60*61*62*63*64*66*67*68*72*73*74*75*77*78*79*80 - Schauspiel ...
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80 kein schiff wird kommen<br />
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Nis Momme-Stockmann,<br />
1981 auf Föhr geboren, studierte Nis-Momme Stockmann ,Sprache<br />
und Kultur Tibets’ in Hamburg, Medienwissenschaften im dänischen<br />
Odense und machte eine Ausbildung zum Koch, bevor er an der<br />
Universität der Künste Berlin ,Szenisches Schreiben‘ studierte.<br />
2005 gewann er beim internationalen Filmfestival in Odense den<br />
1. Preis für seinen Kurzfilm ignorans.<br />
Mit seinem Stück der mann der die welt ass wurde Stockmann<br />
beim Heidelberger Stückemarkt 2009 mit dem Haupt- und Publikumspreis<br />
ausgezeichnet. Das prämierte Stück wurde am 17. Dezember<br />
2009 in Heidelberg uraufgeführt. Es folgen Inszenierungen am<br />
Theater Magdeburg, am Theater Basel und am <strong>Schauspiel</strong>haus Wien.<br />
Beim Berliner Stückemarkt reüssierte das Stück ebenfalls – die Jury<br />
verlieh dem Autor den Werkauftrag des ,tt Stückemarkts Berlin‘, verbunden<br />
mit der Uraufführung am <strong>Schauspiel</strong> Stuttgart. kein schiff<br />
wird kommen ist das Auftragsstück, das nach der Uraufführung<br />
im Depot von Radio Bremen auch als Hörspiel produziert wird.<br />
Gemeinsam mit vier weiteren Autoren ist Nis-Momme Stockmann<br />
außerdem ab September 2009 Stipendiat des von Thomas Jonigk<br />
geleiteten Düsseldorfer Autorenlabors sowie für drei Spielzeiten<br />
Hausautor am <strong>Schauspiel</strong> Frankfurt. Stockmann schreibt Theaterstücke,<br />
Hörspiele, Lyrik und Prosa.
KEIN SCHIFF WIRD KOMMEN<br />
> von Nis-MoMMe Stockmann <<br />
uraufführung<br />
werkauftrag des theatertreffen-stückemarktes 09,<br />
gestiftet von der bundeszentrale für politische bildung<br />
Premiere am 19. Februar 2010 im Depot<br />
Spieldauer ca. 1:35 Stunden<br />
Keine Pause<br />
Aufführungsrechte bei schaefersphilippen Theater & Medien<br />
www.staatstheater-stuttgart.de
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
Besetzung<br />
mit<br />
Matthias Kelle<br />
Lisa Wildmann<br />
Jens Winterstein<br />
regie<br />
bühne und kostüme<br />
dramaturgie<br />
regieassistenz<br />
bühnenbildassistenz<br />
kostümassistenz<br />
inspizienz<br />
souffleuse<br />
regie- und<br />
dramaturgiehospitanz<br />
Annette Pullen<br />
Iris Kraft<br />
Kekke Schmidt<br />
Brighid Möller<br />
Lisa Marie Rohde<br />
Döndü Toprak<br />
Hans Beck<br />
Jutta Blumenthal-Munz<br />
Marion Geiger<br />
Technische Direktion: Karl-Heinz Mittelstädt // Technische Direktion<br />
<strong>Schauspiel</strong>: Reiner Darr // Technische Einrichtung: Manuel Willi // Licht:<br />
Andreas Schad // Ton: Thomas Tinkl // Video: Robert Seidel // Requisite:<br />
Uwe Puschmann // Leitung Dekorationswerkstätten: Bernhard Leykauf //<br />
Technische Produktionsbetreuung: Monika Höger // Malsaal: Maik Sinz //<br />
Bildhauerei: Maik Glemser // Dekorationsabteilung: Donald Pohl //<br />
Schreinerei: Frank Schauss // Schlosserei: Patrick Knopke // Leitung<br />
Maske: Heinz Schary // Maske: Bettina Löffler // Kostümdirektion:<br />
Werner Pick // Produktionsleitung Kostüme: Beatrix Lorber //<br />
Gewandmeisterinnen: Renate Jeschke (Damen), Anna Volk (Herren) //<br />
Färberei: Martina Lutz // Modisterei: Eike Schnatmann // Kunstgewerbe:<br />
Verena Bähr, Alfred Budenz<br />
s: 4 ˚ s: 5 ˚
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
Kein SchiFF wiRD koMMen<br />
Ein junger Mann fährt übers Meer, in seine Heimat. Man erwartet<br />
kurz ein poetisches Sujet – und wird zuverlässig enttäuscht. So<br />
wie schon der Titel irreführend poetisch klingt, weil man die<br />
Negation nicht mit liest, oder weil sie die Poesie im Klang nicht<br />
abschwächen will. Aber spätestens der Satz »Ich sehe mich und<br />
wie sehr es mich ankotzt« holt uns zurück auf den harten Boden<br />
der Tatsachen, oder auf das prosaische Deck einer Fähre, die nicht<br />
mal untergehen kann, so flach ist die Fahrrinne; die Geräusche<br />
macht wie eine Spülmaschine und die nicht paradiesische Inselreiche<br />
miteinander verbindet, sondern bloß Föhr mit dem nordfriesischen<br />
Festland. Die Haltung des jungen Mannes ist trotzig mehr als zornig,<br />
man könnte auch sagen: genervt. Ihm steht der Besuch beim<br />
Vater bevor, dem er sich überlegen fühlt, ohne darum vor den<br />
Reflexen des ewigen Kindes gefeit zu sein: Die beste Absicht, ,nett<br />
zu sein‘, muss kapitulieren vor den Wiedererkennungseffekten und<br />
Wiederholungszwängen – man hat das alles tausendmal erlebt:<br />
dieselben Sprüche, dieselbe Anbiederung, derselbe Rückzug beim<br />
ersten Streit, dann das Mitleid, der Ekel vor dem Mitleid, vor dem<br />
nur noch die gemeinsame Sauferei schützt. Sich selber am<br />
aller schlechtesten fühlen, weil man souverän sein müsste: als<br />
,Studierter‘, als Autor, der man geworden ist im fernen Berlin,<br />
als Jüngerer, der in die Verantwortungsrolle für den Vater hineinwächst<br />
– und aber nicht souverän ist, sich vielmehr ertappt, wieder<br />
dreizehn zu sein, in den alten Tonfall zu rutschen.<br />
kein schiff wird kommen ist eine Familiengeschichte, eine Geschichte<br />
darüber, dass man der Familie nicht entrinnt. Kaum hat<br />
die Insel ihn wieder – und das Bild der Insel, so real seine Hintergründe<br />
auch sein mögen, verstärkt den klaustrophobischen Aspekt,<br />
fühlt sich der namenlose junge Autor in der Kindheitsfalle. Der<br />
Vater mit seiner hilflosen Liebe lastet auf ihm, um so mehr, als er<br />
erkennen muss, dass dieser ,einfache Mann‘ oftmals recht hat mit<br />
seinem gesunden Menschenverstand, auch wenn er den Kulturbetrieb<br />
nicht kennt.<br />
Das ist das zweite große Thema des Stückes: der Kulturbetrieb, die<br />
Theaterszene, ,der Markt‘, wie der Protagonist in ohnmächtiger<br />
Wut die Mechanismen zusammenfasst, denen er sich als ehrgeiziger,<br />
aufstrebender Autor ausgeliefert fühlt: Bloß weil gerade ,Wende-<br />
Jubiläum‘ ist, soll er ein Wende-Stück schreiben, und empfindet<br />
die Wende ungefähr so weit von sich wie »1848 oder das tausend-<br />
s: 6 ˚ s: 7 ˚
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
jährige Reich«. So ehrlich und so selbstbewusst ist er, dass er diese<br />
Gleichgültigkeit vor sich und damit vor uns, die wir Zeugen seiner<br />
Monologe werden, auch offen zugibt. 1989 und die Fragen, die<br />
sich daran knüpfen, ist der Anlass, der ihn auf die Insel führt, und<br />
1989 erweist sich zugleich als entscheidendes Jahr in der Familiengeschichte.<br />
Ob die Ereignisse um die Erkrankung seiner Mutter<br />
sich dem Sohn zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit offenbaren,<br />
oder ob sie ihn erst diesmal inspirieren, ihnen schreibend nachzugehen,<br />
ja ein dramatisches Sujet aus ihnen zu machen, das erfahren<br />
wir Leser und Zuschauer nicht so genau. Auch was an den Enthüllungen<br />
von damals Dichtung und was Wahrheit ist, können wir<br />
nur mutmaßen. Aber genau dies will uns der junge Autor Nis-<br />
Momme Stockmann mit seinen Stückfragmenten im Stück und seinem<br />
Stück, das keines ist im traditionellen Sinne, vielmehr ein<br />
Gespräch des fiktiven Autors mit sich selbst, eine ,Fläche‘, ja vielleicht<br />
sagen: Was ,Wahrheit‘ ist und was Fiktion, ist nicht immer<br />
klar zu unterscheiden. Vielleicht ist, was wahr scheint, nur gut erfunden,<br />
und scheinbar brisante Realität eine Medienlüge. Um eine<br />
Erkenntnis scheint der junge Mann am Ende seiner Fahrt in die<br />
Vergangenheit auf jeden Fall reicher: Er muss seinen eigenen Weg<br />
finden, und das ist erst der Anfang. Kein Schiff wird kommen.<br />
Ein zerbrechlicher Palast<br />
Wenn ich durch das Museum of Modern Art schlendere und auf die Skulptur<br />
Palast um vier Uhr morgens von Alberto Giacometti stoße, bleibe ich immer<br />
stehen und sehe sie mir an – teils weil sie mich an das neue Haus meines<br />
Vaters in seinem unfertigen Zustand erinnert, teils weil sie so schön ist. Sie<br />
ist ungefähr siebzig Zentimeter hoch und genügend bekannt, so dass ich<br />
sie wohl nicht zu beschreiben brauche. Wie auch immer, sie ist aus Holz und<br />
hat keine festen Wände, nur dünne senkrechte und waagrechte Balken. Ein<br />
klassischer Giebel und ein Turm sind angedeutet. In einem Zimmer ganz<br />
oben im Palast fliegt ein seltsam aussehendes Wesen mit einem verstellbaren<br />
Schraubenschlüssel als Kopf herum. Ein Vogel? Eine Kreuzung aus<br />
Balletttänzer und Flugechse? Darunter, in einer Art freistehendem Schrank,<br />
befindet sich die Wirbelsäule irgendeines Tieres. Links davon, gestützt von<br />
drei grauweißen Parallelogrammen, so etwas wie eine eindrucksvolle weibliche<br />
Gestalt oder eine von den wichtigeren Figuren eines Schachspiels.<br />
Und ungefähr an der Stelle, die ein Basketballring einnähme, eine senkrechte,<br />
ausgekehlte spatelartige Form mit einem Ball davor.<br />
Das Ganze ist schrecklich karg und merkwürdig, aber nicht merkwürdiger<br />
als der Bericht des Künstlers über seine Entstehung:<br />
»Dieses Objekt nahm ganz allmählich im Spätsommer des Jahres 1932 Gestalt<br />
an; es offenbarte sich mir langsam, indem die verschiedenen Teile ihre<br />
kekke schmidt<br />
s: 8 ˚<br />
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schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
exakte Gestalt und ihren genauen Platz innerhalb des Ganzen erhielten.<br />
Bis zum Herbst hatte es solche Realität erlangt, dass seine tatsächliche<br />
räumliche Ausführung nicht mehr als einen Tag in Anspruch nahm. Es<br />
bezog sich ohne jeden Zweifel auf einen Abschnitt in meinem Leben, der<br />
ein Jahr zuvor zu Ende gegangen war, nachdem ich sechs ganze Monate<br />
lang Stunde um Stunde in Gesellschaft einer Frau verbracht hatte, die, indem<br />
sie alles Leben in sich sammelte, jeden Augenblick meines Lebens<br />
magisch verwandelte. Jede Nacht errichteten wir einen phantastischen<br />
Palast – die Tage und Nächte waren von derselben Farbe, als geschehe alles<br />
kurz vor Tagesanbruch; die ganze Zeit hindurch sah ich nie die Sonne –,<br />
einen sehr zerbrechlichen Palast aus Streichhölzern. Bei der geringsten<br />
falschen Bewegung stürzten ganze Teile dieses winzigen Baus ein. Immer<br />
wieder begannen wir ihn von neuem. Ich weiß nicht, wie es kam, dass sich<br />
plötzlich eine Wirbelsäule in einem Käfig darin befand – die Wirbelsäule,<br />
die diese Frau mir in einer der ersten Nächte, in der ich ihr auf der Straße<br />
begegnet war, verkauft hatte – und einer der Skelettvögel, die morgens um<br />
vier mit Freudenschreien in der großen dachlosen Halle hoch über dem<br />
Teich mit dem klaren grünen Wasser flattern, in dem die äußerst feinen weißen<br />
Fischgerippe treiben. In der Mitte erhebt sich das Gerüst eines Turms,<br />
der vielleicht unvollendet oder, da seine Spitze eingestürzt ist, vielleicht<br />
auch in Trümmern ist. Auf der anderen Seite stand die Statue einer Frau, in<br />
der ich meine Mutter erkannte, genauso wie sie in meinen frühesten Erinnerungen<br />
erscheint. Das Rätsel ihres langen schwarzen Kleides, das den<br />
Fußboden berührte, quälte mich: es wirkte wie ein Teil ihres Körpers und<br />
erregte in mir das Gefühl von Furcht und Verwirrung...«<br />
Ich meine mich zu erinnern, dass ich an einem Wintertag zu dem neuen<br />
Haus ging und sah, wie Schnee durch den Dachboden in die oberen<br />
Schlafzimmer fiel. Es könnte auch sein, dass das nicht stimmt, denn ich bin<br />
mir ziemlich sicher, dass es in einem Fotoalbum, von dem ich nicht weiß,<br />
wo es geblieben ist, ein Foto von dem Haus gab, das unter den Gegebenheiten<br />
aufgenommen wurde, wie ich sie eben geschildert habe, und es ist<br />
möglich, dass ich mich daran erinnere und nicht an ein wirkliches Erlebnis.<br />
Was wir, oder zumindest ich, überzeugt als Erinnerung ausgeben – womit<br />
wir einen Augenblick, eine Begebenheit, einen Sachverhalt meinen, die<br />
einem Fixierbad ausgesetzt und so vor dem Vergessen bewahrt wurden –,<br />
ist in Wirklichkeit eine Form des Geschichtenerzählens, die sich unaufhörlich<br />
in unserem Geist vollzieht und sich oft noch während des Erzählens<br />
verändert. Zu viele widerstreitende Gefühlsinteressen stehen auf dem Spiel,<br />
als dass das Leben jemals ganz und gar annehmbar sein könnte, und möglicherweise<br />
ist es das Werk des Geschichtenerzählers, die Dinge so umzuordnen,<br />
dass sie sich diesem Zweck fügen. Wie dem auch sei, wenn wir über<br />
die Vergangenheit reden, lügen wir mit jedem Atemzug.<br />
william maxwell, also dann bis morgen<br />
s: 10 ˚<br />
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schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
Medienobsession<br />
Ein Sympathieflash für diese Nonfaces an der Spitze dieser Riesenzeitung<br />
erfasste mich, zugleich die Einsicht in das Wahnhafte meiner Obsession mit<br />
Zeitung überhaupt, mit dieser Art gedruckter, täglich sich erneuernder<br />
Totalöffentlichkeit. Der Wahn hätte abklingen müssen im Lauf der Jahre,<br />
mit den Erfahrungen, die sich auch bei mir mit Zeitung angesammelt hatten,<br />
aber im Gegenteil und gegen jede Vernunft, die auch dem Wahn nicht<br />
völlig fremd war, hatte sich der Wahn mit Zeitung kontrafaktisch immer<br />
mehr verhärtet, war immer wahnhafter, verrückter, vielleicht auch falscher<br />
und jedenfalls unvernünftiger geworden, ein unvernünftiger Wahn, mein<br />
lieber Max, was sagt man dazu? Ich kam mir plötzlich vor wie Einar Schleef<br />
in seiner durch nichts beirrbaren Obsession mit einem perfekten, absoluten<br />
Kunsttheater, das zwar wohl noch aus lebenden, fleischlichen Menschen<br />
bestehen sollte, aber ohne alles am Menschlichen eben auch hängende<br />
Mittelmaß, ohne menschliche Niedrigkeiten, Fehler, Bosheiten, ohne<br />
Schlampereien und narzisstische Egoismen auskommen hätte sollen, ohne<br />
Opportunismus, Karrierekalkül und nur auf den Applaus ausgerichtete,<br />
nach Applaus gierige, den Auftrag der Kunst, die Radikalität der Wahrheit<br />
usw dabei verratende Praxis der Bühne, des niedrigen, kaputten, gedankenlosen<br />
Auftretens dort, gar nicht zu reden von den komplett verrotteten<br />
Verhältnissen in den Verwaltungen und Intendanzen der Theater, Schleef<br />
hatte in seinen Tagebüchern den absoluten Horror dokumentiert, den ein<br />
Einzelner, der sich den dort bestehenden Realverhältnissen nur an dem<br />
kleinen Einzelpunkt, wo er selbst davon betroffen war, zu widersetzen suchte,<br />
immer als eine ihn vernichtende Energie, ihm das Leben selbst und den<br />
Lebensmut abgrabende, die Kreativität zerstörende, auf diese Vernichtung<br />
und Zerstörung seiner Kunstvorstellungen konzentrierte Weltbosheit zu<br />
spüren kriegt, und trotzdem, das war das wirklich Erschütternde beim<br />
Lesen dieser Tagebücher, hatte er ja nicht damit aufgehört, die Theater in<br />
dieser realerweise an Irrsinn grenzenden, kontrafaktisch normativen<br />
Idealitätserwartung als Orte der Verwirklichung seiner Kunst aufzusuchen,<br />
immer wieder neu. (...) Schleefs Theaterwahn war vernünftig gewesen, mein<br />
Zeitungswahn war dies nicht, zumindest bisher nicht.<br />
rainald goetz, loslabern<br />
s: 12 ˚<br />
s: 13 ˚
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
Die Ware Subjektivität<br />
In der Konsumgesellschaft kann niemand ein Subjekt werden, ohne sich<br />
zuerst in eine Ware zu verwandeln, und niemand kann sich seines Subjektseins<br />
sicher sein, ohne ständig jene Fähigkeiten zu regenerieren, wiederzubeleben<br />
und aufzufrischen, die von einer käuflichen Ware erwartet und eingefordert<br />
werden. Die ,Subjektivität‘ des Subjekts und der Großteil dessen,<br />
was diese Subjektivität dem Subjekt zu erreichen ermöglicht, ist fokussiert<br />
auf das nicht enden wollende Bemühen, selbst eine verkäufliche Ware zu<br />
werden und zu bleiben. Das wichtigste Kennzeichen der Konsumgesellschaft<br />
– so sorgfältig verborgen und verheimlicht es auch ist – ist die Verwandlung<br />
von Konsumenten in Waren; genauer: ihrer Auflösung in der<br />
Warenflut, in der, um den wohl meistzitierten der höchst zitierwürdigen<br />
Gedanken Georg Simmels zu zitieren, »die Bedeutung und der Wert der<br />
Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden<br />
wird«, sodass sie »in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung«<br />
erscheinen. »Sie schwimmen alle mit gleichem spezifischem Gewicht in dem<br />
fortwährend bewegten Geldstrom« (Simmel, Die Großstädte).<br />
Die Aufgabe der Konsumenten und das Hauptmotiv, das sie dazu bringt,<br />
unablässig dem Konsum zu frönen, ist folglich die Aufgabe, sich aus der<br />
grauen und langweiligen Unsichtbarkeit und Nichtigkeit emporzustemmen,<br />
damit sie sich von der Masse der ,mit gleichem spezifischen Gewicht<br />
schwimmenden‘ Objekte unterscheiden und so die Aufmerksamkeit von<br />
(blasierten!) Konsumenten auf sich ziehen ...<br />
,Sich zu einer verkäuflichen Ware zu machen‘ ist etwas, was man selbst tun<br />
muss, eine Pflicht des Individuums. Halten wir fest: Die Herausforderung<br />
und die Aufgabe besteht im Machen, nicht einfach im Werden.<br />
Die Kultur des Konsumismus ist geprägt vom permanenten Druck, jemand<br />
anders zu sein. Konsumgütermärkte sind darauf ausgerichtet, das in der<br />
Vergangenheit Angebotene umgehend abzuwerten, um in der allgemeinen<br />
Nachfrage Platz zu schaffen, der mit neuen Angeboten aufgefüllt werden<br />
kann. Sie erzeugen Unzufriedenheit mit den Produkten, mit denen Konsumenten<br />
ihre Bedürfnisse befriedigen – und kultivieren darüber hinaus permanente<br />
Unzufriedenheit mit der erworbenen Identität und den Bedürfnissen,<br />
durch die eine solche Identität definiert wird. Die Identität zu<br />
wechseln, die Vergangenheit abzustreifen und Neuanfänge anzustreben,<br />
sich zu bemühen, neu geboren zu werden – all das wird von dieser Kultur<br />
gefördert, als eine Pflicht, die als Privileg getarnt ist.<br />
zygmunt bauman, leben als konsum<br />
s: 14 ˚ s: 15 ˚
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
schauspielstuttgart<br />
kein schiff wird kommen<br />
Ich sample nur noch Spiel- und Gedankenarten, Stile, Formen.<br />
Ich bin der Mensch mit tausend Eigenschaften.<br />
Tausend Eigenschaften!<br />
Und weil sich alles in mir trifft bin ich nichts. Das einzige spannende,<br />
ehrliche was einem bleibt in dieser beschissenen Welt des ultimativen<br />
allumfassenden Plurarismus, ist man doch selbst.<br />
Oder nicht mal das. (...)<br />
Das Problem ist die Größe der Wende. Jedes Problem wird auf die Wende<br />
gespiegelt. Ein Allgrund. Für die Politik eine universell verwendbare<br />
Polemik. Alles Schlechte lässt sich mit ihr begründen und alles Gute wird<br />
durch sie erhöht. (...)<br />
Dass du das nicht verstehst. Das ist nicht unser Ernst, das ist nicht dein<br />
Ernst – das ist der Ernst der Politik, der Ernst der Medien.<br />
Das ist Designernst.<br />
Die Wende ist eine demagogische Verflachung von tausend Dingen. Und<br />
es sind so Agitatoren wie Guido Knopp die die Verflachung dieser Themenkrake<br />
bankenvertragsartig anlegen und für ihre Zwecke funktionalisieren.<br />
Die Wirtschaft der Themen. Die Bilder, die Lieder, die Farben, die Geschichten.<br />
Transmedialer Konformismus!<br />
Alle haben das Thema satt. Alle haben das Thema so übersatt! Und alle<br />
lieben das Thema. Und alle geraten in andächtige Stimmung bei dem Thema.<br />
nis-momme stockmann, kein schiff wird kommen<br />
s: 16 ˚<br />
s: 17 ˚
impressum<br />
textnachweis<br />
William Maxwell, Also dann bis morgen<br />
(1980), Wien 1998;<br />
Rainald Goetz, loslabern, Frankfurt/Main 2009;<br />
Zygmunt Bauman, Leben als Konsum, Hamburg 2009.<br />
Die Titel wurden hinzugesetzt.<br />
bildnachweis<br />
<strong>Schauspiel</strong>erfotos Felix Meinhardt;<br />
Föhr-Fotos Kekke Schmidt<br />
herausgeber<br />
<strong>Schauspiel</strong> Stuttgart / Staatstheater Stuttgart<br />
intendant<br />
Hasko Weber<br />
redaktion<br />
Kekke Schmidt<br />
gestaltung<br />
Strichpunkt, Stuttgart / www.strichpunkt-design.de<br />
druck<br />
Engelhardt und Bauer<br />
s: 18 ˚