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Die Evolution entlässt ihre Kinder – geht das überhaupt?

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Textarchiv TA2013-6<br />

<strong>Die</strong> <strong>Evolution</strong> <strong>entlässt</strong> <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> <strong>–</strong> <strong>geht</strong> <strong>das</strong> <strong>überhaupt</strong>?<br />

Gerhard Vollmer, Braunschweig<br />

Aus: Klaus Gilgenmann, Peter Mersch, Alfred K. Treml (Hg.):<br />

Kulturelle Vererbung. Erziehung und Bildung in evolutionstheoretischer Sicht.<br />

Beiträge zur <strong>Evolution</strong>ären Pädagogik 4. Norderstedt: Books on Demand 2010, 27-46,<br />

(ISBN-13: 978-3-8391-4415-2)<br />

Gliederung<br />

Woher kommt der Titel?<br />

Wie offen sind unsere genetischen Programme?<br />

Zwei Arten von <strong>Evolution</strong>ärer Pädagogik<br />

Spielt unseres evolutionäres Erbe für die Pädagogik eine Rolle?<br />

Unsere kognitive Nische <strong>–</strong> der Mesokosmos<br />

Der soziale Mesokosmos<br />

Können wir unseren Mesokosmos erweitern?<br />

Können wir unseren Mesokosmos verlassen?<br />

Geht die <strong>Evolution</strong> des Menschen weiter?<br />

Literatur<br />

Woher kommt der Titel?<br />

Vielen wird es klar sein: Der Titel <strong>geht</strong> zurück auf ein Buch von Wolfgang Leonhard (1955):<br />

<strong>Die</strong> Revolution <strong>entlässt</strong> <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong>. Wolfgang Leonhard (*1921) musste als Kind, genauer<br />

1935, Deutschland verlassen, wuchs in der Sowjetunion auf und gehörte zum Nationalkomitee<br />

Freies Deutschland und dann zur Gruppe Ulbricht, die bei Kriegsende in die DDR kam,<br />

um dem Kommunismus zum Siege zu verhelfen. 1949 floh er nach Jugoslawien und arbeitete<br />

ab 1950 im Westen als Journalist und Publizist. Sein Buch erschien 1955, wurde zum<br />

Bestseller und über eine Million mal verkauft. Es bietet eine Innenansicht des Stalinismus<br />

und macht deutlich, <strong>das</strong>s viele Kommunisten, die sich für eine sozialistische Revolution einsetzten,<br />

sich von Stalin oder vom Parteiapparat hintergangen fühlten. Sie waren dann nicht<br />

mehr „<strong>Kinder</strong> der Revolution“; vielmehr hatten sie <strong>das</strong> Gefühl, <strong>das</strong>s sie im Stich gelassen<br />

oder sogar verstoßen wurden.<br />

Dass eine Revolution <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> <strong>entlässt</strong>, wurde dann auch auf andere Revolutionen übertragen.<br />

So tauchte es in der Presse auf, als abzusehen war, <strong>das</strong>s Fidel Castro, der Dauerrevolutionär<br />

auf Kuba, die Führung abgeben würde. Es wurde auch zum Vorbild für andere<br />

Ausstiege, etwa für <strong>das</strong> Netzwerk „Sektenausstieg eV über Zeugen Jehovas, Mormonen und<br />

andere Sekten“.<br />

© fowid / Erstellungsdatum / Fassung vom 02/10/2013 / sfe 1


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Aber woher hat eigentlich Wolfgang Leonhard seinen Buchtitel? Wohl von dem Ausspruch<br />

„<strong>Die</strong> Revolution frisst <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong>“, der sich auf die französische Revolution bezieht. <strong>Die</strong>se<br />

Revolution sollte ja Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bringen. Aber natürlich brauchte auch<br />

der neue Staat Gesetze und eine Regierung. So wurden zwei Revolutionäre, nämlich Danton<br />

und Robespierre, zu Führern gewählt. Sie brachten aber keine Freiheit, sondern neue<br />

Gewalt und neuen Terror. Nicht nur Adlige, sondern auch viele Revolutionäre wurden hingerichtet.<br />

Einer von ihnen, Pierre Vergniaud (1753-1793), meinte „<strong>Die</strong> Revolution ist wie Saturn;<br />

sie frisst <strong>ihre</strong> eigenen <strong>Kinder</strong>.“ Damit spielt er an auf die griechische Mythologie, in der<br />

Kronos, bei den Römern Saturn, seine eigenen <strong>Kinder</strong> frisst. (Eines der schrecklichsten Bilder,<br />

die es <strong>überhaupt</strong> gibt, ist Francisco de Goyas Gemälde „Saturn frisst seine <strong>Kinder</strong>“ von<br />

1820 im Prado in Madrid.) Bekanntlich ließ Robespierre Danton später umbringen und kam<br />

dafür schließlich selbst unter die Guillotine. So starben nicht nur die <strong>Kinder</strong>, sondern auch<br />

die Väter der Revolution. Und es ist kein Wunder, wenn manche Autoren auch andere Institutionen<br />

<strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> fressen lassen, so etwa Lothar Mayer (1992) in seinem Buch „Ein<br />

System siegt sich zu Tode. Der Kapitalismus frisst seine <strong>Kinder</strong>“. Im Vergleich mit dem Gefressenwerden<br />

ist Leonhards Entlassenwerden geradezu milde zu nennen. Es besteht jedoch<br />

kein Zweifel, <strong>das</strong>s Leonhard mit seinem Titel bei seinen Lesern auch auf <strong>das</strong> Gefressenwerden<br />

anspielt.<br />

Angesichts seiner Bekanntheit und seiner Suggestivität ist es kein Wunder, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Bild<br />

des Entlassenwerdens durch eine Revolution auch auf die <strong>Evolution</strong> übertragen wurde. <strong>Die</strong><br />

Formulierung „<strong>Die</strong> <strong>Evolution</strong> <strong>entlässt</strong> <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong>“ findet sich nicht nur als Buchtitel (Breithaupt<br />

1982, Buttlar 2002), sondern auch in Aufsätzen, etwa in der Einleitung zu einem Buch<br />

über Umweltmedizin (Cross/Neumann 2008) mit der Frage „Entlässt die <strong>Evolution</strong> <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong>?“,<br />

die dann allerdings entschieden verneint wird. Und während der Unternehmensberater<br />

Manfred Sliwka eine <strong>Evolution</strong>äre Unternehmensentwicklung empfiehlt mit der Feststellung<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Evolution</strong> <strong>entlässt</strong> <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> nicht“, lädt die Berlin-Brandenburgische Akademie<br />

der Wissenschaften zu Berlin 2009 die Öffentlichkeit zu einer Ausstellung mit dem Motto<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Evolution</strong> empfängt <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong>.“ Ob die <strong>Evolution</strong> <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> tatsächlich <strong>entlässt</strong> oder<br />

nicht, <strong>das</strong> ist also umstritten. Gerade im Lichte der Pädagogik könnte es sich lohnen, dieser<br />

Frage nachzugehen.<br />

Aber was würde es heißen, wenn die <strong>Evolution</strong> <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> entließe? Schließlich sind alle Lebewesen<br />

<strong>Kinder</strong> der <strong>Evolution</strong> <strong>–</strong> von ein paar transgenen Pflanzen und Tieren einmal abgesehen.<br />

Offenbar sind hier ganz besondere <strong>Kinder</strong> der <strong>Evolution</strong> gemeint, nämlich wir Menschen.<br />

Es <strong>geht</strong> dabei nicht so sehr um die Frage, inwiefern wir <strong>Kinder</strong> der <strong>Evolution</strong> sind.<br />

<strong>Die</strong>se Frage ist nett, aber leicht zu beantworten, sind wir doch nach einem Buchtitel von Hoi -<br />

mar von Ditfurth (1970) sogar <strong>Kinder</strong> des Weltalls! Der Schluss des Buches ist vielversprechend:<br />

„Der Weltraum […] ist unser Weltraum. Er hat uns hervorgebracht und er erhält uns<br />

am Leben. Wir sind seine Geschöpfe. Das kann uns Vertrauen geben, auch wenn wir zugestehen<br />

müssen, <strong>das</strong>s es niemanden gibt, der uns sagen könnte, wohin die Reise <strong>geht</strong>.“ Der<br />

Weltraum erhält uns am Leben? Das klingt eindrucksvoll, geradezu tröstlich, legt es doch<br />

nahe, <strong>das</strong>s der Weltraum irgendwie für uns sorgt. Nichts wäre falscher als <strong>das</strong>! Da halte ich<br />

es lieber mit Jacques Monod: „[Der Mensch] weiß nun, <strong>das</strong>s er seinen Platz wie ein Zigeuner<br />

am Rande des Universums hat, <strong>das</strong> für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine<br />

Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“ (Monod 1970/1971, S. 211)<br />

Wir könnten dieses Bild auf die <strong>Evolution</strong> übertragen und fragen, ob die <strong>Evolution</strong>, nachdem<br />

sie uns hervorgebracht hat, uns nun auch am Leben erhält. Aber <strong>das</strong> ist sicher noch naiver<br />

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als die Hoffnung, <strong>das</strong>s sich der Weltraum irgendwie um uns kümmert. Dazu brauchen wir<br />

nur zur Kenntnis zu nehmen, <strong>das</strong>s nach Meinung von <strong>Evolution</strong>sbiologen (Kaplan 1985;<br />

Mayr 1991, S. 58) bisher mindestens tausendmal so viele Arten ausgestorben sind wie heute<br />

noch existieren! <strong>Die</strong> Zahl der ausgestorbenen Arten wird dabei auf bis zu zehn Milliarden<br />

(10 10 ) geschätzt. <strong>Die</strong> einzige Instanz, die dafür sorgen kann, <strong>das</strong>s wir überleben, sind wir<br />

selbst.<br />

Nachdem nun die Revolution <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> erst entlassen und dann gefressen hat, können wir<br />

fragen, ob auch die <strong>Evolution</strong> <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> <strong>entlässt</strong> und am Ende auch noch frisst. Tatsächlich<br />

gibt es von dem Sozialwissenschaftler Hans-Hermann Hoppe (2001) ein Buch <strong>Die</strong> <strong>Evolution</strong><br />

frisst <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong>“ und von Friedrich Cramer (1923-2003) einen Aufsatz gleichen Titels (Cramer<br />

1986), bei dem es wirklich um die biologische <strong>Evolution</strong> <strong>geht</strong>. Und <strong>das</strong> Internet führt auf<br />

zahlreiche weitere Treffer. Was also hieße es, wenn die <strong>Evolution</strong> <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> entließe?<br />

Wie offen sind unsere genetischen Programme?<br />

Ich weiß es noch wie heute: Bei einer Fortbildungstagung für Lehrer in Hessen waren wir in<br />

einer Bildungsstätte untergebracht, die auch anderen Zwecken diente. Zufällig kam ich dort<br />

ins Gespräch mit einem jungen Mann, der gar kein Lehrer war, aber aus reiner Neugier an<br />

unseren Veranstaltungen teilnahm. Er beklagte sich heftig über seine Eltern und meinte: „Für<br />

alles braucht man in Deutschland eine Erlaubnis: Man braucht einen Führerschein, einen Pilotenschein,<br />

einen Angelschein, einen Jagdschein, einen Waffenschein. Nur um Vater oder<br />

Mutter zu werden, braucht man keine Erlaubnis. Und so werden Leute Eltern, die <strong>überhaupt</strong><br />

nicht dazu taugen.“ Er war homosexuell. Offenbar hatte er unter dem Unverständnis seiner<br />

Eltern sehr gelitten und litt immer noch. Ich musste ihm recht geben. Um fremde <strong>Kinder</strong> erziehen<br />

zu dürfen, braucht man bei uns eine lange Ausbildung und ein anspruchsvolles Diplom,<br />

ganz gleich, ob als <strong>Kinder</strong>gärtner, als Grundschullehrerin, als Gymnasiallehrer oder<br />

als Universitätsprofessorin. Aber eigene <strong>Kinder</strong> erziehen <strong>–</strong> <strong>das</strong> darf jeder, ohne Ausbildung,<br />

ohne Prüfung, ohne Diplom, ohne Probezeit.<br />

Was hätte es geholfen, wenn die Eltern des jungen Mannes einen Elternpass oder einen Erziehungsschein<br />

hätten haben müssen und deshalb auch erworben hätten? Sie hätten erfahren<br />

können, <strong>das</strong>s Homosexualität keine Willensfrage ist; <strong>das</strong>s es keinen guten Grund gibt,<br />

Homosexualität zu verurteilen oder gar zu verdammen; <strong>das</strong>s man sein Kind für ein Leben<br />

unglücklich machen kann, wenn man seine Neigungen nicht akzeptiert.<br />

Ich habe den jungen Mann nach den Gesprächen aus den Augen verloren. Vielleicht ist er<br />

unglücklich geworden oder geblieben; vielleicht hat er den Absprung auch geschafft. Dass er<br />

sich mit seinen Eltern ausgesöhnt hat, wage ich nicht zu hoffen; zu tief saß seine Verbitterung<br />

<strong>–</strong> und die Verbitterung seiner Eltern vermutlich auch.<br />

Ein Elternpass ist bei uns undenkbar. Würden wir ein Land in die Europäische Union aufnehmen,<br />

in dem ein solcher Pass erforderlich wäre? Gibt es denn ein Recht auf <strong>Kinder</strong> <strong>–</strong> auch<br />

ohne nähere Prüfung? Sollten wir <strong>das</strong> Recht, eigene <strong>Kinder</strong> zu haben, zu den Menschenrechten<br />

zählen? In der Verfassung verankern? Darf man <strong>–</strong> wie in China <strong>–</strong> die <strong>Kinder</strong>zahl gesetzlich<br />

beschränken? Oder dürfen es <strong>–</strong> wie bei uns <strong>–</strong> beliebig viele <strong>Kinder</strong> sein? Offenbar<br />

verlassen wir uns darauf, <strong>das</strong>s (fast) alle Eltern <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> schon richtig erziehen. Haben<br />

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nicht seit Urzeiten Millionen, nein Milliarden, ja sogar Billionen von Eltern <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> einigermaßen<br />

richtig erzogen?<br />

Tatsächlich könnte es sein, <strong>das</strong>s man dabei nicht viel falsch machen kann. Der Biologe Adolf<br />

Heschl widmet eines seiner Bücher seinen Söhnen, „die mich systematisch davon überzeugt<br />

haben, <strong>das</strong>s ich ihnen nichts, aber auch schon rein gar nichts beibringen kann“ (Heschl<br />

1998, S. 5). Das klingt, wenn man es ernst nimmt, eher enttäuscht. Wie viele vergebliche<br />

Versuche, wie viele verlorene Hoffnungen mögen dahinterstecken?<br />

Aber man könnte, wenn man es glaubt, auch einen Vorteil darin sehen. Unsere Hoffnung<br />

ginge dann offenbar dahin, <strong>das</strong>s <strong>Kinder</strong> nach einem Programm heranwachsen, <strong>das</strong> ihnen<br />

die <strong>Evolution</strong> mitgegeben hat und <strong>das</strong> so bestimmend ist, <strong>das</strong>s es auch für schädliche bis<br />

verheerende Einflüsse nicht gar zuviel Spielraum lässt. Angesichts der Jugendkriminalität,<br />

die uns in den letzten Jahren besonders schreckt, wird man dieser Hoffnung allerdings nicht<br />

dauerhaft anhängen.<br />

<strong>Die</strong> Frage ist also, wie offen dieses Programm ist. Je offener es ist, desto mehr kann man<br />

<strong>das</strong> Kind beeinflussen, formen und fördern, desto mehr kann man aber auch zerstören. Das<br />

gilt natürlich nicht nur für Eltern, sondern auch für Erzieher, für Lehrerinnen, für Spielkameraden,<br />

für Begegnungen aller Art, für alle Leute und für alle Dinge, denen <strong>das</strong> Kind begegnet.<br />

Deshalb ist diese Frage für die Pädagogik so wichtig.<br />

Zwei Arten von <strong>Evolution</strong>ärer Pädagogik<br />

Wie in anderen evolutionären Disziplinen auch, kann man den Ausdruck „<strong>Evolution</strong>äre Pädagogik“<br />

auf zweierlei Weise verstehen. Wenn wir diese Varianten „schwach“ und „stark“ nennen,<br />

so ist damit kein Qualitätsurteil verbunden.<br />

In der schwachen Variante <strong>geht</strong> es darum, allgemeine <strong>Evolution</strong>sprinzipien oder sogar eine<br />

allgemeine <strong>Evolution</strong>stheorie zu formulieren und auf pädagogische Sachverhalte und Anliegen<br />

anzuwenden. Dabei wird auch die Ontogenese als evolutionärer Prozess verstanden, in<br />

dem die Hauptfaktoren der <strong>Evolution</strong>, nämlich blinde Variation und Auslese nach Kriterien,<br />

eine wichtige Rolle spielen. Auch konkrete Erziehungs- und Unterrichtsprozesse werden dabei<br />

als <strong>Evolution</strong>sprozesse angesehen: <strong>Die</strong> Angebote variieren und können sowohl vom<br />

Schüler als auch vom Erzieher selektiv angenommen und umgesetzt werden. <strong>Die</strong> Vorteile<br />

dieser Betrachtungsweise sind die einheitliche Terminologie und die einheitliche Gesetzesbasis,<br />

die allerdings zum Teil erst noch geschaffen werden müssen. <strong>Die</strong> <strong>Evolution</strong>äre Pädagogik<br />

von Alfred Treml (Bundeswehr-Hochschule Hamburg-Harburg) stützt sich dabei wesentlich<br />

auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann (1927-1998).<br />

In der starken Variante wird ausschließlich die biologische <strong>Evolution</strong>stheorie benützt. Der<br />

Mensch wird dabei als Lebewesen aufgefasst, <strong>das</strong> der biologischen <strong>Evolution</strong> unterworfen<br />

war und ist und entsprechende Merkmale aufweist. So ist der Mensch in seinem Erkenntnisund<br />

Lernvermögen evolutionär entstanden und evolutionär geprägt, aber auch in seinem sozialen<br />

Verhalten, in seinem ästhetisches Urteilen, in seiner künstlerischen Betätigung, sogar<br />

in seinen religiösen Bedürfnissen. Dabei können auch Ergebnisse anderer evolutionärer Disziplinen,<br />

insbesondere der <strong>Evolution</strong>ären Anthropologie, der <strong>Evolution</strong>ären Psychologie, der<br />

Soziobiologie berücksichtigt werden.<br />

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Im Folgenden <strong>geht</strong> es vor allem um diese zweite Form von <strong>Evolution</strong>ärer Pädagogik. Wir fragen<br />

zunächst nach der Rolle unseres Erbgutes.<br />

Spielt unser evolutionäres Erbe für die Pädagogik eine Rolle?<br />

Nein, sagen manche, lehrte insbesondere <strong>das</strong> sozialistische Menschenbild. Für diese Ideologie<br />

schien es wichtig, <strong>das</strong>s Menschen beliebig formbar sind. Ja, sagt dagegen die <strong>Evolution</strong>äre<br />

Pädagogik und weist der <strong>Evolution</strong> damit eine wichtige Rolle zu.<br />

Bevor ich versuche, diese Frage zu beantworten, weise ich vorsichtshalber darauf hin, <strong>das</strong>s<br />

wir <strong>das</strong> Wort ‚<strong>Evolution</strong>’ hier in einem eigenartigen Sinn gebrauchen. Wir schreiben nämlich<br />

der <strong>Evolution</strong> Aufgaben und Tätigkeiten zu, als ob sie eine handelnde Person wäre. Wir sagen:<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Evolution</strong> sorgt dafür …, die <strong>Evolution</strong> bewertet …, die <strong>Evolution</strong> lässt … überleben<br />

<strong>–</strong> oder eben nicht.“ Manchmal nennen wir sie sogar unbarmherzig, kreativ oder tolerant. In<br />

Wahrheit ist die <strong>Evolution</strong> natürlich keine Person, sondern ein Vorgang, dessen Regel- und<br />

Gesetzmäßigkeiten wir herauszufinden suchen. Dasselbe gilt für den Ausdruck ‚die natürliche<br />

Auslese’. Wollten wir diese Personifizierung vermeiden, so müssten wir sagen: Im Laufe<br />

der <strong>Evolution</strong> geschieht dies und jenes, etwa: <strong>Die</strong>se Art gibt es immer noch; jene Art dagegen<br />

war im Wettbewerb unterlegen und ist verschwunden.<br />

Aber welche Rolle spielt, so verstanden, die <strong>Evolution</strong>? Es ist eine Doppelrolle: Einerseits<br />

hat sie uns mit bestimmten Fähigkeiten ausgestattet, die uns <strong>das</strong> Lernen ermöglichen oder<br />

erleichtern und deshalb auch Spielraum lassen für Erziehung, Bildung und Ausbildung. Andererseits<br />

hat sie uns durch eben diese Ausstattung auch Beschränkungen auferlegt. Manches<br />

können wir sehr gut, anderes weniger gut oder <strong>überhaupt</strong> nicht. Für Pädagogen ist es<br />

nützlich, beide Seiten zu kennen. In manchen Fällen macht <strong>das</strong> die Arbeit leichter; in anderen<br />

Fällen wissen wir wenigstens, mit welchen Hindernissen wir rechnen und fertig werden<br />

müssen.<br />

Beide Seiten sind wichtig. Es ist wichtig zu wissen, <strong>das</strong>s die Ausstattung, die uns die <strong>Evolution</strong><br />

mitgegeben hat, viel Spielraum lässt. Wir haben <strong>das</strong> Glück, neugierig zu sein und lernen<br />

zu können. Man sagt sogar gern, ein besonderes Merkmal des Menschen, ein Teil des „Humanums“,<br />

sei seine anhaltende, seine lebenslange Neugier. <strong>Die</strong> vergleichende Verhaltensforschung,<br />

insbesondere Konrad Lorenz, spricht hier gern von Neotenie, vom Beibehalten eines<br />

Jugendmerkmals, <strong>das</strong> unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, nicht kennen.<br />

Dass wir lernen können, gehört zu unserem arteigenen „Programm“. Der Mensch ist ja eine<br />

physiologische Frühgeburt: Weil wir einerseits ein besonders großes Gehirn brauchen und<br />

haben, und weil andererseits der aufrechte Gang den Geburtskanal verengt und der wachsende<br />

Kopf des Kindes dort später nicht mehr hindurchpasst, kommen wir, verglichen mit<br />

anderen Tieren, sehr früh und damit sehr unreif zur Welt. Der Verhaltensbiologe Bernhard<br />

Hassenstein (1970/2007) nennt deshalb den Menschen <strong>–</strong> zur Unterscheidung von Nesthockern<br />

und Nestflüchtern <strong>–</strong> einen Tragling. <strong>Die</strong> frühe Geburt des Menschenkindes erfordert<br />

viel mehr Fürsorge seitens der Eltern. Aber es eröffnet auch die Möglichkeit, sehr früh mit<br />

dem Lernen zu beginnen. Das Lernen ist also etwas ganz Natürliches! Homo discens, der<br />

Mensch als lernendes Wesen wäre zur Charakterisierung des Menschen ebenso gut wie<br />

Homo loquens oder Homo faber.<br />

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In der <strong>Evolution</strong> hat es sich offenbar gelohnt, Fähigkeiten auszubilden bzw. mitzugeben,<br />

ohne die Ergebnisse <strong>ihre</strong>s Einsatzes vorwegzunehmen oder vorzuschreiben. So konnte sich<br />

der Anwendungsbereich solcher Fähigkeiten, insbesondere der Lernfähigkeit, immer mehr<br />

erweitern. Nur so ist es zu verstehen, <strong>das</strong>s etwa der Anthropologe Christian Vogel über „<strong>Die</strong><br />

biologische <strong>Evolution</strong> menschlicher Kulturfähigkeit“ schreibt. (Vogel 1983) Das ist nicht anders,<br />

als wenn jemand die biologische <strong>Evolution</strong> der menschlichen Sprachfähigkeit untersucht.<br />

Keine der menschlichen Fähigkeiten, ob nun Sprechen, Erkennen, Moral, ästhetisches<br />

Urteilen oder auch Lesen und Schreiben, steht in irgendeinem Gegensatz zur Biologie,<br />

zur <strong>Evolution</strong> oder zur Natur.<br />

Wir sagen ja auch nicht, es sei unnatürlich, nicht vorgesehen oder gar gegen unsere Gene,<br />

<strong>das</strong>s wir eine Sprache oder eine Zweitsprache lernen, nur weil wir ohne sprachlichen Input<br />

nicht sprechen lernen. Vielmehr lässt „die Natur“ hier einen breiten Spielraum, damit wir jede<br />

beliebige natürliche Sprache als Muttersprache lernen können. Der Erwerb einer Sprache ist<br />

„vorgesehen“. <strong>Die</strong>se Fähigkeit reicht dann sogar so weit, <strong>das</strong>s wir eine zweite Sprache, bei<br />

Bedarf sogar zehn Sprachen erwerben können, obwohl <strong>das</strong> in der <strong>Evolution</strong> gar nicht gebraucht<br />

wurde und insofern auch nicht „vorgesehen“ war.<br />

(Nebenbei: Mit Wörtern wie ‚damit’ oder ‚vorgesehen’ bedienen wir uns einer teleologischen<br />

Sprechweise. Wir wissen jedoch, <strong>das</strong>s sie in eine streng kausale Sprechweise übersetzt<br />

werden kann, die freilich viel umständlicher zu formulieren ist. Statt zu sagen „<strong>Die</strong> Kuh hat<br />

ein Euter, damit sie <strong>–</strong> falls sie ein Kalb hat <strong>–</strong> <strong>ihre</strong>n Nachwuchs ernähren kann.“ können wir<br />

auch sagen: „<strong>Die</strong> Kuh hat ein Euter, weil solche Vorfahren, welche die genetische Anlage für<br />

ein Euter hatten, <strong>ihre</strong> Nachkommen besser ernähren und damit mehr Gene in die nächste<br />

Generation bringen konnten.“ So könnten wir auch ganz unteleologisch sagen, unser Spracherwerbsmechanismus<br />

sei für alle natürlichen Sprachen offen, weil er mehr Anpassungsmöglichkeiten<br />

bot: Anpassungen des lernenden Individuums an die Umgebungssprache und<br />

Anpassungen der Sprache an neue ökologische und soziale Verhältnisse.)<br />

Freilich könnte man darüber nachdenken, ob man Verhaltensweisen, die sich massiv gegen<br />

<strong>das</strong> Reproduktionsinteresse richten, noch „natürlich“ nennen möchte. Richard Dawkins<br />

(1978, S. 139) nennt die Empfängnisverhütung unnatürlich, betont aber gleichzeitig, <strong>das</strong>s<br />

auch der Wohlfahrtsstaat unnatürlich sei. Und der „unnatürliche“ Wohlfahrtsstaat, der für <strong>Kinder</strong><br />

sorgt, deren Eltern nicht für sie sorgen können, ist auf die „unnatürliche“ Geburtenkontrolle<br />

angewiesen. Andernfalls könnten egoistische Individuen <strong>das</strong> System ausbeuten, und<br />

<strong>das</strong> Ergebnis wäre noch größeres Elend, also noch weniger Wohlfahrt, als unter „natürlichen“<br />

Bedingungen.<br />

Für die Pädagogik sind nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch die Beschränkungen wichtig.<br />

Einiges können wir gar nicht, anderes nur mühsam. Auch eine <strong>Evolution</strong>äre Pädagogik wird<br />

sich deshalb nicht nur um unsere Fähigkeiten kümmern, sondern auch und gerade um solche<br />

Beschränkungen; denn wann immer wir etwas erreichen wollen, ist es zweckmäßig zu<br />

wissen, was den Erfolg begünstigt und was ihm im Wege steht.<br />

Unsere kognitive Nische <strong>–</strong> der Mesokosmos<br />

<strong>Die</strong> <strong>Evolution</strong>äre Erkenntnistheorie betrachtet <strong>das</strong> menschliche Erkenntnisvermögen als eine<br />

Fähigkeit, die wir im Laufe der <strong>Evolution</strong> erworben haben. Auch mit diesem Vermögen ha-<br />

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Textarchiv TA2013-6<br />

ben wir uns an unsere Umwelt angepasst. Den Ausschnitt der realen Welt, an den wir kognitiv<br />

angepasst sind, nennen wir Mesokosmos. Er ist <strong>–</strong> in Analogie zur ökologischen Nische <strong>–</strong><br />

die kognitive Nische des Menschen. Er ist räumlich dreidimensional; bei Entfernungen reicht<br />

er von Millimetern („Haaresbreite“) zu Kilometern (Tagesmarsch), zeitlich vom subjektiven<br />

Zeitquant (etwa 1/20 Sekunde) zum eigenen Lebensalter, von Gramm zu Tonnen, von Stillstand<br />

zur Geschwindigkeit eines geworfenen Steins, von gleichförmiger Bewegung (Beschleunigung<br />

Null) zur Sprinter- oder Erdbeschleunigung, vom Gefrier- bis zum Siedepunkt<br />

des Wassers, von Komplexität Null (unzusammenhängender Staub) bis zu linearen Systemen<br />

und damit auch zu linearer Kausalität. Dagegen gehören elektrische und magnetische<br />

Felder nicht zum Mesokosmos: Sie sind zwar, wie <strong>das</strong> Erdmagnetfeld zeigt, makroskopisch;<br />

wir haben jedoch kein Sinnesorgan für sie und können sie deshalb nicht „unmittelbar“ wahrnehmen.<br />

Auf diesen Mesokosmos sind wir genetisch vorbereitet; auf ihn werden wir zusätzlich geprägt;<br />

dort finden wir uns leicht zurecht; hier können wir uns auf unsere Intuition verlassen.<br />

Außerhalb des Mesokosmos kann uns die Intuition leicht in die Irre führen. Zwar meint René<br />

Descartes (1596-1650):<br />

Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, <strong>das</strong>s es besser ist, nach dem Muster der<br />

in den großen Körpern durch unsere Sinne wahrgenommenen Vorgänge über die zu<br />

urteilen, die an den kleinen Körpern geschehen, aber wegen <strong>ihre</strong>r Kleinheit nicht<br />

wahrgenommen werden können, als zu <strong>ihre</strong>r Erkenntnis neue Dinge, ich weiß nicht<br />

welche, auszudenken, welche mit den wahrgenommenen keine Ähnlichkeit haben.<br />

(Descartes 1644, 1965)<br />

Es mag eine vernünftige Maxime sein, zunächst einmal anzunehmen, die Welt sei überall so<br />

beschaffen wie im Mesokosmos. Doch wissen wir längst, <strong>das</strong>s diese Annahme oft genug<br />

falsch ist. Und sie ist desto häufiger falsch, je weiter die Systeme von unserem Mesokosmos<br />

entfernt sind.<br />

Über die Rolle der Intuition wird in letzter Zeit viel diskutiert und zum Glück auch geforscht <strong>–</strong><br />

oft mit Ergebnissen, die der Intuition widersprechen. Auf der einen Seite stellt sich heraus,<br />

<strong>das</strong>s unsere Intuition <strong>–</strong> unser „Bauchgefühl“, wie man heute gern sagt <strong>–</strong> oft eine gute Richtschnur<br />

bietet (Gigerenzer 2007; Kast 2009; Traufetter 2009).<br />

Auf der anderen Seite wird unsere Intuition viel kritisiert. So gibt es ganze Bücher über die<br />

Fehlleistungen unserer Intuition (Beck 2008; Beck-Bornholdt/Dubben 2001; Brafman 2008;<br />

Dörner 1989). Besonders leicht irren wir uns, wenn es um Wahrscheinlichkeit und Statistik<br />

<strong>geht</strong> (Dubben/Beck-Bornholdt 2005; Gigerenzer 2002; Tillemans 1996). Mehrere Autoren<br />

versuchen, solche Fehlleistungen nicht nur darzustellen, sondern auch zu erklären (Piatelli-Palmarini<br />

1997). Einige von ihnen machen deutlich, <strong>das</strong>s wir viele unserer Fehler und Irrtümer<br />

der <strong>Evolution</strong> zu verdanken haben (Frey 2007; 2009). Und natürlich gibt es auch<br />

Ratschläge, wie man solche Irrtümer vermeiden kann (Bördlein 2002; Brafman 2008).<br />

Allerdings sind einige Autoren der Meinung, <strong>das</strong>s solche Fehlleistungen, gerade wenn und<br />

weil sie evolutiv bedingt sind, nahezu unvermeidlich seien (Ariely 2008). Tatsächlich ist es<br />

manchmal erschreckend, wie dieselben Fehler immer wieder gemacht werden. Dazu bieten<br />

gerade die Bücher von Frey viele eindrucksvolle Fallstudien. Auch die Pädagogik wird sich<br />

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klugerweise nicht <strong>das</strong> (unerreichbare) Ziel setzen, alle üblichen Fehler, insbesondere die<br />

hartnäckigen, zu verhindern oder wenigstens abzufedern. Sie wird zufrieden sein müssen,<br />

wenn es ihr gelingt, wenigstens einige Fehler und Fehlleistungen zu vermeiden.<br />

Der soziale Mesokosmos<br />

Neben dem Mesokosmos, also unserer kognitiven Nische, kann man auch einen sozialen<br />

Mesokosmos ins Auge fassen. Das ist dann jener Ausschnitt der sozialen Welt, an den wir<br />

als evolutionär entstandene Wesen angepasst sind. Zwar lässt auch er sich aus fossilen<br />

Funden kaum rekonstruieren. Doch sind Verhaltensuniversalien gute Kandidaten für genetische<br />

Wurzeln. Vor allem können wir an menschlichem Fehlverhalten studieren, wo wir unseren<br />

sozialen Mesokosmos überfordern. Außerdem können wir hier vergleichende Forschung<br />

betreiben und uns mit Stammeskulturen (früher: Naturvölkern) einerseits, mit anderen Primaten<br />

andererseits vergleichen. Der soziale Mesokosmos besteht aus etwa 100 Stammesgenossen,<br />

die man alle persönlich kennt und mit denen man in der Regel auch näher verwandt<br />

ist. Mit ihnen hat man weit mehr soziale Kontakte als mit fremden Individuen. Mit ihnen zu<br />

kooperieren, begünstigt in der Regel auch die eigenen Gene: Entweder ich nütze meinen<br />

Verwandten und damit meinen Genen, soweit sie in ihnen stecken; oder ich nütze anderen<br />

Stammesgenossen, die dann über reziproken Altruismus wieder mir oder meinen Verwandten<br />

und damit ebenfalls meinen Genen nützen.<br />

Unsere soziale Umwelt wird dem sozialen Mesokosmos immer unähnlicher. Der Anthropologe<br />

Hans Zeier (1978, S. 1109, 1118f.) hat zahlreiche Situationen skizziert, die in unserer<br />

stammesgeschichtlichen Vergangenheit nicht vorgekommen, heute aber häufig sind. Wir<br />

stellen einige solche Bedingungen zusammen:<br />

<strong>Die</strong> Gruppen, in und mit denen wir leben, umfassen mehr als hundert Individuen.<br />

Wir haben mehr Kontakte mit fremden als mit vertrauten Individuen.<br />

Wir haben mehr indirekte Kontakte über (technische) Hilfsmittel als persönliche Kontakte.<br />

Der Anteil neuartiger Tätigkeiten ist vergleichsweise hoch.<br />

Wir machen mehr passive Erfahrungen (Berichte, Lektüre, Medien, Computer) als aktive.<br />

Soziale und technische Veränderungen lassen die Erfahrungen einer Generation für die<br />

nächste unbrauchbar werden.<br />

Wir lernen mit und an Maschinen statt an Menschen und entwickeln entsprechende Gewohnheiten<br />

und Denkmodelle.<br />

Wir erleben weder unsere ökologischen Lebensvoraussetzungen noch die Folgen unserer<br />

Handlungen direkt genug, um individuell daraus zu lernen.<br />

Viele <strong>Kinder</strong> wachsen mit nur einem Elternteil auf, lernen also <strong>das</strong> jeweils andere Geschlecht<br />

und die andere Hälfte der Familie kaum kennen.<br />

Bei Einzelkindern über mehrere Generationen gibt es keine Großfamilie mehr: keine Onkel<br />

und Tanten, keine Kusinen und Vettern, keine Geschwister, keine Neffen und Nichten.<br />

Verwandt ist man nur noch mit Eltern und <strong>Kinder</strong>n.<br />

Offenbar gibt uns unser stammesgeschichtliches Erbe zwei verschiedene Verhaltensweisen<br />

mit: Verhalten gegenüber Stammesgenossen (in-group) und gegenüber Außenstehenden<br />

(out-group). Nach den Erkenntnissen der Soziobiologie hat uns die <strong>Evolution</strong> also mit einer<br />

Art „doppelter Moral“ ausgestattet. Es leuchtet ein, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Modell des sozialen Mesokosmos<br />

große Bedeutung für die Ethik hat, insbesondere aber für eine <strong>Evolution</strong>äre Ethik; denn<br />

jede einigermaßen anspruchsvolle Ethik legt Wert auf die Verallgemeinerbarkeit moralischer<br />

Normen. Ähnliches gilt für Psychologie, Psychiatrie und Pädagogik. So ist es kein Wunder,<br />

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Textarchiv TA2013-6<br />

<strong>das</strong>s es inzwischen eine <strong>Evolution</strong>äre Psychologie, eine <strong>Evolution</strong>äre Psychiatrie und eben<br />

auch eine <strong>Evolution</strong>äre Pädagogik gibt. Im Folgenden befassen wir uns allerdings nur mit<br />

Pädagogik und nur mit unserer kognitiven Nische, also mit dem Mesokosmos. Was kann <strong>–</strong><br />

angesichts unseres evolutionären Erbes <strong>–</strong> eine Erzieherin tun, um <strong>ihre</strong> Aufgabe zu erfüllen?<br />

Können wir unseren Mesokosmos erweitern?<br />

Wir wollen die Antwort vorwegnehmen: Ja, wir können unseren Mesokosmos erweitern, und<br />

zwar sowohl unseren kognitiven als auch unseren sozialen Mesokosmos. <strong>Die</strong> Grenzen des<br />

Mesokosmos liegen nicht genau fest. Sie sind nicht nur von Person zu Person verschieden,<br />

sondern können sich auch im Laufe eines Lebens verschieben. Das kann völlig unbeabsichtigt<br />

geschehen oder aber auch ganz gezielt angestrebt werden.<br />

Wir erleben, wie Ärzte Aufnahmen mit Röntgenapparat, Ultraschallgerät oder Mikroskop<br />

deuten, auf denen wir nur Chaos sehen. Wir beobachten LKW-Fahrer, die einen Lastzug mit<br />

Anhänger rückwärts lenken und auf 10 Zentimeter genau wissen, wie weit die äußersten<br />

Fahrzeugteile von einer Mauer entfernt sind. Wir bewundern Baggerfahrer, die mit Handund<br />

Fusshebeln einen Ausleger mit Schaufel steuern, als ob es <strong>ihre</strong> eigene Hand wäre. Wir<br />

können uns in Geräte, Hilfsmittel, Werkzeuge „hineinversetzen“, als ob sie eigene Gliedmaßen<br />

wären. Ich habe einen originellen Cartoon von Gerhard Glück, auf dem Arbeitselefanten<br />

Mikado spielen! Darin steckt eine große Bewunderung für die Feinfühligkeit dieser Urwaldriesen,<br />

der größten Landsäugetiere <strong>überhaupt</strong>. Man könnte den Cartoon aber auch als Anspielung<br />

deuten, <strong>das</strong>s wir Menschen für manche Aufgaben, die wir uns selbst stellen, eigentlich<br />

zu grob gebaut sind und uns regelmäßig überfordern.<br />

Leider kann keiner von uns alles lernen. Auch vererben können wir diese Fähigkeiten nicht.<br />

<strong>Die</strong> Aufgabe, seinen Mesokosmos zu erweitern, stellt sich also für jedes Individuum immer<br />

wieder neu. Aber <strong>das</strong> war, evolutiv gesehen, „schon immer“ so. Jeder Mensch bringt Lernfähigkeit<br />

mit, die er für ganz unterschiedliche Aufgaben einsetzen kann. Der Jäger wird sein<br />

Auge schärfen; die Musikerin ihr Gehör. Tabaksortiererinnen lernen, viele Tabakfarben zuverlässig<br />

zu unterscheiden, und die Inuit (Plural von ‚Inuk’, der Selbstbezeichnung der Eskimos)<br />

können mehr Arten von Schnee unterscheiden und benennen als Europäer. Ich erinnere<br />

mich gern an eine Alpenwanderung mit einem Eingeborenen aus Neuguinea, einem Trobriander.<br />

Lange vor uns sah er ein Reh oder eine Gams; sein Auge (oder besser: sein Gehirn)<br />

war geschulter im Wahrnehmen von Bewegung als unseres. Sein Mesokosmos war in<br />

dieser Richtung merklich weiter als unserer. Auch wenn wir eine Sportart einüben oder den<br />

Führerschein machen, werden unsere Sinne und unsere Motorik geschult, und die Kontrolle<br />

unserer Wahrnehmung und unserer Bewegungen wird zunehmend ins Unbewusste verlagert.<br />

Was unwillkürlich, spontan, intuitiv, automatisch passiert, geschieht dann viel schneller<br />

als unter bewusster Kontrolle; allerdings kann diese Intuition nicht auch schon allen<br />

Grenzsituationen gewachsen sein.<br />

Dass wir unseren Mesokosmos erweitern können, liegt durchaus im Rahmen unserer genetischen<br />

Ausstattung. Wir sind gerade deshalb lernfähig, weil es sich im Laufe der <strong>Evolution</strong><br />

gelohnt hat, lernfähig zu sein. In diesem Sinne können wir den Mesokosmos erweitern; er<br />

wird dann unser persönlicher Mesokosmos <strong>–</strong> der allerdings nicht vererbt wird. Hierfür<br />

braucht die <strong>Evolution</strong> uns nicht zu entlassen; auch mit einem erweiterten Mesokosmos blei-<br />

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ben wir <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong>. Und hier hat die Pädagogik eine dankbare und übersichtliche Aufgabe.<br />

Nun kommen wir aber zu einer schwierigeren Frage.<br />

Können wir unseren Mesokosmos verlassen?<br />

Manche halten <strong>das</strong> für unmöglich. So meint Hoimar von Ditfurth in seiner einprägsamen<br />

Sprache, es sei sicher, „<strong>das</strong>s die Gesamtheit dessen, was real existiert, unser Vorstellungsvermögen<br />

unermesslich übersteigt“ (Ditfurth 1981, S. 224). Und zwar nach Ditfurth nicht nur<br />

unser Vorstellungsvermögen, sondern auch unser Erkenntnisvermögen. So wie der Mensch<br />

viel mehr von der Welt erkannt habe als die Ameise, so könne auch die tatsächliche Welt<br />

noch um Größenordnungen reicher sein als die Welt, wie wir sie zu kennen glauben.<br />

Eines ist daran richtig: Unser Wissen ist vorläufig und fehlbar; unser Wissen über unser<br />

Nichtwissen erst recht. Wir können nicht wissen, was uns alles ent<strong>geht</strong>, erst recht nicht, was<br />

uns auch noch in naher oder ferner Zukunft entgehen wird. <strong>Die</strong>se Einsicht mag uns enttäuschen.<br />

Wir können sie aber auch positiv wenden: Da wir die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens<br />

nicht kennen, dürfen wir auch mit dem Gedanken spielen, <strong>das</strong>s es solche Grenzen<br />

gar nicht gibt.<br />

Immerhin können wir den Mesokosmos verlassen. Das entscheidende Hilfsmittel dafür ist<br />

die menschliche Sprache. Wir können sie ein Denkzeug nennen. Wie ein Werkzeug uns hilft,<br />

etwas zu bewirken, so hilft uns ein Denkzeug beim Denken. In der Sprache können wir<br />

Sachverhalte formulieren, die wir uns nicht vorstellen können. Auch können wir einen Satz,<br />

der uns wahr erscheint, verneinen, also <strong>das</strong> Gegenteil formulieren, obwohl es uns falsch erscheint.<br />

Und ganz gleich, ob wir einen Satz nun für wahr oder für falsch halten <strong>–</strong> in beiden<br />

Fällen können wir Folgerungen ziehen und in der Erfahrung überprüfen. Dabei kann es geschehen,<br />

<strong>das</strong>s sich die Folgerungen aus dem vermeintlich wahren Satz als falsch, die Folgerungen<br />

aus dem vermeintlich falschen Satz als wahr herausstellen. So können wir Sätze, die<br />

uns wahr erschienen, über den Modus tollens als falsch erkennen. Auf diese Weise gewinnen<br />

wir Erkenntnis über die Welt jenseits des Mesokosmos, obwohl diese Bereiche unserer<br />

Vorstellung nicht zugänglich sind, obwohl sie für uns unanschaulich sind, obwohl sie unseren<br />

mesokosmischen Erwartungen widersprechen.<br />

<strong>Die</strong> Sprache also ist die Leiter, auf der wir die Grenzen des Mesokosmos übersteigen. Das<br />

kann und muss sich die Wissenschaft, die Pädagogik, die Didaktik zunutze machen. Ob die<br />

Sprache <strong>ihre</strong>rseits wieder Grenzen setzt, ist schwer auszumachen. „<strong>Die</strong> Grenzen meiner<br />

Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, meint Ludwig Wittgenstein (1889-1951) in seinem<br />

Tractatus logico-philosophicus (Wittgenstein 1921/1961, § 5.6). Das klingt, wenn er<br />

recht hat, nach einer starken Beschränkung.<br />

Aber ist nicht auch unsere Sprache veränderbar? Können wir nicht in der Sprache mit der<br />

Sprache spielen, können wir nicht Erweiterungen erfinden und ausprobieren? Offenbar ist<br />

die Grenze, von der Wittgenstein spricht, keine absolute Grenze. Er sagt eigentlich nur: „<strong>Die</strong><br />

Grenze meiner jetzigen Sprache ist die Grenze meiner jetzigen Welt.“ und damit mag er<br />

recht haben. Über meine und vor allem über unsere zukünftige Sprache sagt er nichts und<br />

kann er auch nichts sagen. Aber offensichtlich unterschätzt er <strong>das</strong> kreative Potenzial der<br />

Sprache.<br />

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Mathematiker wie Gauß, Bolyai, Lobatschewski und Riemann formulieren nichteuklidische<br />

Geometrien; Physiker wie Einstein verwenden diese Geometrien zur Beschreibung und Erklärung<br />

der Welt und sind damit erfolgreich; daraufhin fühlen wir uns berechtigt, der Welt<br />

eine nichteuklidische Struktur zuzuschreiben. Andere Mathematiker erweitern den herkömmlichen<br />

dreidimensionalen Raumbegriff auf mehr als drei Dimensionen; Physiker versuchen,<br />

den physikalischen Raum mit solch mehrdimensionaler Geometrie zu beschreiben, sind dabei<br />

jedoch <strong>–</strong> wenigstens im makroskopischen Bereich <strong>–</strong> nicht erfolgreicher als mit drei Dimensionen,<br />

finden sogar Gründe, warum Planetenbahnen nur in einem dreidimensionalen<br />

Raum stabil sind; daraufhin sind wir erst recht überzeugt, <strong>das</strong>s unsere Welt räumlich dreidimensional<br />

ist. Nichteuklidische und mehrdimensionale Räume können wir uns beim besten<br />

Willen nicht vorstellen; aber wir können sie entwerfen, versuchsweise zur Beschreibung der<br />

Welt verwenden und zu dem Ergebnis kommen, <strong>das</strong>s unsere Welt tatsächlich nichteuklidisch<br />

und dreidimensional ist. Im ersteren Falle haben wir unsere mesokosmische Raumvorstellung<br />

deutlich überschritten. Das verdanken wir der Mathematik, die <strong>ihre</strong>rseits auf der Sprache<br />

beruht; letztlich verdanken wir es also dem kreativen Charakter und Gebrauch unserer<br />

Sprache.<br />

Ebenso unterschätzt Wittgenstein <strong>das</strong> kreative Potenzial der <strong>Evolution</strong>. „<strong>Die</strong> Darwinsche<br />

Theorie hat mit der Philosophie nicht mehr zu schaffen als irgendeine andere Hypothese der<br />

Naturwissenschaft.“ (Wittgenstein 1921/1961, § 4.1122) Auch hier irrt Wittgenstein. <strong>Die</strong> beiden<br />

Irrtümer hängen offenbar eng zusammen: Er übersieht, <strong>das</strong>s die Zukunft der <strong>Evolution</strong><br />

und die Zukunft der Sprache offen sind. Dass wir nicht mehr denken können, als wir denken<br />

können (§ 5.61), <strong>das</strong> ist immer wahr, und <strong>das</strong>s wir <strong>–</strong> noch allgemeiner <strong>–</strong> nicht mehr können,<br />

als wir können, <strong>das</strong> bleibt ebenfalls wahr. Es ist aber durchaus möglich, <strong>das</strong>s wir in Zukunft<br />

mehr sagen können als jetzt, mehr denken können als jetzt, mehr können als jetzt.<br />

Es gibt noch mehr Denkzeuge. Viele Kulturtechniken sind Denkzeuge: <strong>das</strong> Schreiben, <strong>das</strong><br />

Rechnen, die Mathematik, Algorithmen aller Art (Vollmer 1990). Aber auch Geräte: Rechenmaschinen,<br />

Computer (also programmierbare Rechen- und Denkmaschinen), Computersprachen,<br />

Computerprogramme. Sie alle helfen uns, den Mesokosmos zu verlassen. <strong>Die</strong>ser<br />

Schritt mag schwierig sein; er ist möglich und in vielfacher Weise nützlich. Deshalb pflegen<br />

wir unsere Denkzeuge und machen sie uns weiterhin zunutze.<br />

Wenn wir den Mesokosmos verlassen, dann können wir sagen, <strong>das</strong>s uns die <strong>Evolution</strong> <strong>entlässt</strong>.<br />

Sie hat uns all die Fähigkeiten mitgegeben, die wir beim Verlassen des Mesokosmos<br />

nützen: Wir können verallgemeinern, abstrahieren, Begriffe bilden, sprechen, schließen, Erfahrungen<br />

machen, uns etwas merken, von Erfahrungen in der Vergangenheit übergehen zu<br />

Erwartungen an die Zukunft. Auf all diesen elementaren Fähigkeiten lagen evolutive Prämien.<br />

Sie waren nützlich; deshalb wurden sie, einmal entstanden, auch beibehalten. In diesem<br />

Sinne bleiben wir natürlich immer „<strong>Kinder</strong> der <strong>Evolution</strong>“.<br />

Aber in <strong>ihre</strong>r Gesamtheit, also im Verbund, dienen diese Fähigkeiten zu viel mehr, als in der<br />

<strong>Evolution</strong> zunächst gebraucht wurde. Wenn wir uns die eingängige teleologische Redeweise<br />

noch einmal erlauben, dann können wir auch sagen, diese Fähigkeiten dienten zu mehr, als<br />

von der <strong>Evolution</strong> „vorgesehen“ war. Wir sehen <strong>das</strong> sofort, wenn wir uns vor Augen halten,<br />

<strong>das</strong>s alle oben genannten Kulturtechniken höchstens einige Jahrtausende alt sind. In dieser<br />

Zeit kann sich unser genetisches Erbe nicht wesentlich verändert haben. <strong>Die</strong> Erfindung der<br />

Schrift, die Entstehung und Weiterentwicklung weiterer Kulturtechniken, letztlich die gesamte<br />

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kulturelle <strong>Evolution</strong> haben immer mehr Information angesammelt und gespeichert, immer<br />

mehr Fähigkeiten miteinander verbunden, immer mehr Möglichkeiten eröffnet. In diesem<br />

Sinne können wir tatsächlich sagen, die <strong>Evolution</strong> habe <strong>ihre</strong> <strong>Kinder</strong> in die Kultur „entlassen“<br />

<strong>–</strong> was natürlich wieder eine anthropomorphe Redeweise ist.<br />

Geht die <strong>Evolution</strong> des Menschen weiter?<br />

An Wittgenstein haben wir kritisiert, <strong>das</strong>s er sowohl die Kreativität der <strong>Evolution</strong> als auch die<br />

Kreativität der Sprache unterschätzt. Wir haben dort aber nur festgestellt, <strong>das</strong>s sich unsere<br />

Sprache und unser Denken verändern könnten. Wir haben jedoch nichts darüber gesagt, ob<br />

<strong>das</strong> tatsächlich so sein wird. <strong>Die</strong>ser Frage wenden wir uns zuletzt zu. Dabei stehen wir vor<br />

einem Dilemma.<br />

Einerseits können wir mit vollem Recht sagen: „Natürlich <strong>geht</strong> die <strong>Evolution</strong> weiter; sie <strong>geht</strong><br />

immer weiter. Wir wissen nur nicht, wohin sie uns bringt.“ Wie viele andere hält auch Hoimar<br />

von Ditfurth es für möglich, <strong>das</strong>s unsere Abkömmlinge in einer fernen Zukunft ein besseres<br />

Erkenntnisvermögen entwickeln. Habe die <strong>Evolution</strong> beim Menschen zur Entwicklung der<br />

Großhirnrinde und damit zu einem stark verbesserten Erkenntnisvermögen geführt, so dürften<br />

wir auch „an die Möglichkeit denken, <strong>das</strong>s ein gleichartiger evolutionärer Schritt sich in<br />

Zukunft wiederholen könnte. [...] Der neuen und unvorstellbaren Fähigkeit des Gehirns würde<br />

sich [...] eine neue, uns ebenfalls unvorstellbare Eigenschaft der Welt offenbaren. Und so<br />

fort bei beliebig häufigen Wiederholungen eines solchen Schritts.“ (Ditfurth 1976, S. 312 f.)<br />

<strong>Die</strong> <strong>Evolution</strong> <strong>geht</strong> dann also weiter, auch die <strong>Evolution</strong> unseres Gehirns und der menschlichen<br />

kognitiven Fähigkeiten.<br />

Andererseits schreitet die biologische <strong>Evolution</strong> sehr langsam voran. So wichtig die evolutive<br />

Vergangenheit des Menschen für Pädagogen auch sein mag, so unerheblich ist der künftige<br />

Verlauf der <strong>Evolution</strong>; denn sie und wir wollen jetzt etwas erreichen und nicht erst im Verlauf<br />

der nächsten 1000, 10 000 oder gar 100 000 Jahre! Aber selbst wenn wir Jahrhunderte oder<br />

gar Jahrtausende ins Auge fassen könnten, so hätte <strong>das</strong> doch kaum praktische Konsequenzen:<br />

Weder die natürliche noch die künstliche <strong>Evolution</strong> wird die genetisch bedingte Lernfähigkeit<br />

merklich erhöhen. Dazu müssten ja Leute mit höherer (genetisch bedingter!) Lernfähigkeit<br />

auch mehr <strong>Kinder</strong> bekommen, und danach sieht es im Augenblick eben einfach nicht<br />

aus. Ob allerdings durch genetische Manipulation Gene für höhere erbliche Lernfähigkeit<br />

oder gar entsprechende Neurochips implantiert werden könnten, wollen wir hier offenlassen.<br />

Für die <strong>Evolution</strong>äre Pädagogik spielt unsere evolutiv entstandene tatsächliche Lernfähigkeit<br />

die größte Rolle, nicht jedoch die denkbare erweiterte Lernfähigkeit künftiger Generationen.<br />

Was wir erreichen können, hängt davon ab, wie gut wir unsere genetisch bedingte Lernfähigkeit<br />

nützen, nicht davon, wie groß unsere Lernfähigkeit in ferner Zukunft einmal sein wird. Einer<br />

möglichen Veränderung unseres Erbguts braucht die Pädagogik also nicht Rechnung zu<br />

tragen, einer Veränderung unserer gesellschaftlichen und ökologischen Bedingungen dagegen<br />

schon.<br />

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Ich danke Herrn Peter Mersch für zahlreiche Verbesserungsvorschläge.<br />

Prof. Dr. Dr. Gerhard Vollmer / Seminar für Philosophie / Technische Universität Braunschweig<br />

/ Jetzt: Professor-Döllgast-Straße 14, 86633 Neuburg/Donau / g.vollmer@tu-bs.de<br />

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