Leseprobe_MitallenSinnen - Einsnull
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Vorwort<br />
Vorwort<br />
Im Jahr 1785 schrieb der Dichter Goethe<br />
an seinen Sekretär Merck in einem Brief<br />
folgende Sätze:«Einem Gelehrten von Profession<br />
traue ich zu, dass er seine fünf Sinne<br />
ableugnet. Es ist ihnen selten um einen<br />
lebendigen Begriff der Sache zu tun, sondern<br />
um das, was man davon gesagt hat.»<br />
Gefühl und Verstand wurden lange als<br />
Antagonisten gedacht.Gerade die Wissenschaft<br />
sollte von Emotionen freigehalten<br />
werden, weil man glaubte, dass diese trügen,<br />
verfälschen, einen Schleier des Subjektiven<br />
über objektive Beobachtungen<br />
legen. Erst in jüngerer Zeit ist die Emotionalität<br />
zu einem zentralen Gegenstand<br />
wissenschaftlicher Auseinandersetzung<br />
geworden. Aktuelle neurophysiologische<br />
Untersuchungen legen nahe,dass Emotionen<br />
eine wesentliche Komponente<br />
menschlicher Kognition darstellen. Mit<br />
dem Begriff des «emotionalen» oder «somatischen<br />
Markers» benennt Antonio Damasio<br />
die Tatsache, dass wir Wahrnehmungs-<br />
und Vorstellungsbilder ganz wesentlich<br />
auf der Grundlage von Emotionen<br />
bewerten, wobei sich die daraus resultierenden<br />
Veränderungen unseres Körperzustandes<br />
phänomenal als Gefühl äußern.<br />
Dass nichts im Sinn sein kann, was nicht<br />
vorher in den Sinnen war – dieser Gedanke<br />
beschäftigt zunehmend auch die Kunstund<br />
Geisteswissenschaften.<br />
Die Filmwissenschaft an der Johannes<br />
Gutenberg-Universität in Mainz darf sich<br />
glücklich schätzen, in ihrem Leiter Professor<br />
Dr. Thomas Koebner einen professionellen<br />
Gelehrten gefunden zu haben, der<br />
seinen Sinnen vertraut und dadurch auf<br />
lebendigste Weise zu lehren und zu schreiben<br />
versteht. Mehr noch, er ermutigt seine<br />
Freunde, Mitarbeiter und Studierenden<br />
immer aufs Neue, sich mit allen Sinnen der<br />
Kunst und der Welt zu öffnen. Ihm, einem<br />
profunden Kenner der Musik, der Literatur<br />
und des Films, ist dieses Buch zum 65. Geburtstag<br />
gewidmet. Immer wieder gelingen<br />
Thomas Koebner aus der unmittelbaren<br />
Begeisterung für ein Kunstwerk scharfsichtige<br />
Werturteile, die auch spontane<br />
oder subjektive Gefühle analytisch ergründen<br />
– wie kürzlich nach einem ergreifenden<br />
Konzert: «Sinnlichkeit beginnt bei<br />
piano. Leise, heimlich und genau ist die<br />
Verführung zur Musik.» Auch im Vorrat der<br />
Filmgeschichte finden sich wundervolle<br />
Beispiele für die leise Verführung zur und<br />
durch Musik, die sowohl die Sinne als auch<br />
die Sinnlichkeit stimuliert. Erinnern wir<br />
uns an Georges Bizets Oper Carmen (Uraufführung<br />
1875) und vor allem an den<br />
musikalischen Höhepunkt, die Habañera:<br />
Leise stimmt der Mezzosopran Carmens<br />
Lied an, das von einer ungezähmten Form<br />
der Liebe handelt, die den Liebenden umgarnt,<br />
sich aber niemals von ihm festhalten<br />
lässt. Der spanische Regisseur Carlos<br />
Saura inszeniert in seinem Film CARMEN (E<br />
1983) die Verführungsszene der Habañera<br />
als intime Begegnung der beiden Hauptfiguren.<br />
Dabei verkehrt er zunächst die Rollen,<br />
denn das Lied der Carmen scheint die<br />
in ihr schönes Spiegelbild vertiefte Filmfigur<br />
Carmen (Laura del Sol) zu rufen. Leise<br />
verlockt es sie, sich Antonio (Antonio Gades)<br />
zuzuwenden, ihren geschmeidigen<br />
Körper im Tanz zu wiegen und zu zeigen.<br />
In einem Dialog der Augen und der Körper<br />
reagiert Antonio auf die Werbung Carmens,<br />
antwortet ihr in ebenso weicher wie<br />
energischer Bewegung.<br />
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