Adelbert von Chamisso - Leben und Werk im Bild - Bernd Lehmann
Adelbert von Chamisso - Leben und Werk im Bild - Bernd Lehmann
Adelbert von Chamisso - Leben und Werk im Bild - Bernd Lehmann
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong> - <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Werk</strong> <strong>im</strong> <strong>Bild</strong><br />
Ein Kommentar zu Radierungen <strong>von</strong> <strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong><br />
<strong>von</strong> Dr. Alexandra Hildebrandt<br />
Wie der Titel dieser signierten <strong>und</strong> l<strong>im</strong>itierten Edition anzeigt, handelt es sich um<br />
<strong>Leben</strong>s-<strong>Bild</strong>er des Naturforschers <strong>und</strong> Dichters <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>. Der Neuenkirchener<br />
Künstler <strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong> (Jg. 1950) hat sie anläßlich des 90. Geburtstages<br />
<strong>von</strong> Dorothea <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong> am 14. September 2002 einer interessierten Öffentlichkeit<br />
vorgelegt <strong>und</strong> anschließend auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Da <strong>Adelbert</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong> bereits zu Lebzeiten häufig illustriert wurde, stellt der gelernte Lithograph<br />
<strong>und</strong> mittlerweile international renommierte Künstler an seine Grafiken hohe<br />
Ansprüche - er verwendet ausschließlich klassische Originalgrafik wie Radierung.<br />
Wer <strong>Lehmann</strong>s Radierungen in der Reihenfolge ihres Entstehens betrachtet, dem<br />
drängt sich ein weiterer Titel für diese Serie auf: "<strong>Bild</strong>er des Fremden". Denn der aus<br />
Frankreich emigierte <strong>Chamisso</strong> hat die Grenzen zu einer anderen Sprache bzw. Kultur<br />
überschritten, um sich darin aufzuhalten - er sah das Fremde mit dem Blick für's Eigene<br />
an <strong>und</strong> umgekehrt. Wo er auch ging, stieß er sich an der Welt <strong>und</strong> zeigte dadurch,<br />
wie sie ist. Das häufig böse gemeinte Scheltwort "unbeholfener Träumer " gilt ihm <strong>und</strong><br />
allen Künstlern, die das Los der Fremdheit teilen <strong>und</strong> sich in ihrer eigenen Welt verankern,<br />
als Ehrentitel. <strong>Lehmann</strong>s Radierungen haben also auch das Andere, Unkonventionelle<br />
<strong>und</strong> nicht Dazugehörende zum Thema - ebenso die künstlerischen Qualitäten,<br />
die das Fremde auszeichnen. Daß die Fremdheit eines <strong>Bild</strong>es, der Widerstand, der <strong>von</strong><br />
ihm ausgeht, ein integraler Bestandteil seines Rätsel- <strong>und</strong> Kunstcharakters ist, versteht<br />
sich <strong>von</strong> selbst.<br />
Weshalb lohnt es sich, die mittlerweile unzähligen <strong>Chamisso</strong>-<strong>Bild</strong>er um weitere zu<br />
_________________________________________<br />
1 Dorothea <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong> ist die letzte Namensträgerin des vom Dichter abstammenden deutschen Familienzweigs.<br />
Sie heiratete 1943 einen Urenkel des Dichters.
In seiner Schlemihl-Dichtung verarbeitet <strong>Chamisso</strong> eine Stelle seines zu spät gekommenen<br />
Kapitels, das er für die beabsichtigte Fortsetzung des <strong>von</strong> Bernhardi, Fouqué,<br />
Neumann <strong>und</strong> Varnhagen verfaßten satirischen Gemeinschaftsromans Die Versuche<br />
<strong>und</strong> Hindernisse Karls, eine Geschichte aus der gegenwärtigen Zeit schrieb (<strong>und</strong> verwarf).<br />
Hier entfaltet er das Thema des Doppelgängers in einer virtuos gestalteten Begegnung<br />
mit dem eigenen Ich. Der durch das sogenannte „Doppelroman“-Projekt Hoppelpoppel<br />
oder Das Herz in Jean Pauls Flegeljahre <strong>und</strong> <strong>von</strong> Goethes Wilhelm Meisters<br />
Lehrjahre angeregte Roman bildet eine Art parodistisches Anti-Erziehungsmodell. Der<br />
erste Teil erschien 1808 ohne Angabe der Verfasser bei Riemer in Berlin <strong>und</strong> Leipzig.<br />
Versuche, in einem zweiten Band das Exper<strong>im</strong>ent zu Ende zu führen, sind nach 1809<br />
belegt. Das Vorhaben, das nie vollendet wurde, hieß Der Roman des Freiherrn <strong>von</strong><br />
Vieren (1815). An diesem Quadrupelroman war <strong>Chamisso</strong> mit Kapiteln <strong>und</strong> Entwürfen<br />
maßgeblich beteiligt. Überliefert sind lediglich einige Kapitelanfänge <strong>von</strong> ihm, Fouqué<br />
<strong>und</strong> Contessa.<br />
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>: Fouqué 31 x 24,4 cm, 90 Exemplare<br />
<strong>Lehmann</strong>s Einzelporträt des Barons Friedrich de la Motte Fouqué, den <strong>Chamisso</strong> <strong>im</strong><br />
Juli 1806 bei Hameln kennenlernte, ist angelehnt an einen Stich <strong>von</strong> Friedrich Fleischmann<br />
nach einer Zeichnung <strong>von</strong> Wilhelm Hensel. Seine Haltung ist kontrolliert, sein<br />
wacher Blick nach vorn gerichtet - als würde er die Augen des Betrachters suchen.<br />
<strong>Chamisso</strong> selbst durfte vor den Blicken des Fre<strong>und</strong>es seine Augen schließen <strong>und</strong> seine<br />
Seele öffnen. So schrieb er am 17. November 1810 Fouqué die melancholisch-lebensmüden<br />
Zeilen: "Das <strong>Leben</strong> gibt mir nichts, gönnt mir aber ein Großes, die müßigste,<br />
ungestörteste Ruhe. - Das <strong>Leben</strong> hat mich eine Zeit lang geschaukelt, ich habe manches<br />
gesehen, gefühlt, erfahren, nun hat mich die Flut auf diesem Ufer einstweilen zurückgelassen,<br />
<strong>und</strong> bis etwa die Ebbe mich wieder weggespült, genieß‘ ich des Schlafes<br />
<strong>und</strong> der Träume [...]."<br />
____________________________________________________<br />
19 Vgl. Alfred Estermann: Dichterkreise/Koproduktionen. In: Ulfert Ricklefs: Fischer Lexikon Literatur. Bd.<br />
1. Frankfurt a. M. 1996, S. 375-396.<br />
20 In: Peter Lahnstein: <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>. Der Preuße aus Frankreich. Frankfurt a. M., Berlin
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>: <strong>Chamisso</strong>s Forschungsreise um die Welt 40 x 30 cm, 90 Exemplare<br />
Die Radierung artikuliert die Bahn des endlichen <strong>Leben</strong>s: Ausgangspunkt <strong>und</strong> Ziel der<br />
<strong>Leben</strong>sreise, deren Sinnbild das Schiff ist. Auf dieser Fahrt <strong>und</strong> He<strong>im</strong>fahrt (Nóstos)<br />
gilt es, allerlei Fährnisse zu bestehen <strong>und</strong> am Ende an einem best<strong>im</strong>mten Ort zu ankern<br />
<strong>und</strong> vor Hafen zu gehen. <strong>Lehmann</strong>s Schiff treibt dem Nordlichtschein der Polarregion<br />
- Symbol der Fre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> Liebe - entgegen, nach dem das Herz des alternden<br />
<strong>Chamisso</strong> verlangt wie der Magnet nach seinem Norden.<br />
Das "<strong>Leben</strong>sbild" enthält eine Vielzahl <strong>von</strong> Requisiten aus <strong>Chamisso</strong>s <strong>Leben</strong>s- <strong>und</strong><br />
Arbeitswelt: Chronometer, Fernrohr <strong>und</strong> eine Weltkarte. Das Fortschreiten des des Zeigers<br />
ist hier ein die Spannung erhöhendes Mittel zur Best<strong>im</strong>mung der „Wiederkehr des<br />
Gleichen“. Aber es mahnt als Zeitzeichen auch an Vergänglichkeit <strong>und</strong> Tod. Die Pflanzen<br />
verweisen auf <strong>Chamisso</strong>s frühen Entschluß, Naturforscher zu werden: So begibt er<br />
sich 1810 wieder nach Paris. Schließlich folgt er August Wilhelm Schlegel ins Exil der<br />
Germaine Baronne de Stael-Holstein. Zu den unmittelbaren Folgen seines Aufenthalts<br />
in Paris <strong>und</strong> Coppet (Schweiz) gehört die Entscheidung, sich den Naturwissenschaften<br />
zu widmen.<br />
Als Naturforscher n<strong>im</strong>mt er an der russischen Pazifik- <strong>und</strong> Arktisexpedition unter<br />
Kapitän Otto <strong>von</strong> Kotzebue teil. Mit Hilfe seines Experten <strong>und</strong> Beraters für Nautik,<br />
Admiral Krusenstern, erarbeitet Nikolai Petrowitsch Graf <strong>von</strong> Rumjanzow den Plan<br />
für diese ausgedehnte Reise (17.8.1815 bis 3.8.1818). Sie dient dem Doppelzweck,<br />
sowohl best<strong>im</strong>mte Teile der Südsee zu erforschen als auch die Möglichkeit einer Nord-<br />
Ost-Passage durch die Bering-Straße in die Arktis <strong>und</strong> <strong>von</strong> dort in den Atlantik auszuk<strong>und</strong>schaften.<br />
Die Fahrt auf der unter russischer Flagge segelnden „Rurik“ führt über<br />
Plymouth, Teneriffa, St. Catharina <strong>und</strong> das Kap Horn herum in die Conception-Bucht<br />
in Chile, wo die eigentliche Entdeckungsreise beginnt. Die Reise<br />
________________________________________<br />
1987 [1984], S. 76.
endet in St. Petersburg. Die Ergebnisse seiner geographischen, geologischen, botanischen<br />
<strong>und</strong> ethnographischen Beobachtungen faßt <strong>Chamisso</strong> unter dem Titel „Bemerkungen<br />
<strong>und</strong> Ansichten“ zusammen. In seinem „Tagebuch“ der Weltreise notiert er, daß<br />
es ihm in seinen Verhältnissen auf dem Schiff wie überhaupt in der Welt ging, wo nur<br />
das <strong>Leben</strong> das <strong>Leben</strong> lehren kann. Er hat - so weit seine Stiefel reichten - die Erde, ihre<br />
Gestaltung, ihre Höhen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre <strong>und</strong> das <strong>Leben</strong> auf ihr, besonders<br />
<strong>im</strong> Pflanzenreich, gründlicher kennen gelernt, als vor ihm irgend ein Mensch.<br />
<strong>Lehmann</strong>s Radierung beinhaltet zwei Schichten: eine offenbare, die in der <strong>Leben</strong>sgeschichte<br />
des Dichters wurzelt <strong>und</strong> eine tieferliegende, die der Betrachter erst nach<br />
einigem Verweilen vor diesem <strong>Bild</strong> der Wissenschaften freilegt. Es ist die Thematik<br />
der Sehnsucht nach dem „Ganzen“, dem absoluten Erkennen <strong>und</strong> der niemals zur<br />
Erscheinung kommenden Vollendung, die dazu verdammt ist, für <strong>im</strong>mer Sehnsucht<br />
zu bleiben. In seiner Studie Deutsche Klassik <strong>und</strong> Romantik (1922) wird das Problem<br />
auch <strong>von</strong> Fritz Strich aufgenommen. „Endlichkeit“, schreibt er, steht vor dem Tor der<br />
Romantik. Daraus „kam ihr Schmerz <strong>und</strong> ihre Sehnsucht, sich des unendlichen <strong>Leben</strong>s<br />
zu bemächtigen“. Möglich ist so etwas nur, wenn die Formen bzw. D<strong>im</strong>ensionen des<br />
Raumes <strong>und</strong> der Zeit zerbrechen, jene Formen also, „in welchen der klassische Geist<br />
seine Ewigkeit verwirklichte“. Freilich darf man nicht vergessen, daß schon das (früh)<br />
romantische Weltgefühl das <strong>Leben</strong> als „unauflösliches Rätsel“ erscheinen läßt <strong>und</strong><br />
den Menschen entsprechend als „unerschöpflich“. So ist das Streben über alle Grenzen<br />
hinaus ins Unendliche, Höhere, Unbekannte, d.h. in die ins End- <strong>und</strong> Grenzenlose<br />
verlängerte Ding- <strong>und</strong> Raumwelt, schon ein Dauerthema <strong>von</strong> Friedrich Schlegel. Das<br />
„eigentlich Widersprechende in unserm Ich“ ist für ihn, „daß wir uns zugleich endlich<br />
<strong>und</strong> unendlich fühlen.“ Dieser Widerspruch würde das Ich durchqueren, weil ihm die<br />
Möglichkeit fehlt, sich mit „einem einzigen Blick“ zu erfassen.<br />
_______________________________________________<br />
21 Fritz Strich: Deutsche Klassik <strong>und</strong> Romantik oder Vollendung <strong>und</strong> Unendlichkeit. Ein Vergleich. München<br />
1922, S. 11.<br />
22 Ludwig Tieck: Ludwig Tieck's Schriften. Bd. 11. Berlin 1828 ff., S. LXXXIX, XC.<br />
23 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. <strong>von</strong> Ernst Behler. Bd. 12. Paderborn,<br />
München, Wien, Zürich 1956 ff., S. 334.<br />
24 Ebd., S. 381.
In sein „Tagebuch“ der Weltreise notiert <strong>Chamisso</strong>: „Aber der Mensch ist ein geistiges<br />
Tier, <strong>und</strong> mit dem Feuer, das er sich geraubt, erkennt er auf der Erde keine Schranken.“<br />
Mit dem Hinweis auf die Symbolfigur des modernen Titanismus ist eine Erfahrung<br />
beschrieben, die in Rahel Varnhagens Brief (5. Februar 1816) an ihren Bruder Ludwig<br />
Robert ihre Entsprechung findet: "Alte gebildete Völker hatten Säulen zu den Grenzen<br />
der Welt. Jetzt aber, wo die ganze Erde bereiset, gekannt, Kompaß, Teleskop, Druckerei,<br />
Menschenrechte, <strong>und</strong> wer weiß alles was erf<strong>und</strong>en ist, was allenthalben geschehen<br />
ist, <strong>und</strong> doch die Urbedürfnisse, Nahrung, Vermehrung, das höhere <strong>und</strong> höhere Wollen,<br />
fort-existieren: wie sollen die alten Sittenerfindungen noch vorhalten [...]? Daran, glaube<br />
ich, krankt die jetzige Welt, so mannigfaltig ausgebildet, groß <strong>und</strong> allgemein war<br />
diese Krankheit noch in keinem uns bekannt gewordenen Zeitpunkt, obgleich sie nur<br />
nach <strong>und</strong> nach diese Ausbreitung gewinnen konnte, wozu eine ewige Anlage da war."<br />
In dieser Radierung hat <strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong> die Thematik des wissenschaftlichen Wagemuts<br />
fortgeschrieben. Dabei setzt er dekorative <strong>und</strong> scharfsinnige Symbole als besonders<br />
typische Varianten seines künstlerischen Stils ein. Das Schiff, dessen Erbauung<br />
schon in der frühen Antike als Verletzung des Meeres galt, steht wiederholt <strong>im</strong> Zentrum<br />
des <strong>Bild</strong>es. Es verweist wie das Motiv der Siebenmeilenstiefel, das <strong>Chamisso</strong>s<br />
Schlemihl-Dichtung entlehnt ist, auf die Nichtbeachtung göttlich gesetzter Grenzen.<br />
Stiefel <strong>und</strong> Schiff töten das <strong>Leben</strong> durch Geschäftigkeit gleichermaßen. Der Gelehrte,<br />
ob in Siebenmeilenstiefeln oder als Forschungsreisender auf dem Schiff, will mehr<br />
wissen, als er wissen dürfte. Eingebettet ist das Schiff zwischen zwei Säulen. <strong>Bernd</strong><br />
<strong>Lehmann</strong> gibt hier die in antiker Zeit mit dem mythischen Namen belegten "Säulen<br />
des Herkules" wieder. Auch <strong>Chamisso</strong> hat den Anfang seiner Schlemihl-Dichtung<br />
(Gartenszenerie) in<br />
__________________________________________<br />
25 In: <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>: Sämtliche <strong>Werk</strong>e in zwei Bänden. Hg. <strong>von</strong> Werner Feudel <strong>und</strong> Christel<br />
Laufer. Bd. 2. München 1982, S. 198.<br />
26 Rahel Varnhagen: Briefe <strong>und</strong> Aufzeichnungen. Hg. <strong>von</strong> Dieter Bähtz. Frankfurt a. M. 1986, S. 260.
Anbindung an die Meerstraße <strong>von</strong> Gibraltar entworfen. Apollodor berichtet, daß Herakles<br />
bei seinem Zug durch Westeuropa <strong>und</strong> Nordwestafrika die Meeresenge <strong>von</strong> Ceuta<br />
<strong>und</strong> Gibraltar erreicht <strong>und</strong> hier zwei Säulen errichtet habe. Diese "columnae fatales"<br />
stehen nach der Prophezeiung des Chorliedes aus Senecas Medea erst am Jüngsten<br />
Tage offen. In Dantes Göttlicher Komödie (1307-1321) steuert Ulyss ins Meer hinaus<br />
<strong>und</strong> ermutigt seine Gefährten, die Säulen des Herkules zu überschreiten <strong>und</strong> den "anderen<br />
Pol" der sonnenabgewandten Seite der Erde zu erforschen. Die Säulen bezeichnen<br />
die Grenzen des Wagemuts mit den Schwellen der bekannten Welt <strong>und</strong> dem göttlichen<br />
Geltungsbereich. Der Weise hält hier an. Sie zurückzudrängen, zu überschreiten<br />
<strong>und</strong> den fremden Raum zu betreten, haben die <strong>Leben</strong>den keine Macht, weil sie mit jener<br />
zusammenfallen würde, die Gott über die Erde hat. Hinter den Säulen des Herkules<br />
ließen die Griechen den mediterranen Erdkreis enden. Nachdem Peter Schlemihl die<br />
zum Anwesen des „reichen“ Herrn John führende Norderstraße „hinaufgestiegen“ war,<br />
sah er „bald die Säulen [!] durch das Grüne sch<strong>im</strong>mern“ <strong>und</strong> zog „in Gottes Namen [!]<br />
die Klingel“. Dies präfiguriert Kapitel X: „Ich trat bei den Herkules-Säulen nach Europa<br />
über“.<br />
<strong>Lehmann</strong>s <strong>Bild</strong> ist gleichsam <strong>von</strong> einer ständigen Über-sich-hinaus-Bewegung geführt.<br />
In ihm ist die Linearität der Zeit aufgehoben. Beide Motive - die Herkulessäulen <strong>und</strong><br />
die Siebenmeilenstiefel - deuten an, daß Zukünftiges antizipiert <strong>und</strong> der Plan der Vorsehung<br />
durch eigene Wünsche ersetzt wird.<br />
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>: <strong>Chamisso</strong> mit kalifornischem Goldmohn 14 x 18, 5 cm, 90 Exemplare<br />
Das <strong>Bild</strong> zeigt die andere Seite <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>s Forschertätigkeit: das "Bleibende" <strong>im</strong><br />
autonomen Bereich der Dichtung (Feder) <strong>und</strong> Wissenschaft (Mohn). Ein Passus aus<br />
_____________________________________________<br />
27 Manfred Frank: Die unendliche Fahrt. Die Geschichte des Fliegenden Holländers <strong>und</strong> verwandter Motive.<br />
Leipzig 1995, S. 18.<br />
28 <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>: Sämtliche <strong>Werk</strong>e in zwei Bänden. Hg. <strong>von</strong> Werner Feudel <strong>und</strong> Christel Laufer.<br />
Bd. 2. München 1982, S. 81-646. Hier: S. 200. S. 23.<br />
29 Ebd., S. 73
seinem Tagebuch der Weltreise ("Erster Bericht über eine Expedition"): "Ich werde<br />
alle Pflanzen beschreiben, Doktor Eschscholtz hingegen alle Insekten. Was wir gemeinsam<br />
gesammelt haben, teilen wir in diesem Sinn auf. Diese botanische Arbeit<br />
wird vielleicht mein Hauptwerk sein; ich wünsche, mir damit einen Namen zu machen."<br />
Unter den Wissenschaftlern ist <strong>Chamisso</strong> als jener Naturforscher bekannt, der<br />
als Erster die Ufer des Pazifik abgesucht, eine reiche Pflanzensammlung he<strong>im</strong>gebracht<br />
<strong>und</strong> den kalifornischen Goldmohn, den <strong>Lehmann</strong> hier ins <strong>Bild</strong> setzte, entdeckt <strong>und</strong><br />
beschrieben hat.<br />
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>: Du bist mein einziges Licht 29,5 x 23 cm, 90 Exemplare<br />
Diese Radierung wirkt auf den Betrachter unaufdringlich, tief <strong>und</strong> leise. Das <strong>Bild</strong> wird<br />
zum Sprechen gebracht, wenn man es mit "fühlendem Herzen" ansieht. <strong>Lehmann</strong>s<br />
Arbeiten würden missverstanden werden, wenn wiederkehrende Symbole wie Feder<br />
<strong>und</strong> Rose nur als Zierat <strong>und</strong> Dekoration wahrgenommen würden. Wer das tut, hat seine<br />
Arbeiten nicht verstanden. Nie würde er nur das malen, was er vor sich sieht – wichtig<br />
ist ihm vor allem die Wiedergabe dessen, was er in sich sieht. Die Rose, dieses alte<br />
abendländische Symbol der unio mystica, ist in den Radierungen <strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>s<br />
auch ein Symbol der Andacht, der Liebe <strong>und</strong> der Schönheit. Sie bildet zusammen<br />
mit der Schreibfeder den Rahmen für <strong>Chamisso</strong>s Hochzeitsbild. Im Gegensatz zum<br />
überlieferten <strong>Bild</strong>, das den Bräutigam seiner jungen Braut angleicht, zeigt <strong>Lehmann</strong>s<br />
Radierung den in die Jahre gekommenen Dichter neben seiner Ehefrau. Am 25. September<br />
1819 heiratet <strong>Chamisso</strong> Antonie Piaste, eine Ziehtochter Hitzigs. Er kennt sie<br />
schon als Kind, doch wagt er kaum zu hoffen, <strong>von</strong> der damals gerade Achtzehnjährigen<br />
das Jawort zu erhalten. Bis zu seiner Eheschließung sind etliche seiner Gedichte<br />
durch einen melancholisch-lebensmüden Ton gekennzeichnet. Im Sommer 1819<br />
schreibt er das Gedicht <strong>Adelbert</strong> an seine Braut. Seine beschädigten Sinne (blind, taub)<br />
konnten wieder geheilt werden:<br />
Ich schlich so blöd für mich allein,<br />
__________________________________________<br />
30 <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>: Und lassen gelten, was ich beobachtet habe. Naturwissenschaftliche Schriften mit<br />
Zeichnungen des Autors. Hg. <strong>von</strong> Ruth Schneebeli-Graf. Berlin 1983, S. 17.
Ich wälzte so mich in den Staub,<br />
Ich war so blind, ich war so taub,<br />
Ich war so nackt, ich war so kalt.<br />
Ich war so arm, ich war so alt,<br />
Und bin nun aller Siechheit los.<br />
In den Augen seiner Familie war die Verbindung mit einer mittellosen Bürgerlichen<br />
etwas Unerhörtes, doch ließ sich <strong>Chamisso</strong> da<strong>von</strong> nicht beeindrucken. Knapp ein Jahr<br />
vor <strong>Chamisso</strong>s Tod, am 21. Mai 1837, stirbt seine Frau. Die folgenden Erinnerungsbilder,<br />
die <strong>Chamisso</strong> kurz vor seinem Tod „aufgingen“, zeigen, wie der Dichter die<br />
Anwesenheit der untergegangenen Vergangenheit erzwingt. <strong>Chamisso</strong> schreibt in der<br />
letzten Zeit vor seinem Tod <strong>im</strong> Rückblick auf sein <strong>Leben</strong>: "Ich werde alt, das Gedächtnis<br />
für die jüngste Zeit geht mir aus, <strong>und</strong> mich erschrecken Töne, Worte, <strong>Bild</strong>er aus<br />
meiner frühesten Kindheit, die mir unversehens aufgehen [...], <strong>und</strong> ich träume nur vom<br />
Schlosse Boncourt <strong>und</strong> dem Reg<strong>im</strong>ent Götze, kaum einmal <strong>von</strong> meiner Frau, kaum<br />
<strong>von</strong> meinen Kindern, denen ich doch lebe [...] ich fühle wohl, daß es Abend ist."<br />
Das Zitat bestätigt einmal mehr, daß sich das menschliche <strong>Leben</strong> nur in der Macht <strong>und</strong><br />
Andacht erinnerter <strong>Bild</strong>er (griechisch „phantasmata“, lateinisch „<strong>im</strong>agines“) selbst erfassen<br />
kann. Von daher werden auch die Sibyllinischen Verse verständlich, die Emilie<br />
Piaste <strong>von</strong> ihrem Schwager <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong> zu Weihnachten 1821 erhielt:<br />
Wenn <strong>Leben</strong>sbilder [!] sich verwirrt bewegen,<br />
Und fast wie Rätsel unserm Aug gestalten,<br />
Kann Seherskunst nur ihre Deutung hegen.<br />
[...]<br />
Aus düstern Klosters Hallen, sondergleichen,<br />
______________________________________________<br />
31 <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>: Sämtliche <strong>Werk</strong>e in zwei Bänden. Hg. <strong>von</strong> Werner Feudel <strong>und</strong> Christel Laufer.<br />
Bd.1. München 1982, S. 486.<br />
32 <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>s <strong>Werk</strong>e. Besorgt <strong>von</strong> Friedrich Palm. 6 Bde. 5. vermehrte [<strong>und</strong> berichtigte] Auflage.<br />
Bd. VI, Berlin 1864, S. 244.<br />
Erschallen St<strong>im</strong>men, die dem Maulwurf rufen,<br />
Bemüht zu greifen in des Schicksals Speichen.
<strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong> -<br />
<strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Werk</strong> <strong>im</strong> <strong>Bild</strong><br />
Die Ausstellung der Radierungen <strong>von</strong> <strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong> zum Thema "<strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong><br />
<strong>Chamisso</strong> - <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Werk</strong> <strong>im</strong> <strong>Bild</strong>" war vom 9. bis 14. Oktober auf der Internationalen<br />
Frankfurter Buchmesse zu sehen. Der Neuenkirchener Künstler beschäftigte<br />
sich diesmal ausschließlich mit einem einzigen Autor. <strong>Chamisso</strong> ist einer der<br />
deutschen Dichter französischer Herkunft, dessen Bücher weltweit häufig illustriert<br />
worden sind. <strong>Lehmann</strong>s Anliegen war nicht nur die Wiedergabe historischer<br />
Radierungen, sondern vor allem die Interpretation seines <strong>Werk</strong>es.<br />
Die überwältigende positive Resonanz seines Messeauftritts bestärkte <strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong><br />
in seiner Entscheidung, diese anspruchsvolle Thematik in den Mittelpunkt<br />
der Frankfurter Buchmesse gestellt zu haben. Sie ist nur der Ausgangspunkt für<br />
weitere Aktivitäten <strong>und</strong> Projekte des Künstlers: So meldeten zahlreiche Buchhandlungen<br />
Interesse an dieser Edition an.<br />
Prof. Dr. Manfred Frank, Philosophieprofessor an der Universität Tübingen, hat<br />
als Herausgeber des "Athenäum. Jahrbuch für Romantik" den Wunsch geäußert,<br />
<strong>Chamisso</strong>-Radierungen für das Jahrbuch 2003 zur Verfügung zu stellen. Umrahmt<br />
wird die hier abgedruckte Edition <strong>von</strong> einem 20-seitigen Kommentar <strong>von</strong> Dr. Alexandra<br />
Hildebrandt, die über <strong>Chamisso</strong> promoviert hat.<br />
<strong>Chamisso</strong> ist allerdings nur ein Teilsegment seines künstlerischen Gesamtwerkes.<br />
So wird er auf vielfachen Wunsch seiner K<strong>und</strong>en <strong>im</strong> Frühjahr 2003 eine l<strong>im</strong>itierte<br />
Rilke-Edition mit dem Titel "Dir zur Feier" herausbringen. 15 Original-Radierungen<br />
sind mit bekannten <strong>und</strong> weniger bekannten Rilke-Gedichten zum Thema<br />
"Blumen" versehen. Im Mittelpunkt wird selbstverständlich die bis zu seinem<br />
<strong>Leben</strong>sende verherrlichte Rose stehen (siehe beiliegenden Text zur Blumen-Kollektion<br />
des Künstlers).<br />
Weshalb lohnt es sich, die mittlerweile unzähligen Dichter-<strong>Bild</strong>er um weitere zu<br />
vermehren? - Der Gr<strong>und</strong> liegt auf der Hand: Die Darstellungen der Dichters <strong>und</strong><br />
die Illustrationen zu ihren <strong>Werk</strong>en werden zu verschiedenen Zeiten anders gesehen<br />
<strong>und</strong> gedeutet. Mit den Originalvorlagen ist es nicht getan. Gab doch schon<br />
Goethe zu bedenken, daß, wer sich nur mit dem Vergangenen beschäftigt, zuletzt<br />
in Gefahr kommt, das Mumienhafte vertrocknet an sein Herz zu schließen. Von<br />
den hier genannten Dichtern gehen Impulse aus, die damals wie heute <strong>von</strong> großer<br />
Tragweite <strong>und</strong> Aktualität sind. <strong>Lehmann</strong>s Radierungen sind ein Kompaß zu ihrer<br />
Dichtung <strong>und</strong> Wahrheit. Sie laden die Augen der Betrachter dazu ein, nach Belieben<br />
hin- <strong>und</strong> herzuspringen, wie jemand, der mit den wechselnden Formen eines<br />
Kaleidoskopes spielt.
vermehren? Der Gr<strong>und</strong> liegt auf der Hand: Die Darstellungen des Dichters <strong>und</strong> die<br />
Illustrationen zu seinen <strong>Werk</strong>en werden zu verschiedenen Zeiten anders gesehen <strong>und</strong><br />
gedeutet. Mit den Originalvorlagen ist es nicht getan. Gab doch schon Goethe zu bedenken,<br />
daß, wer sich nur mit dem Vergangenen beschäftigt, zuletzt in Gefahr kommt,<br />
das Mumienhafte vertrocknet an sein Herz zu schließen. Von <strong>Chamisso</strong>s <strong>Leben</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Werk</strong> gehen Impulse aus, die damals wie heute <strong>von</strong> großer Tragweite <strong>und</strong> Aktualität<br />
sind. <strong>Lehmann</strong>s Radierungen, auf denen in wiedererkennbarer Weise die Gänsefeder<br />
als Symbol der schönen Handschrift <strong>und</strong> der Literatur zu finden ist, sind ein Kompaß<br />
zu <strong>Chamisso</strong>s Dichtung <strong>und</strong> Wahrheit. Die <strong>Bild</strong>er laden die Augen des Betrachters<br />
dazu ein, in ihnen nach Belieben hin- <strong>und</strong> herzuspringen, wie jemand, der mit den<br />
wechselnden Formen eines Kaleidoskopes spielt.<br />
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>: <strong>Chamisso</strong><br />
21 x 28,5 cm, 90 Exemplare<br />
In der Reihenfolge des Entstehens <strong>von</strong> <strong>Lehmann</strong>s Radierungen ist <strong>Chamisso</strong> das erste<br />
<strong>Bild</strong>. Was <strong>im</strong> Erfahrungsraum dieser Serie Bedeutung gewinnt, sammelt sich in diesem<br />
Porträt. Es zeigt den erhabenen, distanzierten Welt-Blick eines Anhängers der Einsamkeit,<br />
der an seinem Schatten festhält. <strong>Chamisso</strong>s „Mangel an Talent für die Welt“<br />
drückt am besten eine Briefpassage an Friedrich de la Motte Fouqué vom 17. November<br />
1810 aus: "Abneigung gegen dieselbe (wechselseitige Ursache <strong>und</strong> Wirkung, die<br />
sich steigern)", heißt es dort, "sind mein Einsiedler-Beruf; ich habe keine Lust am<br />
Spiele der Welt, ich habe auch keinen Ort in ihr, ich bin nicht Herrscher, nicht Diener,<br />
kein schaffender <strong>und</strong> schafflustiger Künstler - ein Gelehrter kann ich auch nicht sein.<br />
- Ich wollte nur wohlwollenden Gesinnungen leben, in die Stille <strong>und</strong> die Dunkelheit<br />
mich zurücke ziehen <strong>und</strong> mit leisem Sinn für Natur <strong>und</strong> Kunst mein <strong>Leben</strong> zieren. -<br />
Bei anderen religiösen Begriffen, nach schmerzlicher Verzichtleistung, zu der ein guter<br />
Anfang gemacht, würd‘ ich wohl <strong>im</strong> Gebirge eine Klause bauen <strong>und</strong> Eremit werden."<br />
__________________________________________<br />
2 <strong>Chamisso</strong>s <strong>Werk</strong>e in 5 Teilen. [Aufgr<strong>und</strong> der Hempelschen Ausgabe] neu herausgegeben mit Einleitungen<br />
<strong>und</strong> Anmerkungen [<strong>und</strong> mit einem <strong>Leben</strong>sbild] versehen <strong>von</strong> Max Sydow. Bd. 1. Berlin, Leipzig, Wien,<br />
Stuttgart 1908/1909, S. LXXIV.
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>: Knabenbildnis <strong>Chamisso</strong> 19 x 24,5 cm, 90 Exemplare<br />
Die Radierung zeigt <strong>Chamisso</strong> <strong>im</strong> Alter <strong>von</strong> acht Jahren. Sie lehnt sich an eine datierte<br />
<strong>und</strong> signierte Rötelzeichnung (Mai 1798) <strong>von</strong> Jean-Baptiste Félix Lionnet (1762-1816)<br />
an. <strong>Lehmann</strong>s Knabengesicht ist keineswegs idealisiert: Es wendet seinen Blick, der<br />
keineswegs kindlich zu nennen ist, <strong>von</strong> der Vergangenheit ab. <strong>Lehmann</strong> deutet damit<br />
an, daß sich <strong>Chamisso</strong> schon in seiner Kindheit <strong>und</strong> Jugend <strong>von</strong> seiner alltäglichen<br />
Umwelt abschloß, Einsamkeit <strong>und</strong> Stille suchte <strong>und</strong> sich durch einen für sein Alter<br />
spezifischen Ernst auszeichnete. Im Familienkreis nannte ihn die Mutter wortkarg <strong>und</strong><br />
ungesellig. Von seiner einzigen Schwester Madeleine wird er als Einzelgänger geschildert,<br />
der <strong>im</strong> Schloßgarten <strong>von</strong> Boncourt gern seinen eigenen Gedanken nachging. Im<br />
„Tagebuch“ der Reise um die Welt notiert <strong>Chamisso</strong> später, daß er nie <strong>von</strong> der Gegenwart<br />
träumte, nie <strong>von</strong> der Reise <strong>und</strong> nie <strong>von</strong> der Welt, der er angehörte. Er wollte<br />
wieder ein Kind <strong>und</strong> in seiner vertrauten Umgebung sein. Die Kindheit ist ihm zur<br />
Er-Innerung an die verlorene He<strong>im</strong>at geworden, die ihm nun bildlich vor das geistige<br />
Auge tritt: „[...] die Jahre wurden zurückgeschraubt, ich war wieder <strong>im</strong> Vaterhause,<br />
<strong>und</strong> meine toten <strong>und</strong> verschollenen Gestalten umringten mich, sich in alltäglicher Gewöhnlichkeit<br />
bewegend, als sei ich nie über die Jahre hinausgewachsen, als habe der<br />
Tod sie nicht gemäht.“<br />
So findet sich auf dieser Radierung auch die Thematik der He<strong>im</strong>atlosigkeit des zwischen<br />
dem 27. <strong>und</strong> 30. Januar 1781 als sechstes Kind des Louis Marie de <strong>Chamisso</strong>t<br />
<strong>und</strong> seiner Frau Marie Anne Gargam auf Schloß Boncourt in der Champagne geborenen<br />
<strong>Adelbert</strong> wieder: 1792 schließt sich der Comte, der zum lothringischen Uradel<br />
gehört, dem Emigrantenheer des Herzogs <strong>von</strong> Broglie an. 1793 wird das Stammschloß<br />
Boncourt zum Kauf angeboten <strong>und</strong> - da es keinen Käufer findet – zum Abriß freigegeben.<br />
(Der Gr<strong>und</strong>riß ist in <strong>Lehmann</strong>s Radierung angedeutet.) Es wirft ein bezeichnendes<br />
Licht auf die prekäre persönliche Situation des inneren <strong>und</strong> äußeren Exils, wenn<br />
<strong>Chamisso</strong> noch <strong>im</strong> Jahr 1827 <strong>im</strong> "Schloß<br />
_________________________________________<br />
3 <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>: Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdeckungs-Expedition in den Jahren<br />
1815-1818. In: <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>: Sämtliche <strong>Werk</strong>e in zwei Bänden. Hg. <strong>von</strong> Werner Feudel <strong>und</strong><br />
Christel Laufer. Bd. 2. München 1982, S. 81-646. Hier: S. 200.
Boncourt" mit epischer Ausführlichkeit die Ruinen des väterlichen Schlosses besingt.<br />
Die Stationen der Familie, dessen Wappen <strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong> ebenfalls in seine Radierung<br />
integriert hat, lassen sich erst ab 1794 genau verfolgen. Im Mai 1796 erhält<br />
<strong>Chamisso</strong> in Berlin, wo er zunächst als Porzellanmaler in der Königlichen Manufaktur<br />
arbeitet, eine Stelle als Page bei der Königin Louise. 1798 wird er zum Fähnrich<br />
<strong>im</strong> Infanterie-Reg<strong>im</strong>ent <strong>von</strong> Götze ernannt. Erste dichterische Versuche fallen in den<br />
Anfang des Jahres 1802. Mit dem Zusammenbruch des preußischen Staates beginnen<br />
für <strong>Chamisso</strong> erneut unruhige Jahre der Wanderschaft. Desillosioniert geht er zunächst<br />
nach Frankreich, kehrte aber 1807 nach Berlin zurück. Von Mai bis Oktober 1813 hält<br />
sich <strong>Chamisso</strong> in Kunersdorf <strong>im</strong> Oderbruch auf. Hier entsteht seine weltberühmte<br />
Geld- <strong>und</strong> Schattennovelle Peter Schlemihls w<strong>und</strong>ersame Geschichte. Von 1815 bis<br />
1818 n<strong>im</strong>mt er an einer russischen Pazifik- <strong>und</strong> Antarktisexpedition teil. 1819 wird er<br />
zum Ehrendoktor der Berliner Universität ernannt, einige Tage später wird er Mitglied<br />
der Gesellschaft Naturforschender Fre<strong>und</strong>e in Berlin. Ostern 1831 erscheint <strong>im</strong> Weidenmannschen<br />
Verlag eine Gesamtausgabe seiner Gedichte. Ernennungen folgen <strong>im</strong><br />
April 1833 zum ersten Kustos am Königlichen Herbarium <strong>und</strong> <strong>im</strong> Januar 1835 zum<br />
Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. Von Februar bis April 1838 arbeitet<br />
<strong>Chamisso</strong> an den Nachdichtungen der Lieder Bérangers. Am 21. August stirbt er in<br />
Berlin <strong>und</strong> wird zwei Tage später auf dem Friedhof vor dem Halleschen Tor begraben.<br />
Am Dienstag, den 28. August, notiert Varnhagen in sein Tagebuch: "Alle Tagesblätter<br />
gedenken des guten <strong>Chamisso</strong> in großen Ehren! Möchte Aristoteles Recht haben, daß<br />
die Todten noch für hiesige Eindrücke längere Zeit empfänglich bleiben, ihnen Gutes<br />
widerfahren könne! In der letzten Nacht, eh er starb, sprach er phantasierend <strong>im</strong>merfort<br />
französisch: die ursprüngliche Eigenart brach hervor, er starb wie ergeboren wurde,<br />
als Franzose."<br />
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>: <strong>Chamisso</strong>s Figaro<br />
23 x 30 cm, 90 Exemplare<br />
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong> ist mit der Kombination Porträt-Pudel-Schatten ein besonderer<br />
_________________________________________<br />
4 In: Alexandra Hildebrandt: Die Poesie des Fremden. Neue Einblicke in <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>s "Peter<br />
Schlemihls w<strong>und</strong>ersame Geschichte". Frankfurt/M. 1998, S. 167.
Kunstgriff gelungen. Denn in ihm spiegeln sich zugleich die melancholischen Züge<br />
des Dichters. So ist die Hieroglyphe des H<strong>und</strong>es in mehreren astrologischen Quellen<br />
als typisches Saturntier erwähnt <strong>und</strong> kehrt in Fausts Pudel wieder. Nach Ansicht <strong>von</strong><br />
Raymond Klibansky, Erwin Panofsky <strong>und</strong> Fritz Saxl sei er begabter <strong>und</strong> feinfühliger<br />
als andere Tiere. Auch sei er sehr ernster Natur <strong>und</strong> könne dem Irrsinn leicht anhe<strong>im</strong>fallen.<br />
Wie tiefsinnige Denker neige er dazu, „stets auf der Jagd zu sein, die Dinge aufzuspüren<br />
<strong>und</strong> beständig einer Sache nachzuhängen.“ <strong>Lehmann</strong> bezieht sich in seinem<br />
<strong>Bild</strong> auf einen Passus aus dem letzten Kapitel der Schlemihl-Dichtung: "Wie ich längs<br />
der syrischen Küste den Weg, auf dem ich mich zum letzten Mal vom Hause entfernt<br />
hatte, zurücklegte, sah ich meinen armen Figaro entgegen kommen. Dieser vortreffliche<br />
Pudel [!] schien seinem Herrn [...] nachgehen zu wollen. [...] Er sprang bellend an<br />
mich mit tausend rührenden Äußerungen seiner unschuldigen ausgelassenen Freude.<br />
Ich nahm ihn unter den Arm [...] <strong>und</strong> brachte ihn [...] nach Hause."<br />
„Figaro“ war der Name <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>s Pudel während der Leutnantszeit. Traditionell<br />
hieß der Lieblingsh<strong>und</strong> der <strong>Chamisso</strong>-Familie ebenfalls "Figaro". Hippolyte besaß drei<br />
H<strong>und</strong>e, der vom Sohn Félix am häufigsten gezeichnete war allerdings Figaro. Das Motiv<br />
des Wiedersehens in der Schlemihl-Dichtung scheint<br />
____________________________________________<br />
5 Vgl. Franz Boll: Sternglaube <strong>und</strong> Sterndeutung. Die Geschichte <strong>und</strong> das Wesen der Astrologie. Hg. <strong>von</strong> W.<br />
G<strong>und</strong>el. 4. Auflage. Leipzig, Berlin 1931 [1919], S. 114.<br />
6 Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Saturn <strong>und</strong> Melancholie. Studien zur geschichte der<br />
Naturphilosophie <strong>und</strong> Medizin, der Religion <strong>und</strong> der Kunst. Übersetzt <strong>von</strong> Christa Buschendorf. Frankfurt a.<br />
M. 1992 {1964], S. 455. Zur traditionellen Verknüpfung des H<strong>und</strong>es mit der Melancholie vgl. Erwin Panofsky:<br />
Die Kulmination des Kupferstiches: Albrecht Dürers „Melencolia I“. In: Lutz Walther: Melancholie.<br />
Leipzig 1999, S. 86-106. Hier: S. 88.<br />
7 <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>: Sämtliche <strong>Werk</strong>e in zwei Bänden. Hg. <strong>von</strong> Werner Feudel <strong>und</strong> Christel Laufer. Bd.<br />
2., S. 77 f.<br />
8 Vgl. <strong>Chamisso</strong>s Briefe an Varnhagen <strong>und</strong> Neumann vom 6.11., 16.11. <strong>und</strong> 4.12.1805. In: <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong><br />
<strong>Chamisso</strong>s <strong>Werk</strong>e. Besorgt <strong>von</strong> Friedrich Palm. 6 Bde. 5. vermehrte [<strong>und</strong> berichtigte] Auflage. Bd. V. Berlin<br />
1864, S. 101, 104 <strong>und</strong> 111; René Riegel: Correspondance d' Adalbert de <strong>Chamisso</strong>. Fragments inédits.<br />
(Lettres de <strong>Chamisso</strong>, Louis de la Foye, Helmina de Chézy, Varnhagen <strong>von</strong> Ense, Wilhelm Neumann, J. A.<br />
W. Neander) suivis de Das stille Julchen pa Helmina de Chézy. Paris 1934, S. 104.<br />
9 Briefliche Mitteilung Dorothea <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>s (4.2.1999).
<strong>im</strong> <strong>Leben</strong>sgr<strong>und</strong> des Dichters selbst zu wurzeln. Das belegt eine Briefaussage vom 6.<br />
November 1805, die auch <strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong> vorgelegen hat, denn er zitiert auf seinem<br />
<strong>Bild</strong> den Satz vom "guten, getreuen Pudelhaupt": "Zu den heftigen, lebhaften Fre<strong>und</strong>en,<br />
die ich in diesem Zuge erlebet habe, zähle ich nach dreiwöchiger Trennung meinen<br />
vielgeliebten, guten, herrlichen Figaro wieder umarmt zu haben, - o was hätten wir<br />
uns nicht alles zu erzählen, Du mein armes, gutes getreues Pudelhaupt, er ist doch der<br />
einzige vernünftige Mensch, den ich jetzt sprechen kann, ich will noch zu ihm meinen<br />
guten getreuen Bendel zählen, mit dem ich manchmal sehr vertrauliche Gespräche führe<br />
<strong>und</strong> dem ich es auch wohl oft sage, wie es mir ums Herz ist, aber nach den Zweien<br />
wüßt‘ ich keinen zu nennen."<br />
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>: Jean-Jacques Rousseau <strong>und</strong> <strong>Chamisso</strong><br />
30 x 23,5 cm, 90 Exemplare<br />
Der junge Rousseau <strong>und</strong> der alte <strong>Chamisso</strong> - zwischen ihnen ein Gartenhaus, das zwischen<br />
sich <strong>und</strong> der bürgerlichen Welt eine weite Distanz legt. Die Auswahl der Motive<br />
auf dieser Radierung muten auf den ersten Blick sonderbar an, <strong>und</strong> doch gibt es<br />
eine Verwandtschaft zwischen ihnen, die das <strong>Bild</strong> <strong>im</strong> Innersten zusammenhält. Dass<br />
die Lektüre des französischen Philosophen <strong>und</strong> Schriftstellers Jean-Jacques Rousseau<br />
<strong>Chamisso</strong> nachhaltig beeinflußten, ist seit 1799 belegt. Spätestens seit Rousseaus Rêveries<br />
du Promeneur Solitaire ist der Garten Ort einer kontemplativ-elegischen Haltung.<br />
Die gesellschaftliche Kälte fliehend, finden Rousseau <strong>und</strong> <strong>Chamisso</strong> in ihren<br />
Gartenhäusern das Paradies wieder.<br />
Während sich <strong>Chamisso</strong> in jungen Jahren in Coppet (Schweiz) aufhielt, entdeckte er<br />
– wie Rousseau - seine Liebe zur Naturwissenschaft <strong>und</strong> wandte sich <strong>von</strong> philosophischen<br />
Spekulationen ab. Er forderte <strong>von</strong> sich selbst den Eintritt in ein tätiges <strong>Leben</strong>.<br />
Unter Anleitung <strong>von</strong> Auguste Louis Baron de Stael-Holstein machte er einige naturwissenschaftliche<br />
Studien. Im August 1810, vor seiner „Pilgerfahrt“<br />
___________________________________________<br />
10 <strong>Chamisso</strong>s <strong>Werk</strong>e in 5 Teilen. [Aufgr<strong>und</strong> der Hempelschen Ausgabe] neu herausgegeben mit Einleitungen<br />
<strong>und</strong> Anmerkungen [<strong>und</strong> mit einem <strong>Leben</strong>sbild] versehen <strong>von</strong> Max Sydow. Bd. 1. Berlin, Leipzig, Wien,<br />
Stuttgart 1908/1909, S. 275.<br />
11 Ebd., S. XXVIII.
nach Frankreich, äußerte sich <strong>Chamisso</strong> über die ideale <strong>Leben</strong>sform des christlichen<br />
Visionärs, das Einsiedlertum: „Die See, die Schweiz <strong>und</strong> die Wüste ist der räumliche<br />
Bereich, in dem man am wenigsten an irgendwelche Dinge gefesselt wird. Die<br />
Rheinufer ziehen jetzt meinen Sinn gewaltiger an, denn alle Kunst <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
<strong>und</strong> Menschenverkehr. [...] ich werde auch noch einmal ein Einsiedler.“<br />
Weshalb ist <strong>Chamisso</strong> auf dieser Radierung als älterer Mann dargestellt? - <strong>Lehmann</strong>s<br />
Kunstgriff deutet auf eine Empfindung hin, die Rousseau <strong>und</strong> <strong>Chamisso</strong> gleichermaßen<br />
eigen war: das temporäre Abgestorbensein. Das Gefühl ungelebten <strong>Leben</strong>s beschreibt<br />
Rousseau in den Confessions <strong>von</strong> 1782. Über den Anlaß der Nouvelle Héloise heißt<br />
es dort: "Die Erinnerungen an die verschiedenen Phasen meines <strong>Leben</strong>s führen mich<br />
dazu, darüber nachzudenken, wo ich nun angelangt war; <strong>und</strong> ich sah mich schon <strong>im</strong><br />
Alter des Niedergangs, Beute schmerzhafter Krankheit, glaubte mich dem Ende meines<br />
Laufes nahe, ohne fast irgendeine der Freuden, nach denen mein Herz verlangte,<br />
in ihrer Fülle genossen zu haben [...]. Verzehrt vom Bedürfnis nach Liebe, ohne daß<br />
ich es je hätte stillen können, sah ich mich an der Schwelle des Alters angelangt <strong>und</strong><br />
sterben, ohne gelebt zu haben." Mit <strong>Chamisso</strong>s ergrautem Kopfhaar auf <strong>Lehmann</strong>s<br />
Radierung hängt also sein biographisches Generalthema zusammen: die vorzeitige<br />
Vergreisung. Das Attribut der Vergänglichkeit erscheint in Gestalt der grauen Haare in<br />
etlichen seiner Gedichte. Genannt seien hier nur Der neue Ahasverus, Hochzeitslieder,<br />
Vor dem <strong>Bild</strong>e <strong>von</strong> Karl Lessing, Berlin. Im Jahr 1831, Der Klapperstorch, Im Herbst<br />
<strong>und</strong> Auf den Tod <strong>von</strong> Otto <strong>von</strong> Pirch. - „Mir ist schon grau ums Haupt <strong>und</strong> kühl ums<br />
Herz - noch wenige Pendelschwingungen <strong>und</strong> ich zähle vierzig“, schreibt er <strong>im</strong> Jahre<br />
1819 an Rosa Maria Varnhagen. Ihr hatte er sich schon 1811 anvertraut: „Freilich geht<br />
es mit den Jahren hinab, <strong>und</strong> jedes Ziel scheint mit ihnen zu weichen; aber auch<br />
_______________________________________________<br />
12 Ernst Benz: Die Vision. Erfahrungsformen <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>erwelt. Stuttgart 1969, S. 64.<br />
13 <strong>Chamisso</strong>s <strong>Werk</strong>e in 5 Teilen. [Aufgr<strong>und</strong> der Hempelschen Ausgabe] neu herausgegeben mit Einleitungen<br />
<strong>und</strong> Anmerkungen [<strong>und</strong> mit einem <strong>Leben</strong>sbild] versehen <strong>von</strong> Max Sydow. Bd. 1. Berlin, Leipzig, Wien,<br />
Stuttgart 1908/1909, S. LXXIV.<br />
14 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Nach der Übersetzung <strong>von</strong> Levin Schücking neu bearbeitet <strong>und</strong><br />
herausgegeben <strong>von</strong> Konrad Wolter <strong>und</strong> Hans Bretschneider. Bd. 2. Leipzig, Wien o. J. [1786 ff.], S. 214.
deshalb will ich nicht murren“. Im Februar 1811 notierte sich der gerade dreißigjährige<br />
<strong>Chamisso</strong> die melancholisch-lebensmüden Verse, in der das einfache „alt“ wiederholt<br />
ohne verborgene Steigerungsmöglichkeiten erscheint:<br />
Bin so alt geworden,<br />
alt <strong>und</strong> schwach <strong>und</strong> blind<br />
Ach! verweht mein <strong>Leben</strong>,<br />
Wie <strong>im</strong> Nebelwind!<br />
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>: Nordsternb<strong>und</strong> (v.l.n.r.: E.T.A. Hoffmann, <strong>Chamisso</strong>, Hitzig, Fouqué)<br />
28,5 x 22 cm, 90 Exemplare<br />
Mit der vorgegebenen <strong>Bild</strong>-Richtung "Norden" schließt <strong>Lehmann</strong> inhaltlich an die<br />
Rousseau-<strong>Chamisso</strong>-Radierung an, denn für den Dichter war der Norden nicht nur<br />
feierlich bedeutendes Symbol für Glück <strong>im</strong> allgemeinen <strong>und</strong> Ort der Wissenschaften<br />
<strong>im</strong> besonderen, sondern auch für notwendiges Werden <strong>und</strong> Vergehen. Unter dem 21.<br />
Juli 1815 findet sich in seinem „Tagebuch“ der Weltreise die Eintragung: „Süden <strong>und</strong><br />
Norden sind wie Jugend <strong>und</strong> Alter; zwischen beiden denkt sich jeder, so lang er kann;<br />
alt sein <strong>und</strong> dem Norden angehören will kein Mensch.“ Am 24. Mai 1827 teilt <strong>Chamisso</strong><br />
Rosa Maria Varnhagen mit, daß seine Haare zwar grau geworden sind, aber<br />
das Herz sei noch „frisch“, „<strong>und</strong> alt wird man in gewissem Sinne nicht, wenn man es<br />
selbst nicht zuläßt.“<br />
Vordergründig aber ist diese Radierung ein <strong>Bild</strong> fre<strong>und</strong>schaftlicher Verb<strong>und</strong>enheit.<br />
________________________________________________<br />
15 <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>: Sämtliche <strong>Werk</strong>e in zwei Bänden. Hg. <strong>von</strong> Werner Feudel <strong>und</strong> Christel Laufer.<br />
Bd.1, München 1982, S. 62.<br />
16 Zur Bedeutung des Nordens <strong>im</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Chamisso</strong>s vgl. Alexandra Hildebrandt: Die Poesie des Fremden.<br />
Neue Einblicke in <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>s "Peter Schlemihls w<strong>und</strong>ersame Geschichte". Frankfurt/M.<br />
1998, S. 125.<br />
17 <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>: Sämtliche <strong>Werk</strong>e in zwei Bänden. Hg. <strong>von</strong> Werner Feudel <strong>und</strong> Christel Laufer.<br />
Bd. 2., München 1982, S. 93.<br />
18 Robert Fischer: <strong>Adelbert</strong> <strong>von</strong> <strong>Chamisso</strong>. Weltbürger, Naturforscher <strong>und</strong> Dichter. Vorwort <strong>von</strong> Rafik<br />
Schami. 5. Auflage. München 1994, S. 177.
Es zeigt die Porträts <strong>von</strong> E.T.A. Hoffmann, <strong>Chamisso</strong>, Julius Eduard Hitzig <strong>und</strong> Friedrich<br />
de la Motte Fouqué eingebettet in ihren Dichterh<strong>im</strong>mel, über dem der Polarstern<br />
aufgegangen ist. <strong>Lehmann</strong> stellt den jüdischen Verleger, Juristen <strong>und</strong> Schriftsteller<br />
Julius Eduard Hitzig (geb. Itzig, 1780-1849) bewußt neben <strong>Chamisso</strong>. Er war zeitlebens<br />
sein väterlicher Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> späterer Biograph war. Stets blieb er ihm das „centrum<br />
gravitatis“ <strong>und</strong> der „Probierstein aller Gedanken“. Zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
wandte sich <strong>Chamisso</strong> den Berliner literarischen Kreisen der Romantik zu. Durch<br />
seine Beziehungen zur Dichtergemeinschaft „Nordsternb<strong>und</strong>“, dem neben diesen<br />
Fre<strong>und</strong>en u. a. auch Heinrich Julius Klaproth <strong>und</strong> David Ferdinand Koreff angehörten,<br />
festigte sich seine Vorliebe für deutsche Sprache <strong>und</strong> Literatur. Die Dichtergemeinschaft<br />
pflegte Nachdichtungen aus der <strong>von</strong> der Frühromantik wiederentdeckten<br />
Weltliteratur. Poesie, Philosophie, Moral <strong>und</strong> Religion sollten in der Reflexion erfaßt<br />
<strong>und</strong> durch potenzierendes Denken über sich hinausgeführt werden. Ziel dieses Romantikerb<strong>und</strong>es<br />
war das Streben nach höchst möglicher Freiheit. Als Region der Freiheit,<br />
der Aufklärung <strong>und</strong> der Wissenschaften wurde der „Norden“ gewählt. Der Fre<strong>und</strong>eskreis<br />
entlehnte seine Ansichten <strong>von</strong> August Wilhelm Schlegel, der in Berlin <strong>von</strong> Herbst<br />
1801 bis Frühjahr 1804 mit großem Erfolg öffentliche Vorlesungen Über schöne Kunst<br />
<strong>und</strong> Literatur hielt.<br />
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>:<br />
E.T.A. Hoffmann, Fouqué <strong>und</strong> <strong>Chamisso</strong> 29 x 22 cm, 90 Exemplare<br />
<strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>:<br />
Jugendbildnis <strong>Chamisso</strong> 34 x 44 cm, 90 Exemplare<br />
Das <strong>von</strong> <strong>Lehmann</strong> ins <strong>Bild</strong> gesetzte Dreigestirn E.T.A. Hoffmann, Fouqué <strong>und</strong> <strong>Chamisso</strong><br />
vor dem Schloßgut Nennhausen bei Rathenow, wo Fouqué bis 1833 lebte,<br />
n<strong>im</strong>mt die Thematik des Fre<strong>und</strong>schaftsb<strong>und</strong>es wieder auf. Hoffmann <strong>und</strong> <strong>Chamisso</strong><br />
lernten einander über Hitzig kennen <strong>und</strong> trafen seitdem mehrfach zusammen. Hoffmann,<br />
der <strong>von</strong> ihm liebevoll „König der Schnurrpfeifer“ gennannt wurde, verdankte<br />
<strong>Chamisso</strong> die Namen <strong>und</strong> näheren Schauplätze für seine Erzählungen Ha<strong>im</strong>atochare<br />
<strong>und</strong> Datura fastuosa. Hoffmann zeichnete 1805 das Porträt des jungen <strong>Chamisso</strong>. Es<br />
bildet die Gr<strong>und</strong>lage für <strong>Bernd</strong> <strong>Lehmann</strong>s Jugendbildnis des Dichters.