Goldmann-Gedächtnisvorlesung ± Historische und aktuelle Aspekte ...
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<strong>Goldmann</strong>-<strong>Gedächtnisvorlesung</strong><br />
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<strong>Goldmann</strong>-<strong>Gedächtnisvorlesung</strong> <strong>±</strong><strong>Historische</strong> <strong>und</strong> <strong>aktuelle</strong> <strong>Aspekte</strong><br />
der Stereopsis<br />
Joseph Lang<br />
Höhenstr. 24, CH-8127 Forch<br />
Zusammenfassung<br />
<strong>Goldmann</strong> hat die binokulare Stereopsis als höchste Ausnützung<br />
des beidäugigen Sehens interpretiert. Nach einem historischen<br />
Rückblick zeigt sich, dass die beidäugige Stereopsis erst<br />
seit 1838 durch Wheatstone entschlüsselt wurde. Die monokularen<br />
Anhaltspunkte wie Objektgröûe, Lage im Raum, Kulissenphänomen,<br />
Licht <strong>und</strong> Schatten, Luftperspektive, Parallaxe <strong>und</strong><br />
lineare Perspektive waren schon früher bekannt. Die Stereopsis<br />
bedeutet das natürliche Erkennen der Entfernung im Raum,<br />
Stereoskopie ist das Erkennen der Distanz mit einem Apparat.<br />
Es werden die natürlichen <strong>und</strong> die apparativen Stereountersuchungen<br />
besprochen <strong>und</strong> der Einfluss der Pupillendistanz, der<br />
vertikalen Strukturen <strong>und</strong> des Astigmatismus. Der Ausdruck<br />
¹Tiefensehenª ist nicht eindeutig: Das Gegenteil der Tiefe ist<br />
die Höhe. Es werden die verschiedenen Stereountersuchungen<br />
besprochen, u. a. der Treffversuch, die Stereomodifikation der<br />
Streifengläser von Bagolini, die brillenlose Untersuchung mit<br />
den Hessschen Planzylindern <strong>und</strong> den Zufallspunkten, die<br />
Scheibenstereopsis etc. Die <strong>Goldmann</strong> Theorie des beidäugigen<br />
Sehens wird zur Erklärung von Schielformen herangezogen, so<br />
das statistische Zusammenspiel von Fixation <strong>und</strong> Fusion zur Erklärung<br />
des Mikrostrabismus <strong>und</strong> die Rolle des Fixationsmechanismus<br />
für das kongenitale Schielsyndrom. Das Wirken der binokularen<br />
Stereopsis nur für die Nähe erklärt den Strabismus<br />
divergens.<br />
Schlüsselwörter: Stereopsis <strong>±</strong> Stereoskopie <strong>±</strong> Tiefensehen <strong>±</strong><br />
monokulare Stereopsis <strong>±</strong> binokulare Stereopsis <strong>±</strong> natürliche Stereopsis<br />
<strong>±</strong> haploskopische Untersuchungsmethoden <strong>±</strong> Lang-Stereotest<br />
<strong>±</strong> <strong>Goldmann</strong>sche Theorie <strong>und</strong> Strabismus<br />
Historic and actual aspects of stereopsis<br />
the opposite of ªheightº. Stereopsis means natural recognition<br />
of distance and objects in space, stereoscopy means recognition<br />
by the aide of an instrument. Natural and dichoptic<br />
stereopsis and the influences of vertical structures, of pupillary<br />
distance and of astigmatism are discussed. Examination of<br />
stereopsis is discussed, among others the two pencil test, the<br />
stereo-modification Bagolini-glasses, the combination of the<br />
plano-cylinders of W. R. Hess with random dots without<br />
glasses, the disk stereopsis etc. <strong>Goldmann</strong>©s theory of binocular<br />
vision helps to <strong>und</strong>erstand different forms of strabismus, e.g.<br />
the statistical interplay of fixation and fusion for microtropia,<br />
the fixation mechanism for the congenital strabismus syndrome,<br />
the use of binocular stereopsis only for near explains intermittent<br />
divergence.<br />
Key words: Stereopsis <strong>±</strong> stereoscopy <strong>±</strong> depth perception <strong>±</strong><br />
monocular stereopsis <strong>±</strong> binocular stereopsis <strong>±</strong> natural stereopsis<br />
<strong>±</strong> artificial stereopsis (dichoptic) tests <strong>±</strong> Lang stereotest <strong>±</strong><br />
Godmanns© theory and strabismus<br />
Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren, liebe Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen,<br />
es bedeutet für mich eine groûe Ehre, hier in Bern die <strong>Goldmann</strong>-Gedächtnis-Vorlesung<br />
halten zu dürfen.Ich danke für<br />
die Einladung, aber es ist mir klar, dass es andere würdigere<br />
Redner gegeben hätte.<br />
Als Thema habe ich das Gebiet der Stereopsis gewählt, weil die<br />
Lehre der Stereopsis sowohl historisch wie klinisch für uns Augenärzte<br />
sehr interessant ist, <strong>und</strong> weil ich damit gewisse Verbindungen<br />
zu Hans <strong>Goldmann</strong> anknüpfen kann.<br />
Heruntergeladen von: Hauptbibliothek Universität Zürich. Urheberrechtlich geschützt.<br />
According to <strong>Goldmann</strong> stereopsis is the highest performance<br />
of binocular recognition. A historical review shows that binocular<br />
stereopsis was explained only in 1838 by Wheatstone,<br />
whereas the monocular clues for stereopsis e.g. size, position<br />
and covering of the objects, light and shadow, perspective of<br />
the air, parallax and linear perspective were known long ago.<br />
The denomination depth perception is ambiguous: ªdepthº is<br />
Klin Monatsbl Augenheilkd 2001; 218: 280 <strong>±</strong>289<br />
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York<br />
ISSN 0023-2165<br />
Stereopsis im Altertum<br />
Schon die Griechen wussten, dass beide Augen beim Sehen beteiligt<br />
sind, wobei der Nachteil des gestörten beidäugigen Sehens,<br />
nämlich das Doppeltsehen, z.B.beim Verschieben eines<br />
Auges mit dem Finger oder nach einem alkoholischen Exzess<br />
bekannter gewesen sein dürfte, als der Vorteil der binokularen<br />
Erkennens der Distanz.Die vorherrschende antike Auffassung,<br />
dass die vom Auge ausgehenden Sehstrahlen wie Fühlfäden<br />
die Objekte abtasten, diente wohl nicht der Erkenntnis des Binokularsehens.
<strong>Goldmann</strong>-<strong>Gedächtnisvorlesung</strong> <strong>±</strong> <strong>Historische</strong> <strong>und</strong> <strong>aktuelle</strong> <strong>Aspekte</strong> der Stereopsis Klin Monatsbl Augenheilkd 2001; 218 281<br />
Der griechische Astronom <strong>und</strong> Mathematiker Claudius Ptolomaeus,<br />
(ca.100<strong>±</strong>160) in Alexandria war am Einfachsehen <strong>und</strong><br />
nicht am Entfernungssehen interessiert.Er kannte die physiologische<br />
Diplopie, aber er glaubte dass die Entfernung monokular<br />
geschätzt würde aufgr<strong>und</strong> der Länge des Sehstrahles<br />
von Auge zu Objekt [3].<br />
Der römische Arzt griechischer Herkunft Galenos von Pergamon<br />
(130<strong>±</strong>200) glaubte, die Bilder beider Augen würden sich<br />
im Chiasma vereinigen, <strong>und</strong> die Einschätzung der Entfernung<br />
beruhe auf der Gröûe der Objekte 3.<br />
Der arabische Gelehrte Alhazen (964 <strong>±</strong> 1038) widersprach als<br />
Erster der Projektionstheorie <strong>und</strong> verlegte die Abbildung in<br />
das Augeninnere.Als Kriterium für Distanz nannte er die Luftperspektive<br />
<strong>und</strong> die parallaktischen Bewegungen der Objekte<br />
oder des Kopfes [3].<br />
Einäugige Kriterien der Stereopsis<br />
Das gibt uns gleich die Gelegenheit, die einäugigen Kriterien<br />
zur Erkennung der Distanz zu besprechen.<br />
1.Bei bekannten Objekten ist das gröûere näher, das kleinere<br />
weiter weg.<br />
2.Auf einem Bild ist die unten befindliche Szenerie meist näher,<br />
die obere ist entfernter.<br />
3.Das verdeckende Objekt ist näher als das verdeckte (Kulissenphänomen).<br />
4.Licht <strong>und</strong> Schatten können in der Natur <strong>und</strong> in der Malerei<br />
einen räumlichen Eindruck schaffen.<br />
5.Die Luftperspektive, bez.die Klarheit der Luft lässt uns an<br />
Föhntagen oder nach einem Regen die Berge näher erscheinen.<br />
6.Die Parallaxe: Durch Bewegungen des Kopfes oder der Objekte<br />
wird die Distanz erkannt.<br />
7.Die italienischen Künstler der Renaissance schufen in der<br />
Malerei die perspektivische Darstellung.<br />
Dabei ist recht interessant, dass schon Leonardo da Vinci<br />
(1452 <strong>±</strong> 1519) darauf hingewiesen hat, dass die räumliche<br />
Empfindung eines Bildes sich wesentlich stärker auswirkt,<br />
wenn man es statt beidäugig nur mit einem Auge betrachtet<br />
[27].<br />
Illusionen<br />
Hier sollen kurz zwei so genannte Kippbilder besprochen werden,<br />
nämlich der Würfel des Genfer Mineralogen Louis Albert<br />
Necker (1786 <strong>±</strong> 1861) <strong>und</strong> die Förstersche Treppe (Abb.1).Beide<br />
Zeichnungen sind nicht perspektivisch (im Gegensatz etwa<br />
zu den Illusionen mit Eisenbahnschienen) <strong>und</strong> vermitteln<br />
trotzdem eine stereoptische Empfindung, die umschlagen<br />
kann.Helmholtz [11] schrieb zur Förster-Treppe, der Umschlag<br />
erfolge leicht <strong>und</strong> ohne bestimmten Gr<strong>und</strong>.Zum Necker-Würfel<br />
steht im Buch ¹Auge <strong>und</strong> Gehirnª von Gregory [9]: ¹Wir dürfen<br />
annehmen, dass es sich um Wahrnehmungshypothesen<br />
handelt.Das visuelle System entwirft alternative Hypothesen<br />
<strong>und</strong> kommt zu keiner Lösung.Dieser Prozess geht bei allen<br />
Wahrnehmungsvorgängen vor sich.ª Auch die zahlreichen psychologischen<br />
Erklärungen sind unbefriedigend.Ich möchte Ihnen<br />
eine neue Hypothese vorschlagen: die Fixations- <strong>und</strong> Lokaladaptationshypothese.Es<br />
kommt darauf an, wo man fixiert.<br />
Wenn man beim Necker-Würfel die untere Ecke des oberen<br />
Rechtecks fixiert, sieht man den Würfel von oben.Wenn man<br />
die obere Ecke des unteren Rhombus fixiert, so sieht man ihn<br />
von unten.Wenn man bei der Treppe den vorderen Absatz fixiert,<br />
so sieht man eine regelrechte Treppe, wenn man den<br />
hinteren Absatz fixiert so sieht man eine überhängende Treppe.Die<br />
Repräsentation der Foveola ist im Kortex stark vergröûert;<br />
die fixierte Stelle erscheint näher.Bei Fixationswechsel<br />
oder weil die Fixation wegen der Lokaladaptation nicht über<br />
längere Zeit eingehalten werden kann tritt der Umschlag auf.<br />
Alle einäugigen Kriterien für das räumliche Sehen waren<br />
längst bekannt, bevor Johannes Kepler (1571 <strong>±</strong> 1630) [17] die<br />
Dioptrik des Auges korrekt darstellte.Er <strong>und</strong> viele Nachfolger<br />
glaubten aber die Entfernung eines Objektes würde durch die<br />
Konvergenzbewegungen der Augen erkannt.<br />
Aguilonius<br />
Einen interessanten Hinweis auf das beidäugige Erkennen der<br />
Entfernung beschrieb der Jesuitenpater Franciscus Aguilonius<br />
(1567<strong>±</strong> 1617) im Werk ¹Opticorum libriª im Jahre 1613 [15].In<br />
seiner Jugend bestand ein Spiel mit anderen Knaben darin, unter<br />
Verschluss eines Auges mit dem Finger einen Stab zu treffen,<br />
was zum Ergötzen der Zuschauer nie gelang.In der w<strong>und</strong>erbaren<br />
Illustration dieser Szene von Peter Paul Rubens versucht<br />
der Gelehrte unter Verschluss seines linken Auges mit<br />
seinem Zeigefinger von der Seite her den von einem Cherub<br />
vorgehaltenen Stab zu treffen (Abb. 2).Für Aguilonius kam damit<br />
klar zum Ausdruck, dass für das Empfinden der Entfernung<br />
die Zusammenarbeit beider Augen nötig ist.Auf meinen Vorschlag<br />
hat unser Zeichner dem Gelehrten einen vertikalen<br />
Heruntergeladen von: Hauptbibliothek Universität Zürich. Urheberrechtlich geschützt.<br />
Abb.1<br />
Schröder-Treppe <strong>und</strong> Necker-Würfel.<br />
Abb. 2<br />
Aguilonius-Rubens original.
282<br />
Klin Monatsbl Augenheilkd 2001; 218<br />
Lang J<br />
Mein Vorschlag geht dahin, dass man statt räumlicher Tiefe<br />
den Ausdruck ¹Stereopsisª benützt.Er kommt vom Griechischen<br />
¹stereosª, was hart, fest <strong>und</strong> körperlich heiût <strong>und</strong> vom<br />
Ausdruck ¹Opsª, was das Sehen oder das Auge bedeutet.Stereopsis<br />
ist somit der räumliche Eindruck durch visuelle Empfindung.Der<br />
Terminus Stereopsis hat auch den Vorteil, dass er<br />
für alle Sprachen gilt <strong>und</strong> deshalb andere Umschreibungen wie<br />
¹sensation du reliefª, ¹sens de la profondeurª oder ¹depth perceptionª<br />
ersetzen kann.Der Ausdruck ¹Stereoª wird ja auch<br />
sonst häufig verwendet, z.B. für Stereophonie, Stereochemie,<br />
Stereognosie, Stereotypie, Chromostereopsis <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />
für die <strong>Goldmann</strong>sche Stereochronoskopie.<br />
Dabei gilt die Stereopsis als Oberbegriff, während Stereoskopie<br />
nur die apparative Stereopsis betrifft.<br />
Von den monokularen Kriterien der Stereopsis haben wir<br />
schon gesprochen.Wenden wir uns jetzt der binokularen Stereopsis<br />
zu.<br />
Abb. 3<br />
Abb. 4<br />
Stab in die Hand gegeben, mit welchem durch eine vertikale<br />
Bewegung der vorgehaltenen Stab getroffen werden sollte<br />
(Abb. 3, 4).<br />
Terminologie<br />
Aguilonius-Rubens-Modifikation nach Lang.<br />
Aguilonius-Rubens-Modifikation nach Lang.<br />
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich bis anhin den üblichen<br />
Ausdruck ¹Tiefensehenª oder ¹Tiefenwahrnehmungª nicht gebraucht<br />
habe, <strong>und</strong> ich hoffe Sie haben mich gleichwohl verstanden.Der<br />
Ausdruck ¹Tiefeª ist im Zusammenhang mit der<br />
Entfernung nicht eindeutig.Das Gegenteil der Tiefe ist die<br />
Höhe.Für einen Bewohner des Flachlandes mag der Ausdruck<br />
der räumlichen Tiefe für die Entfernung angehen; für einen Bewohner<br />
der Berge bedeutet ¹Tiefeª jedoch den Blick nach unten<br />
mit der entsprechenden Absturzgefahr.Zudem erscheinen<br />
bei Blick nach oben oder nach unten die Gegenstände <strong>und</strong> Körper<br />
perspektivisch verkürzt.<br />
Die Voraussetzung für die binokulare Stereopsis ist die partielle<br />
Sehnervenkreuzung.Diese wurde aufgr<strong>und</strong> von genialen<br />
Überlegungen bereits von Isaak Newton (1642<strong>±</strong>1727) postuliert<br />
[3].Der histologische Nachweis der Sehnervenkreuzung<br />
gelang allerdings erst 1874 dem Psychiater <strong>und</strong> Gehirnanatomen<br />
Aloys von Gudden (1824<strong>±</strong>1886), der vier Jahre in Zürich<br />
tätig war <strong>und</strong> dann nach München zog, um im Jahre 1886<br />
durch <strong>und</strong> mit seinem Patienten, dem umnachteten König<br />
Ludwig II.von Bayern, im Starnberger See den Ertrinkungstod<br />
zu erleiden [5].<br />
Das Gesetz der Identität oder der Korrespondenz der Netzhäute<br />
von Johannes Müller (1801<strong>±</strong>1858) war die Voraussetzung<br />
für die folgenden Arbeiten über das Binokularsehen<br />
[28].Aber für das Erkennen der Entfernung galten weiterhin<br />
die Konvergenzbewegungen der Augen.<br />
Wheatstone 1938<br />
Der eigentliche Durchbruch in der Kenntnis der Stereopsis<br />
kam erst im Jahre 1838 mit der Erfindung des Stereoskopes<br />
durch den englischen Physiker Charles Wheatstone (1802<strong>±</strong><br />
1875) [35].Er wusste, dass beim Betrachten eines nahen Gegenstandes<br />
das linke Auge ein anderes Bild empfängt als das<br />
rechte.Wenn er in seinem Spiegelstereoskop beiden Augen<br />
ein identisches Bild darbot, so konnte keine Stereopsis ausgelöst<br />
werden.Wenn jedoch in den beiden Bildern die vertikalen<br />
Strukturen nur geringfügig horizontal verschoben waren trat<br />
Stereopsis auf.<br />
Das Stereoskop <strong>und</strong> die Stereogramme verursachten damals in<br />
London ein ungeheures Aufsehen, noch gröûer als die Autostereogramme<br />
oder das so genannte ¹magic eyeª vor einigen Jahren.In<br />
allen Salons wurden Stereoskope aufgestellt <strong>und</strong> der<br />
stereoskopische Effekt bestaunt.Die Methode kam später allerdings<br />
etwas in Verruf, als Stereogramme verwendet wurden,<br />
die nicht dem viktorianischen Zeitgeist entsprachen.Die<br />
Beliebtheit der Stereoskopie wie der Autostereogramme beruht<br />
auf dem Erfolgserlebnis durch die plötzlich auftretenden<br />
dreidimensionale Sehempfindung.<br />
Es entstand wegen des Stereoskops auch ein wissenschaftlicher<br />
Streit, weil die Verteidiger der Identität der Netzhäute<br />
darauf hinwiesen, dass der stereoskopische Effekt mit der<br />
Identität nicht vereinbar sei.<br />
Die Klärung dieser Situation verdanken wir dem dänischen<br />
Physiologen in Kiel, Peter Ludvig Panum (1820<strong>±</strong>1885) [28].<br />
Heruntergeladen von: Hauptbibliothek Universität Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
<strong>Goldmann</strong>-<strong>Gedächtnisvorlesung</strong> <strong>±</strong> <strong>Historische</strong> <strong>und</strong> <strong>aktuelle</strong> <strong>Aspekte</strong> der Stereopsis Klin Monatsbl Augenheilkd 2001; 218 283<br />
Mit haploskopischen Untersuchungen von zwei vertikalen Linienpaaren<br />
konnte er nachweisen, dass bei Identität der Linienpaare<br />
kein Stereoeffekt auftrat.Bei einer Disparität von<br />
15¢¢ trat eine deutliche Stereopsis, bei einer Disparität von 40¢¢<br />
trat Diplopie auf.Man spricht deshalb heute vom Panumschen<br />
Areal der Netzhaut oder von einem Panumschen Raumbereich.Dieser<br />
umgibt den Horopter (Bereich im Raum, dessen<br />
Punkte auf identische Stellen der Netzhäute beider Augen fallen).<br />
Ist die Stereopsis angeboren oder ist sie erworben? Der Empirist<br />
Hermann Helmholtz (1821 <strong>±</strong>1894) glaubte, sie sei erworben,<br />
<strong>und</strong> zwar aufgr<strong>und</strong> eines Kindheitserlebnisses [11].Auf<br />
der Galerie der Garnisonskirche von Potsdam sah er Menschen,<br />
die er für kleine Puppen hielt, <strong>und</strong> bat seine Mutter, im<br />
diese Puppen herunterzureichen.<br />
Im Gegensatz zu Helmholtz hat Ewald Hering (1834<strong>±</strong>1918),<br />
der Nativist [12], die Ansicht vertreten, dass die Gesichtsempfindung<br />
von Anfang an eine dreidimensionale oder raumhafte<br />
sei.Wir werden darauf zurückkommen.<br />
Ganz allgemein kann man sagen, dass die monokularen Anhaltspunkte<br />
für die Stereopsis vor allem für die Ferne wirken<br />
<strong>und</strong> zweifellos durch Erfahrung gebessert werden können,<br />
während die binokulare Stereopsis für die Nähe gilt <strong>und</strong> bereits<br />
beim Säugling vorhanden ist.<br />
Die Beurteilungen mancher Psychologen über den praktischen<br />
Wert der binokularen Stereopsis sind recht eigenartig.So<br />
schreibt James Gibson im Buch ¹Die Sinne <strong>und</strong> der Prozess<br />
der Wahrnehmungª über das Binokularsehen: ¹Die ganze Sache<br />
ist eher Luxuserscheinung der optischen Wahrnehmung.<br />
Das Fehlen der binokularen Stereopsis ist kein ins Gewicht fallender<br />
Nachteilª [7].<br />
Ebenso unverständlich ist die Beurteilung des Psychologen<br />
John P.Frisby, der den Frisby-Test entwickelt hat: ¹Wir können<br />
gut ohne beidäugiges Sehen auskommenª [6].<br />
Ein bekannter Strabologe führte in der Jackson Lecture 1986<br />
aus, die Stereopsis sei zwar für gewisse Beschäftigungen wichtig,<br />
aber wohl eher ein Epiphänomen, also eine Nebenerscheinung<br />
des Binokularsehens, als dessen höchste Form [34].Was<br />
die höchste Form des beidäugigen Sehens ist, wurde allerdings<br />
nicht gesagt.<br />
Im Gegensatz dazu schreibt <strong>Goldmann</strong>: ¹Das binokulare Stereosehen<br />
bedeutet die höchste Ausnützung der Information<br />
des beidäugigen Sehensª [8].<br />
Wenden wir uns nun den verschiedenen Untersuchungsmethoden<br />
der Stereopsis zu.Prinzipiell muss man unterscheiden<br />
zwischen natürlichen Methoden ohne artifizielle Bildtrennung<br />
<strong>und</strong> Methoden mit artifizieller Bildtrennung.<br />
Natürliche Methoden<br />
Natürliche oder direkte Methoden sind solche, die keine Trennung<br />
oder separaten Darstellung der Bilder benötigen.Es gibt<br />
deren recht wenige.<br />
1.Beim Nadelversuch nach Helmholtz [11] befinden sich im<br />
Beobachtungsabstand von 34 cm 3 Nadeln mit eine Dicke von<br />
0,5 mm, wobei die mittlere Nadel verschiebbar ist.Der Proband<br />
muss diese auf die Entfernung der beiden anderen bringen.Helmholtz<br />
konnte bereits die Verschiebung von 0,25 mm<br />
erkennen <strong>und</strong> berechnete daraus einen Stereowinkel von 60<br />
Winkelsek<strong>und</strong>en.<br />
2.Der Stäbchenversuch nach Hering, den Hering selbst allerdings<br />
nicht publiziert hat, den er aber in einem Brief an Pfalz<br />
[32] beschrieben hat.Durch eine Röhre werden drei senkrechte,<br />
verschieden dicke Drähte betrachtet.Der mittlere Draht ist<br />
fix, während die beiden seitlichen so verschoben werden müssen,<br />
dass sie in der gleichen Entfernung gesehen werden wie<br />
der mittlere.<br />
Seit Hering <strong>und</strong> Helmholtz sind eine ganze Reihe solcher Stäbchen-<br />
oder Nadeltests gebaut worden, die meist für die Nähe<br />
gelten.<br />
Wir haben vor Jahren an der Zürcher Augenklinik einen ähnlichen<br />
Test für die Distanz von 3,5 m konstruieren lassen, wobei<br />
der mittlere Stab mit einem Elektromotor verschoben werden<br />
konnte.<br />
3.Beim Fallversuch nach Hering [12] blickt der Proband durch<br />
eine Röhre auf ein Fixationsobjekt.Er muss beurteilen, ob eine<br />
Kugel vor oder hinter dem Fixationsobjekt herunterfällt.<br />
4.Beim Test nach Frisby [6] befinden sich auf der Vorderseite<br />
einer durchsichtigen Plastikplatte dreieckige Pixel von unterschiedlicher<br />
Gröûe.In einem r<strong>und</strong>en zentralen Bereich sind<br />
diese Flecken jedoch auf der Rückseite der Platte angebracht.<br />
Der Proband muss unter 4 Vorlagen auf jene zeigen, wo er das<br />
Zentrum nach hinten versetzt sieht.Es werden drei Platten unterschiedlicher<br />
Dicke in einer Distanz von 40 cm dargeboten.<br />
5.Der Treffversuch mit zwei Bleistiften.<br />
Den Treffversuch mit zwei Bleistiften habe ich natürlich nicht<br />
von Aguilonius, sondern von meinem Lehrer Florian Verrey gelernt<br />
<strong>und</strong> weiter ausgebaut.Der Untersucher hält einen Bleistift<br />
mit stumpfem Ende nach oben auf Augenhöhe des Probanden,<br />
den dieser mit seinem Bleistift von oben treffen<br />
muss.Der Abstand soll variiert werden, so dass ein dynamisches<br />
Element mitspielt.Der Versuch soll stets zuerst beidäugig,<br />
dann einäugig durchgeführt werden <strong>und</strong> das Ergebnis<br />
wird verglichen (Abb. 5).Die Untersuchung geht sehr rasch<br />
vor sich <strong>und</strong> die Resultate sind meist so evident, dass man häufig<br />
auf komplizierte zusätzliche Untersuchungen verzichten<br />
kann [18].<br />
Es gibt in der Ophthalmologie viele Situationen, wo der Treffversuch<br />
sehr nützlich ist.<br />
So zeigt er bereits am Tage nach der Kataraktoperation den<br />
Nutzen der Intraokularlinse.Beim anscheinend konstanten<br />
Strabismus divergens kann er eine Einstellung zu Orthotropie<br />
provozieren <strong>und</strong> dadurch Anamnese <strong>und</strong> Prognose klarstellen.<br />
Der Wert einer Prismenkorrektur, einer Bifokalbrille oder einer<br />
Operation beim Normosensoriker wird eindrücklich demonstriert.Er<br />
kann auch Versicherungsfälle klären, denn bei angeborener<br />
Einäugigkeit kann er ordentlich gut ausfallen, bei er-<br />
Heruntergeladen von: Hauptbibliothek Universität Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
284<br />
Klin Monatsbl Augenheilkd 2001; 218<br />
Lang J<br />
Abb. 5<br />
Treffversuch mit den zwei Bleistiften.<br />
worbener Einäugigkeit fällt er schlecht aus.Auch bei harmonischer<br />
anomaler Netzhautkorrespondenz kann er gut aus fallen,<br />
während er bei unharmonischer Netzhautkorrespondenz<br />
schlecht ausfällt.Er kann auch postoperativ <strong>und</strong> bei Konvergenzschwäche<br />
zu Übungen dienen.Leider ist er immer noch<br />
zu wenig bekannt <strong>und</strong> er wird in manchen amerikanischen<br />
Büchern über Strabismus nicht erwähnt.<br />
Dabei muss man wissen, dass für die binokulare Stereopsis vor<br />
allem die vertikalen Konturen wichtig sind, während die Disparität<br />
horizontaler Konturen keine stereoptische Empfindung<br />
auslösen, wie das Beispiel der vertikalen oder horizontalen<br />
Rechtecke zeigt (Abb. 6).<br />
Für uns Ophthalmologen ist diesbezüglich die Rolle des Astigmatismus<br />
von Bedeutung.Beim Astigmatismus hyperopicus<br />
inversus befindet sich die vertikale Brennlinie näher bei der<br />
Retina <strong>und</strong> deshalb werden die vertikalen Strukturen besser<br />
erkannt als die horizontalen.Bei Astigmatismus hyperopicus<br />
rectus werden die horizontalen Strukturen deutlicher gesehen.<br />
So erzählte mir ein Kollege, er habe als Knabe nur die horizontalen<br />
Linien gut gesehen.Bei Myopie verhält es sich umgekehrt.Als<br />
Gedächtnisstütze kann die 3-V-Regel dienen: invers,<br />
vertikal, vorne.<br />
Eine wichtige Rolle spielt auch die Pupillendistanz.Bei der natürlichen<br />
Stereopsis ist bekannterweise die groûe Pupillendistanz<br />
günstig, bei den haploskopischen Methoden ist jedoch die<br />
Empfindung der Entfernung mit enger Pupillendistanz besser<br />
(Abb. 7).<br />
Heruntergeladen von: Hauptbibliothek Universität Zürich. Urheberrechtlich geschützt.<br />
Abb. 6<br />
Vertikale <strong>und</strong> horizontale Dreiecke mit Mittenstrich.<br />
Abb. 7<br />
Pupillendistanz <strong>und</strong> Auswanderung.<br />
Artifizielle Untersuchungsmethoden<br />
Die artifiziellen Untersuchungsmethoden der Stereopsis werden<br />
auch dichoptisch oder haploskopisch benannt.Jedem<br />
Auge wird dabei ein separates Bild dargeboten.<br />
Am bekanntesten sind die Untersuchungen am Stereoskop<br />
nach Wheatstone, am Spiegelhaploskop nach Hering, am Synoptophor,<br />
wo Spiegel die Bildtrennung ermöglichen, <strong>und</strong>
<strong>Goldmann</strong>-<strong>Gedächtnisvorlesung</strong> <strong>±</strong> <strong>Historische</strong> <strong>und</strong> <strong>aktuelle</strong> <strong>Aspekte</strong> der Stereopsis Klin Monatsbl Augenheilkd 2001; 218 285<br />
noch immer am Stereoskop von Holmes mit temporal dezentrierten<br />
Konvexlinsen die als Prismen wirken.<br />
Auch die anaglyphischen Untersuchungen mit Rot-Grün-Brillen,<br />
die vektographischen mit gegensätzlich polarisierten Brillengläsern,<br />
das Phasendifferenzhaploskop nach Aulhorn oder<br />
alternierende Flüssigkeitskristalle dienen der Trennung der<br />
Bilder.<br />
Claud Worth [35] hat um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende am Stereoskop<br />
drei Stufen des Binokularsehens unterschieden.Wenn<br />
beiden Augen zwei ungleiche Vorlagen dargeboten <strong>und</strong> erkannt<br />
werden, so spricht man von Simultansehen, wenn einzelne<br />
Objekte binokular verschmolzen werden, handelt es<br />
sich um Fusion, wenn die beiden Vorlagen räumlich gesehen<br />
werden, so spricht man von Stereosehen.<br />
Bei den Stereogrammen unterscheidet man zwischen solchen<br />
mit Konturen, die auch monokular erkennbar sind, <strong>und</strong> solchen<br />
die keine Konturen, sondern nur Zufallspunkte oder Random<br />
dots darbieten.<br />
Es gibt zahlreiche Stereogramme <strong>und</strong> Stereotests, die seit der<br />
Erfindung der Stereoskope angewendet wurden.Es sollen hier<br />
nur die bekanntesten Stereotests erwähnt werden.<br />
Unter den Stereotest mit Konturen ist wohl der Titmustest mit<br />
Fliege, Tieren <strong>und</strong> Ringen der bekannteste.Die Disparitäten<br />
reichen von 40 bis zu 3000 Winkelsek<strong>und</strong>en.<br />
Der Polatest mit Kreuztest, Zeigertest, Hakentest, <strong>und</strong> Stereotest<br />
ist besonders bei Optikern sehr verbreitet [10].Nach der<br />
Einteilung von Worth ist der Kreuztest ein Simultantest;<br />
wenn die beiden Linien verschoben sind, so treten Wettstreitphänomene<br />
auf.Zeiger- <strong>und</strong> Hakentest sind Fusionstests; die<br />
haploskopischen Anteile sind sehr unausgewogen.Den Anhänger<br />
der Polatest-Methodik dient besonders die Stereovorlage<br />
zur Verordnung von Prismen.Die polarisierten Dreiecke<br />
erscheinen bei intaktem Binokularsehen genau ober- <strong>und</strong> unterhalb<br />
des Punktes <strong>und</strong> abhängig von Beobachtungsdistanz<br />
<strong>und</strong> Pupillenabstand etwas mehr als 1 m nach vorne versetzt.<br />
Bei Anisometropie <strong>und</strong> bei Mikrostrabismus des linken Auges<br />
oder bei starker Dominanz des rechten Auges erscheinen die<br />
Dreiecke jedoch nach links verschoben <strong>und</strong> weniger nach vorne<br />
versetzt.Man bezeichnet dies als Rechts-Prävalenz [10].<br />
Man kann diese Situation mit einem Graukeil vor dem rechten<br />
Auge nachprüfen.Versucht man nun die Dreiecke mit Prismen<br />
auf den Punkt zu zentrieren, d.h.eine ¾quivalenz zu erreichen,<br />
so mag dies momentan gelingen; bei den nächsten Konsultationen<br />
werden jedoch immer stärkere Prismen benötigt.<br />
Wenn man die klinische Situation <strong>und</strong> die untersuchungstechnische<br />
Klippe nicht kennt, kann dies zu unnötigen Augenmuskeloperationen<br />
führen (Abb. 8 u. 9).<br />
Bei dieser Gelegenheit möchte ich betonen, dass ich von Prismen-<br />
oder Okklusionsbehandlung bei Legasthenie nichts<br />
halte.<br />
Random-dot-Test<br />
Die Random-dots-Stereogramme wurden 1960 von Bela Julesz<br />
[16] eingeführt.Dabei löst die Querdisparation bestimmter Bereiche<br />
allein eine Stereopsisempfindung aus.<br />
Abb. 8<br />
Abb. 9<br />
Die vier Vorlagen am Polatest.<br />
Stereodreicke am Polatest.<br />
Früher war man immer der Ansicht, dass zuerst die Gestalt erkannt<br />
werden müsse, bevor die Stereopsis als Folge davon auftrete.Mit<br />
Random-dot-Stereogrammen ist erwiesen, dass im<br />
visuellen Kortex die binokulare Stereopsis vor der Gestalterkennung<br />
erfolgt.<br />
Die Random-dots-Untersuchungen sind natürlich anspruchsvoller<br />
<strong>und</strong> werden nur bei Orthotropie erkannt, während Konturen<br />
auch bei Mikrotropie eine Stereopsis ermöglichen.Deshalb<br />
gelten in der letzten Zeit die Random dots als Goldstandard<br />
der klinischen Stereopsisprüfung.Unter den Random-<br />
Tests sind der Random-E-Test, der Randot-Test, der Lang-Stereotest<br />
<strong>und</strong> der TNO-Test am bekanntesten.<br />
Den Stereotest nach Lang habe ich entwickelt, um bereits bei<br />
kleinen Kindern die Stereopsis untersuchen zu können<br />
[19, 20, 21].Den Anstoû dazu gab die Dissertation von Benno<br />
Petrig: ¹Nachweis von Stereopsis bei Kindern mittels stochastischer<br />
Punktstereogramme <strong>und</strong> der zugehörigen evozierten<br />
Potentialeª am Institut für biomedizinische Technik der Universität<br />
<strong>und</strong> der ETH Zürich 1980 [30].<br />
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286<br />
Klin Monatsbl Augenheilkd 2001; 218<br />
Lang J<br />
Bei 16 Säuglingen im Alter zwischen 2 <strong>und</strong> 12 Monaten untersuchte<br />
er das Stereosehen.Auf einem groûen Bildschirm wurden<br />
periodisch wechselnde Schachbrettmuster mit Random<br />
dots dargeboten <strong>und</strong> durch eine Rot-Grün-Brille beobachtet,<br />
wobei gleichzeitig elektroenzephalographische Potenziale abgeleitet<br />
wurden.Bei 3 Säuglingen im Alter von 2 Monaten war<br />
das Resultat negativ.Von 5 Säuglingen zwischen 2 <strong>und</strong> 4 Monaten<br />
zeigten 2 Stereopotenziale.Alle 8 Säuglingen zwischen 4<br />
<strong>und</strong> 12 Monaten zeigten Stereopotenziale.<br />
Bei 16 Patienten aus der Zürcher Augenklinik ergaben die Untersuchungen<br />
von Petrig eine sehr gute Korrelation mit den<br />
klinischen Diagnosen [31].Die groûe Schwierigkeit bei Säuglingen<br />
war natürlich das Aufsetzen <strong>und</strong> Tolerieren der Rot-<br />
Grün-Brille.Diese Aufgabe fiel Frau Petrig zu, was Prof.Anliker<br />
zur Bemerkung veranlasste, den Doktortitel sollte eigentlich<br />
die Frau von Benno Petrig erhalten.<br />
Der Bagolini-Test [1] mit den gekreuzten Streifengläsern<br />
dürfte allgemein bekannt sein.Er hat gewissermaûen die Untersuchung<br />
der Binokularität vom Synoptophor weg in den<br />
freien Raum geführt <strong>und</strong> uns gezeigt, dass es sehr viele Fälle<br />
von harmonischer anomaler Netzhautkorrespondenz gibt.<br />
Wenn man die Streifen der Bagolini-Gläser nicht wie üblich auf<br />
458 <strong>und</strong> 1358 gekreuzt vorsetzt, sondern auf etwa 58<strong>±</strong>108 vor<br />
dem rechten Auge <strong>und</strong> auf 175 bis 1708 vor dem linken Auge,<br />
so sieht man zwei disparate vertikale, sich kreuzende Streifen,<br />
die man fusionieren kann.Die nach unten verlaufenden Streifen<br />
werden progredient konvergent fusioniert <strong>und</strong> kommen<br />
auf den Beobachter zu.Selbst kleine Kinder können dies demonstrieren,<br />
wenn sie versuchen den Streifen zu fassen [22]<br />
(Abb.11).<br />
In der Folge suchte ich deshalb nach der Möglichkeit einer brillenlosen<br />
Darbietung.Ich musste nicht weit gehen, denn der<br />
Augenarzt Walter Rudof Hess (1881 <strong>±</strong> 1973), der Zürcher Physiologieprofessor<br />
<strong>und</strong> Nobelpreisträger wurde, hatte bereits<br />
im Jahre 1912 sein direkt wirkendes Stereoskopbild patentieren<br />
lassen [13].Hess ist uns bekannt für seine Koordimetrie<br />
bei Augenmuskelparesen.Beim direkt wirkenden Stereroskopbild<br />
handelt es sich um einen Raster von Planzylindern, wobei<br />
unter jedem Planzylinder ein Bild für das rechte <strong>und</strong> ein Bild<br />
für das linke Auge vorhanden ist (Abb.10).Dieses Verfahren<br />
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Abb.10<br />
Planzylinder nach W. R. Hess.<br />
habe ich mit den Random dots von Julesz kombiniert.Der<br />
Test dürfte Ihnen allen bekannt sein.Wir konnten damit bereits<br />
vom 6.Lebensmonat an bei Säuglingen Stereopsis feststellen.<br />
Abb.11<br />
Lang.<br />
Streifengläser nach Bagolini <strong>und</strong> Stereomodifikation nach<br />
Ich möchte nun andere Stereotests zu sprechen kommen, die<br />
ich bearbeitet habe.<br />
Stereomodifikation der Bagolini-Streifengläser<br />
Die nach oben verlaufenden Streifen können mit Divergenz auf<br />
einer geringeren Strecke fusioniert werden <strong>und</strong> verlaufen dann<br />
vom Fixierlicht weg nach hinten.<br />
Ganz eindrücklich wirken diese Erscheinungen, wenn man damit<br />
eine Straûenlampe oder gar den Vollmond betrachtet.<br />
Dann kommt ein breiter Strich wie eine Straûe auf den Beob-
<strong>Goldmann</strong>-<strong>Gedächtnisvorlesung</strong> <strong>±</strong> <strong>Historische</strong> <strong>und</strong> <strong>aktuelle</strong> <strong>Aspekte</strong> der Stereopsis Klin Monatsbl Augenheilkd 2001; 218 287<br />
achter zu, sodass man fast versucht ist, auf dieser Straûe auf<br />
den Mond zu marschieren.Wir nennen diesen im Handel erhältlichen<br />
Test den Stereobagolini nach Lang.Es ist ein Konturentest<br />
der jedem Auge ein unterschiedliches Bild darbietet.<br />
Scheibenstereopsis<br />
Eine andere stereoskopische Möglichkeit habe ich rein zufällig<br />
gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> nenne sie Scheibenstereopsis.Auf einer Sternkarte<br />
sah ich einen Lichtstrich auf mich zukommen.Der Strich<br />
stammte von einem punktförmigen Licht, das auf den feinen<br />
zirkuläre Rillen, die durch die Rotation der Sternkarte entstanden<br />
waren, zu einer Linie verzogen wurde.Die Untersuchung<br />
zeigt, dass jedes Auge einen anderen Strich sieht, der ähnlich<br />
wie beim Stereobagolini unter Konvergenz oder Divergenz fusioniert<br />
werden kann.Übrigens kann man die gleiche Erscheinung<br />
auf jeder Compact Disc sehen, wobei sie wegen der Spektralfarben<br />
noch prächtiger imponiert (Abb.12 u. 13).<br />
Abb.12<br />
Abb.13<br />
Der Vollmond betrachtet mit Stereomodifikation.<br />
Scheibenstereopsis.<br />
Ich glaubte, dies sei eine eigenständige <strong>und</strong> neue Beobachtung,<br />
aber ich konnte in der Arbeit von Wheatstone [34] lesen, dass<br />
er die gleiche Erscheinung an einer auf der Drehbank bearbeiteten<br />
Metallplatte beobachtet hatte.<br />
Neurophysiologie<br />
Die Neurophysiologie des Binokularsehens hat in den letzten<br />
Dezennien gewaltige Fortschritte gemacht.Im Jahre 1959 wiesen<br />
Hubel <strong>und</strong> Wiesel [14] in Zellen der primären Sehrinde von<br />
Katzen Aktionspotenziale nach, die bei Stimulation des rechten<br />
<strong>und</strong> linken Auges separat oder gemeinsam auftraten.Damit<br />
waren die monokularen <strong>und</strong> binokularen kortikalen Zellen<br />
nachgewiesen.Barlow [2] u.Mitarb.entdeckten auf Stereopsis<br />
ansprechende Neurone <strong>und</strong> es wurden immer mehr Zellen<br />
nachgewiesen, welche reagieren, wenn die Stimuli mit einer<br />
gewissen Disparität angeboten werden (Poggio [33]).<br />
Leider hat die Kenntnis der binokularen Zellen in der Amblyopiebehandlung<br />
zu einem Fehlschluss geführt.Es wurde postuliert,<br />
dass man nicht eine konstante, sondern eine intermittierende<br />
Okklusion durchführen müsse, um den binokularen Zellen<br />
eine gewisse Funktion zu ermöglichen.Die intermittierende<br />
Okklusion verschlechtert aber die Compliance der<br />
Okklusionsbehandlung ganz erheblich, ohne den binokularen<br />
Neuronen zu nützen.<br />
<strong>Goldmann</strong>: Stereopsis <strong>und</strong> Strabismus<br />
Zum Schluss möchte ich auf die Ansichten von Professor Hans<br />
<strong>Goldmann</strong> zu sprechen kommen.An einem von ihm präsidierten<br />
Strabismus-Symposium im Jahr 1965 in Li›ge hielt <strong>Goldmann</strong><br />
einen Vortrag über ¹Gedanken eines Nicht-Strabologen<br />
zur Pathophysiologie des Optischen Raumsinnesª [8].Dabei<br />
hat er, basierend auf informationstheoretischen Überlegungen,<br />
über vier Mechanismen gesprochen: die Efferenzkopie,<br />
die Reafferenz, die Feedbackmechanismen der Fixation <strong>und</strong><br />
der Fusion.Er sagte: ¹Wenn die Feedback-Mechanismen der Fixation<br />
<strong>und</strong> der Fusion statistischen Gesetzen gehorchen, muss<br />
es eine Statistik stereoptischer sehender Doppelaugen geben,<br />
die vom Fehlen jeder Einstellbewegung beim Covertest bis<br />
zur kleinen, deutlichen Einstellbewegungen reicht, verknüpft<br />
mit verschieden gutem Stereosehen.Dies muss primär existieren,<br />
<strong>und</strong> nicht als Restzustand nach Behandlung.ª<br />
Nach dem Vortrag teilte ich <strong>Goldmann</strong> mit, dass ich 1960 an<br />
der SOG-Tagung in Basel über 18 Patienten mit ¹unauffälligem<br />
Schielwinkelª berichtet hätte, die sehr gut zu seinen Ausführungen<br />
passen würden [23].Er hat dann auch in Klammer seinem<br />
Skriptum hinzugefügt: ¹Dr.Lang scheint solche Fälle in<br />
gröûerer Anzahl beobachtet zu haben.ª<br />
Ich habe am Internationalen Strabismus-Symposium in Gieûen<br />
1966 diese Schielform Mikrostrabismus genannt [24] <strong>und</strong><br />
konnte in Diskussionen über die Ursache des Mikrostrabismus<br />
mich immer wieder auf die Erklärung von <strong>Goldmann</strong> berufen.<br />
Ich muss allerdings gestehen, dass die informationstheoretischen<br />
Überlegungen für mich anfänglich etwas schwer verständlich<br />
waren.Erst im Laufe der Zeit haben mich meine klinischen<br />
Beobachtungen vom <strong>Goldmann</strong>schen Vorschlag voll<br />
überzeugt.Primärer Mikrostrabismus zeigt eine starke Dominanz<br />
eines Auges.Er hat meist eine einseitige Amblyopie, ist<br />
fast immer konvergent, manchmal mit einer vertikalen Komponente<br />
<strong>und</strong> sehr selten divergent.Das dominierende Auge<br />
wirkt etwa so wie das Skifahren mit steter Belastung eines<br />
Beines: der andere Ski beginnt zu flattern.Der Visus <strong>und</strong> die<br />
Fixation im dominierten Auge werden schlechter, die binokulare<br />
Bindung wird gelockert <strong>und</strong> führt zu einer anfangs nur<br />
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288<br />
Klin Monatsbl Augenheilkd 2001; 218<br />
Lang J<br />
diskreten, dann stärker ausgeprägten anomalen Netzhautkorrespondenz.Fast<br />
alle Menschen haben ein führendes Auge,<br />
aber nur bei wenigen Patienten ist die Dominanz so stark,<br />
dass sie zum Mikrostrabismus führt.Unter 2304 mit Strabismus<br />
convergens oder divergens fanden wir 704 Mikrostrabismen<br />
[24].Wenn man bei 3<strong>±</strong>4% der Bevölkerung einen Strabismus<br />
annimmt, so würde der Mikrostrabismus etwas mehr als<br />
1 % ausmachen.<br />
Bei erwachsenen Patienten sieht man häufiger eine Anisometropie.Ich<br />
habe mehrfach beobachtet, dass zwischen dem 9.<br />
<strong>und</strong> 16.Lebensjahr das führende Auge emmetrop oder gar<br />
myop wurde, während das mikrotrope Auge hyperop blieb.<br />
Ich musste auch meine frühere Theorie über die angeborene<br />
Veranlagung zur anomalen Netzhautkorrespondenz revidieren<br />
<strong>und</strong> präzisieren.Da ich immer wieder Fälle von Mikrostrabismus<br />
<strong>und</strong> groûem Schielwinkel in der gleichen Familie gesehen<br />
habe, glaubte ich an einen hereditären Faktor der anomalen<br />
Korrespondenz.Ein primärer Mikrostrabismus kann durch<br />
konvergent wirkende Faktoren, wie die konvergente Ruhelage,<br />
Konvergenzexzess, Amblyopie <strong>und</strong> Hyperopie in einen groûen<br />
Schielwinkel übergehen.Jetzt glaube ich, dass die starke Dominanz<br />
eines Auges ein hereditärer Faktor ist, der zu Mikrostrabismus<br />
<strong>und</strong> anomaler Netzhautkorrespondenz führt.<br />
Aus der Dominanz eines Auges ergibt sich auch die logische<br />
Behandlung.Nicht orthoptische Schulungen oder Prismen<br />
sind beim Mikrostrabismus angezeigt, sondern eine Okklusion<br />
um die Dominanz zu durchbrechen <strong>und</strong> auszugleichen.Nach<br />
der Besserung von Fixation <strong>und</strong> Visus soll die totale Okklusion,<br />
von einer alternierenden Ausschleichokklusion gefolgt sein bis<br />
zur seitengleichen Lesefähigkeit.<br />
Auch beim kongenitalen Schielsyndrom [24] kann man den<br />
dritten <strong>Goldmann</strong>schen Mechanismus, die Fixation, zur Erklärung<br />
heranziehen.Der wichtigste Bef<strong>und</strong> dieses Syndroms ist<br />
der Nystagmus vom Latenstyp.Die Fixation weicht langsam<br />
in die nasale Retinahälfte ab <strong>und</strong> kehrt mit einer Sakkade in<br />
die Foveola zurück.Es handelt sich um eine Fixationsstörung<br />
mit Bevorzugung der nasalen Hemiretina.Dies kann sowohl<br />
den Strabismus convergens <strong>und</strong> den Nystagmus latens erklären.<br />
Leider hat auch beim frühkindlichen Schielsyndrom die<br />
Kenntnis der binokularen Neurone zum voreiligen Schluss geführt,<br />
man müsse die Schieloperation bereits in den ersten Lebensmonaten<br />
durchführen, um die Augen gerade zu stellen.<br />
Die Erfahrung zeigt, dass man selbst damit keine vollständige<br />
Heilung erzielen kann.Nicht die Stellungsfehler der Augen<br />
müssen die Ursache für das Nichtfunktionieren der binokularen<br />
Neurone sein, es kann sich auch umgekehrt verhalten [24].<br />
Eine Heilung des Strabismus convergens gelingt nur bei den<br />
Normosensorikern <strong>und</strong> bei den Vollakkomodativen [26].Nach<br />
<strong>Goldmann</strong> hat bei diesen Formen irgend eine Ursache die Stellung<br />
beider Augen aus dem ¹Gravitationsfeldª seines Systems<br />
IV, der Fusion, herausgeführt.<br />
Beim Strabismus divergens intermittens kann die Stereopsis<br />
zum Verständnis beitragen.Beim Blick in die Ferne wirken<br />
vor allem die monokularen Kriterien <strong>und</strong> das dominierte<br />
Auge kann ungestraft abweichen.Führt man den Treffversuch<br />
durch, so wird sofort zur Orthotropie eingestellt, weil in der<br />
Nähe die binokulare Stereopsis gebraucht wird.Das kann<br />
auch die häufigen Rezidive nach der Operation erklären.<br />
Liebe Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen, sehr verehrte Damen <strong>und</strong><br />
Herren, es hat mich gefreut über die Stereopsis <strong>und</strong> auch über<br />
die wohl wenig bekannten Ausführungen von Hans <strong>Goldmann</strong><br />
zum Problem des Strabismus zu berichten.Dafür sei ihm ebenso<br />
sehr gedankt wie für seine übrigen bahnbrechenden Arbeiten.<br />
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