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Wenn die Einzelkatze reden könnte - caet.ch

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Brisant<br />

merkst du gar ni<strong>ch</strong>t, ob i<strong>ch</strong> zu Hause bin oder<br />

ni<strong>ch</strong>t. Und wenn i<strong>ch</strong> mal eine Na<strong>ch</strong>t wegbleibe<br />

– das geht au<strong>ch</strong> wieder vorbei. Trotzdem<br />

pinkelst du mir in <strong>die</strong> Wohnung. Du bist<br />

wohl ein Fall für den Katzenpsy<strong>ch</strong>iater.“ Diese<br />

„Korrespondenz“ ging über Jahre hin und<br />

her. Die Fellfreundin wollte etwas eindrückli<strong>ch</strong><br />

sagen, das ihre zweibeinige Mitbewohnerin<br />

ni<strong>ch</strong>t verstand. In ihrer Hilflosigkeit erhöhte<br />

<strong>die</strong> Katze ihre Pinkelattacken von Wo<strong>ch</strong>e zu<br />

Wo<strong>ch</strong>e. Die Nerven der Katzenfreundin lagen<br />

blank. Die stereotype Wohlstandseinri<strong>ch</strong>tung<br />

war inzwis<strong>ch</strong>en ramponiert.<br />

I<strong>ch</strong> hielt Kus<strong>ch</strong>el trotz allem <strong>die</strong> Treue und sie<br />

mir notgedrungen ebenfalls. Hätte sie Freilauf<br />

gehabt, sie hätte mir wohl den Rücken für immer<br />

und ewig gekehrt, wer weiss. Na<strong>ch</strong> drei<br />

Jahren „Rosenkrieg“ we<strong>ch</strong>selte i<strong>ch</strong> mit Kus<strong>ch</strong>el<br />

freudig erregt mein Domizil: 5 1 /2 Zimmer,<br />

drei Balkone, alle eingezäunt, mit Kletterund<br />

Kratzgelegenheit, <strong>die</strong> Fenster katzensi<strong>ch</strong>er<br />

vergittert. Katzenherz, was begehrst du mehr?<br />

Meine berufli<strong>ch</strong>en Aktivitäten nahmen no<strong>ch</strong>mals<br />

an Zeitintensität zu, und mein Privatleben<br />

erfuhr eine Wende, sodass i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> hier mehr<br />

denn je engagiert war. Hinzu kamen tageund<br />

wo<strong>ch</strong>enendweise Abwesenheiten. Zweimal<br />

tägli<strong>ch</strong> eine Fütterung und einige Strei<strong>ch</strong>eleinheiten<br />

von fremder Hand waren<br />

während <strong>die</strong>ser Absenzen meine „grosszügige<br />

Geste“ an meine pelzige Herzensdame,<br />

denn es sollte ihr ja an ni<strong>ch</strong>ts fehlen. Sie ihrerseits<br />

s<strong>ch</strong>rieb mir am neuen Domizil ni<strong>ch</strong>t<br />

nur Briefe, sondern halbe Romane, <strong>die</strong> sie in<br />

der ganzen Wohnung – unter ihren persönli<strong>ch</strong>en<br />

kätzis<strong>ch</strong>en Gesi<strong>ch</strong>tspunkten sorgfältig<br />

ausgewählt – „deponierte“. I<strong>ch</strong> verstand <strong>die</strong><br />

Welt ni<strong>ch</strong>t mehr.<br />

Die Wende<br />

Foto: J. C. Mi<strong>ch</strong>el<br />

Mir dämmerte es erst, wo das Problem lag, als<br />

i<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>ritt in <strong>die</strong> Selbstständigkeit wagte<br />

und meine berufli<strong>ch</strong>en Aktivitäten ins Haus<br />

verlegte. Kus<strong>ch</strong>el s<strong>ch</strong>rieb fortan keinen einzigen<br />

Brief mehr an mi<strong>ch</strong> – no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mal eine<br />

s<strong>ch</strong>nöde Postkarte. Stattdessen lernte sie den<br />

PC beherrs<strong>ch</strong>en, lös<strong>ch</strong>te Text, den sie für ni<strong>ch</strong>t<br />

gut befand, wärmte meine Knie au<strong>ch</strong> bei<br />

30 Grad im S<strong>ch</strong>atten, ma<strong>ch</strong>te zirkusreife Purzelbäume<br />

unterm S<strong>ch</strong>reibtis<strong>ch</strong>, spickte mir <strong>die</strong><br />

Fellmaus in den Kaffee, frisierte mein Haupthaar,<br />

funktionierte mi<strong>ch</strong> zu ihrem Kratzbaum<br />

um, redete ununterbro<strong>ch</strong>en auf mi<strong>ch</strong> ein, als<br />

wolle sie fünf verpasste Jahre na<strong>ch</strong>holen, und<br />

probierte von Rhabarberku<strong>ch</strong>en bis zu Grünkohl<br />

mit Pinkel (für Ni<strong>ch</strong>tkundige: eine spezielle<br />

Wurst aus Norddeuts<strong>ch</strong>land) <strong>die</strong> ganze<br />

kulinaris<strong>ch</strong>e Palette von meinem Teller. Kus<strong>ch</strong>el<br />

trug fortan ein breites, sattes Lä<strong>ch</strong>eln auf<br />

dem Gesi<strong>ch</strong>t. „Endli<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong> – du hast verstanden!“<br />

Foto: Maudi<br />

Nur ein Fall von Tausenden<br />

Was i<strong>ch</strong> Ihnen hier so locker erzählt habe, ist<br />

ein todernstes Kapitel: Die Haltung einer einzelnen<br />

Katze bei voller Berufstätigkeit kommt<br />

einer Einzelhaft glei<strong>ch</strong>. Das sehe i<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />

meinen Jugendsünden ganz klar; für mi<strong>ch</strong> käme<br />

niemals mehr <strong>die</strong> Haltung einer einzigen<br />

Katze infrage. Und selbst dann ni<strong>ch</strong>t, wenn<br />

i<strong>ch</strong> in <strong>die</strong> wohlver<strong>die</strong>nte Pension ginge. Die<br />

Mehrkatzenhaltung ist einfa<strong>ch</strong> im Hinblick auf<br />

das Tier artgere<strong>ch</strong>ter (und übrigens au<strong>ch</strong> für<br />

dessen Besitzer/in eine viel spannendere Angelegenheit).<br />

Mir fehlen zwar statistis<strong>ch</strong>e Zahlen,<br />

do<strong>ch</strong> ist davon auszugehen, dass unzählige<br />

<strong>Einzelkatze</strong>n in Haushalten leben und<br />

den ganzen Tag ni<strong>ch</strong>t betreut werden. Das<br />

führt zwangsläufig zu Vereinsamung, Stumpfsinn,<br />

absonderli<strong>ch</strong>em Verhalten, Ersatzhandlungen,<br />

mitunter seelis<strong>ch</strong> ausgelösten Krankheiten<br />

oder vielfa<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> zu Unsauberkeit,<br />

wie Sie aus meinem Beri<strong>ch</strong>t erfahren konnten.<br />

Foto: C. Kasper<br />

Das Wildtier Katze hat eine gewaltige Leistung<br />

vollbra<strong>ch</strong>t, um vom unabhängigen Jäger<br />

zum abhängigen Stubenfreund zu mutieren,<br />

der in vielen Fällen in <strong>die</strong> Rolle als Kinder- oder<br />

Partnerersatz ruts<strong>ch</strong>t und so im weitesten Sinne<br />

zur Lebenshilfe wird. Allein s<strong>ch</strong>on aus <strong>die</strong>sem<br />

Grund hat <strong>die</strong> Katze es ver<strong>die</strong>nt, dass der<br />

Mens<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ihren tieris<strong>ch</strong>en Bedürfnissen<br />

gere<strong>ch</strong>t wird. Denn trotz ihrer Domestikation<br />

ist sie tief in ihrem Innern ein Wildtier geblieben,<br />

was man ja uns<strong>ch</strong>wer an Katzen mit<br />

Freilauf feststellen kann, wenn es ums Jagdverhalten<br />

geht. Wie will sie ihre vielfältige Körperspra<strong>ch</strong>e<br />

einsetzen, wenn sie für den Rest<br />

ihres Lebens keinen Artgenossen hat? Zugegeben,<br />

sie tut es in gewissem Masse im Zusammenleben<br />

mit dem Mens<strong>ch</strong>en. Do<strong>ch</strong> wie<br />

will sie mit ihm „<strong>reden</strong>“, wenn er nie zu Hause<br />

ist? Wie will der Mens<strong>ch</strong> im Gegenzug <strong>die</strong><br />

Psy<strong>ch</strong>e der Katze sowie ihre rei<strong>ch</strong>haltige Gebärdenspra<strong>ch</strong>e<br />

und Lautäusserungen interpretieren<br />

lernen, wenn er sie nur zwis<strong>ch</strong>en „Tag<br />

und Traum“ zu Hause antrifft, wo allabendli<strong>ch</strong><br />

unzählige Aktivitäten seine s<strong>ch</strong>male Freizeit in<br />

Anspru<strong>ch</strong> nehmen? Wie will <strong>die</strong> Katze ihr Defizit<br />

an Erkundungsdrang wettma<strong>ch</strong>en, wenn<br />

Dieser Beitrag ers<strong>ch</strong>ien im Katzen Magazin 5/2005. Er ist urheberre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ützt.<br />

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