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Anna Seghers – die Umstrittene (Allgemeine Zeitung Mainz vom 1.6.

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Artikel in der <strong>Allgemeine</strong>n <strong>Zeitung</strong> <strong>Mainz</strong> <strong>vom</strong> 1. Juni 2013<br />

<strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> <strong>–</strong> <strong>die</strong> <strong>Umstrittene</strong><br />

01.06.2013 - MAINZ<br />

Von Kirsten Strasser<br />

ERINNERUNG Vor 30 Jahren starb <strong>die</strong> Schriftstellerin, <strong>die</strong> mit „Das siebte Kreuz“<br />

Weltruhm erlangte / Kritik wegen ihrer Nähe zum DDR-Regime<br />

Über ihren berühmtesten Roman „Das siebte Kreuz“ schrieb Literaturpapst Marcel Reich-<br />

Ranicki einmal: „Dieses große literarische Kunstwerk ist heute ein Roman gegen <strong>die</strong> Diktatur<br />

schlechthin.“<br />

Als Schriftstellerin ist <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> wohl über jeden Zweifel erhaben. Es war ihre politische<br />

Gesinnung, ihre Nähe zum DDR-Regime, <strong>die</strong> <strong>die</strong> <strong>Seghers</strong> zu einer umstrittenen Person ihrer<br />

Zeit machte. Weil sie aus einer jüdischen Familie kam und dazu eine kritische Autorin war,<br />

wurde sie von den Nazis verfolgt.<br />

Aber sie war eben auch eine überzeugte Kommunistin, <strong>die</strong> sich aus freien Stücken für ein<br />

Leben in der DDR entschied. Vor genau 30 Jahren, am 1. Juni 1983, starb <strong>die</strong> gebürtige<br />

<strong>Mainz</strong>erin und Ehrenbürgerin im Alter von 82 Jahren in Berlin.<br />

Mutter von Nazis ermordet<br />

Der Name <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> <strong>–</strong> er ist gegenwärtig in <strong>Mainz</strong>. Die öffentliche Bücherei, eine<br />

Integrierte Gesamtschule sind nach der Literatin benannt und erinnern an <strong>die</strong> berühmte<br />

Tochter der Stadt. Die Spuren, <strong>die</strong> darauf hindeuten, welche Schicksalsschläge <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong><br />

erleiden musste, sind unauffälliger. Ein kleiner „Stolperstein“, eingelassen in das Pflaster des<br />

Fischtorplatzes, erinnert an <strong>Seghers</strong>’ Mutter Hedwig Reiling: „Deportiert 1942, ermordet in<br />

Piaski“. Der Vater, der jüdische Kunsthändler Isidor Reiling, war schon zwei Jahre zuvor<br />

gestorben.<br />

Als Netty Reiling wurde <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> am 19. November 1900 in der <strong>Mainz</strong>er Parcusstraße<br />

geboren. Ab 1910 besuchte <strong>die</strong> einzige Tochter der Reilings <strong>die</strong> Höhere Mädchenschule, das<br />

heutige Frauenlob-Gymnasium. Sie stu<strong>die</strong>rte in Köln und Heidelberg, mit ihrem Ehemann<br />

Laslo Radvanyi zog sie 1925 nach Berlin, bekam zwei Kinder. 1927 erschien erstmals eine<br />

ihrer Erzählungen unter dem Pseudonym <strong>Seghers</strong>.<br />

„Das siebte Kreuz“ schrieb <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> 1937 bis 1939 im Pariser Exil, in das sie vor den<br />

Nazis geflohen war. Auch in Frankreich war sie vor den NS-Schergen nicht sicher; es gelang<br />

ihr, über mehrere weitere Stationen nach Mexiko auszuwandern. Nach Ende des Zweiten<br />

Weltkrieges kehrte <strong>Seghers</strong> nach Berlin zurück. 1950 zog sie nach Ost-Berlin.<br />

Und <strong>Mainz</strong>? Dass sie ihr Leben lang an ihrer Heimatstadt hing, ist bekannt. Einige Male war<br />

sie hier. 1965 zu einer Lesung: In der Aula der Anne-Frank-Schule las sie vor einem großen<br />

Publikum aus ihrer Erzählung „Ausflug der toten Mädchen“. Eineinhalb Jahre später las sie in<br />

einem überfüllten Hörsaal der Uni aus „Die Kraft der Schwachen“. Danach kam <strong>Seghers</strong> nicht<br />

mehr nach <strong>Mainz</strong>, zumindest nicht offiziell. Auch nicht 1981, als ihr <strong>die</strong> Ehrenbürgerwürde


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der Stadt verliehen wurde. Der Gesundheitszustand der damals 81-Jährigen ließ es wohl nicht<br />

zu. Statt dessen reiste eine Delegation aus <strong>Mainz</strong> in <strong>die</strong> Ost-Berliner Volkswohlstraße, in der<br />

<strong>Seghers</strong> lebte.<br />

Der Verleihung vorausgegangen war ein heftiger politischer Streit, der sich mehr als ein<br />

Jahrzehnt hinzog. Der damalige Kulturdezernent Dr. Anton Maria Keim, mit dem <strong>Seghers</strong> in<br />

engem Briefkontakt stand, stritt für <strong>die</strong> Ehrenbürgerwürde der Autorin; vor allem aus der<br />

CDU gab es heftigen Widerstand: Wie könne man eine Kommunistin ehren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Berliner<br />

Mauer verteidige?<br />

„Sie zaubert, bezaubert“<br />

Nachdem <strong>die</strong> Uni <strong>Mainz</strong> der Schriftstellerin <strong>die</strong> Ehrenbürgerschaft verliehen hatte, zog <strong>die</strong><br />

Stadt schließlich nach. 1981 wurden <strong>Seghers</strong> und Marc Chagall <strong>die</strong> Ehrenbürgerwürde<br />

verliehen. Doch der alte Streit, er kochte und kocht immer wieder hoch: 2005 stimmten CDU,<br />

FDP und Republikaner <strong>–</strong> vergeblich <strong>–</strong> gegen <strong>die</strong> Umbenennung der IGS Berliner Siedlung in<br />

IGS <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>. Aktuell tobt eine heftige Diskussion in Kassel, hier soll eine Straße nach<br />

<strong>Seghers</strong> benannt werden. Sehr zum Missfallen der dortigen CDU: Für sie ist <strong>Seghers</strong> „nicht<br />

nur eine Mitläuferin, sondern als eine exponierte Stütze des Unrechtsstaats DDR vor allem<br />

eine Täterin“.<br />

Die renommierte Autorin Christa Wolf (1929-2011) lebte ebenfalls in der DDR, wurde<br />

ebenfalls angegriffen, als „Verfechterin des Sozialismus“. Sie zeichnete ein anderes Bild der<br />

<strong>Seghers</strong>. Zu deren 70. Geburtstag schrieb sie: „Sie zaubert, bezaubert. Wie geht das zu:<br />

Zaubern in nüchterner Zeit?“<br />

Die Gesichter der <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>: <strong>Mainz</strong>erin mit jüdischen Wurzeln, Verfolgte der Nazis,<br />

SED-Mitglied. Bis heute ist <strong>die</strong> Literatin, <strong>die</strong> vor allem mit ihrem Werk „Das siebte Kreuz“<br />

weltbekannt wurde umstritten.<br />

Archivfotos: privat/dpa<br />

DAS MAINZ DER ANNA SEGHERS<br />

Einer der Schauplätze von <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> populärstem Roman ist <strong>Mainz</strong> <strong>–</strong> hierher verschlägt<br />

es den entflohenen KZ-Häftling Georg Heisler. Auszüge aus „Das siebte Kreuz“:


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Auf der Straße: „Er musste an einer Station heraus, <strong>die</strong> Augustinerstraße hieß, er ging <strong>die</strong><br />

Schienen entlang, tiefer in <strong>die</strong> Stadt. Er war plötzlich hell wach. (...) Das machte <strong>die</strong> Straße,<br />

<strong>die</strong> Menge, überhaupt <strong>die</strong> Stadt, <strong>die</strong> keinen ganz allein lässt oder allein zu lassen scheint. (...)<br />

Da sich der Platz vor ihm lichtete, kam es ihm vor, der Rhein könnte nicht gar weit sein. Er<br />

fragte ein Kind, das ihm flink erwiderte: ,Wollen Sie sich heut noch ertränken?‘“<br />

Im Dom: „Als der Küster fortgegangen und <strong>die</strong> Haupttür verschlossen und auch der letzte<br />

Schall in einem Gewölbe zersplittert war, da begriff Georg, dass er jetzt eine Gnadenfrist<br />

hatte, einen so gewaltigen Aufschub, dass er ihn fast mit Rettung verwechselte. (...) Er<br />

streckte den Kopf unter dem Taufbecken heraus. Fünf Meter von ihm entfernt, <strong>vom</strong> nächsten<br />

Pfeiler, traf ihn der Blick eines Mannes, der dort mit Stab und Mitra an seiner Grabplatte<br />

lehnte. Die Dämmerung löste den Prunk seiner Kleider auf, <strong>die</strong> von ihm wegflossen, aber<br />

nicht seine Züge, <strong>die</strong> klar, einfach und böse waren. Seine Augen verfolgten Georg, der an ihm<br />

vorbeikroch.

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