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Festschrift evangelische kinder- und jugendhilfe - Evangelisches ...

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<strong>Festschrift</strong><br />

Evangelische Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

00 Jahre


100 Jahre<br />

Evangelische Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

<strong>Festschrift</strong>


Inhalt<br />

Grußworte<br />

Armin Laschet,<br />

Minister für Generationen, Familie,<br />

Frauen <strong>und</strong> Integration des Landes<br />

Nordrhein-Westfalen ............................................... 4<br />

Dr. h.c. Alfred Buß<br />

Präses der Evangelischen Kirche<br />

von Westfalen ................................................................. 6<br />

Dr. Kristina Schröder<br />

B<strong>und</strong>esministerin für Familie,<br />

Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend ......................... 8<br />

Frank Baranowski<br />

Oberbürgermeister der Stadt<br />

Gelsenkirchen ............................................................. 10<br />

Dr. Karl Bosold<br />

Geschäftsführer der Evangelischen<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus gGmbH ........... 12<br />

Porträt<br />

Martha Müller-Dieck,<br />

Ehrenvorsitzende ..................................................... 14<br />

Historische Entwicklung<br />

Die Wurzeln...................................................................... 18<br />

Entwicklung der Angebote seit 1990,<br />

Das Evangelische Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhaus .................................................................... 21<br />

Porträt<br />

Ulrike Haufe-Künkler,<br />

Ehemalige Bewohnerin ...................................... 22<br />

Die Geschichte des Evangelischkirchlichen<br />

Heimvereins<br />

Gelsenkirchen<br />

von Marta Müller-Dieck ..................................... 26<br />

Porträt<br />

Nicole <strong>und</strong> Patrice mit Leonie,<br />

Bewohner .......................................................................... 32<br />

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben<br />

<strong>und</strong> volle Genüge haben sollen.“ (Joh. 10,10)<br />

Gedanken zum 100-jährigen Geburtstag<br />

der Ev. Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

von Superintendent Rüdiger Höcker .... 36<br />

Porträt<br />

Brunhilde Schwind, Mitarbeiterin<br />

<strong>und</strong> ehemalige Bewohnerin............................ 40<br />

Jugendhilfe im Wandel der Zeit<br />

von Peter Vorndamme ....................................... 44<br />

Porträt<br />

Kathrin, Ehemalige Bewohnerin .............. 48<br />

Die Paten<br />

Dr. Norbert Lammert .......................................... 52<br />

Jens Lehmann ........................................................... 54<br />

Porträt<br />

Tim Lotter, Mitarbeiter ....................................... 56<br />

Der Aufsichtsrat ....................................................... 58<br />

Impressum ..................................................................... 60<br />

Inhalt 3


Armin Laschet<br />

Grußwort<br />

S<br />

ehr geehrter Herr Vorndamme, liebe Mitarbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Mitarbeiter des Evangelischen<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendhauses, zu Ihrem 100jährigen<br />

Bestehen gratuliere ich Ihnen <strong>und</strong> allen Fre<strong>und</strong>en<br />

des Evangelischen Kinder- <strong>und</strong> Jugendhauses ganz<br />

herzlich. Dass eine Einrichtung auf eine 100jährige<br />

Geschichte zurückblicken kann, ist schon etwas ganz<br />

Besonderes. Noch eindrucksvoller ist es, wenn diese<br />

Einrichtung so modern <strong>und</strong> attraktiv geblieben ist, wie<br />

das Evangelische Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus.<br />

Das hat nach meiner Überzeugung vor allem damit<br />

zu tun, dass es allen Beteiligten in dieser langen Zeit<br />

immer wieder gelungen ist, zeitgemäße <strong>und</strong> auf die<br />

Bedürfnisse der Menschen in Ihrer Region zugeschnittene<br />

Angebote zu machen. Dahinter steht ein großes<br />

Engagement, das – da bin ich mir sicher – häufig weit<br />

über das übliche Maß hinausgegangen ist. Wenn man<br />

sich das umfangreiche Angebot des Evangelischen<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendhauses anschaut, dann erkennt<br />

man: Hier gibt es ein sehr harmonisch aufeinander<br />

abgestimmtes modernes Instrumentarium an Hilfen,<br />

das auf aktuelle Problemlagen von Eltern <strong>und</strong> ihren<br />

Kindern zielt. Mit Ihren Angeboten erreichen Sie eine<br />

große Zahl von Menschen <strong>und</strong> das in Zeiten, in denen<br />

Familien durch gesellschaftliche <strong>und</strong> soziale Entwicklungen<br />

vor immer neuen Herausforderungen stehen<br />

<strong>und</strong> auf Ihre Unterstützung <strong>und</strong> wertvolle Arbeit<br />

angewiesen sind.<br />

In diesem Sinne möchte ich Sie ermuntern, Ihren Weg<br />

konsequent fortzusetzen <strong>und</strong> den Familien, Kindern<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen, die Ihre Hilfe benötigen, zur Seite<br />

zu stehen. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles<br />

Gute <strong>und</strong> eine weiterhin erfolgreiche Arbeit.<br />

In diesem Sinne möchte ich Sie ermuntern, Ihren Weg konsequent fortzusetzen <strong>und</strong><br />

den Familien, Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen, die Ihre Hilfe benötigen, zur Seite zu<br />

stehen. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute <strong>und</strong> eine weiterhin erfolgreiche<br />

Arbeit.<br />

Armin Laschet<br />

Minister für Generationen, Familie, Frauen <strong>und</strong><br />

Integration des Landes Nordrhein-Westfalen<br />

Armin Laschet<br />

Minister für Generationen, Familie, Frauen <strong>und</strong> Integration<br />

des Landes Nordrhein-Westfalen<br />

4 <strong>Festschrift</strong> Grussworte 5


Dr. h.c. Alfred Buß<br />

Grußwort<br />

Z<br />

um 100jährigen Bestehen des Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhaus Gelsenkirchen übermittle ich allen,<br />

die mit dieser Einrichtung verb<strong>und</strong>en sind, meine<br />

herzlichen Glück- <strong>und</strong> Segenswünsche. Aus den Anfängen<br />

im Jahr 1910 in der „Evangelischen Fürsorge<br />

der Frauenhilfe“ ist heute eine hoch professionelle<br />

Einrichtung der Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe in Gelsenkirchen<br />

<strong>und</strong> Bochum-Wattenscheid erwachsen. In dieser<br />

Entwicklung <strong>und</strong> besonders in den Aufgaben, die das<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus heute wahrnimmt, spiegelt<br />

sich unser <strong>evangelische</strong>s Verständnis wider von der<br />

besonderen Verantwortung der Kirche für Kinder <strong>und</strong><br />

Jugendliche.<br />

Denn die Gr<strong>und</strong>lage <strong>evangelische</strong>r Arbeit mit Kindern<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen ist die wechselseitige Verschränkung<br />

zwischen der Botschaft des Evangeliums <strong>und</strong><br />

der Orientierung an Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen als<br />

Subjekten <strong>und</strong> an ihrer Lebenswelt. Immer wieder<br />

geht es darum diese Dialektik in der je besonderen<br />

Situation auszuleuchten: Wie stehen die Lebenslagen<br />

von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen zur Botschaft des<br />

Evangeliums? Wie kann das Evangelium seine Bedeutung<br />

für sie entfalten?<br />

Diese dialektische Beziehung hat die h<strong>und</strong>ertjährige<br />

Geschichte des Kinder- <strong>und</strong> Jugendhauses immer<br />

wieder geprägt <strong>und</strong> zur neuen Ausrichtung der Arbeit<br />

geführt. Die Lebenslagen von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

heute findet inzwischen verstärkt öffentliche<br />

Aufmerksamkeit, ohne dass die damit verb<strong>und</strong>enen<br />

gesellschaftlichen Herausforderungen hinreichend<br />

aufgenommen werden.<br />

Heute leben immer mehr Kinder <strong>und</strong> Jugendliche in<br />

Haushalten, die Sozialleistungen beziehen. Das bedeutet<br />

für sie Verlust an materieller Sicherheit <strong>und</strong> an<br />

zukünftigen Lebensperspektiven. Es ist die Aufgabe<br />

<strong>evangelische</strong>r Kirche, solche Kinder <strong>und</strong> Jugendliche<br />

in ihrer individuellen Risikolage zu unterstützen <strong>und</strong><br />

ihnen zugleich Räume zu eröffnen, die aktive Teilhabe<br />

<strong>und</strong> damit Integration ermöglichen. Es ist auch<br />

zentrale kirchliche Aufgabe, Eltern <strong>und</strong> Familien zu<br />

unterstützen <strong>und</strong> zu fördern.<br />

Im Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus werden diese drei<br />

zentralen Aufgaben einer jugendsensiblen Kirche<br />

beispielhaft wahrgenommen. Dafür gilt mein Dank<br />

allen Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeitern sowie dem<br />

Diakoniewerk Gelsenkirchen <strong>und</strong> dem Kirchenkreis<br />

Gelsenkirchen <strong>und</strong> Wattenscheid. Auch für die Unterstützung<br />

durch öffentliche Mittel, besonders des<br />

Landes Nordrhein-Westfalen <strong>und</strong> der Kommunen,<br />

danke ich. Der Leitsatz der Evangelischen Kirche von<br />

Westfalen in der Arbeit mit Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

lautet: Keiner <strong>und</strong> Keine darf verloren gehen!<br />

Ich wünsche allen, die dem Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus<br />

verb<strong>und</strong>en sind, die hier arbeiten, <strong>und</strong> besonders den<br />

Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen, die diesen Ort beleben,<br />

Gottes Segen dazu, dass dieser Leitsatz erfüllt werden<br />

kann.<br />

Dr. h.c. Alfred Buß<br />

Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen<br />

6 <strong>Festschrift</strong> Grussworte 7


Dr. Kristina Schröder<br />

Grußwort<br />

V<br />

or 100 Jahren lebten Kinder <strong>und</strong> Jugendliche<br />

völlig anders als heute, doch ihre Bedürfnisse<br />

sind heute dieselben wie damals: Sie brauchen Liebe,<br />

Geborgenheit <strong>und</strong> Menschen, auf die sie sich verlassen<br />

können. Kein W<strong>und</strong>er also, dass die 100-jährige<br />

Geschichte des Evangelischen Kinder- <strong>und</strong> Jugendhauses<br />

eine Erfolgsgeschichte ist: Mit der Unterstützung<br />

von Eltern bei ihren Fürsorge- <strong>und</strong> Erziehungsaufgaben<br />

setzt die Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe der<br />

Einrichtung im Familienalltag an – dort also, wo seit<br />

jeher die Weichen für eine glückliche Kindheit <strong>und</strong><br />

Jugend gestellt werden.<br />

In der Entwicklung des Evangelischen Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhauses spiegelt sich auf eindrucksvolle Weise<br />

die fachliche Entwicklung der Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

in Deutschland. Aus der einstigen „Evangelischen<br />

Fürsorge der Frauenhilfe“ ist über die Jahrzehnte<br />

ein Familienstützpunkt mit einem breit gefächertem<br />

Spektrum stationärer <strong>und</strong> ambulanter Angebote<br />

geworden. Heute begegnet man den unterschiedlichen<br />

Bedürfnissen von Eltern <strong>und</strong> ihren Kindern mit<br />

möglichst maßgeschneiderten Hilfen. Ohne die hohe<br />

Fachkompetenz, ohne das Einfühlungsvermögen <strong>und</strong><br />

ohne das persönliche Engagement der Mitarbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Mitarbeiter wäre eine so individuelle Unterstützung<br />

nicht denkbar.<br />

Und auch nicht ohne innovative Ideen: Schon sehr<br />

früh hat sich das Evangelische Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus<br />

der Prävention von Kindeswohlgefährdung<br />

gewidmet, einem Feld, das wir heute mit „frühen<br />

Hilfen“ bezeichnen. So wird bereits im Jahre 1928 von<br />

einer Mutter- <strong>und</strong> Säuglingsstation berichtet. Ledige<br />

Mütter wurden vor ihrer Entbindung dort aufgenommen.<br />

Nach der Geburt wurden die Mütter angeleitet,<br />

ihr Kind eigenverantwortlich zu versorgen. Anschließend<br />

wurden sie in Arbeitsverhältnisse vermittelt.<br />

In einer Zeit, in der „ledige Mütter“ noch weit stärker<br />

am Rande der Gesellschaft standen als die heutigen<br />

Alleinerziehenden, war dies eine echte <strong>und</strong> wertvolle<br />

Hilfe.<br />

Dass das Evangelische Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus<br />

heute ebenso innovativ ist wie damals, zeigt sich im<br />

Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder. Im Juli<br />

2007 wurde der Kindergarten Förderkörbchen als<br />

Familienzentrum zertifiziert <strong>und</strong> erhielt den Innovationspreis<br />

Nordrhein-Westfalen. Eltern werden in<br />

Elterntrainingskursen im Jugendhilfezentrum auf ihre<br />

verantwortungsvolle Aufgabe vorbereitet <strong>und</strong> in ihrer<br />

Erziehungskompetenz unterstützt <strong>und</strong> gestärkt.<br />

Das Evangelische Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus hat<br />

Generationen von jungen Menschen bessere Zukunftsperspektiven<br />

geschenkt. Viele Eltern haben<br />

Unterstützung, Ermutigung <strong>und</strong> Entlastung bei ihren<br />

Erziehungsaufgaben erfahren. All denjenigen, die in<br />

den vergangenen Jahren <strong>und</strong> Jahrzehnten dazu beigetragen<br />

haben – sei es in Kinder- <strong>und</strong> Jugendwohngruppen,<br />

sei es in der Familienberatung, in Betreuungsgruppen<br />

<strong>und</strong> mit anderen Angeboten – danke ich<br />

herzlich für Ihre Engagement!<br />

Ein Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus lebt von den Menschen,<br />

die sich dort um Kinder, Jugendliche <strong>und</strong> Familien<br />

kümmern – auch das ist heute nicht anders als vor<br />

100 Jahren. Meine Gratulation zum 100jährigen<br />

Bestehen verbinde ich deshalb mit den besten Wünschen<br />

für Personal <strong>und</strong> Leitung des Hauses. Setzen<br />

Sie sich weiterhin, so wie bisher, mit Herz, Verstand<br />

<strong>und</strong> Fingerspitzengefühl für Familien ein, die Hilfe<br />

brauchen! Dann bleibt das Evangelische Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhaus ein Ort, wo Kinder <strong>und</strong> Jugendliche Kraft<br />

fürs Leben sammeln.<br />

Dr. Kristina Schröder<br />

B<strong>und</strong>esministerin für Familie, Senioren, Frauen<br />

<strong>und</strong> Jugend<br />

8 <strong>Festschrift</strong> Grussworte 9


Frank Baranowski<br />

Grußwort<br />

D<br />

ie Geschichte der <strong>evangelische</strong>n Familienhilfe<br />

in Gelsenkirchen beginnt im Jahr 1910. Vor 100<br />

Jahren stellten die Gemeinden ihre Sammelbüchsen<br />

in Geschäften auf. Die auf diese Weise gesammelten<br />

Spenden wurden danach direkt an die Hilfesuchenden<br />

verteilt. In den folgenden Jahrzehnten veränderte<br />

sich die Arbeit dieses Fürsorgevereins stetig. Zwei<br />

Weltkriege taten ihr Übriges. Doch trotz aller widrigen<br />

Umstände arbeitete das „Evangelisch kirchliche<br />

Jugend- <strong>und</strong> Wohlfahrtsamt“, wie die Organisation<br />

zwischenzeitlich hieß, weiter. Immer zum Wohle von<br />

Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen.<br />

Vor mittlerweile 20 Jahren erfolgte der letzte große<br />

Einschnitt in die 100-jährige Geschichte <strong>evangelische</strong>r<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe des Diakoniewerkes<br />

Gelsenkirchen <strong>und</strong> Wattenscheid. Damals trat das<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus als neue Jugendhilfeeinrichtung<br />

an. Bis heute hat sie sich auf vielfältige Art <strong>und</strong><br />

Weise weiterentwickelt.<br />

Im Rahmen der Jugendhilfe werden derzeit 153 Kinder<br />

<strong>und</strong> Jugendliche, aber auch junge Erwachsene <strong>und</strong> Familien<br />

unterstützt. Im eigenen Kindergarten werden 70<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen betreut <strong>und</strong> gefördert, weitere<br />

27 Kinder in der Offenen Ganztagsschule. In Kooperation<br />

mit weiteren Partnern betreibt das Evangelische<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus darüber hinaus zwei Schwerpunktzentren<br />

für Jugend- <strong>und</strong> Familienhilfe mit einem<br />

umfangreichen Beratungs-, Therapie- <strong>und</strong> Hilfeangebot.<br />

Kurzum: Die Arbeit der Evangelischen Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhilfe ist aus dem Leben vieler Gelsenkirchenerinnen<br />

<strong>und</strong> Gelsenkirchener nicht mehr wegzudenken!<br />

Dafür bedanke ich mich bei allen Beteiligten herzlich<br />

<strong>und</strong> wünsche dem Evangelischen Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus<br />

auch weiterhin viel Erfolg.<br />

Frank Baranowski<br />

Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen<br />

10 <strong>Festschrift</strong> Grussworte 11


Dr. Karl Bosold<br />

Grußwort<br />

I<br />

n diesem Jahr feiert die Evangelische Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhilfe in Gelsenkirchen ihren einh<strong>und</strong>ertsten<br />

Geburtstag. Damals wurde in Gelsenkirchen die<br />

Evangelische Fürsorge der Frauenhilfe gegründet.<br />

Aus diesen Wurzeln wuchs unsere jetzige Einrichtung:<br />

Das Evangelische Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus, die<br />

Jugendhilfe-Einrichtung des Diakoniewerkes Gelsenkirchen<br />

<strong>und</strong> Wattenscheid. Mit seinen ambulanten<br />

<strong>und</strong> stationären Angeboten in Bochum <strong>und</strong> Gelsenkirchen<br />

steht es Jahr für Jahr zahllosen jungen<br />

Menschen der Region, aber auch ihren Eltern hilfreich<br />

zur Seite. Das Jubiläum ist Anlass zur Freude über<br />

die vielen kleinen <strong>und</strong> großen Erfolge, die im Laufe<br />

der Jahrzehnte erzielt werden konnten. Es ist Anlass<br />

zur Rückschau auf die Wurzeln der Einrichtung, aber<br />

vor allem auch zum Dank an alle Frauen <strong>und</strong> Männer,<br />

die sich seit 1910 in unserer Region für eine aktive<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendarbeit eingesetzt haben.<br />

Vor 100 Jahren gründete der Gemeindepfarrer Otto<br />

Schumacher angesichts der dramatischen Lebensverhältnisse<br />

vieler junger Mädchen <strong>und</strong> allein<br />

erziehender Mütter die „Evangelische Fürsorge der<br />

Frauenhilfe“. Unter Schumachers Führung schlossen<br />

sich engagierte Frauen aus Frauengruppen aller<br />

Gemeinden in Gelsenkirchen zusammen, um die Not<br />

der Bedürftigen zu lindern. Ab 1920 wurden nicht nur<br />

Mädchen <strong>und</strong> Frauen, sondern auch Jungen betreut.<br />

14 Jahre, bevor der Staat mit Hilfe des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes<br />

versuchte, die Jugendhilfe<br />

einheitlich zu organisieren, entstand aus christlicher<br />

Verantwortung <strong>und</strong> Nächstenliebe eine Institution, die<br />

sich der schwächsten Glieder unserer Gesellschaft<br />

annahm. In den ersten Jahren wurde die Arbeit finanziell<br />

ausschließlich von Spenden getragen. Eine erste<br />

feste Anlaufstelle erhielten Hilfsbedürftige durch die<br />

Initiative einer engagierten Sozialarbeiterin – damals<br />

noch Fürsorgerin genannt: sie stellte 1918 im Haus<br />

ihrer Mutter an der Bismarckstraße in Gelsenkirchen<br />

einen Raum zur Verfügung.<br />

Noch bevor die Stadt Gelsenkirchen im Jahr 1924 ihrer<br />

Verpflichtung zur Bildung eines städtischen Jugendamtes<br />

nachkam, wurde die fürsorgliche Arbeit der<br />

Frauenhilfe unter dem Namen „Evangelisch-kirchliches<br />

Jugend- <strong>und</strong> Wohlfahrtsamt“ in großem Stil erweitert.<br />

Finanziell wurde die Situation dadurch erleichtert, dass<br />

die Gemeinden zwei Prozent des kirchlichen Steueraufkommens<br />

zur Verfügung stellten. Trotz der Rückschläge<br />

des 2. Weltkrieges, als die städtischen Zuschüsse<br />

komplett gestrichen wurden, konnte die Arbeit dank<br />

des unbeirrten Engagements aller Beteiligten im Laufe<br />

der Jahrzehnte sowohl inhaltlich als auch räumlich<br />

immer weiter ausgebaut werden.<br />

Vor h<strong>und</strong>ert Jahren wie heute sind es die Kinder, die<br />

unter Not <strong>und</strong> Krisen besonders zu leiden haben.<br />

Heute kann das Evangelische Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus<br />

bedürftigen jungen Menschen <strong>und</strong> ihren Familien<br />

mit professionellen Angeboten in Bochum <strong>und</strong><br />

Gelsenkirchen gezielt begegnen. Hier finden Kinder<br />

<strong>und</strong> Jugendliche aus einem schwierigen Lebensumfeld<br />

Geborgenheit, individuelle Hilfe <strong>und</strong> Förderung.<br />

Hier erhalten aber auch Väter <strong>und</strong> Mütter, die mit der<br />

Pflege <strong>und</strong> Erziehung ihrer Kinder überfordert sind,<br />

kompetenten Rat <strong>und</strong> Beistand. Die Palette reicht<br />

von Aufnahme- <strong>und</strong> Clearinggruppen, Mutter-Vater-<br />

Kind-Gruppen, Elterntrainingskursen <strong>und</strong> gezielten<br />

Fördermaßnahmen für Kinder <strong>und</strong> Jugendliche bis<br />

hin zu Wohngruppen, in denen junge Menschen von<br />

erfahrenen Pädagogen betreut <strong>und</strong> begleitet werden.<br />

Die Tatsache, dass der Kindergarten „Förderkörbchen“<br />

im Jahr 2007 mit dem Innovationspreis NRW<br />

ausgezeichnet wurde, zeigt: hier werden nicht nur<br />

hochwertige, sondern auch innovative Angebote<br />

bereit gestellt.<br />

Die Jugend ist unsere Zukunft. In den Einrichtungen<br />

des Evangelischen Kinder- <strong>und</strong> Jugendhauses werden<br />

wichtige F<strong>und</strong>amente dafür gelegt, dass junge Menschen<br />

einer guten Zukunft entgegen gehen können.<br />

Dr. Karl Bosold<br />

Geschäftsführer des Evangelischen Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhauses<br />

12 <strong>Festschrift</strong> Grussworte 13


Marta Müller-Dieck<br />

Ehrenvorsitzende<br />

„Es ist nicht zu glauben. Es sind schon so<br />

viele Jahre! 47 Jahre war ich im Vorstand<br />

des Heimvereins. Zuerst im Mütter- <strong>und</strong><br />

Säuglingsheim im Wiehagen, dann im<br />

Kinderheim in der Schlosserstraße. 1993<br />

war ich 75 Jahre alt, da bin ich Ehrenvorsitzende<br />

geworden.<br />

D<br />

urch meine Mutter sind mir – heute sagt man<br />

– die Gene zum Lehramt <strong>und</strong> zur Sozialarbeit<br />

in die Wiege gelegt worden. Sie war Lehrerin <strong>und</strong> hat<br />

ehrenamtlich für die Kirche gearbeitet. Auch mein<br />

Vater war kirchlich engagiert. Er war Zechenbeamter<br />

<strong>und</strong> so lange ich denken kann im Presbyterium der<br />

Gemeinde. Mein Elternhaus hat mich zutiefst geprägt,<br />

diese freudige, helfende Art. Ich habe eine fünf Jahre<br />

ältere Schwester. Wir sind beide durch einen christlichen<br />

Jugendb<strong>und</strong> gegangen. Ich war in einer Gruppe,<br />

die gerne sang <strong>und</strong> Instrumente spielte. Das ganze<br />

Jahr haben wir alte <strong>und</strong> kranke Menschen besucht,<br />

gesungen <strong>und</strong> unsere Gedichte aufgesagt. Für andere<br />

Menschen da zu sein, das wurde dort gelebt.<br />

Mein Leben hatte ich mir eigentlich ganz anders vorgestellt.<br />

1941 habe ich mich verheiratet <strong>und</strong> wollte<br />

eigentlich eine Familie. Mein Mann ist im Osten seit<br />

1944 vermisst. Durch meine ehrenamtliche Arbeit im<br />

Heim war ich aber auch ohne eigene Familie voll ausgefüllt.<br />

Meine Bekannten sagen immer, dass ich mit<br />

dem Heimverein verheiratet war. Es war so! Ich hatte<br />

kein Bedürfnis noch mal zu heiraten. Ich war verheiratet<br />

mit meiner Arbeit, mit Schule <strong>und</strong> Heimverein. Ich<br />

bin’s ja heute noch ein bisschen! Ich hatte ganz viele<br />

Kinder. Ich hab das immer gerne getan, obwohl es<br />

viel war. Immerzu schrie hier einer <strong>und</strong> dann schrie da<br />

einer <strong>und</strong> die Müller-Dieck musste hin. Das war mein<br />

zweites Zuhause, da in der Schlossertraße. Ich hatte<br />

immer ganz direkten Kontakt.<br />

Wir als Kuratorium mussten den äußeren Rahmen<br />

halten. Die Leiter der Häuser sagten uns was nötig<br />

war. Und wir besorgten es. Wir mussten uns um die<br />

Mitarbeiter kümmern, besonders wenn es Probleme<br />

gab. Das ist dann leider häufig bei mir hängen<br />

geblieben. Oft kamen Mitarbeiter zu mir, die fühlten<br />

sich ungerecht behandelt von ihren Vorgesetzten. Bei<br />

Konflikten ist meine Devise immer gewesen, beide<br />

Seiten zu hören. Ich habe die Mitarbeiter immer zuerst<br />

angehört <strong>und</strong> dann den verantwortlichen Leiter<br />

dazu genommen. Damit bin ich in meiner Schule <strong>und</strong><br />

auch in meinem Ehrenamt immer gut gefahren. Ich<br />

wüsste keine Sache, die nicht gut für beide Seiten<br />

ausgegangen wäre. In den letzten Jahren hatten wir<br />

dann eine Mitarbeitervertretung. Das war mir eine<br />

ganz große Hilfe.<br />

Die längste Zeit, die ich da war, war es zum Jugendamt<br />

in Gelsenkirchen ein gutes Verhältnis. Das ist<br />

leider in den letzten Jahren anders geworden. Ich<br />

kann nur bedauern, dass Menschen, die eigentlich nur<br />

eine Aufgabe haben, nämlich anderen Menschen zu<br />

helfen, sich nicht verstehen.<br />

Die großen Schlafsäle habe ich noch miterlebt. Das<br />

war schlimm. Das haben wir schnell geändert. So<br />

um 1950 herum. Nicht auf einen Schlag. So wie es<br />

finanziell möglich war wurde umgebaut, wurden<br />

14 <strong>Festschrift</strong> Porträt 15


kleinere Räume <strong>und</strong> kleinere Gruppen geschaffen.<br />

Später haben wir dann die erste Außenwohngruppe<br />

gegründet. In Buer, in der Nienhof straße. Inzwischen<br />

sind ja noch viel mehr dazugekommen.<br />

Alles hat sich so sehr gewandelt. Die Kinder haben<br />

sich geändert, weil die Elternhäuser anders geworden<br />

sind. Sie haben kein warmes Nest mehr zu Hause.<br />

Die Eltern sind schwächer geworden, sie wissen oft<br />

selbst nicht mehr was zum Leben gehört. Das sind<br />

bestimmt Extreme, aber ich habe das Gefühl, dass<br />

diese Extreme mehr werden.<br />

Es gibt Werte, die muss Erziehung<br />

vermitteln.<br />

Ehrlich sein. Pünktlich sein. Fleißig sein. Gewissenhaftigkeit.<br />

Was ganz besonders dazu gehört, ist Kontaktfähigkeit.<br />

Ich kenne alte Menschen, die sagen: Ich<br />

bin so alleine, ich gehe kaputt an meinem Alleinsein.<br />

Wenn ich dann zurückfrage, ob sie früher Fre<strong>und</strong>e<br />

hatten, ist die Antwort immer: Nein. Wenn man in<br />

der Jugend nicht Beziehungsfähigkeit gelernt hat, ist<br />

man später alleine. Ich bin nicht alleine, obwohl ich<br />

über 90 bin!<br />

Zu einigen Kindern habe ich immer noch Kontakt. Ein<br />

Junge – seine Eltern waren beide Alkoholiker – hat<br />

bei uns einen sehr guten Weg gemacht. Er ist jetzt<br />

leitender Sozialarbeiter in Münster. Im letzten Jahr<br />

hat mich ein Kind aus dem Kinderheim besucht.<br />

Ulrike Hauffe, sie hat mir damals ein w<strong>und</strong>erschönes<br />

Bild geschenkt, das habe ich in mein Amtszimmer in<br />

der Schule gehängt. Das werde ich nie vergessen. Sie<br />

hat mir erzählt, dass sie sich in den verschiedensten<br />

Zweigen fortgebildet hat. Ich kann das alles gar nicht<br />

mehr aufzählen. Toll!! Sie engagiert sich jetzt auch<br />

bei der Telefonseelsorge. Daran sieht man, dass Heimerziehung<br />

nicht immer verkehrt sein kann.<br />

Ich habe erfahren, dass Kinder Vertrauen zu mir<br />

haben. Sie haben mir Schönes, aber auch Schweres<br />

erzählt. Und wir konnten darüber sprechen. Ich denke,<br />

ich habe manchem Kind <strong>und</strong> manchem Mitarbeiter<br />

helfen können. Das hat mir immer große Freude<br />

bereitet. Ich habe soviel zurückbekommen!<br />

Der Glaube war immer mein F<strong>und</strong>ament. Da sehen<br />

sie ein blaues Büchlein liegen, das sind die Losungen.<br />

Ich kenn gar kein anderes Leben, als darin morgens<br />

zu lesen. So ist mir das von meinen Eltern vorgelebt<br />

worden <strong>und</strong> ich habe mich bemüht, auch so zu leben.<br />

Man kann es nicht immer auf den Lippen haben, man<br />

muss es leben.<br />

Ich kann das ganz persönlich sagen: Ich glaube, dass<br />

Jesus Christus täglich mit mir geht, mich angenommen<br />

hat, mich liebt <strong>und</strong> bei mir sein wird, wenn ich<br />

die Augen schließe.<br />

Weil ich weiß, dass Gott mich liebt,<br />

bin ich an meine Mitmenschen gewiesen<br />

…“<br />

Ich war verheiratet mit meiner Arbeit, mit<br />

Schule <strong>und</strong> Heimverein. Ich bin’s ja heute noch<br />

ein bisschen! Ich hatte ganz viele Kinder.<br />

Marta Müller-Dieck<br />

16 <strong>Festschrift</strong> <strong>Festschrift</strong> 17


Historische Entwicklung<br />

Die Wurzeln<br />

I<br />

m Jahr 1910 gründete der Gemeindepfarrer Otto<br />

Schumacher mit Frauen aus allen Gemeinden die<br />

„Evangelische Fürsorge der Frauenhilfe“.<br />

Durch eine gemeinsame Sammelaktion der <strong>evangelische</strong>n<br />

<strong>und</strong> katholischen Kirche mittels aufgestellter<br />

Sammelbüchsen in Geschäften wurden Spenden<br />

eingenommen, welche nach Prüfung durch den<br />

jeweiligen Gemeindepfarrer <strong>und</strong> die im Fürsorgeverein<br />

tätigen Frauen an Hilfesuchende verteilt wurden. Die<br />

Arbeit wurde durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges<br />

unterbrochen <strong>und</strong> 1918 von der damaligen<br />

Fürsorgerin Frau Wilms wieder aufgenommen, welche<br />

in ihrem Haus ein Zimmer für die Arbeit an so genannten<br />

gefährdeten Mädchen zur Verfügung stellte.<br />

Ab 1920 wurden erstmals auch männliche Jugendliche<br />

betreut. Die finanzielle Situation war bis zur<br />

Einführung der Reichsmark 1923 sehr schwierig.<br />

Nach 1923 wurde die Arbeit dann unter dem Namen<br />

„Evangelisch kirchliches Jugend- <strong>und</strong> Wohlfahrtsamt“<br />

in großem Ausmaß erweitert <strong>und</strong> hatte Vorbildfunktion<br />

für die Landeskirche. Der Vorschlag des damaligen<br />

Superintendenten Husmann, 2 % der Kirchensteuer für<br />

die Gefährdetenarbeit abzuführen, wurde zwar nicht<br />

von allen Gemeinden des Stadtgebietes unterstützt.<br />

Dennoch entwickelte sich die finanzielle Situation positiv,<br />

so dass Frau Wilms als Leiterin des Evangelischen<br />

Jugend- <strong>und</strong> Wohlfahrtsamtes eingestellt werden<br />

konnte. 1924 wurde das Reichsjugendwohlfahrtgesetz<br />

eingeführt <strong>und</strong> die Städtischen Jugendämter gegründet.<br />

1927 wurde ein ehemaliges Knappschaftsgebäude<br />

in Gelsenkirchen-Mitte erworben, umgebaut<br />

<strong>und</strong> 1928 dem Evangelischen Jugend- <strong>und</strong> Wohlfahrtsamt<br />

übergeben. In der Einrichtung befanden<br />

sich die Fürsorgearbeit für männliche Jugendliche,<br />

ein Vorasyl sowie eine Mutter- <strong>und</strong> Säuglingsstation.<br />

Bis zum Ausbruch des Dritten Reiches bestand<br />

eine kooperative Zusammenarbeit mit dem Stadtjugendamt.<br />

Danach wurden die städtischen Zuschüsse<br />

gekürzt <strong>und</strong> letztendlich vollständig entzogen.<br />

Im zweiten Weltkrieg erhielt das Gebäude starke<br />

Bombenschäden <strong>und</strong> musste teilweise evakuiert<br />

werden. Seit der Eröffnung der Einrichtung hielten<br />

sich dort damals durchschnittlich 30 – 75 Kinder im<br />

Alter von 0 – 5 Jahren auf. Außerdem wurden ledige<br />

Mütter vor ihrer Entbindung aufgenommen. Nach der<br />

Geburt des Kindes erhielten die Mütter entsprechende<br />

Anleitung zur eigenverantwortlichen Versorgung<br />

ihres Kindes <strong>und</strong> wurden anschließend in Arbeitsverhältnisse<br />

vermittelt. Ihre Kinder konnten sie in der<br />

Einrichtung besuchen. Unterstützung erhielten auch<br />

berufsschwache Mädchen <strong>und</strong> Frauen.<br />

Nach 1945 wurde die Säuglingsstation erweitert <strong>und</strong><br />

1952 wurde das jetzige Gebäude des Familienhilfecentrums<br />

an der Schlosserstraße in Gelsenkirchen-<br />

Schalke erworben. Die Eröffnung erfolgte 1953. In<br />

der Nachkriegszeit stieg die Anzahl traumatisierter<br />

<strong>und</strong> verhaltensauffälliger Kinder stark an, so dass für<br />

die Mitarbeiter/innen umfangreiche Fort- <strong>und</strong> Weiterbildungsmaßnahmen<br />

durchgeführt wurden.<br />

1957 wurde der „Evangelisch-kirchliche Heimverein<br />

Gelsenkirchen“ gegründet. 1960 erfolgte eine Erweiterung<br />

des Gebäudes um drei Etagen für Erziehungsgruppen.<br />

Ende der 60-er Jahre erwarb der Heimverein<br />

das Matthias-Claudius-Heim in Willingen, welches<br />

im Dezember 1982 geschlossen wurde.<br />

1974 wurde das ehemalige Mütter- <strong>und</strong> Säuglingsheim<br />

abgerissen <strong>und</strong> mit dem Erlös des Gr<strong>und</strong>stücksverkaufs<br />

1976 ein eigenständiger Bereich für Jugendliche<br />

ausgebaut.<br />

Bereits 1980 lebten 64 Kinder in fünf familienähnlich<br />

strukturierten Eriehungsgruppen <strong>und</strong> 16 Jugendliche<br />

im sogenannten Jugendhaus. Nach dem Abschluss<br />

der Schul- oder Berufsausbildung wurden für die<br />

Jugendlichen eigene Wohnungen gesucht, welche<br />

dann beim Auszug von den Jugendlichen als Mieter<br />

übernommen wurden. 1986 wurde die erste Außenwohngruppe<br />

für Kinder in der Nienhofstraße 13 in<br />

Gelsenkirchen-Buer eröffnet. 1988 wurden innerhalb<br />

der Einrichtung zwei Erziehungsgruppen geschlossen<br />

<strong>und</strong> dafür zwei Tagesgruppen eingerichtet.<br />

Ab 1990 nahm die Arbeit des <strong>evangelische</strong>n Kinder<strong>und</strong><br />

Jugendhauses als lebensweltorientierte, den<br />

individuellen Bedürfnissen des Einzelnen angepasste<br />

Jugendhilfeeinrichtung ihren Anfang <strong>und</strong> hat sich bis<br />

zum heutigen Zeitpunkt kontinuierlich weiterentwikkelt<br />

<strong>und</strong> ausgebaut.<br />

Im Jahr 2004 wurde der Ev.-kirchliche Heimverein<br />

Gelsenkirchen e.V. in die Evangelische Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhaus gGmbH umgewandelt <strong>und</strong> somit Tochter<br />

des Diakoniewerkes Gelsenkirchen <strong>und</strong> Wattenscheid<br />

e.V..<br />

18 <strong>Festschrift</strong> Chronik 19


Entwicklung der Angebote seit 1990<br />

Das Evangelische Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus<br />

1994 Mai: Eröffnung der Aufnahme- <strong>und</strong> Clearinggruppe<br />

für Jugendliche in Gelsenkirchen-Beckhausen<br />

1997 Oktober: Eröffnung der Mutter-Vater-Kind-Gruppe<br />

auf der Schlosserstraße in Gelsenkirchen-Schalke<br />

1998 März: Eröffnung des Jugendwohnprojektes in<br />

Gelsenkirchen-Rotthausen (Wiehagen 56)<br />

1999 Sommer: Eröffnung der Kinderwohngruppe auf<br />

der Bergstraße 9 in Gelsenkirchen-Beckhausen<br />

August: Erweiterung der Mutter-Vater-Kind-Gruppe<br />

um eine zusätzliche Krabbelgruppe<br />

2001 Februar: Eröffnung der Diagnosegruppe für<br />

Kinder in Krisensituationen auf der Schlosserstraße<br />

in Gelsenkirchen-Schalke<br />

Juli: Übernahme der Trägerschaft des Ev. Kindergartens<br />

in Gelsenkirchen-Schalke<br />

2002 Mai: Eröffnung der Jugendwohngemeinschaft<br />

auf der Cranger Straße 325 in Gelsenkirchen-Erle<br />

Juni: Verlagerung der Hauptverwaltung sowie der<br />

Tagesgruppe <strong>und</strong> der Fünf-Tage-Gruppe zum Centrumplatz<br />

2 in Bochum<br />

2003 Januar: Verlagerung der Jugendwohngruppe/<br />

Jugendwohngemeinschaft zur Grimmstraße 17 in<br />

Gelsenkirchen-Heßler<br />

Juli: Beginn von Elterntrainingskursen im Jugendhilfecentrum<br />

am Centrumplatz<br />

Dezember: Umzug des Kindergartens “Förderkörbchen“<br />

in die Schlosserstraße<br />

2004 Juni: Verlagerung der Aufnahme- <strong>und</strong> Clearinggruppe<br />

für Jugendliche zum Centrumplatz<br />

2005 August: Übernahme der Trägerschaft der Betreuung<br />

im Rahmen der Offenen Ganztagsschule an<br />

der Förderschule “Fröbelschule“ in Wattenscheid<br />

2006 Januar: Aufbau eines ambulanten Hilfezentrums<br />

in Bochum-Wattenscheid in Kooperation mit der<br />

LIFE Jugendhilfe GmbH<br />

2007 Juni: Zertifizierung des Kindergartens “Förderkörbchen“<br />

als Familienzentrum <strong>und</strong> Erhalt des<br />

Innovationspreises NRW<br />

Oktober: Eröffnung eines Mutter-Vater-Kind-Wohnprojektes<br />

am Centrumplatz<br />

November: Entwicklung des gemeinsamen Projektes<br />

“Das Navigationssystem“ von Förderschule <strong>und</strong><br />

Jugendhilfe<br />

2008 März: Umzug der Kinderwohngruppe an der<br />

Bergstraße nach Gelsenkirchen-Ückendorf<br />

April: Einweihung der Kinderwohngruppe an der<br />

Ückendorfer Straße<br />

2009 Oktober: Eröffnung des Mutter-Vater-Kind-<br />

Hauses am Centrumplatz in Bochum-Wattenscheid<br />

Dezember: Eröffnung des Familienbüros in der Meinolphusstraße<br />

in Bochum-Ehrenfeld<br />

20 <strong>Festschrift</strong> Chronik 21


Ulrike Haufe-Künkler<br />

Ehemalige Bewohnerin<br />

„Der große Traum von Heim<strong>kinder</strong>n ist<br />

eigentlich ganz banal: Auf einen Klingelknopf<br />

zu drücken auf dem dein Name steht.<br />

Und jemanden haben, zu dem man Mama<br />

<strong>und</strong> Papa sagt. Das waren für mich die<br />

Insignien von Familie.<br />

I<br />

ch bin als Säugling im Heim abgegeben worden.<br />

Das war 1954, meine Mutter war aus Polen geflohen<br />

<strong>und</strong> ich war unehelich geboren. Das war zu der<br />

Zeit noch eine Katastrophe.<br />

Meine Mutter hat eine zeitlang im Säuglingsheim<br />

arbeiten können <strong>und</strong> damals haben wir wohl etwas<br />

Kontakt gehabt. Dann hat sie in Privathaushalten gearbeitet.<br />

Später, hat sie geheiratet, noch ein Kind bekommen<br />

<strong>und</strong> eine Familie aufgebaut. Danach hat sie<br />

keinen Kontakt mehr gehalten, aus welchem Gr<strong>und</strong>e<br />

auch immer. Erinnerungen dazu habe ich nur ganz<br />

wenige. Aber eines weiß ich sicher: Es gab 5 oder<br />

6 Kinder damals, die keinen Besuch bekamen. Die<br />

bekamen besondere Vergünstigungen, zum Beispiel<br />

durften sie Weihnachten das Märchen im Stadttheater<br />

anschauen. Weil ich immer diese Vergünstigungen<br />

bekam, weiß ich, dass mich niemand besuchte.<br />

Ich habe zuerst in dem alten Haus gewohnt in der<br />

Schlosserstraße, 1960, nachdem dieser Anbau<br />

gebaut wurde, bin ich rüber mit meiner Wohngruppe.<br />

Wir waren vierzehn, fünfzehn Kinder. Von anderthalb<br />

bis vierzehn. Wir waren eine große Familie, nur der<br />

Vater fehlte, weil es damals praktisch nur Erzieherinnen<br />

gab. An eine erinnere ich mich besonders gut:<br />

Ursula Kühn, die eigentlich eine Künstlerin war. Sie<br />

hat mit uns gemalt, Ausstellungen organisiert <strong>und</strong><br />

Volkstänze gemacht. Weihnachten haben wir Krippenspiele<br />

einstudiert <strong>und</strong> ich durfte den Erzengel<br />

Gabriel spielen. Das ist eine tolle Erinnerung für mich<br />

weil ich hervorgehoben wurde. Ich durfte den Engel<br />

spielen, weil ich die Weihnachtsgeschichte so gut<br />

auswendig lernen <strong>und</strong> sprechen konnte. Für mich<br />

war das die Krönung des Jahres. Für ein Heimkind ist<br />

es toll, einmal im Vordergr<strong>und</strong> zu stehen <strong>und</strong> nicht<br />

nur eines von 15 zu sein. Anerkennung zu bekommen.<br />

So etwas war sehr wichtig für mich.<br />

An die Wohngruppe, kann ich mich gut erinnern. Es<br />

gab eine kleine Küche, in der unser Geschirr stand.<br />

Gekocht wurde darin nicht. Das Essen kam immer<br />

per Aufzug aus der Großküche im Keller. Wir Kinder<br />

haben immer gemeinsam gegessen <strong>und</strong> vorher natürlich<br />

gebetet. Von dem riesigen Flur gingen die Zimmer<br />

ab. Da hab ich eine lange Zeit in einem Zimmer mit<br />

zwei anderen Kindern geschlafen. Später, als ich zur<br />

Realschule gewechselt bin, habe ich ein Einzelzimmer<br />

bekommen.<br />

Ein Heimkind auf der Realschule, das war damals ein<br />

Novum. Ich war die Erste. Die meisten Kinder aus<br />

dem Heim gingen zur Hauptschule oder sogar zur<br />

Sonderschule. Ich war so stolz, einen eigenen Weg zu<br />

gehen, eigene Fre<strong>und</strong>e zu haben. Meine Erzieherin hat<br />

mich damals sehr gefördert. Sie hat mir beigebracht<br />

selbständig zu lernen <strong>und</strong> meine Aufgaben gut über<br />

die Woche zu verteilen. Damals bekamen wir den ersten<br />

Fernseher ins Heim <strong>und</strong> ich erinnere, dass ich mir<br />

22 <strong>Festschrift</strong> Porträt 23


immer die Nachrichten anschauen sollte. Wohl um<br />

mich weiterzubilden. Im Heim habe ich viel Unterstützung<br />

bekommen. Ich bin gut begleitet worden. Ich bin<br />

aber nur ein halbes Jahr vom Heim aus zur Realschule<br />

gegangen. 1965 hat meine Mutter mich zu sich<br />

<strong>und</strong> meinem Stiefvater geholt. Ich war so glücklich,<br />

zu Hause zu sein, dass ich zuerst gar nicht gemerkt<br />

habe, dass dort einiges nicht stimmte.<br />

Meine Mutter <strong>und</strong> mein Stiefvater waren Alkoholiker.<br />

Wenn ich von der Schule kam, wusste ich nicht, in<br />

welchem Zustand meine Mutter war <strong>und</strong> ob ich für<br />

mich <strong>und</strong> meinen Bruder etwas zu essen machen<br />

musste. Aber ich wäre nicht zurück ins Heim gegangen<br />

– niemals.<br />

Heute weiß ich, dass meine Lebensbedingungen<br />

zuhause deutlich<br />

schlechter waren als im Heim. Wenn<br />

ich nicht diese Prägung durch das<br />

Kinderheim, diesen strukturierten,<br />

rhythmischen Alltag gehabt hätte<br />

<strong>und</strong> diese sichere <strong>und</strong> verlässliche<br />

Begleitung, dann wäre ich wahrscheinlich<br />

zugr<strong>und</strong>e gegangen.<br />

Mein Halbbruder hatte immer große Schwierigkeiten<br />

in seinem Leben. Ich glaube, das liegt vor allem<br />

daran, dass er in diesem Haushalt groß geworden ist.<br />

Damit will ich das nicht glorifizieren, eine Heimkindheit<br />

ist nicht das Tolle. Aber für mich war’s besser als<br />

die andere Alternative.<br />

Ich habe meinen Realschulabschluss wegen der<br />

Kurzschuljahre damals schon sehr früh gemacht –<br />

mit 15. Ich wollte Krankenschwester werden, war<br />

aber zu jung <strong>und</strong> habe deshalb eine Ausbildung als<br />

Arzthelferin bei einem Neurologen in Gelsenkirchen<br />

angefangen. Ich habe damals bei meiner Mutter<br />

gewohnt, aber das ging dann irgendwann nicht mehr.<br />

Der Alkoholismus meiner Mutter wurde immer<br />

schlimmer. Sie hat mich oft in meinem Zimmer eingesperrt<br />

<strong>und</strong> ich konnte häufig nicht zur Arbeit.<br />

Aber in dem Haus, in dem wir gelebt haben, gab es<br />

eine supernette Nachbarin. Sie hat dafür gesorgt,<br />

dass ich innerhalb dieses Hauses ein eigenes Zimmer<br />

bekomme.<br />

Es gab in meinem Leben immer<br />

Menschen, die mich gesehen haben<br />

<strong>und</strong> – bildlich gesehen – an die<br />

Hand genommen haben.<br />

Und als dann das später auch nicht mehr ging, weil<br />

meine Mutter mich auch in diesem Zimmer eingeschlossen<br />

hat, hat diese Nachbarin mir noch einmal<br />

geholfen <strong>und</strong> ist zum Jugendamt gegangen. Sie hat<br />

gesagt, dass es nicht mehr geht. Ich konnte dann<br />

sofort im Krankenhaus anfangen, habe dort erst aber<br />

ein hauswirtschaftliches Jahr gemacht, bevor ich<br />

mit der Ausbildung anfangen konnte. Wichtig war<br />

vor allem, dass ich im Schwesternwohnheim leben<br />

konnte. Ich war im Gr<strong>und</strong>e immer zu jung in meinem<br />

früheren Leben <strong>und</strong> schon ganz früh auf mich selbst<br />

angewiesen.<br />

Im Krankenhaus habe ich meinen Mann kennen<br />

gelernt <strong>und</strong> wir sind zusammen nach Berlin gezogen.<br />

Ich habe dort tagsüber gearbeitet <strong>und</strong> abends mein<br />

Abitur nachgemacht. Das war eine tolle Kombination,<br />

arbeiten <strong>und</strong> lernen. Ich habe das drittbeste Abitur<br />

des Jahrgangs gemacht <strong>und</strong> danach Publizistik <strong>und</strong><br />

Kommunikationswissenschaften studiert, weil ich<br />

mal etwas ganz anderes machen wollte. Jetzt bin<br />

ich Autorin <strong>und</strong> Lektorin <strong>und</strong> schreibe für einen Verlag<br />

Pflegefachbücher. Hier kann ich die zwei Herzen, die<br />

in meiner Brust schlagen, die Pflege <strong>und</strong> das Schreiben<br />

prima verbinden.<br />

Neben meiner Arbeit engagiere ich<br />

mich bei der Telefonseelsorge.<br />

Ich denke, meine Erfahrungen aus der Kindheit helfen<br />

mir da. Ich kann mich gut in die Anrufer einfühlen, ich<br />

weiß, wie schlecht es einem Menschen gehen kann.<br />

Aber ich kann auch Optimismus vermitteln. Einfach,<br />

weil ich gelernt habe, dass es auch immer Wege aus<br />

der Krise gibt, dass man aus dem Loch herauskommen<br />

kann.“<br />

24 <strong>Festschrift</strong> Porträt 25


Die Geschichte des Evangelisch-kirchlichen<br />

Heimvereins Gelsenkirchen<br />

Marta Müller-Dieck schreibt über ihre<br />

Erfahrungen aus 47 Jahren ehrenamtlicher<br />

Tätigkeit im Heimverein:<br />

S<br />

ieben<strong>und</strong>vierzig Jahre durfte ich die Arbeit des<br />

Heimvereins ehrenamtlich mitgestalten <strong>und</strong><br />

mitverantworten. Nun bin ich schon siebzehn Jahre<br />

Ehrenvorsitzende. 100 Jahre – eine kaum überschaubare<br />

Zeit. Und doch möchte ich einen kurzen Überblick<br />

über das geben, was mir Zeitzeugen berichteten<br />

<strong>und</strong> was ich selbst erlebte. Dieser Bericht kann nicht<br />

wiedergeben, was an pädagogischer Arbeit geleistet<br />

wurde <strong>und</strong> an menschlicher Zuwendung geschah.<br />

Im Jahr 1910, also 14 Jahre bevor das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz<br />

in Kraft trat, erkannten die Pfarrer<br />

die finanzielle Not in ihren Gemeinden. Pfarrer Otto<br />

Schumacher (aus der Gemeinde Gelsenkirchen-Bismarck)<br />

sammelte fähige <strong>und</strong> verantwortungsbewusste<br />

Frauen aus allen Gemeinden Gelsenkirchens <strong>und</strong><br />

gründete mit ihnen die „Evangelische Fürsorge der<br />

Frauenhilfe“. An diesen kleinen Verein wandten sich<br />

die Hilfesuchenden. Ihnen wurde mit Lebensmittelpaketen<br />

<strong>und</strong> Gutscheinen geholfen. Mitfinanziert wurde<br />

diese Hilfe auch durch das, von der Stadt genehmigte,<br />

Aufstellen von Sammelbüchsen mit der Aufschrift<br />

„Gefährdetenfürsorge der weiblichen Jugend“ in allen<br />

Geschäften.<br />

Der Erste Weltkrieg unterbrach die begonnene Arbeit.<br />

Im Jahr 1918, nachdem Fräulein Wilms ihre Ausbildung<br />

als Fürsorgerin beendet hatte, konnte sie im<br />

Hause ihrer Mutter (Bismarckstraße 123) „gefährdete<br />

Mädchen“ aufnehmen. Die Arbeit weitete sich sprunghaft<br />

aus. Daher beschloss die Synode Gelsenkirchen<br />

unter Superintendent Eugen Hußmann (also für alle<br />

Gemeinden) zwei Prozent des Kirchenaufkommens<br />

für die „Gefährdetenhilfe“ abzugeben. So konnte 1927<br />

das ehemalige Knappschaftsgebäude in der Wiehagenstraße<br />

125 für 45.000 RM gekauft <strong>und</strong> für 10.000<br />

RM umgebaut werden. Mitfinanziert wurde das Haus<br />

durch einen großen Handarbeitsverkauf, zu dem alle<br />

Frauenhilfen des Stadtverbandes selbst hergestellte<br />

Arbeiten gestiftet hatten.<br />

Dieses Haus im Wiehagen – das Mütter- <strong>und</strong> Säuglingsheim<br />

– ist die Wiege des Heimvereins. Wir können<br />

auch sagen: Hier liegen unsere Wurzeln.<br />

Rat <strong>und</strong> Hilfe fanden in diesem Haus auch Mädchen<br />

ohne Ausbildung <strong>und</strong> in Not geratene Frauen. Die<br />

jungen Mütter wurden angeleitet, ihre Kinder selbst<br />

zu versorgen. Dadurch entstand oft eine enge <strong>und</strong><br />

dauerhafte Verbindung. Nach der gesetzlichen Schonzeit<br />

wurden die Mütter wieder in ein Arbeitsverhältnis<br />

vermittelt.<br />

Im Zweiten Weltkrieg ging die Arbeit wieder zurück.<br />

Die Kinder mussten evakuiert werden. Das Haus<br />

bekam starke Bombenschäden.<br />

1952 konnte das Haus Wilhelminenstraße 152 (das<br />

heutige Familienhilfecentrum an der Schlosserstraße)<br />

erworben werden. Nach einem einjährigen Umbau<br />

wurde das Haus 1953 als <strong>Evangelisches</strong> Kinderheim<br />

eröffnet. Hierher wurden zunächst die vier- bis<br />

fünfjährigen Kinder aus dem Mütter- <strong>und</strong> Säuglingsheim<br />

verlegt. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr<br />

26 <strong>Festschrift</strong> <strong>Festschrift</strong> 27


lernbehinderte, verhaltensgestörte <strong>und</strong> psychisch<br />

geschädigte Kinder in dieses Kinderheim. Deshalb<br />

musste sich die Erziehungs- <strong>und</strong> Betreuungsarbeit<br />

nach neuen Erkenntnissen ausrichten. Die Mitarbeiter<br />

nahmen laufend an Fortbildungsmaßnahmen teil.<br />

Nachdem das Mütter- <strong>und</strong> Säuglingsheim im Wiehagen<br />

1975 aufgr<strong>und</strong> umfassender Stadtsanierungsarbeiten<br />

abgerissen werden musste, konnte mit dem<br />

Erlös das Kinderheim Wilhelminenstraße um einen<br />

Anbau erweitert werden. Bereits 1976 wurde mit<br />

dem Jugendhaus erstmals ein eigenständiger Bereich<br />

für Jugendliche eröffnet. 1980 lebten hier 60 Kinder<br />

in fünf familienähnlich strukturierten Gruppen <strong>und</strong> 16<br />

Jugendliche im Jugendhaus. Ziel der Jugendlichen<br />

war es, kurz vor der Gesellenprüfung in eine eigene<br />

kleine Wohnung einzuziehen. Die Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

wurden von Erziehern, Sozialarbeitern, Sozialpädagogen<br />

<strong>und</strong> einer Diplompsychologin betreut.<br />

Mit dem Mütter- <strong>und</strong> Säuglingsheim <strong>und</strong> dem Kinderheim<br />

Wilhelminenstraße gründete Herr Pfarrer<br />

Sauer, damals Leiter der Inneren Mission, heute<br />

Diakonisches Werk, im Jahr 1957 den „Evangelischkirchlichen<br />

Heimverein Gelsenkirchen e.V.“ Durch<br />

seine besondere Rechtslage als eingetragener Verein<br />

war es möglich, staatliche <strong>und</strong> kommunale Zuschüsse<br />

für soziale Arbeiten zu bekommen.<br />

Die Struktur des Heimvereins sah vor, dass jedes<br />

Haus ein Kuratorium besaß, zu dem Menschen<br />

gehörten, die sich für die Arbeit interessierten <strong>und</strong><br />

einsetzten. Aus den meist vier bis fünf Frauen wurde<br />

die Vorsitzende des Kuratoriums gewählt. Diese war<br />

dann „geborenes Mitglied“ des Heimverein-Vorstandes.<br />

Weitere Mitglieder des Vorstandes wurden durch<br />

die jährliche Mitgliederversammlung vorgeschlagen<br />

<strong>und</strong> für vier Jahre gewählt. Dieser Vorstand bestimmte<br />

dann den 1. <strong>und</strong> 2. Vorsitzenden.<br />

Unterschriftenberechtigt waren die jeweiligen<br />

Verwaltungsdirektoren des Kirchenkreises sowie die<br />

amtierenden 1. Vorsitzenden des Vorstandes.<br />

Finanziert wurde der Aufenthalt der Kinder <strong>und</strong><br />

Jugendlichen in unseren Häusern aus verschiedenen<br />

Quellen: Elternbeiträge, Einsatzstellen der anerkannten<br />

Privathäuser, Sozialämter der zuständigen<br />

Städte, Landschaftsverband, Kirchengemeinden,<br />

Mitgliederbeiträge <strong>und</strong> Spenden.<br />

Die Abrechnung mit den einzelnen Häusern einerseits<br />

<strong>und</strong> den Geldgebern andererseits geschah durch die<br />

Verwaltung, bestehend aus zwei bis drei Angestellten.<br />

Nachdem der Kirchenkreis bereits 1955 ein r<strong>und</strong><br />

12.000m² großes Gr<strong>und</strong>stück in Willingen (Hochsauerland)<br />

erworben <strong>und</strong> dem Heimverein zur Verfügung<br />

gestellt hatte, baute der Heimverein hier ein<br />

Schullandheim: das Matthias-Claudius-Heim. Das<br />

Haus wurde in den ersten zehn Jahren in 14-tägigem<br />

Wechsel mit 120 Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern aus Gelsenkirchen<br />

belegt. Später wurde die Belegungszahl<br />

auf 80 reduziert. Die Stadt gab allen Schülern eine<br />

Finanzierungshilfe von 5 DM pro Tag. In den Schulferien<br />

füllten Ferienmaßnahmen verschiedener Gruppen<br />

das Haus.<br />

Als 1980 alle Städte in die Rezession kamen, kündigte<br />

die Stadt Gelsenkirchen den Belegungsvertrag mit<br />

dem Heimverein. Das war bitter für Schüler, Lehrer<br />

<strong>und</strong> den Heimverein selbst. Das Haus ging in den<br />

28 <strong>Festschrift</strong> <strong>Festschrift</strong> 29


Besitz von Russlanddeutschen über, die es bis heute<br />

als „Christliches Schul- <strong>und</strong> Freizeitzentrum e.V.“ gut<br />

weiterführen.<br />

Als vierte Einrichtung kam 1961 die Evangelische<br />

Pflegevorschule hinzu. Der Abschluss der dreijährigen<br />

Pflegevorschule berechtigte Volksschulabgänger,<br />

später Hauptschulabgänger, zum Eintritt in die große<br />

Krankenpflege. Im Internat der Pflegevorschule<br />

lebten 40 Schülerinnen. Morgens waren diese im<br />

praktischen Einsatz in anerkannten Privathaushalten,<br />

in Krankenhäusern <strong>und</strong> im Kinderheim. Nachmittags<br />

hatten die Schülerinnen theoretischen Unterricht:<br />

Deutsch, Religion, Mathematik, Geschichte, Erdk<strong>und</strong>e,<br />

Biologie <strong>und</strong> Musik. Richtschnur war der Lehrplan an<br />

Realschulen. Erteilt wurde der Unterricht von Lehrern<br />

an Hauptschulen, Realschulen <strong>und</strong> Gymnasien.<br />

Unter Anleitung der Hausmutter, einer Wittener Diakonisse,<br />

die Kindergärtnerin war, lernten die Schülerinnen<br />

außerdem mit Nadel <strong>und</strong> Faden umzugehen.<br />

So konnten viele Schülerinnen den Abschluss der<br />

mittleren Reife (früher Einjähriges, heute Fachoberschulreife)<br />

machen.<br />

Von 1961 bis 1974 gingen 223 Schülerinnen durch<br />

unser Haus. Davon wurden 16 Schülerinnen nicht<br />

zur Prüfung zugelassen oder verließen die Schule<br />

vorzeitig. Die 207 Schülerinnen mit dem Abschluss<br />

„Pflegevorschule“ oder „Einjährigem“ gingen zu 90<br />

Prozent in die Krankenpflege. Die restlichen zehn Prozent<br />

ergriffen sozialpädagogische Berufe.<br />

Durch die wissenschaftliche Bildungspolitik in allen<br />

Bereichen wurde die Pflegevorschule in ihrer Form<br />

dann nicht mehr gebraucht, denn es kamen immer<br />

mehr Abiturientinnen in die Krankenpflegeschulen.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong> war es richtig, dass die Mitgliederversammlung<br />

des Heimvereins 1975 beschloss,<br />

die Pflegeschule bis zum 30. Juni 1977 auslaufen zu<br />

lassen.<br />

Schon zu meiner Zeit im Heimverein wussten wir,<br />

dass Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungsarbeit mit Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen besser in kleinen Gruppen gelänge.<br />

Darum freuten wir uns, dass wir ein Haus in Gelsenkirchen-Buer,<br />

in der Nienhofstraße, kaufen konnten.<br />

Hier wurde dann 1986 die erste Außenwohngruppe<br />

als Familie mit 10 Kindern eröffnet. Inzwischen hat<br />

sich dieser Bereich erheblich erweitert. Aber davon<br />

müssen andere berichten. Ab dem Jahre 2004 ging<br />

der Evangelisch-kirchliche Heimverein e.V. in der<br />

Evangelischen Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus gGmbH<br />

auf, welche die Arbeit in Form einer gemeinnützigen<br />

GmbH fortführt. Die, den individuellen Bedürfnissen<br />

des Einzelnen angepasste, Jugendhilferichtung hat<br />

sich seitdem <strong>und</strong> bis zum heutigen Zeitpunkt kontinuierlich<br />

weiterentwickelt.<br />

Persönliche Daten:<br />

Meine Zeit im Vorstand des Heimvereins begann 1946<br />

<strong>und</strong> endete 1993, also 47 Jahre. Davon war ich zwei<br />

Jahre 2. Vorsitzende <strong>und</strong> elf Jahre 1. Vorsitzende.<br />

Ab 1993 darf ich Ehrenvorsitzende sein <strong>und</strong> freue<br />

mich immer, wenn ich sehe, dass auch heute die<br />

Verantwortlichen das erkennen, was jetzt nötig – ja –<br />

erforderlich ist. Ich danke Herrn Vorndamme, dass er<br />

mich immer wieder am Geschehen des Heimvereins<br />

teilnehmen lässt <strong>und</strong> wünsche ihm für alle Arbeit<br />

Gottes Segen!<br />

Marta Müller-Dieck<br />

Gelsenkirchen im Januar 2010<br />

Anmerkung der Redaktion:<br />

Für ihre langjährige ehrenamtliche Tätigkeit im<br />

Heimverein <strong>und</strong> darüber hinaus - Presbyterium,<br />

Kreissynodalvorstand, Synodaler Diakonieausschuss,<br />

<strong>evangelische</strong> Familienbildungsstätte – wurde Marta<br />

Müller-Dieck im Februar 1988 das Goldene Kronenkreuz<br />

der Diakonie verliehen. Diese Anerkennung war<br />

auch bereits ihrer Mutter Hedwig Dieck (1888-1983)<br />

zuteil geworden.<br />

30 <strong>Festschrift</strong> <strong>Festschrift</strong> 31


Nicola <strong>und</strong> Patrice mit Leonie<br />

Bewohner<br />

„Leonie hat unser Leben total umgekrempelt.<br />

Aber wenn wir sehen, wie gut sie sich<br />

entwickelt, wenn sie uns anlächelt, dann ist<br />

der ganze Stress vergessen.<br />

N<br />

icola: Ich war 15, als ich erfahren habe, dass ich<br />

schwanger bin. Meine Mutter war nicht gerade<br />

begeistert davon, aber sie hat mir freie Hand gelassen,<br />

das Kind zu bekommen. Eine Abtreibung wollte ich auf<br />

keinen Fall. In der Schule habe ich das zuerst geheim<br />

gehalten, nur meiner besten Fre<strong>und</strong>in davon erzählt.<br />

Im sechsten Monat konnte ich aber meinen dicken<br />

Bauch nicht mehr unter weiten Pullis verstecken <strong>und</strong><br />

da habe ich es in meiner Klasse erzählt. Ich hatte Sorge,<br />

dass böse geredet wird, dass jemand dagegen sein<br />

könnte, aber so war das gar nicht. Meine Klasse hat<br />

total nett reagiert, die haben sich gefreut für mich <strong>und</strong><br />

einige haben mir sogar Hilfe angeboten.<br />

Patrice: Als Nicola mir gesagt hat, dass sie schwanger<br />

ist, bin ich sofort aus Berlin hierher gezogen. Wir<br />

haben uns beim chatten im Internet kennen gelernt<br />

<strong>und</strong> bis dahin noch nicht ständig zusammen gelebt.<br />

Ich habe hier in der Gegend einen Job gesucht <strong>und</strong> ein<br />

paar Monate in Düsseldorf gearbeitet.<br />

Im Moment habe ich Erziehungsurlaub <strong>und</strong> bekomme<br />

Elterngeld. Ich möchte die schöne erste Zeit mit<br />

Leonie nicht verpassen <strong>und</strong> Nicola so gut es geht<br />

unterstützen. Nicola geht ja im Sommer wieder zur<br />

Schule <strong>und</strong> da will ich mich um Leonie kümmern.<br />

Wenn ich mal nicht kann, bringe ich Leonie in die<br />

Krabbelgruppe hier im Haus.<br />

Nicola: Zu Beginn der Schwangerschaft waren wir<br />

schon etwas unsicher <strong>und</strong> hatten Angst vor dem<br />

was auf uns zukommt. Ich war so unsicher, ob wir<br />

beide das so ganz ohne Hilfe schaffen könnten <strong>und</strong><br />

so sind wir zum Jugendamt gegangen <strong>und</strong> haben uns<br />

beraten lassen. Ich habe einfach gedacht, dass es das<br />

Beste für unser Kind ist. Ich hatte schon ein komisches<br />

Gefühl, so ganz fremden Menschen so private<br />

Dinge zu erzählen. Die Mitarbeiter dort waren aber<br />

total nett. Ja, <strong>und</strong> dort haben wir von der Mutter-<br />

Kindgruppe erfahren.<br />

Wir sind dann schon zwei Monate vor der Geburt<br />

eingezogen. Es war toll, andere Mütter kennen zu lernen,<br />

zu sehen, wie die so leben <strong>und</strong> wie sie mit ihren<br />

Kindern umgehen.<br />

Patrice: Wir haben uns immer mal Kinder leihen können,<br />

um zu üben. Mir hat das sehr geholfen. Ich habe<br />

mich, als Leonie dann da war, viel sicherer gefühlt.<br />

Wenn ich jetzt mal unsicher bin, kann ich immer die<br />

Betreuer hier in der Gruppe fragen. Das finde ich<br />

schon super.<br />

Nicola: Die Geburt war ganz schön anstrengend<br />

für mich. Über zwanzig St<strong>und</strong>en hat es gedauert<br />

bis Leoni endlich da war. Ich war zum Glück nicht<br />

allein. Patrice war dabei, meine Mutter <strong>und</strong> meine<br />

beste Fre<strong>und</strong>in. Als es los ging, habe ich ihr eine<br />

SMS geschickt, <strong>und</strong> sie ist nach der Schule zu mir ins<br />

Marienhospital gekommen <strong>und</strong> ist bis zur Geburt da<br />

geblieben. Obwohl es ja schon mitten in der Nacht<br />

war, hatte sie fast ein schlechtes Gewissen zu gehen.<br />

Ich fand es total gut, dass ich nicht alleine war <strong>und</strong><br />

soviel Unterstützung bekommen habe. Als Leoni da<br />

32 <strong>Festschrift</strong> Porträt 33


war, war die ganze Anstrengung sofort vergessen.<br />

Die Hebamme hat mir Leoni auf den Bauch gelegt<br />

<strong>und</strong> für mich war alles sofort wieder gut. Ich war so<br />

glücklich.<br />

Patrice: Leonies Geburt mitzubekommen war ein<br />

w<strong>und</strong>erschönes Erlebnis für mich. Das Größte, was<br />

ich bisher erlebt habe. Ich hatte oft das Gefühl, nicht<br />

richtig helfen zu können, kam mir manchmal nutzlos<br />

vor. Aber ich glaube, Nicola hat das gar nicht so<br />

gesehen, <strong>und</strong> ich konnte ihr helfen. Ich stand immer<br />

hinter Nicola, habe ihr den Nacken massiert oder<br />

Wasser geholt. Danach durfte ich Leonie baden. Das<br />

fand ich ganz toll. Meine Eltern haben Leonie dann<br />

auch sofort gesehen. Sie sind extra aus Berlin zu uns<br />

gekommen <strong>und</strong> haben die ganze Nacht in der Klinik<br />

gewartet.<br />

Nicola: Meinen Realschulabschluss habe ich gemacht,<br />

da war Leonie schon da. Ich bin stolz, dass ich<br />

die Quali fürs Gymnasium geschafft habe. Im Sommer<br />

fange ich die 11 in der Gesamtschule an. Ich will<br />

unbedingt Abi machen. Ich glaube aber, studieren<br />

will ich nicht. Mir reicht eine Ausbildung, dann dauert<br />

es nicht so lange, bis ich auch Geld verdienen kann.<br />

Denn wir möchten Leonie so gerne etwas bieten<br />

können, wenn sie größer ist.“<br />

Ich war so unsicher, ob<br />

wir beide das so ganz ohne<br />

Hilfe schaffen könnten, <strong>und</strong><br />

so sind wir zum Jugendamt<br />

gegangen <strong>und</strong> haben uns<br />

beraten lassen.<br />

Nicola<br />

Leonies Geburt mitzubekommen<br />

war ein w<strong>und</strong>erschönes<br />

Erlebnis für mich.<br />

Das größte was ich bisher<br />

erlebt habe.<br />

Patrice<br />

34 <strong>Festschrift</strong> <strong>Festschrift</strong> 35


Ich bin gekommen, damit sie das Leben<br />

<strong>und</strong> volle Genüge haben sollen. (Joh. 10,10)<br />

Gedanken zum 100. Geburtstag der<br />

Evangelischen Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

D<br />

ie Evangelische Kirche weiß sich aufgr<strong>und</strong><br />

„ ihres christlichen Menschenbildes dem Wohl<br />

<strong>und</strong> dem Schutz von Kindern besonders verpflichtet.<br />

… Risiken für Kinder <strong>und</strong> Jugendliche sind zugleich<br />

Gefahren für die Entwicklung von uns allen: wenn<br />

Kinder vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht<br />

werden, dann ist die Zukunft einer humanen Gesellschaft<br />

insgesamt in Frage gestellt.“<br />

S o heißt es im Rahmenkonzept für den Kinderschutz<br />

des Kirchenkreises Gelsenkirchen <strong>und</strong> Wattenscheid,<br />

das der Kreissynode im Sommer dieses Jahres zur<br />

Annahme vorliegt. Und dann heißt es weiter:<br />

„In der eigenen Arbeit mit Familien <strong>und</strong> Kindern setzt<br />

die Evangelische Kirche im Kirchenkreis Gelsenkirchen<br />

<strong>und</strong> Wattenscheid diese Ziele in entsprechenden<br />

pädagogischen Konzepten um, die sich dadurch<br />

auszeichnen, dass sie unterstützend statt repressiv,<br />

hilfe- statt straforientiert <strong>und</strong> vertrauensbildend statt<br />

überkon trollierend sind. Im Wissen, dass ein lückenloser<br />

Kinderschutz in einer freiheitlichen Gesellschaft<br />

unmöglich ist, setzen wir auf die Wahrnehmungs- <strong>und</strong><br />

Schutzkompetenzen der Menschen in unseren Gemeinden,<br />

Einrichtungen, Diensten <strong>und</strong> Treffpunkten. Neben<br />

der innerkirchlichen Zusammenarbeit, bei der wir uns<br />

gegenseitig in der Kindeswohlsicherung unterstützen,<br />

arbeiten wir in den Gemeinden <strong>und</strong> Stadtteilen in Netzwerken<br />

mit anderen Kirchen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Gruppen sowie professionellen Partnern zusammen.“<br />

In einem solchen Konzept ist das Evangelische Kinder-<br />

<strong>und</strong> Jugendhaus ein entscheidender Baustein in<br />

einem integrativen Gesamtkonzept.<br />

Wie sorgfältig eine Gesellschaft mit dem Leben<br />

umgeht, entscheidet sich nicht zuletzt da, wo es um<br />

die Rechte von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen geht. Ihre<br />

Rechte auf Unversehrtheit, auf Bildung <strong>und</strong> Erziehung,<br />

auf Förderung ihrer Fähigkeiten, auf ein Umfeld,<br />

das sie stärkt, ermutigt <strong>und</strong> unterstützt, müssen<br />

Priorität haben.<br />

Die Gründe hierfür liegen in den Kinderrechten. Sie<br />

sind unabhängig von jedem Gedanken der Verwertbarkeit.<br />

Die Förderung von Kindern begründet sich<br />

nicht aus der Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft.<br />

Sie begründet sich auch nicht vom späteren „Nutzen“<br />

als „Humankapital“. Sie ist unverzweckt, nach christlichem<br />

Menschen- <strong>und</strong> Weltbild heilig.<br />

Gott ist ein Liebhaber des Lebens. So erwächst die<br />

Pflicht, ein <strong>kinder</strong>fre<strong>und</strong>liches Umfeld zu schaffen<br />

aus der Liebe Gottes zum Leben.<br />

Kinder sind darauf angewiesen, dass wir ihre Rechte<br />

schützen. Es ist die Verantwortung der „erwachsenen“<br />

Gesellschaft, das entsprechende Umfeld zu<br />

schaffen. Dabei ist der Bezugsrahmen, den das Evangelium<br />

setzt, dass „sie das Leben <strong>und</strong> volles Genüge<br />

haben sollen“.<br />

36 <strong>Festschrift</strong> <strong>Festschrift</strong> 37


Dieses Recht ist universal. Es ist das Recht eines<br />

jeden Kindes <strong>und</strong> eines jeden Jugendlichen. Damit ist<br />

die Gesellschaft als ganze wie auch jede <strong>und</strong> jeder<br />

Einzelne in der Verantwortung. Diese Verantwortung<br />

kann nicht delegiert werden – weder auf die Gesellschaft<br />

noch auf die Familie. Gemeinsam sind beide<br />

aufeinander angewiesen, wenn es darum geht, Kindern<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen Räume gelingenden Lebens<br />

zu öffnen <strong>und</strong> sie in diesen Räumen zu begleiten.<br />

Diese Räume sind zu schützen vor verzweckenden<br />

Zugriffen Dritter. Darum ist es so wichtig, dass es<br />

einen gesellschaftlichen Konsens aller Kräfte gibt,<br />

wie die Lebensräume der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

auszusehen haben, damit in ihnen das eigenverantwortliche,<br />

aufrechte Leben eingeübt werden kann.<br />

Kinderarmut, eine einseitige religiöse oder kulturelle<br />

oder ideologische Ausprägung vergiften die Räume.<br />

Gleichzeitig gilt, dass alle Versuche, diese Räume<br />

konflikt- <strong>und</strong> wertefrei zu halten, dem Ziel widersprechen,<br />

auf ein aufrechtes, selbstverantwortetes Leben<br />

vorzubereiten.<br />

Im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert bedeutet dies, dass es keine Alternative<br />

gibt zu einer interreligiösen, interkulturellen,<br />

intersozialen <strong>und</strong> koedukativen Ausprägung dieser<br />

Räume. Unterschiede in der Kultur, in der Religion,<br />

im Geschlecht, im sozialen Umfeld wird es immer<br />

geben. Um so wichtiger ist es, für unsere Kinder <strong>und</strong><br />

Jugendlichen Räume zu schaffen, die gegenseitiges<br />

Kennenlernen fördern, die den Respekt gegenüber<br />

dem anderen Geschlecht, anderen Kulturen <strong>und</strong><br />

anderen Religionen einüben <strong>und</strong> soziale Unterschiede<br />

nicht verfestigen, sondern das Verständnis füreinander<br />

fördern.<br />

Gemeinsam muss es darum gehen, ein pro-existentes<br />

Miteinander zu gestalten. Pro-Existenz heißt, dass<br />

Unterschiede nicht geleugnet werden, dass sie<br />

wichtig sind für ein Leben in Fülle, dass aber ihre<br />

ab- <strong>und</strong> ausgrenzenden Auswüchse überw<strong>und</strong>en<br />

werden müssen durch ein gemeinsames Bekenntnis<br />

zu einer friedlichen, gerechten, offenen Gesellschaft<br />

in Freiheit <strong>und</strong> Würde. Unabdingbare Voraussetzung<br />

ist dafür eine gemeinsame Erziehung <strong>und</strong> Bildung in<br />

Kindergärten <strong>und</strong> Schulen. Dazu gehört ein langes<br />

gemeinsames Lernen. Dazu gehört auch die Integration<br />

von Menschen mit Behinderungen. Dazu gehört<br />

die Offenheit, Andersartigkeit nicht als Bedrohung zu<br />

begreifen, sondern als Bereicherung.<br />

Vertrauen <strong>und</strong> Respekt kann man nicht erzwingen.<br />

Beides wächst nur auf geduldigem Boden. Und der<br />

Boden ist hart. Die wachsenden sozialen Konflikte<br />

in unserer Gesellschaft, die Angst um gesellschaftlichen<br />

Abstieg auf der einen <strong>und</strong> die Erfahrung gesellschaftlicher<br />

Ausgrenzung auf der anderen Seite,<br />

die religiös <strong>und</strong> kulturell geprägten Unterschiede im<br />

Familienbild, im Frauen- <strong>und</strong> Männerbild, die unterschiedlichen<br />

Erwartungen an ein gelingendes Leben<br />

<strong>und</strong> die Auswirkungen globaler Konflikte auf das<br />

Zusammenleben vor Ort sind für eine Saat des Friedens<br />

<strong>und</strong> Vertrauens eine ziemliche Herausforderung.<br />

Rückschläge sind da programmiert. Um so wichtiger<br />

ist es, dass wir mutig Schritt für Schritt einüben, was<br />

dem Ziel dient.<br />

Leben <strong>und</strong> volles Genüge, sagt Jesus, ist Gottes<br />

Wille. Leben <strong>und</strong> volles Genüge! Ein Leben am Rande<br />

des Existenzminimums, ein Leben in Armut <strong>und</strong><br />

Ausgrenzung genügt diesem Anspruch nicht. Ein<br />

Leben in Angst vor dem Fremden, ein Leben voller<br />

Abgrenzung von dem Anderen, ein Leben gegen Andere<br />

genügt diesem Anspruch nicht. Ein verzwecktes<br />

Leben genügt diesem Anspruch nicht.<br />

Wir leben nicht, um zu arbeiten. Wir leben <strong>und</strong> arbeiten.<br />

Wir leben nicht, um Gott zu gefallen. Es gefällt<br />

Gott, dass wir leben. Wir leben nicht, um zu lieben.<br />

Wir lieben das Leben. Das Leben aber ist nichts Exklusives.<br />

Es ist inklusiv, es schließt jede <strong>und</strong> jeden ein.<br />

Diesem Ziel fühlen sich <strong>evangelische</strong> Kindergärten,<br />

Familienzentren, Schulen, Kinder- <strong>und</strong> Jugendheime<br />

in den Kirchengemeinden, Familienbildungsarbeit im<br />

Kirchenkreis Gelsenkirchen <strong>und</strong> Wattenscheid <strong>und</strong><br />

unsere diakonische Arbeit im Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus<br />

des Diakoniewerkes Gelsenkirchen <strong>und</strong> Wattenscheid<br />

verpflichtet.<br />

Dieses zu gestalten bleibt unsere Aufgabe im 21.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert – mit anderen, für andere, damit sie das<br />

Leben <strong>und</strong> volles Genüge haben sollen.<br />

Rüdiger Höcker<br />

Superintendent des Kirchenkreises Gelsenkirchen<br />

<strong>und</strong> Wattenscheid<br />

38 <strong>Festschrift</strong> <strong>Festschrift</strong> 39


Brunhilde Schwind<br />

Mitarbeiterin <strong>und</strong> Ehemalige<br />

„Das Heim hat mein ganzes Leben<br />

bestimmt. Irgendwie hat es mich nie losgelassen.<br />

Ich habe hier als Kind gewohnt,<br />

dann in der Küche meine Lehre gemacht<br />

<strong>und</strong> hier meinen Mann kennen gelernt!<br />

E<br />

inmal war ich ein Jahr lang weg. Da habe ich in<br />

einem Privathaushalt gearbeitet, aber das war<br />

nichts für mich. Als mir vom Heim eine feste Hauswirtschaftsstelle<br />

angeboten wurde, bin ich sofort<br />

zurückgegangen. Das war 1983. Ich kann mir gar<br />

nicht vorstellen, einmal woanders zu arbeiten.<br />

„Ich bin mit 13 hier ins Heim gekommen. Meine<br />

Mutter ist früh gestorben. Ich habe zuerst bei meiner<br />

Tante gelebt, aber irgendwann ging das nicht mehr.<br />

Sie war schon alt. Zu meinem Vater hatte ich keinen<br />

Kontakt mehr, der ist nach Dortm<strong>und</strong> gezogen <strong>und</strong><br />

dort auch sehr bald gestorben. Ich habe ihn gar nicht<br />

mehr gesehen.<br />

Als ich hierher kam gab es das Jugendhaus noch<br />

nicht, die Gruppen waren total gemischt. Von fünf bis<br />

achtzehn Jahren. Abends war immer für alle schon<br />

sehr früh Schluss. Ich war dreizehn <strong>und</strong> musste<br />

immer schon wie die Kleinen um sieben Uhr ins Bett.<br />

Im Sommer schien noch st<strong>und</strong>enlang die Sonne. Ich<br />

lag jeden Abend wach. Da denke ich heute noch dran.<br />

Alles war so streng. Später wurde das Jugendhaus<br />

gebaut <strong>und</strong> ich bin dort eingezogen. Da gab es endlich<br />

Gruppen nur für uns Jugendliche. Alles wurde für uns<br />

lockerer, wir konnten viel länger raus. Im Schuppen<br />

hinter dem Haus gab es manchmal Diskoabende für<br />

uns Jugendliche. Das war toll. Ich habe hier meinen<br />

Mann kennengelernt. Der lebte auch hier im Heim,<br />

aber in einer anderen Gruppe. Ich habe ihn gesehen,<br />

<strong>und</strong> sofort gewusst: „Der - <strong>und</strong> kein Anderer!“ Wir<br />

waren sofort ein Paar. 1988 wurde ich schwanger <strong>und</strong><br />

da haben wir geheiratet. Mein Sohn ist jetzt schon<br />

beim B<strong>und</strong>.<br />

Früher gab es in der Schlosserstraße die Großküche,<br />

da haben wir für das ganze Heim gekocht. Das war<br />

schön, damals mit meinen Kolleginnen. Wir haben<br />

toll zusammengearbeitet. Aber wir hatten gar keinen<br />

Kontakt zu den Kindern.<br />

Die Großküche gibt es schon seit ein paar Jahren<br />

nicht mehr. Jetzt koche ich direkt in der Fünf-Tage-<br />

Gruppe. Das war damals eine ganz schöne Umstellung<br />

für mich, die Arbeitsatmosphäre da in der<br />

Schlosserstraße hat mir sehr gefehlt. Jetzt bin ich<br />

aber sehr gerne hier in der Gruppe. Meine Arbeit hat<br />

sich natürlich sehr verändert. Ich putze viel mehr <strong>und</strong><br />

kümmere mich um die Wäsche.<br />

Kochen ist jetzt nicht mehr das Einzige, was ich tue.<br />

Die Kinder hier essen fast alles ohne zu meckern. Am<br />

40 <strong>Festschrift</strong> Porträt 41


liebsten Eintöpfe <strong>und</strong> natürlich Fischstäbchen. Mir<br />

macht es großen Spaß, für so tolle Esser zu kochen.<br />

Für die Kinder, die mittags aus der Schule kommen,<br />

bin ich oft die erste Anlaufstelle. Sie helfen mir<br />

immer ein wenig in der Küche oder decken den Tisch.<br />

Dabei erzählen sie mir oft, wenn es etwas Tolles gab<br />

in der Schule. Neulich kam Justin zu mir <strong>und</strong> war so<br />

stolz auf eine Drei in seiner Klassenarbeit. Er wollte<br />

unbedingt, dass ich die Arbeit unterschreibe. Er hatte<br />

extra die Lehrerin gefragt, da ich das ja eigentlich<br />

nicht darf.<br />

Ich glaube, ich habe so ein gutes Verhältnis<br />

zu den Kindern, weil ich auch im Heim groß<br />

geworden bin <strong>und</strong> dasselbe erlebt habe.<br />

Brunhilde Schwind<br />

Ich denke, die Kinder mögen mich. Und ich sie auch.<br />

Wenn ich merke, dass es einem Kind nicht gut geht,<br />

hake ich nach <strong>und</strong> dann erzählen sie mir meistens<br />

was los ist. Das sind oft Prügeleien in der Schule oder<br />

schlechte Noten. Weihnachten haben die Kinder oft<br />

sehr schlimmes Heimweh. Da müssen wir viel trösten.<br />

Da bin ich auch nah am Wasser gebaut.<br />

Ich glaube, ich habe so ein gutes Verhältnis zu den<br />

Kindern, weil ich auch im Heim groß geworden bin<br />

<strong>und</strong> dasselbe erlebt habe. Ich weiß, wie das ist, kein<br />

richtiges Zuhause zu haben. Ich weiß aber auch, dass<br />

die Kinder hier gut aufgehoben sind. Es geht Ihnen<br />

hier so viel besser, als da wo sie herkommen.“<br />

42 <strong>Festschrift</strong> <strong>Festschrift</strong> 43


Jugendhilfe im Wandel<br />

An der Geschichte <strong>und</strong> Entwicklung der<br />

Evangelischen Jugendhilfe Gelsenkirchen<br />

wird der Wandel in der Zielsetzung <strong>und</strong> den<br />

Schwerpunkten der pädagogischen Arbeit<br />

sichtbar <strong>und</strong> deutlich.<br />

W<br />

as im Jahre 1910 mit ehrenamtlichem Engagement<br />

als Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung für „gefährdete<br />

Mädchen“ begann, hat sich in der heutigen<br />

Zeit zu differenzierten <strong>und</strong> sogenannten „passgenauen“<br />

Hilfsangeboten durch hauptamtliche <strong>und</strong> fachlich<br />

qualifizierte Mitarbeitende für Kinder, Jugendliche<br />

<strong>und</strong> Familien entwickelt.<br />

So wurde bereits im Jahre 1986 die erste Außenwohngruppe<br />

des Ev. Kinder- <strong>und</strong> Jugendhauses in<br />

Gelsenkirchen-Buer eröffnet. Ziel war es, den Kindern<br />

in einem eigenen Haus <strong>und</strong> somit überschaubaren<br />

Lebensumfeld ein Aufwachsen in einer familienähnlichen<br />

Atmosphäre zu ermöglichen.<br />

In den Folgejahren bezogen weitere Gruppen der<br />

Einrichtung eigene Häuser <strong>und</strong> das ursprüngliche Kinderheimgebäude<br />

in Gelsenkirchen-Schalke wandelte<br />

sich von einem Lebensort für ehemals insgesamt<br />

76 Kinder <strong>und</strong> Jugendliche zu einem Familienhilfecentrum<br />

mit differenzierten Angeboten für Kinder,<br />

Jugendliche <strong>und</strong> Familien.<br />

Heute finden in diesem Gebäude 10 Kinder aus<br />

familiären Krisensituationen vorübergehend Schutz<br />

<strong>und</strong> Orientierung in der Diagnosegruppe. Des weiteren<br />

bieten 3 Wohnbereiche mit jeweils 3 bzw. 4<br />

Wohneinheiten Hilfe, Unterstützung <strong>und</strong> Förderung<br />

für insgesamt 10 schwangere bzw. junge Mütter/<br />

Väter mit ihrem Säugling oder Kleinkind im Rahmen<br />

der Mutter-Vater-Kind-Betreuung. Um den Müttern/<br />

Vätern neben einer gezielten Anleitung zur Förderung<br />

ihrer Kinder Entlastung wie auch z.B. den weiteren<br />

Schulbesuch zu ermöglichen, wurde in der ehemalige<br />

Großküche eine Krabbelgruppe eingerichtet, die eine<br />

Betreuung <strong>und</strong> Versorgung der Säuglinge <strong>und</strong> Klein<strong>kinder</strong><br />

montags bis freitags in der Zeit von 7.00 bis<br />

19.00 Uhr ermöglicht. Ältere Kinder können aus der<br />

Krabbelgruppe in den im selben Gebäude beheimateten<br />

Kindergarten <strong>und</strong> das Familienzentrum „Förderkörbchen“<br />

wechseln, in dem insgesamt 70 Kinder aus<br />

dem Ortsteil Schalke betreut <strong>und</strong> gefördert werden.<br />

Auch hier wird die Krabbelgruppe wie der Kindergarten<br />

von Müttern/Vätern nach ihrem Auszug aus der<br />

Einrichtung <strong>und</strong> dem Bezug einer eigenen Wohnung in<br />

der Nachbarschaft gerne weiter genutzt.<br />

Abger<strong>und</strong>et wird das Angebot des Familienhilfecentrums<br />

durch als Mieter im Hause befindliche Praxen<br />

für interdisziplinäre Frühförderung <strong>und</strong> Heilpädagogik<br />

wie auch für Logopädie, die eine gezielte Förderung<br />

von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen wie auch Erwachsenen<br />

mit kurzen Wegen vor Ort ermöglicht.<br />

Insgesamt werden im Ev. Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus<br />

153 Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen <strong>und</strong><br />

Familien aus dem gesamten Ruhrgebiet differenzierte<br />

stationäre <strong>und</strong> ambulante Hilfen im Rahmen der Kinder-<br />

<strong>und</strong> Jugendhilfe an Standorten in Gelsenkirchen-<br />

Schalke, Gelsenkirchen-Buer, Gelsenkirchen-Heßler,<br />

Gelenkirchen-Erle, Gelsenkirchen-Ückendorf, Bochum-<br />

Wattenscheid <strong>und</strong> Bochum-Ehrenfeld angeboten.<br />

44 <strong>Festschrift</strong> <strong>Festschrift</strong> 45


Ein wesentlicher Wandel der Jugendhilfe in den<br />

letzten Jahren besteht darin, nicht mehr nur das Kind<br />

oder den Jugendlichen im Focus zu haben, sondern<br />

in immer stärkerem Maße die Gesamtfamilie <strong>und</strong> das<br />

familiäre Umfeld in die pädagogische Arbeit einzubeziehen.<br />

So wurden Angebote wie das Rendsburger<br />

Elterntraining, die aufsuchende Familientherapie <strong>und</strong><br />

das ambulante Familienclearing stetig ausgebaut.<br />

Weiterhin wurde auf Initiative des Jugendamtes der<br />

Stadt Bochum vom Ev. Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus in<br />

Zusammenarbeit mit der LIFE Jugendhilfe GmbH<br />

2006 ein ambulantes Hilfezentrum in Bochum-Wattenscheid<br />

aufgebaut, das insgesamt mit 12 Mitarbeitern/innen<br />

ca. 90 Familien im Bezirk Wattenscheid im<br />

Rahmen der sozialpädagogischen Familienhilfe <strong>und</strong> in<br />

Form von Projekten <strong>und</strong> Kursen unterstützt <strong>und</strong> begleitet.<br />

Schwerpunkt der Arbeit des ambulanten Hilfezentrums<br />

ist unter Einbeziehung des Sozialraumes<br />

<strong>und</strong> der dort vorhandenen Angebote die Erziehungskompetenz<br />

der Erziehungsberechtigten zu stärken,<br />

die Selbsthilfepotentiale in den Familien zu aktivieren<br />

<strong>und</strong> das Wohl der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen in den Familien<br />

zu sichern. So soll Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

mit diesen Hilfsangeboten das weitere Aufwachsen<br />

in ihrem gewohnten familiären <strong>und</strong> sozialen Umfeld<br />

ermöglicht werden.<br />

Auch in ihrer weiteren Entwicklung wird sich die<br />

Jugendhilfe auf sich verändernde gesellschaftliche<br />

Bedingungen mit ihren Folgen auf die Lebensverhältnisse<br />

von Kindern, Jugendlichen <strong>und</strong> Familien<br />

einstellen müssen. So wird es weiterhin notwendig<br />

sein, in enger <strong>und</strong> vertrauensvoller Zusammenarbeit<br />

mit den zuständigen Jugendämtern die angebotenen<br />

Hilfen regelmäßig auf ihre Wirkung hin zu überprüfen<br />

weiterzuentwickeln <strong>und</strong> neue, bedarfsorientierte<br />

Angebote zu schaffen.<br />

Peter Vorndamme<br />

Leiter des Evangelischen Kinder- <strong>und</strong> Jugenhauses<br />

46 <strong>Festschrift</strong> <strong>Festschrift</strong> 47


Kathrin<br />

Ehemalige Bewohnerin<br />

„Ich glaube, ich kann stolz auf mich sein,<br />

dass ich nicht abgestürzt bin.<br />

M<br />

eine Mutter hat mich mit zweieinhalb Jahren<br />

ins Heim gebracht. Sie hatte einen neuen<br />

Mann. Ich war nicht sein Kind. Da musste ich weg. Sie<br />

war 17 als ich geboren wurde <strong>und</strong> hatte immer viele<br />

Männer. Ich weiß nicht, ob Sie Drogen genommen hat,<br />

das würde aber zu ihr passen. Getrunken hat sie auf<br />

jeden Fall immer viel.<br />

Ich bin in eine Pflegefamilie nach Gelsenkirchen<br />

gekommen. Da war ich etwa 3. In den ersten Jahren<br />

war dort alles ganz normal. Also das, was man als<br />

Pflegekind so als normal empfindet. Dann, nach ein<br />

paar Jahren, sind meine Pflegeeltern auf einmal Zeugen<br />

Jehovas geworden. Besonders mein Pflegevater<br />

war da extrem. Ich stand oft mit ihnen auf der Straße<br />

<strong>und</strong> habe den Wachturm hochgehalten. Zweimal in<br />

der Woche waren Versammlungen in diesem Königreichsaal<br />

<strong>und</strong> einmal in der Woche kam eine Gruppe<br />

von zehn Leuten zum Studium von religiösen Büchern<br />

zu uns nach Hause. Sie haben versucht, mich<br />

in diesem Glauben zu erziehen, aber das hat nicht<br />

geklappt. Ich bin keine Zeugin Jehovas geworden. Ich<br />

war immer schon ein kleiner Rebell. Wenn ich etwas<br />

nicht verstand, wurde ich bockig. Und dann, als ich<br />

so plötzlich von dort weg musste, war es ja sowieso<br />

vorbei mit der Bekehrung.<br />

Meine leibliche Mutter hatte zu dieser Zeit Arbeit in<br />

einem Blumenstand in dem Supermarkt, da wo wir<br />

wohnten. Ich bin dort oft einkaufen gewesen, sie hat<br />

mich gesehen <strong>und</strong> anscheinend die Obermutti in sich<br />

entdeckt. Sie ist zum Jugendamt gegangen, es gab<br />

dort ein Gespräch. Ich glaube, da ging es um diese<br />

Geschichte mit den Bluttransfusionen <strong>und</strong> dass die<br />

Zeugen Jehovas Operationen ablehnen <strong>und</strong> daher ein<br />

Kind dort nicht aufwachsen sollte. Ich musste von<br />

einem Tag auf den anderen wieder ins Heim. Nach<br />

neun Jahren! Das war krass, so plötzlich aus meiner<br />

Familie gerissen zu werden. Ich meine, bei denen war<br />

bestimmt nicht immer alles toll. Ich war damals eine<br />

Außenseiterin, ich hatte eine Jungenfrisur <strong>und</strong> nur<br />

selbstgestrickte Pullis an. Auch ging es dort sehr<br />

streng zu. Aber ich hatte wenigstens eine Familie!<br />

Heute glaube ich, dass mir dieser Halt später sehr<br />

geholfen hat.<br />

Meine Pflegeeltern waren total fertig. Ich erinnere<br />

mich, dass mein Pflegevater geweint hat <strong>und</strong> der war<br />

eigentlich ein harter Klotz. Er war ein ehemaliger<br />

Polizist, nicht gerade einer der Gefühle zeigt. Für mich<br />

war das ein Schock. Ich hatte Angst, so zu werden<br />

wie die Welt, die ich als böse empf<strong>und</strong>en hatte. Ich<br />

hatte plötzlich keinen Schutz mehr.<br />

Nach zwei Monaten in dem Heim in Gladbeck bin ich<br />

dann zu meiner Mutter gezogen. Mir war sofort klar,<br />

dass das nichts Gutes wird. Ich kam mittags dahin<br />

<strong>und</strong> da stand schon Bier auf dem Tisch. Mein Stiefvater<br />

war arbeitslos <strong>und</strong> hat schon morgens getrunken.<br />

Ich hatte ja den Vergleich, meine Pflegemutter<br />

hat höchstens ein Glas Wein im Monat getrunken.<br />

Die Wohnung war sehr klein <strong>und</strong> ich kam zu meinen<br />

Stiefbrüdern in ein enges Zimmer. Die beiden waren<br />

nicht gerade begeistert. Meine Mutter hat mir ein<br />

48 <strong>Festschrift</strong> Porträt 49


paar Wolldecken auf den Boden gelegt. Das war<br />

dann in den nächsten Jahren mein Bett. Bei meinen<br />

Pflegeeltern gab es immer mal Ohrfeigen, aber bei<br />

meiner Mutter hat man richtig was auf die Schnauze<br />

bekommen. Einmal kam meine Mutter abends in<br />

unser Zimmer <strong>und</strong> hat ohne irgendeinen Gr<strong>und</strong> meine<br />

Brüder mit einem Schuh verprügelt. Auf mich hat<br />

sie eingetreten. Das war die blanke Gewalt. Ich habe<br />

auch noch Schlimmeres erlebt. Mein Stiefvater hatte<br />

immer noch Kontakt zu seinem Ex-Schwiegervater,<br />

die Beiden haben immer zusammen getrunken. Zu<br />

dem Schwiegervater haben die mich immer geschickt.<br />

Erst ist da nichts passiert, aber dann, nach<br />

zwei oder drei Besuchen hat der mich missbraucht.<br />

Ich weiß es noch genau. Ich kam danach nach Hause,<br />

meine Mutter stand im Wohnzimmer <strong>und</strong> bügelte. Ich<br />

habe mich so geschämt. Es war für mich nicht leicht<br />

zu erzählen was passiert ist.<br />

Meine Mutter hat kurz zugehört <strong>und</strong><br />

mir direkt ins Gesicht geschlagen!<br />

Ich würde die Familie kaputtmachen. Meine Eltern<br />

haben den Schwiegervater zu uns gerufen, drei<br />

Flaschen Bier auf den Küchentisch gestellt <strong>und</strong> ich<br />

sollte die ganze Geschichte vor diesem Mann wiederholen.<br />

Klar, dass ich da den M<strong>und</strong> nicht aufbekommen<br />

habe. Die haben mir nicht geglaubt <strong>und</strong> mich weiter<br />

zu ihm geschickt.<br />

Auch mein Stiefvater hat mich sexuell belästigt. Er<br />

war Angler <strong>und</strong> manchmal waren wir zum Nachtangeln<br />

am Kanal. Abends hat der mich ins Zelt gebracht<br />

<strong>und</strong> mich da betatscht. Das habe ich meiner Mutter<br />

nicht mehr erzählt, ich wusste ja wie das endet. Beim<br />

nächsten Nachtangeln bin ich weggelaufen <strong>und</strong> habe<br />

mich einer Fre<strong>und</strong>in anvertraut. Ihre Eltern haben<br />

die Polizei gerufen <strong>und</strong> die haben meinen Stiefvater<br />

mitgenommen. Da hat sich meine Mutter endlich von<br />

ihm getrennt <strong>und</strong> wir sind nach Essen gezogen. Sie<br />

hat mir versprochen, dass dieser Mann nie wieder unsere<br />

Wohnung betritt. Aber schon nach 4 Wochen saß<br />

der wieder bei uns rum mit seinen Tüten voller Bier.<br />

Da habe ich fast einen Herzinfarkt bekommen. Mit<br />

meiner Mutter <strong>und</strong> meinem Stiefvater ging das oft hin<br />

<strong>und</strong> her. Meine Mutter trennte sich, war kurz weg <strong>und</strong><br />

hat sich dann wieder von ihm bequatschen lassen.<br />

Wir sind bestimmt sieben Mal im Frauenhaus gewesen.<br />

Ich bin in dieser Zeit immer wieder<br />

weggelaufen. Ich wollte da nur weg.<br />

Mir wäre es egal gewesen wenn sie<br />

mich erwischt <strong>und</strong> totgeschlagen<br />

hätten. Dann hätte die Sache wenigstens<br />

ein Ende gehabt.<br />

Mein Glück war, dass ich von der Mädchenschutzstelle<br />

erfahren habe. Da bin ich hin. Endlich hatte ich<br />

Ruhe. Ich wusste, dass mir nichts mehr passieren<br />

konnte. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass es eine<br />

solche Hilfe gibt, wäre ich dort schon viel früher hin<br />

gegangen.<br />

Die Mädchenschutzstelle ist leider nur für den Übergang<br />

<strong>und</strong> nach drei Monaten kam ich in ein katholisches<br />

Heim nach Gelsenkirchen. Die Betreuer dort<br />

haben gegen alles gemeckert was ich gemacht habe.<br />

Sogar Taschenkontrollen gab es dort. Das ging für<br />

mich gar nicht. Ich will frei sein. Die hatten was gegen<br />

meinen Fre<strong>und</strong>, der war ja auch viel älter <strong>und</strong> hatte<br />

mit Drogen zu tun. Ich habe dort zwei Jahre nur Theater<br />

gemacht. Als ich ging, war ich nicht traurig <strong>und</strong><br />

die Betreuer dort bestimmt auch nicht.<br />

Von dort kam ich in die Schlosserstraße. Hier war<br />

plötzlich alles ganz anders für mich. Die Betreuer<br />

haben mir vertraut, sie haben mir zugehört. Ich hatte<br />

viel mehr Freiheiten, ich konnte länger draußen<br />

bleiben, bekam Taschengeld. Ich habe mich ernst<br />

genommen gefühlt.<br />

Hier hat mich niemand bequatscht<br />

oder gesagt was ich zu tun oder<br />

zu lassen habe. Das hasse ich, das<br />

macht mich aggressiv. Ich will meine<br />

Fehler selber machen <strong>und</strong> daraus<br />

lernen.<br />

Ab sechzehn war ich in der Verselbständigung, das<br />

heißt ich musste für mich selbst sorgen, mein eigenes<br />

Essen kochen <strong>und</strong> alleine mein Geld einteilen.<br />

Mit 18 bin ich ausgezogen, <strong>und</strong> habe kurz eine Verkäuferinnenlehre<br />

in einer Bäckerei angefangen, bin da<br />

aber schon nach zwei Tagen rausgeflogen. Das war<br />

einfach nichts für mich, ich will nicht bis an mein<br />

Lebensende Kekse verkaufen. Aus der Jugendhilfe<br />

war ich damit raus.<br />

Danach habe ich jeden Job gemacht, den ich bekommen<br />

konnte, um ja nicht von Sozialhilfe abhängig<br />

zu sein. Ich will nicht enden, wie meine Mutter. Ich<br />

habe gekellnert, in Autowerkstätten gearbeitet, <strong>und</strong><br />

für alle möglichen Produkte Promotion gemacht.<br />

Aus einem dieser Promotionjobs ist eine Festanstellung<br />

geworden. Jetzt arbeite ich in einem Kaufhaus<br />

auf der Düsseldorfer Königsallee <strong>und</strong> bin dort sehr<br />

glücklich. Ich habe einen tollen Mann geheiratet habe<br />

die besten Schwiegereltern der Welt. Endlich habe ich<br />

eine richtige Familie. Endlich bin ich frei.<br />

Heute denke ich, dass das, was war,<br />

dieser ganze Mist, der mir passiert<br />

ist, der Preis war, den ich für mein<br />

heutiges Glück zahlen musste.“<br />

50 <strong>Festschrift</strong> Porträt 51


Dr. Norbert Lammert<br />

Pate<br />

U<br />

nter den vielen wichtigen Einrichtungen <strong>und</strong><br />

Projekten der Evangelischen Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

fühle ich mich besonders dem Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhaus in Bochum verb<strong>und</strong>en, vor allem, weil<br />

ich die Arbeit dieses Hauses in besonderer Weise zu<br />

schätzen lernte.<br />

Dank der vielfältigen <strong>und</strong> differenzierten Angebote<br />

des Evangelischen Kinder- <strong>und</strong> Jugendhauses werden<br />

Familien auch <strong>und</strong> gerade in schwierigen Situationen<br />

unterstützt. Als Ältester von sieben Geschwistern,<br />

<strong>und</strong> als Vater von vier Kindern, weiß ich, wie<br />

wichtig Familie für das Wohlergehen <strong>und</strong> die ges<strong>und</strong>e<br />

Entwicklung von Kindern ist. Familien bekommen im<br />

Bochumer Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus professionelle<br />

Hilfe, um schwierige, manche überfordernde Lebenssituationen<br />

zu meistern.<br />

Obwohl ich bei der praktischen, alltäglichen Arbeit<br />

des Hauses nicht mitwirken kann, hoffe ich, dass ich<br />

mit meiner Patenschaft das Engagement, das hier<br />

im Windschatten der Öffentlichkeit geleistet wird,<br />

unterstützen kann. Ich freue mich, wenn ich somit<br />

wenigstens einen kleinen Beitrag dazu leisten kann,<br />

die sozialen Einrichtungen aus der manchmal stiefmütterlichen<br />

Wahrnehmung herauszuholen <strong>und</strong> Ihre<br />

wertvolle Arbeit mit großem Respekt zu würdigen.<br />

Zum 100. Jubiläum der Evangelischen Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhilfe gratuliere ich herzlich. Für das langjährige<br />

soziale Engagement der Einrichtung <strong>und</strong> Ihrer<br />

Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter bedanke ich mich,<br />

<strong>und</strong> zum stolzen Jubiläum wünsche ich alles Gute.<br />

Dr. Norbert Lammert<br />

Präsident des Deutschen B<strong>und</strong>estages<br />

52 <strong>Festschrift</strong> Die Paten 53


Jens Lehmann<br />

Pate<br />

I<br />

ch komme aus Essen, glücklicherweise aus einer<br />

„ sehr behüteten, deutschen Mittelstandsfamilie.<br />

Ich bin viel mit Kindern zusammen gekommen,<br />

die wesentlich weniger, aber auch mit solchen, die<br />

wesentlich mehr als ich hatten. Das war für mich<br />

Motivation <strong>und</strong> Anreiz. Ich habe mir gesagt, dass du,<br />

wenn du ein einigermaßen schönes Leben haben<br />

willst, etwas dafür tun musst. Egal, ob im Fußball,<br />

oder in meinem sonstigen Leben.<br />

Irgendwann sind eigene Kinder in mein Leben gekommen.<br />

Da lag der Wunsch nahe, zu erfahren, wie die<br />

andere Seite aussieht, bei Familien denen es nicht so<br />

gut geht. Familien, die durch ihre soziale Benachteiligung<br />

Situationen erleben, die man sich als Mensch,<br />

der aus relativ behüteten Verhältnissen kommt, gar<br />

nicht so vorstellen kann. Deshalb habe ich mich, als<br />

mich Peter Vorndamme ansprach, gerne als Pate<br />

engagiert.<br />

Ich denke, dass die Familie die wichtigste Institution<br />

unserer Gesellschaft ist. Kinder, egal ob benachteiligt<br />

oder nicht, werden mal unsere Gesellschaft ausmachen,<br />

sie werden die Stützpfeiler unseres Zusammenlebens<br />

sein.<br />

Den Kindern, von denen wir erwarten, dass sie uns<br />

als Rentner, als alte Leute, beschützen <strong>und</strong> respektvoll<br />

behandeln, müssen wir eine Jugend geben, die<br />

genau das beinhaltet: Respekt <strong>und</strong> Schutz. Mir ist es<br />

ein Anliegen, dass auch die, die benachteiligt sind,<br />

normal <strong>und</strong> gut aufwachsen können. Kinder müssen<br />

lernen, respektvoll <strong>und</strong> vorsichtig mit ihrer Umwelt<br />

<strong>und</strong> den Mitmenschen umzugehen. Wenn wir uns<br />

heute nicht genau darum kümmern, dann bekommen<br />

wir in 20-30 Jahren eine Gesellschaft, die wir<br />

uns vielleicht nicht wünschen.<br />

Meinen Kindern versuche ich dies durch eine Mischung<br />

aus Strenge <strong>und</strong> Lässigkeit zu vermitteln. Für<br />

mich ist besonders wichtig, dass sie sich sozial gut in<br />

ihr Umfeld einfügen. Dass sie sich vor allem gegenüber<br />

Kindern, die weniger haben, immer respektvoll<br />

zeigen. Aber auch, dass sie sich gegenüber Kindern<br />

die mehr als sie selbst haben, tolerant verhalten. Das<br />

ist zum Beispiel der Gr<strong>und</strong>, weshalb meine Kinder im<br />

Fußballverein spielen. Bei einer Mannschaftssportart<br />

lernt man schnell, andere anzunehmen <strong>und</strong> zu<br />

tolerieren.<br />

Ich habe viele wichtige Dinge in meinem Leben durch<br />

den Fußball gelernt. Und durch eine gute Erziehung,<br />

die ich von zuhause aus mitbekommen habe.<br />

Die Siege sind leider immer nur kurze Augenblicke.<br />

Hinterher weiß man aber, wofür man so hart trainiert<br />

<strong>und</strong> sich diszipliniert hat. Das ist eine gute Schule<br />

für das Leben. Die Niederlagen sind aber noch viel<br />

lehrreicher, weil man da, wenn man einigermaßen<br />

gut reflektieren kann, schnell lernt, was man falsch<br />

gemacht hat.<br />

Ich glaube, Kinder sollten lernen, sich in eine Sache,<br />

die Ihnen Freude macht, so richtig reinzuhängen.<br />

Auch wenn es manchmal mit Mühsal verb<strong>und</strong>en ist.“<br />

Jens Lehmann<br />

Fußballprofi<br />

54 <strong>Festschrift</strong> Die Paten 55


Tim Lotter<br />

Mitarbeiter<br />

„Ich glaube gute Sozialarbeiter haben vor<br />

allem eins: Spaß an ihrem Beruf.<br />

M<br />

ein erster Beruf war Tischler. Ich habe eine<br />

Lehre gemacht <strong>und</strong> auch abgeschlossen. Der<br />

Bau war aber nichts für mich. Der Umgang dort war<br />

mir viel zu rauh. Das wollte ich auf keinen Fall mein<br />

Leben lang machen.<br />

Mir war klar, dass ich mit Menschen arbeiten will <strong>und</strong><br />

so habe ich mein Fachabitur nachgemacht, um Sozialarbeit<br />

studieren zu können. Für die Fachoberschule<br />

braucht man ein einjähriges Praktikum. Ich habe<br />

mich hier im Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus beworben <strong>und</strong><br />

konnte in der Bergstraße in einer Kinderwohngruppe<br />

anfangen. Zuerst habe ich dort noch keine wichtigen<br />

Aufgaben bekommen. Aber sehr bald habe ich auch<br />

richtig mithelfen können. Ich habe Kinder zum Arzt<br />

begleitet oder bei den Hausaufgaben geholfen. Das hat<br />

mir großen Spaß gemacht. Die Schule fiel mir danach<br />

leicht, weil ich wusste wo ich hin wollte.<br />

Nach dem Fachabitur konnte ich auch meinen Zivildienst<br />

hier im Haus ableisten. Mein Glück war, dass<br />

ich bei meinem Praktikum schon Erfahrungen im<br />

pädagogischen Bereich sammeln konnte. Ich brauchte<br />

daher nie diese handwerklichen Aushilfsaufgaben<br />

erledigen, die normalerweise für Zivis übrig bleiben.<br />

Ich konnte sofort in der Betreuung anfangen. Meine<br />

Kollegen haben mich dort in die Gruppe sehr gut<br />

eingeführt. Den Kindern wurde sofort vermittelt, dass<br />

mein Wort genauso galt, wie das, der erfahrenen Kollegen.<br />

Ich erinnere mich gut, dass ich anfangs ein wenig<br />

Angst hatte mich ganz auf dieKinder einzulassen,<br />

weil meine Zeit in der Gruppe ja sehr begrenzt war.<br />

Von der Fachhochschule habe ich mir, ehrlich gesagt,<br />

mehr erhofft. Mir gibt es da zuviel Theorie, die mir<br />

hier im Alltag mit den Kindern wenig bringt. Die praktischen<br />

Inhalte an der Uni helfen mir dagegen sehr. Es<br />

gibt Seminare über Körpersprache <strong>und</strong> Rollenspiele.<br />

Da habe ich viel über mich <strong>und</strong> meine Wahrnehmung<br />

lernen können. Ich glaube, gute Sozialarbeiter haben<br />

vor allem eins: Spaß an ihrem Beruf. Als ich Tischler<br />

war hatte ich jeden morgen Bauchweh. Jetzt gehe<br />

ich voller Freude zur Arbeit <strong>und</strong> ich glaube, die Kinder<br />

merken das.<br />

Die Arbeit kann aber auch frustrieren. Ich habe mal<br />

einen Jugendlichen begleitet, der gerade aus dem<br />

Heim ausgezogen war <strong>und</strong> während seiner ersten<br />

Schritte in der Erwachsenenwelt noch betreut wurde.<br />

Das war für mich ein ziemliches Auf <strong>und</strong> Ab zwischen<br />

Hoffen <strong>und</strong> Frust. Wir haben dem Jungen eine<br />

Lehrstelle besorgen können <strong>und</strong> er hat sehr motiviert<br />

begonnen. Dann fing aber schnell das Verschlafen<br />

an, es gab Krankenscheine <strong>und</strong> schlussendlich hat<br />

er alles hingeworfen. Er bekam eine Chance nach<br />

der anderen <strong>und</strong> hat keine dieser Chancen nutzen<br />

können. Das habe ich nicht verstehen können. Das hat<br />

mich wirklich geärgert.<br />

Ich denke, viele Jugendliche haben überhaupt kein<br />

Ziel. Ihnen fehlt jegliche Motivation, ihr Leben zu<br />

verbessern. Vielleicht liegt es daran, dass es viele von<br />

Zuhause nicht anders kennen, weil da auch immer<br />

alles vom nur Staat kommt. Ich denke, wir Sozialarbeiter<br />

müssen versuchen solche Strukturen zu<br />

durchbrechen.“<br />

56 <strong>Festschrift</strong> Porträt 57


Der Aufsichtsrat<br />

2010<br />

Klaus-Dieter Salinga<br />

Dr. Karl Bosold<br />

Robert Schwager<br />

Pfr. Ernst Klein<br />

Norbert Bachstein<br />

Renate Nessit<br />

Michael Kramp<br />

(v. l. n. r.)<br />

58 <strong>Festschrift</strong> Aufsichtsrat 59


Impressum<br />

Herausgeber:<br />

Ev. Kinder- <strong>und</strong> Jugendhaus gGmbH<br />

Centrumplatz 2<br />

44866 Bochum<br />

www.ev-kjh.de<br />

Fotos <strong>und</strong> Texte der Porträts:<br />

Martin Steffen, Bochum<br />

www.martinsteffen.com<br />

(bis auf S. 4, 6, 8, 10, 18-20)<br />

Gestaltung:<br />

Oktober Kommunikationsdesign GmbH, Bochum<br />

www.oktober.de<br />

Druck:<br />

tarcom GmbH, Gelsenkirchen<br />

www.tarcom.de<br />

Auflage: 2.000 Stück<br />

Bochum, April 2010<br />

60 Impressum


Centrumplatz 2 | 44866 Bochum | www.ev-kjh.de

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