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60*61*62*63*64*66*67*68*72*73*74*75*77*78*79*80 - Schauspiel ...

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80 kein schiff wird kommen<br />

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Nis Momme-Stockmann,<br />

1981 auf Föhr geboren, studierte Nis-Momme Stockmann ,Sprache<br />

und Kultur Tibets’ in Hamburg, Medienwissenschaften im dänischen<br />

Odense und machte eine Ausbildung zum Koch, bevor er an der<br />

Universität der Künste Berlin ,Szenisches Schreiben‘ studierte.<br />

2005 gewann er beim internationalen Filmfestival in Odense den<br />

1. Preis für seinen Kurzfilm ignorans.<br />

Mit seinem Stück der mann der die welt ass wurde Stockmann<br />

beim Heidelberger Stückemarkt 2009 mit dem Haupt- und Publikumspreis<br />

ausgezeichnet. Das prämierte Stück wurde am 17. Dezember<br />

2009 in Heidelberg uraufgeführt. Es folgen Inszenierungen am<br />

Theater Magdeburg, am Theater Basel und am <strong>Schauspiel</strong>haus Wien.<br />

Beim Berliner Stückemarkt reüssierte das Stück ebenfalls – die Jury<br />

verlieh dem Autor den Werkauftrag des ,tt Stückemarkts Berlin‘, verbunden<br />

mit der Uraufführung am <strong>Schauspiel</strong> Stuttgart. kein schiff<br />

wird kommen ist das Auftragsstück, das nach der Uraufführung<br />

im Depot von Radio Bremen auch als Hörspiel produziert wird.<br />

Gemeinsam mit vier weiteren Autoren ist Nis-Momme Stockmann<br />

außerdem ab September 2009 Stipendiat des von Thomas Jonigk<br />

geleiteten Düsseldorfer Autorenlabors sowie für drei Spielzeiten<br />

Hausautor am <strong>Schauspiel</strong> Frankfurt. Stockmann schreibt Theaterstücke,<br />

Hörspiele, Lyrik und Prosa.


KEIN SCHIFF WIRD KOMMEN<br />

> von Nis-MoMMe Stockmann <<br />

uraufführung<br />

werkauftrag des theatertreffen-stückemarktes 09,<br />

gestiftet von der bundeszentrale für politische bildung<br />

Premiere am 19. Februar 2010 im Depot<br />

Spieldauer ca. 1:35 Stunden<br />

Keine Pause<br />

Aufführungsrechte bei schaefersphilippen Theater & Medien<br />

www.staatstheater-stuttgart.de


schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

Besetzung<br />

mit<br />

Matthias Kelle<br />

Lisa Wildmann<br />

Jens Winterstein<br />

regie<br />

bühne und kostüme<br />

dramaturgie<br />

regieassistenz<br />

bühnenbildassistenz<br />

kostümassistenz<br />

inspizienz<br />

souffleuse<br />

regie- und<br />

dramaturgiehospitanz<br />

Annette Pullen<br />

Iris Kraft<br />

Kekke Schmidt<br />

Brighid Möller<br />

Lisa Marie Rohde<br />

Döndü Toprak<br />

Hans Beck<br />

Jutta Blumenthal-Munz<br />

Marion Geiger<br />

Technische Direktion: Karl-Heinz Mittelstädt // Technische Direktion<br />

<strong>Schauspiel</strong>: Reiner Darr // Technische Einrichtung: Manuel Willi // Licht:<br />

Andreas Schad // Ton: Thomas Tinkl // Video: Robert Seidel // Requisite:<br />

Uwe Puschmann // Leitung Dekorationswerkstätten: Bernhard Leykauf //<br />

Technische Produktionsbetreuung: Monika Höger // Malsaal: Maik Sinz //<br />

Bildhauerei: Maik Glemser // Dekorationsabteilung: Donald Pohl //<br />

Schreinerei: Frank Schauss // Schlosserei: Patrick Knopke // Leitung<br />

Maske: Heinz Schary // Maske: Bettina Löffler // Kostümdirektion:<br />

Werner Pick // Produktionsleitung Kostüme: Beatrix Lorber //<br />

Gewandmeisterinnen: Renate Jeschke (Damen), Anna Volk (Herren) //<br />

Färberei: Martina Lutz // Modisterei: Eike Schnatmann // Kunstgewerbe:<br />

Verena Bähr, Alfred Budenz<br />

s: 4 ˚ s: 5 ˚


schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

Kein SchiFF wiRD koMMen<br />

Ein junger Mann fährt übers Meer, in seine Heimat. Man erwartet<br />

kurz ein poetisches Sujet – und wird zuverlässig enttäuscht. So<br />

wie schon der Titel irreführend poetisch klingt, weil man die<br />

Negation nicht mit liest, oder weil sie die Poesie im Klang nicht<br />

abschwächen will. Aber spätestens der Satz »Ich sehe mich und<br />

wie sehr es mich ankotzt« holt uns zurück auf den harten Boden<br />

der Tatsachen, oder auf das prosaische Deck einer Fähre, die nicht<br />

mal untergehen kann, so flach ist die Fahrrinne; die Geräusche<br />

macht wie eine Spülmaschine und die nicht paradiesische Inselreiche<br />

miteinander verbindet, sondern bloß Föhr mit dem nordfriesischen<br />

Festland. Die Haltung des jungen Mannes ist trotzig mehr als zornig,<br />

man könnte auch sagen: genervt. Ihm steht der Besuch beim<br />

Vater bevor, dem er sich überlegen fühlt, ohne darum vor den<br />

Reflexen des ewigen Kindes gefeit zu sein: Die beste Absicht, ,nett<br />

zu sein‘, muss kapitulieren vor den Wiedererkennungseffekten und<br />

Wiederholungszwängen – man hat das alles tausendmal erlebt:<br />

dieselben Sprüche, dieselbe Anbiederung, derselbe Rückzug beim<br />

ersten Streit, dann das Mitleid, der Ekel vor dem Mitleid, vor dem<br />

nur noch die gemeinsame Sauferei schützt. Sich selber am<br />

aller schlechtesten fühlen, weil man souverän sein müsste: als<br />

,Studierter‘, als Autor, der man geworden ist im fernen Berlin,<br />

als Jüngerer, der in die Verantwortungsrolle für den Vater hineinwächst<br />

– und aber nicht souverän ist, sich vielmehr ertappt, wieder<br />

dreizehn zu sein, in den alten Tonfall zu rutschen.<br />

kein schiff wird kommen ist eine Familiengeschichte, eine Geschichte<br />

darüber, dass man der Familie nicht entrinnt. Kaum hat<br />

die Insel ihn wieder – und das Bild der Insel, so real seine Hintergründe<br />

auch sein mögen, verstärkt den klaustrophobischen Aspekt,<br />

fühlt sich der namenlose junge Autor in der Kindheitsfalle. Der<br />

Vater mit seiner hilflosen Liebe lastet auf ihm, um so mehr, als er<br />

erkennen muss, dass dieser ,einfache Mann‘ oftmals recht hat mit<br />

seinem gesunden Menschenverstand, auch wenn er den Kulturbetrieb<br />

nicht kennt.<br />

Das ist das zweite große Thema des Stückes: der Kulturbetrieb, die<br />

Theaterszene, ,der Markt‘, wie der Protagonist in ohnmächtiger<br />

Wut die Mechanismen zusammenfasst, denen er sich als ehrgeiziger,<br />

aufstrebender Autor ausgeliefert fühlt: Bloß weil gerade ,Wende-<br />

Jubiläum‘ ist, soll er ein Wende-Stück schreiben, und empfindet<br />

die Wende ungefähr so weit von sich wie »1848 oder das tausend-<br />

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schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

jährige Reich«. So ehrlich und so selbstbewusst ist er, dass er diese<br />

Gleichgültigkeit vor sich und damit vor uns, die wir Zeugen seiner<br />

Monologe werden, auch offen zugibt. 1989 und die Fragen, die<br />

sich daran knüpfen, ist der Anlass, der ihn auf die Insel führt, und<br />

1989 erweist sich zugleich als entscheidendes Jahr in der Familiengeschichte.<br />

Ob die Ereignisse um die Erkrankung seiner Mutter<br />

sich dem Sohn zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit offenbaren,<br />

oder ob sie ihn erst diesmal inspirieren, ihnen schreibend nachzugehen,<br />

ja ein dramatisches Sujet aus ihnen zu machen, das erfahren<br />

wir Leser und Zuschauer nicht so genau. Auch was an den Enthüllungen<br />

von damals Dichtung und was Wahrheit ist, können wir<br />

nur mutmaßen. Aber genau dies will uns der junge Autor Nis-<br />

Momme Stockmann mit seinen Stückfragmenten im Stück und seinem<br />

Stück, das keines ist im traditionellen Sinne, vielmehr ein<br />

Gespräch des fiktiven Autors mit sich selbst, eine ,Fläche‘, ja vielleicht<br />

sagen: Was ,Wahrheit‘ ist und was Fiktion, ist nicht immer<br />

klar zu unterscheiden. Vielleicht ist, was wahr scheint, nur gut erfunden,<br />

und scheinbar brisante Realität eine Medienlüge. Um eine<br />

Erkenntnis scheint der junge Mann am Ende seiner Fahrt in die<br />

Vergangenheit auf jeden Fall reicher: Er muss seinen eigenen Weg<br />

finden, und das ist erst der Anfang. Kein Schiff wird kommen.<br />

Ein zerbrechlicher Palast<br />

Wenn ich durch das Museum of Modern Art schlendere und auf die Skulptur<br />

Palast um vier Uhr morgens von Alberto Giacometti stoße, bleibe ich immer<br />

stehen und sehe sie mir an – teils weil sie mich an das neue Haus meines<br />

Vaters in seinem unfertigen Zustand erinnert, teils weil sie so schön ist. Sie<br />

ist ungefähr siebzig Zentimeter hoch und genügend bekannt, so dass ich<br />

sie wohl nicht zu beschreiben brauche. Wie auch immer, sie ist aus Holz und<br />

hat keine festen Wände, nur dünne senkrechte und waagrechte Balken. Ein<br />

klassischer Giebel und ein Turm sind angedeutet. In einem Zimmer ganz<br />

oben im Palast fliegt ein seltsam aussehendes Wesen mit einem verstellbaren<br />

Schraubenschlüssel als Kopf herum. Ein Vogel? Eine Kreuzung aus<br />

Balletttänzer und Flugechse? Darunter, in einer Art freistehendem Schrank,<br />

befindet sich die Wirbelsäule irgendeines Tieres. Links davon, gestützt von<br />

drei grauweißen Parallelogrammen, so etwas wie eine eindrucksvolle weibliche<br />

Gestalt oder eine von den wichtigeren Figuren eines Schachspiels.<br />

Und ungefähr an der Stelle, die ein Basketballring einnähme, eine senkrechte,<br />

ausgekehlte spatelartige Form mit einem Ball davor.<br />

Das Ganze ist schrecklich karg und merkwürdig, aber nicht merkwürdiger<br />

als der Bericht des Künstlers über seine Entstehung:<br />

»Dieses Objekt nahm ganz allmählich im Spätsommer des Jahres 1932 Gestalt<br />

an; es offenbarte sich mir langsam, indem die verschiedenen Teile ihre<br />

kekke schmidt<br />

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schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

exakte Gestalt und ihren genauen Platz innerhalb des Ganzen erhielten.<br />

Bis zum Herbst hatte es solche Realität erlangt, dass seine tatsächliche<br />

räumliche Ausführung nicht mehr als einen Tag in Anspruch nahm. Es<br />

bezog sich ohne jeden Zweifel auf einen Abschnitt in meinem Leben, der<br />

ein Jahr zuvor zu Ende gegangen war, nachdem ich sechs ganze Monate<br />

lang Stunde um Stunde in Gesellschaft einer Frau verbracht hatte, die, indem<br />

sie alles Leben in sich sammelte, jeden Augenblick meines Lebens<br />

magisch verwandelte. Jede Nacht errichteten wir einen phantastischen<br />

Palast – die Tage und Nächte waren von derselben Farbe, als geschehe alles<br />

kurz vor Tagesanbruch; die ganze Zeit hindurch sah ich nie die Sonne –,<br />

einen sehr zerbrechlichen Palast aus Streichhölzern. Bei der geringsten<br />

falschen Bewegung stürzten ganze Teile dieses winzigen Baus ein. Immer<br />

wieder begannen wir ihn von neuem. Ich weiß nicht, wie es kam, dass sich<br />

plötzlich eine Wirbelsäule in einem Käfig darin befand – die Wirbelsäule,<br />

die diese Frau mir in einer der ersten Nächte, in der ich ihr auf der Straße<br />

begegnet war, verkauft hatte – und einer der Skelettvögel, die morgens um<br />

vier mit Freudenschreien in der großen dachlosen Halle hoch über dem<br />

Teich mit dem klaren grünen Wasser flattern, in dem die äußerst feinen weißen<br />

Fischgerippe treiben. In der Mitte erhebt sich das Gerüst eines Turms,<br />

der vielleicht unvollendet oder, da seine Spitze eingestürzt ist, vielleicht<br />

auch in Trümmern ist. Auf der anderen Seite stand die Statue einer Frau, in<br />

der ich meine Mutter erkannte, genauso wie sie in meinen frühesten Erinnerungen<br />

erscheint. Das Rätsel ihres langen schwarzen Kleides, das den<br />

Fußboden berührte, quälte mich: es wirkte wie ein Teil ihres Körpers und<br />

erregte in mir das Gefühl von Furcht und Verwirrung...«<br />

Ich meine mich zu erinnern, dass ich an einem Wintertag zu dem neuen<br />

Haus ging und sah, wie Schnee durch den Dachboden in die oberen<br />

Schlafzimmer fiel. Es könnte auch sein, dass das nicht stimmt, denn ich bin<br />

mir ziemlich sicher, dass es in einem Fotoalbum, von dem ich nicht weiß,<br />

wo es geblieben ist, ein Foto von dem Haus gab, das unter den Gegebenheiten<br />

aufgenommen wurde, wie ich sie eben geschildert habe, und es ist<br />

möglich, dass ich mich daran erinnere und nicht an ein wirkliches Erlebnis.<br />

Was wir, oder zumindest ich, überzeugt als Erinnerung ausgeben – womit<br />

wir einen Augenblick, eine Begebenheit, einen Sachverhalt meinen, die<br />

einem Fixierbad ausgesetzt und so vor dem Vergessen bewahrt wurden –,<br />

ist in Wirklichkeit eine Form des Geschichtenerzählens, die sich unaufhörlich<br />

in unserem Geist vollzieht und sich oft noch während des Erzählens<br />

verändert. Zu viele widerstreitende Gefühlsinteressen stehen auf dem Spiel,<br />

als dass das Leben jemals ganz und gar annehmbar sein könnte, und möglicherweise<br />

ist es das Werk des Geschichtenerzählers, die Dinge so umzuordnen,<br />

dass sie sich diesem Zweck fügen. Wie dem auch sei, wenn wir über<br />

die Vergangenheit reden, lügen wir mit jedem Atemzug.<br />

william maxwell, also dann bis morgen<br />

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schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

Medienobsession<br />

Ein Sympathieflash für diese Nonfaces an der Spitze dieser Riesenzeitung<br />

erfasste mich, zugleich die Einsicht in das Wahnhafte meiner Obsession mit<br />

Zeitung überhaupt, mit dieser Art gedruckter, täglich sich erneuernder<br />

Totalöffentlichkeit. Der Wahn hätte abklingen müssen im Lauf der Jahre,<br />

mit den Erfahrungen, die sich auch bei mir mit Zeitung angesammelt hatten,<br />

aber im Gegenteil und gegen jede Vernunft, die auch dem Wahn nicht<br />

völlig fremd war, hatte sich der Wahn mit Zeitung kontrafaktisch immer<br />

mehr verhärtet, war immer wahnhafter, verrückter, vielleicht auch falscher<br />

und jedenfalls unvernünftiger geworden, ein unvernünftiger Wahn, mein<br />

lieber Max, was sagt man dazu? Ich kam mir plötzlich vor wie Einar Schleef<br />

in seiner durch nichts beirrbaren Obsession mit einem perfekten, absoluten<br />

Kunsttheater, das zwar wohl noch aus lebenden, fleischlichen Menschen<br />

bestehen sollte, aber ohne alles am Menschlichen eben auch hängende<br />

Mittelmaß, ohne menschliche Niedrigkeiten, Fehler, Bosheiten, ohne<br />

Schlampereien und narzisstische Egoismen auskommen hätte sollen, ohne<br />

Opportunismus, Karrierekalkül und nur auf den Applaus ausgerichtete,<br />

nach Applaus gierige, den Auftrag der Kunst, die Radikalität der Wahrheit<br />

usw dabei verratende Praxis der Bühne, des niedrigen, kaputten, gedankenlosen<br />

Auftretens dort, gar nicht zu reden von den komplett verrotteten<br />

Verhältnissen in den Verwaltungen und Intendanzen der Theater, Schleef<br />

hatte in seinen Tagebüchern den absoluten Horror dokumentiert, den ein<br />

Einzelner, der sich den dort bestehenden Realverhältnissen nur an dem<br />

kleinen Einzelpunkt, wo er selbst davon betroffen war, zu widersetzen suchte,<br />

immer als eine ihn vernichtende Energie, ihm das Leben selbst und den<br />

Lebensmut abgrabende, die Kreativität zerstörende, auf diese Vernichtung<br />

und Zerstörung seiner Kunstvorstellungen konzentrierte Weltbosheit zu<br />

spüren kriegt, und trotzdem, das war das wirklich Erschütternde beim<br />

Lesen dieser Tagebücher, hatte er ja nicht damit aufgehört, die Theater in<br />

dieser realerweise an Irrsinn grenzenden, kontrafaktisch normativen<br />

Idealitätserwartung als Orte der Verwirklichung seiner Kunst aufzusuchen,<br />

immer wieder neu. (...) Schleefs Theaterwahn war vernünftig gewesen, mein<br />

Zeitungswahn war dies nicht, zumindest bisher nicht.<br />

rainald goetz, loslabern<br />

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schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

Die Ware Subjektivität<br />

In der Konsumgesellschaft kann niemand ein Subjekt werden, ohne sich<br />

zuerst in eine Ware zu verwandeln, und niemand kann sich seines Subjektseins<br />

sicher sein, ohne ständig jene Fähigkeiten zu regenerieren, wiederzubeleben<br />

und aufzufrischen, die von einer käuflichen Ware erwartet und eingefordert<br />

werden. Die ,Subjektivität‘ des Subjekts und der Großteil dessen,<br />

was diese Subjektivität dem Subjekt zu erreichen ermöglicht, ist fokussiert<br />

auf das nicht enden wollende Bemühen, selbst eine verkäufliche Ware zu<br />

werden und zu bleiben. Das wichtigste Kennzeichen der Konsumgesellschaft<br />

– so sorgfältig verborgen und verheimlicht es auch ist – ist die Verwandlung<br />

von Konsumenten in Waren; genauer: ihrer Auflösung in der<br />

Warenflut, in der, um den wohl meistzitierten der höchst zitierwürdigen<br />

Gedanken Georg Simmels zu zitieren, »die Bedeutung und der Wert der<br />

Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden<br />

wird«, sodass sie »in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung«<br />

erscheinen. »Sie schwimmen alle mit gleichem spezifischem Gewicht in dem<br />

fortwährend bewegten Geldstrom« (Simmel, Die Großstädte).<br />

Die Aufgabe der Konsumenten und das Hauptmotiv, das sie dazu bringt,<br />

unablässig dem Konsum zu frönen, ist folglich die Aufgabe, sich aus der<br />

grauen und langweiligen Unsichtbarkeit und Nichtigkeit emporzustemmen,<br />

damit sie sich von der Masse der ,mit gleichem spezifischen Gewicht<br />

schwimmenden‘ Objekte unterscheiden und so die Aufmerksamkeit von<br />

(blasierten!) Konsumenten auf sich ziehen ...<br />

,Sich zu einer verkäuflichen Ware zu machen‘ ist etwas, was man selbst tun<br />

muss, eine Pflicht des Individuums. Halten wir fest: Die Herausforderung<br />

und die Aufgabe besteht im Machen, nicht einfach im Werden.<br />

Die Kultur des Konsumismus ist geprägt vom permanenten Druck, jemand<br />

anders zu sein. Konsumgütermärkte sind darauf ausgerichtet, das in der<br />

Vergangenheit Angebotene umgehend abzuwerten, um in der allgemeinen<br />

Nachfrage Platz zu schaffen, der mit neuen Angeboten aufgefüllt werden<br />

kann. Sie erzeugen Unzufriedenheit mit den Produkten, mit denen Konsumenten<br />

ihre Bedürfnisse befriedigen – und kultivieren darüber hinaus permanente<br />

Unzufriedenheit mit der erworbenen Identität und den Bedürfnissen,<br />

durch die eine solche Identität definiert wird. Die Identität zu<br />

wechseln, die Vergangenheit abzustreifen und Neuanfänge anzustreben,<br />

sich zu bemühen, neu geboren zu werden – all das wird von dieser Kultur<br />

gefördert, als eine Pflicht, die als Privileg getarnt ist.<br />

zygmunt bauman, leben als konsum<br />

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schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

schauspielstuttgart<br />

kein schiff wird kommen<br />

Ich sample nur noch Spiel- und Gedankenarten, Stile, Formen.<br />

Ich bin der Mensch mit tausend Eigenschaften.<br />

Tausend Eigenschaften!<br />

Und weil sich alles in mir trifft bin ich nichts. Das einzige spannende,<br />

ehrliche was einem bleibt in dieser beschissenen Welt des ultimativen<br />

allumfassenden Plurarismus, ist man doch selbst.<br />

Oder nicht mal das. (...)<br />

Das Problem ist die Größe der Wende. Jedes Problem wird auf die Wende<br />

gespiegelt. Ein Allgrund. Für die Politik eine universell verwendbare<br />

Polemik. Alles Schlechte lässt sich mit ihr begründen und alles Gute wird<br />

durch sie erhöht. (...)<br />

Dass du das nicht verstehst. Das ist nicht unser Ernst, das ist nicht dein<br />

Ernst – das ist der Ernst der Politik, der Ernst der Medien.<br />

Das ist Designernst.<br />

Die Wende ist eine demagogische Verflachung von tausend Dingen. Und<br />

es sind so Agitatoren wie Guido Knopp die die Verflachung dieser Themenkrake<br />

bankenvertragsartig anlegen und für ihre Zwecke funktionalisieren.<br />

Die Wirtschaft der Themen. Die Bilder, die Lieder, die Farben, die Geschichten.<br />

Transmedialer Konformismus!<br />

Alle haben das Thema satt. Alle haben das Thema so übersatt! Und alle<br />

lieben das Thema. Und alle geraten in andächtige Stimmung bei dem Thema.<br />

nis-momme stockmann, kein schiff wird kommen<br />

s: 16 ˚<br />

s: 17 ˚


impressum<br />

textnachweis<br />

William Maxwell, Also dann bis morgen<br />

(1980), Wien 1998;<br />

Rainald Goetz, loslabern, Frankfurt/Main 2009;<br />

Zygmunt Bauman, Leben als Konsum, Hamburg 2009.<br />

Die Titel wurden hinzugesetzt.<br />

bildnachweis<br />

<strong>Schauspiel</strong>erfotos Felix Meinhardt;<br />

Föhr-Fotos Kekke Schmidt<br />

herausgeber<br />

<strong>Schauspiel</strong> Stuttgart / Staatstheater Stuttgart<br />

intendant<br />

Hasko Weber<br />

redaktion<br />

Kekke Schmidt<br />

gestaltung<br />

Strichpunkt, Stuttgart / www.strichpunkt-design.de<br />

druck<br />

Engelhardt und Bauer<br />

s: 18 ˚

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