrankten Sprechorgane und zur Fortbildung in s.<br />

Berufswissenschaft«. 20 Die geringen Chancen, seine pädagogischen<br />

Überzeugungen umzusetzen, und die ständigen Auseinandersetzungen mit der<br />

Bremer Schulbehörde führten zudem zu einer beruflichen Krise, so dass er 1887<br />

mit 32 Jahren nach Jena ging, um an der dortigen Universität ein Studium<br />

aufzunehmen. Es lassen sich in Jena mindestens fünf verschiedene Wohnsitze<br />

nachweisen. 21 Im Wintersemester 1887 besuchte er zunächst Vorlesungen, ohne<br />

immatrikuliert zu sein. Ab dem Sommersemester 1888 ließ er sich offiziell<br />

immatrikulieren. 22 Typisch für ihn war, dass er seine Vorlesungen<br />

fachübergreifend auswählte. So besuchte er Veranstaltungen und Seminare der<br />

Pädagogik, Philosophie, Naturwissenschaften, Anatomie, Physiologie und<br />

Psychiatrie. Er hörte unter anderem Wilhelm Rein, Rudolf Eucken und Ernst<br />

Haeckel. Im Wintersemester 1891/1892 belegte er Vorlesungen über<br />

Hirnanatomie bei Ziehen. Der Kollegreihe über Psychiatrie von Otto Binswanger<br />

galt seine besondere Neigung. Binswanger, seit 1882 außerordentlicher Professor<br />

für Psychiatrie in Jena und Direktor der Jenaer Landes-Irren-Heil- und<br />

Pflegeanstalt, gehörte zu den herausragenden deutschen Psychiatern. 1891 wurde<br />

er erster Ordinarius für Psychiatrie in Jena. Nach ihm wurde eine Form der<br />

Demenz, die progressive subcortikale arteriosklerotische Encephalopathie,<br />

benannt.<br />

Trüper wurde zunächst Hospitant und später Oberlehrer an der Reinschen<br />

Universitätsübungsschule, was ihm die Finanzierung seines Studiums<br />

ermöglichte. 23 »Es war für die damalige Zeit zumindest sehr ungewöhnlich, dass<br />

ein junger, nur seminaristisch vorgebildeter Lehrer die nach Vorbildung und Rang<br />

streng eingehaltenen Grenzen zwischen Akademikern und Nichtakademikern für<br />

sich einfach übersprang ...« 24 Zum Wintersemester 1889 wechselte er nach Berlin,<br />

wo er sich vorrangig den Natur- und Staatswissenschaften zuwandte und auf<br />

Adolf Damaschke, Friedrich Naumann und Adolf Stöcker traf. Trüper wurde<br />

Mitglied der Bodenreformbewegung des Volksschullehrers Damaschke, von der<br />

er sich später distanzierte, und beteiligte sich 1890 auch an der Gründung des<br />

Evangelisch-Sozialen Kongresses durch Stöcker. Damaschke und Naumann<br />

gründeten 1896 den Nation<strong>als</strong>ozialen Verein. Aufgrund anhaltender<br />

gesundheitlicher Probleme und um seine Studien fortsetzen zu können sowie zu<br />

promovieren, beantragte er eine weitere Beurlaubung vom Dienst. Da ihm diese<br />

20 Zitiert nach Zimmermann, K. (2005, S. 26).<br />

21 Adressbücher der Stadt Jena, Stadtarchiv Jena; Vgl. Walther (1887–1893).<br />

22 Walther, L. (1887).<br />

23 Album des Pädagogischen Universitätsseminars zu Jena, 1886-1914, UAJ, (Bestand<br />

S Abt. I, Nr.: 221, S. 30-32).<br />

24 Trüper, H. u. Trüper, I. (1978, S. 13).<br />

25

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!