Leseprobe als PDF - E-cademic
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Einleitung<br />
Schon 1907 und 1908 hatte Emil Sioli (1852–1922), der Nachfolger Heinrich<br />
Hoffmanns (1809–1894) in Frankfurt, aber auch die Psychotherapie bzw. die<br />
medizinisch-pädagogische Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit<br />
Störungen des Sozialverhaltens (wörtlich: »verbrecherisches und antisoziales<br />
Verhalten«) in Angriff genommen. Die Behandlungsdauer lag zwischen wenigen<br />
Wochen und zwei bis drei Jahren. In Tübingen war dann 1919 die wissenschaftliche,<br />
universitäre Kinder- und Jugendpsychiatrie ein Kind des Ersten<br />
Weltkriegs. Etwas allgemeiner formuliert lässt sich folgern: Die Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrie an deutschen Universitäten war eng verbunden mit der<br />
allgemein konstatierten Zunahme der Störungen des Sozialverhaltens nach dem<br />
Ersten Weltkrieg und verbunden mit dem Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt 1922<br />
und den vorausgehenden Gesetzen über die Fürsorgeerziehung.<br />
Von 1933 bis 1945 lag über der Entwicklung des Faches Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrie der Schatten der Zwangssterilisation von Patienten auch von<br />
sozial gestörten Jugendlichen, und der Schatten der Euthanasie von etwa zehntausend<br />
Kindern und Jugendlichen durch die T4-Aktion (Januar 1940 bis August<br />
1941) und in den Fachabteilungen (1939–1945).<br />
Die Frühgeschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie lag in einer Zeit mit<br />
großen neuropathologischen Fortschritten und einer somatisch ausgerichteten<br />
Krankheitsauffassung in der Psychiatrie. H. Emminghaus (1845–1904) und<br />
natürlich auch E. Kraepelin vertraten diese Auffassung. Zwischen 1895 und 1925<br />
wurde das Thema Euthanasie psychiatrischer Patienten intensiv diskutiert. Adolf<br />
Jost 4 sah in der Entfernung von Schmerz und der Herbeiführung von Lust das<br />
letzte und einzige Lebensziel. Jost fordert »das qualvolle Leben nutzloser<br />
Geisteskranker« durch Euthanasie zu beenden. Bei unheilbar Kranken »wird der<br />
Wert ihres Lebens negativ«. Die Verwaltung des Rechts, den Tod zu vollziehen,<br />
geht bei Entmündigten an den Staat zurück. Binding und Hoche publizierten 1920<br />
ihre »theoretische Erörterung« 5 : »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten<br />
Lebens«; gemeint waren »Zustände geistigen Todes bei hoffnungslos<br />
Blödsinnigen«. Das galt auch für Kinder. »Dagegen kann von der Freigabe der<br />
Tötung bei Geistesschwachen, die sich in ihrem Leben glücklich fühlen, nie die<br />
Rede sein.« Das Problem wurde durch Juristen, Ärzte und Theologen diskutiert<br />
und zum Teil eine »Erlösung« auch bejaht. Meltzer 6 wandte sich 1925 gegen<br />
Euthanasiemaßnahmen, publizierte aber eine Befragung, erhoben 1920, von ca.<br />
100 betroffenen Vätern und erhielt eine Zustimmung zur Euthanasie von etwa<br />
70% – ein Ergebnis, das er nicht für repräsentativ hielt. Trotzdem war er betroffen,<br />
besonders angesichts von Fanatikern wie Ernst Mann 7 , die in Publikationen die<br />
Tötung von jugendlichen Psychopathen wünschten. Ernst Mann plädierte 1922 für<br />
4 Jost, A. (1895).<br />
5 Binding, K. u. Hoche, A. (1920).<br />
6 Meltzer, E. (1925).<br />
7 Mann, E. (1922).<br />
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