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<strong>BILDUNG</strong> <strong>SCHWEIZ</strong> 5 I 2012 .............................................................<br />
wird generell mehr geschrieben, auch<br />
von nicht speziell Bildungsbeflissenen.<br />
Was herauskommt, ist nicht unbedingt<br />
ein schön geschliffenes Produkt, sondern<br />
Alltagsschriftlichkeit. Es geht auch<br />
nicht in erster Linie um hochanspruchsvolle<br />
Inhalte. In den Social Media geht es<br />
um Beziehungspflege, um Gefühle, die<br />
früher mündlich ausgedrückt wurden:<br />
Was bewegt dich? Wie geht es dir?<br />
«Literalität im medialen Umfeld – Lesen<br />
im Buch und am Bildschirm» war die erste<br />
wissenschaftliche Arbeit an Ihrem Zentrum.<br />
Das Thema blieb brennend aktuell. Haben<br />
Sie die Entwicklung des Lesens weiterverfolgt?<br />
Falls ja: Mit welchen Resultaten?<br />
Bertschi-Kaufmann: Damals befürchtete<br />
man, der Computer sei der Fressfeind<br />
des Buches und werde es verschlingen.<br />
Dies hat sich nicht bestätigt.<br />
Die gedruckte und die elektronische<br />
Form gedeihen nebeneinander und ergänzen<br />
sich. Untersuchungen zeigten<br />
damals, dass Lesen am Bildschirm den<br />
Knaben entgegenkommt. Männer dominierten<br />
den Gebrauch des Computers.<br />
Inzwischen nutzen immer mehr Frauen<br />
den Computer auch zu Hause und Mini-<br />
Computer stecken ebenso selbstverständlich<br />
in der weiblichen Handtasche<br />
wie im Hosensack der Jugendlichen.<br />
Lindauer: Ich schätze seit kurzem den<br />
iPad als Arbeitswerkzeug und stelle fest,<br />
dass auch meine Mutter sehr gut mit<br />
dem Tablet-Computer umgehen kann –<br />
im Gegensatz zum Handy, das ihr nie<br />
entsprach. In ein paar Jahren werden<br />
wir noch viel mehr berührungsintensive<br />
Geräte haben, die den heutigen Computer<br />
ersetzen. Verschiedene Medien werden<br />
parallel verwendet und fliessen ineinander.<br />
Schneider: Jugendliche haben sich an<br />
das angepasst, was heute gefragt ist. Alles<br />
andere wäre eine Fehlentwicklung.<br />
Im myMoment-Projekt stellen wir fest,<br />
dass erzählende Texte gehaltvoll, aber<br />
orthografisch fehlerhaft daherkommen.<br />
Damit haben Lehrpersonen verständlicherweise<br />
Mühe. Interessant ist jedoch,<br />
dass dieselben Jugendlichen sich in Texten,<br />
die sie auf Papier schreiben, formal<br />
dennoch stärker verbessern als die Vergleichsgruppe,<br />
die nicht auf myMoment<br />
aktiv ist.<br />
Ihre Doppelrolle – die Bedingungen des<br />
Lesens zu erforschen und das Lesen zu<br />
fördern – könnte problematisch sein, indem<br />
sie zu Wunschresultaten führt. Wie sehen<br />
Sie das?<br />
Schneider: Diese Gefahr lässt sich tatsächlich<br />
aufgrund unserer Forschungsart,<br />
nämlich mittels Interventionen zu<br />
Resultaten zu gelangen, nicht ganz vermeiden.<br />
Das heisst, wir machen mit<br />
einer Gruppe eine Intervention, mit der<br />
«Das Plus des Zentrums Lesen ist ein starkes Team von Fachleuten mit unterschiedlichen<br />
Zugängen und Hintergründen.» Andrea Bertschi-Kaufmann, Thomas Lindauer und Hansjakob<br />
Schneider im Gespräch mit <strong>BILDUNG</strong> <strong>SCHWEIZ</strong>.<br />
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anderen nicht. Die Resultate werden gemessen<br />
– notwendigerweise mit Instrumenten,<br />
die wir selber entwickeln oder<br />
zumindest daran beteiligt sind. Deshalb<br />
ist es auch so wichtig, dass immer ein<br />
Team – einerseits die Forschenden und<br />
andererseits die Praktikerinnen und<br />
Praktiker – miteinander im Diskurs steht<br />
und einander kritisch hinterfragt.<br />
Bertschi-Kaufmann: Selbstverständlich<br />
schönt man nicht die eigenen Ergebnisse;<br />
das ist eine Frage der wissenschaftlichen<br />
Seriosität. Eine Herausforderung<br />
ist jedoch, mit dem Spannungsfeld zu<br />
leben, dass die Forschungsergebnisse<br />
nicht immer so eindeutig sind, wie wir<br />
sie für die Didaktik und die Praxis gerne<br />
hätten. Da gilt es dann, nicht vorschnell<br />
Rezepte zu erteilen, gleichzeitig aber<br />
auch, die Praxis nicht im Stich zu lassen.<br />
Schneider: Ein Garant für Ausgewogenheit<br />
und kritische Distanz ist das Vorgehen,<br />
nicht nur eine Altersstufe zu<br />
untersuchen. Deshalb haben wir etwa<br />
die Lese- und Schreibkompetenzförderungs-Studie<br />
sowohl für 3./4. als auch<br />
für 7./8. Klassen angelegt. Die «offene<br />
Unterrichtsform», die wir im Hinblick<br />
auf die Motivation der Schülerinnen und<br />
Schüler unterstützen, brachte in der<br />
Sekundarstufe gute Resultate; auf der<br />
Primarstufe hingegen zeigte sich, dass<br />
die Unterrichtsform keine entscheidende<br />
Rolle spielt.<br />
Welches Buch lesen Sie zurzeit?<br />
Was möchten Sie empfehlen?<br />
Schneider: Meine zehnjährige Tochter<br />
hat mir das Buch «Anazarah – Abenteuer<br />
in der Wüste» von Andreas Kirchgässner<br />
empfohlen. Sie lernte den Autor an einer<br />
Lesung in der Schule kennen. Das Jugendbuch<br />
war kein literarischer Genuss,<br />
aber eine gute Gelegenheit, mit ihr darüber<br />
zu reden.<br />
Bertschi-Kaufmann: Zurzeit lese ich in<br />
dem Buch «Wi(e)derworte» von Ulla<br />
Hahn. Die Lyrikerin, die ich sehr schätze,<br />
hat zu Gedichten, die sie vor 30 Jahren<br />
schrieb, Pendants aus ihrer heutigen<br />
Sicht verfasst.<br />
Lindauer: Ich lese immer mehrere<br />
Bücher gleichzeitig. Jetzt gerade einen<br />
Thriller von Lee Child, es geht um einen<br />
Scharfschützen, ausserdem «Schönheit<br />
der Mathematik», ästhetische mathematische<br />
Beweise, und ein Buch zum<br />
Thema Neurologie.<br />
Interview:<br />
Doris Fischer, Heinz Weber