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Die Evolution entlässt ihre Kinder – geht das überhaupt?

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Textarchiv TA2013-6<br />

In der <strong>Evolution</strong> hat es sich offenbar gelohnt, Fähigkeiten auszubilden bzw. mitzugeben,<br />

ohne die Ergebnisse <strong>ihre</strong>s Einsatzes vorwegzunehmen oder vorzuschreiben. So konnte sich<br />

der Anwendungsbereich solcher Fähigkeiten, insbesondere der Lernfähigkeit, immer mehr<br />

erweitern. Nur so ist es zu verstehen, <strong>das</strong>s etwa der Anthropologe Christian Vogel über „<strong>Die</strong><br />

biologische <strong>Evolution</strong> menschlicher Kulturfähigkeit“ schreibt. (Vogel 1983) Das ist nicht anders,<br />

als wenn jemand die biologische <strong>Evolution</strong> der menschlichen Sprachfähigkeit untersucht.<br />

Keine der menschlichen Fähigkeiten, ob nun Sprechen, Erkennen, Moral, ästhetisches<br />

Urteilen oder auch Lesen und Schreiben, steht in irgendeinem Gegensatz zur Biologie,<br />

zur <strong>Evolution</strong> oder zur Natur.<br />

Wir sagen ja auch nicht, es sei unnatürlich, nicht vorgesehen oder gar gegen unsere Gene,<br />

<strong>das</strong>s wir eine Sprache oder eine Zweitsprache lernen, nur weil wir ohne sprachlichen Input<br />

nicht sprechen lernen. Vielmehr lässt „die Natur“ hier einen breiten Spielraum, damit wir jede<br />

beliebige natürliche Sprache als Muttersprache lernen können. Der Erwerb einer Sprache ist<br />

„vorgesehen“. <strong>Die</strong>se Fähigkeit reicht dann sogar so weit, <strong>das</strong>s wir eine zweite Sprache, bei<br />

Bedarf sogar zehn Sprachen erwerben können, obwohl <strong>das</strong> in der <strong>Evolution</strong> gar nicht gebraucht<br />

wurde und insofern auch nicht „vorgesehen“ war.<br />

(Nebenbei: Mit Wörtern wie ‚damit’ oder ‚vorgesehen’ bedienen wir uns einer teleologischen<br />

Sprechweise. Wir wissen jedoch, <strong>das</strong>s sie in eine streng kausale Sprechweise übersetzt<br />

werden kann, die freilich viel umständlicher zu formulieren ist. Statt zu sagen „<strong>Die</strong> Kuh hat<br />

ein Euter, damit sie <strong>–</strong> falls sie ein Kalb hat <strong>–</strong> <strong>ihre</strong>n Nachwuchs ernähren kann.“ können wir<br />

auch sagen: „<strong>Die</strong> Kuh hat ein Euter, weil solche Vorfahren, welche die genetische Anlage für<br />

ein Euter hatten, <strong>ihre</strong> Nachkommen besser ernähren und damit mehr Gene in die nächste<br />

Generation bringen konnten.“ So könnten wir auch ganz unteleologisch sagen, unser Spracherwerbsmechanismus<br />

sei für alle natürlichen Sprachen offen, weil er mehr Anpassungsmöglichkeiten<br />

bot: Anpassungen des lernenden Individuums an die Umgebungssprache und<br />

Anpassungen der Sprache an neue ökologische und soziale Verhältnisse.)<br />

Freilich könnte man darüber nachdenken, ob man Verhaltensweisen, die sich massiv gegen<br />

<strong>das</strong> Reproduktionsinteresse richten, noch „natürlich“ nennen möchte. Richard Dawkins<br />

(1978, S. 139) nennt die Empfängnisverhütung unnatürlich, betont aber gleichzeitig, <strong>das</strong>s<br />

auch der Wohlfahrtsstaat unnatürlich sei. Und der „unnatürliche“ Wohlfahrtsstaat, der für <strong>Kinder</strong><br />

sorgt, deren Eltern nicht für sie sorgen können, ist auf die „unnatürliche“ Geburtenkontrolle<br />

angewiesen. Andernfalls könnten egoistische Individuen <strong>das</strong> System ausbeuten, und<br />

<strong>das</strong> Ergebnis wäre noch größeres Elend, also noch weniger Wohlfahrt, als unter „natürlichen“<br />

Bedingungen.<br />

Für die Pädagogik sind nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch die Beschränkungen wichtig.<br />

Einiges können wir gar nicht, anderes nur mühsam. Auch eine <strong>Evolution</strong>äre Pädagogik wird<br />

sich deshalb nicht nur um unsere Fähigkeiten kümmern, sondern auch und gerade um solche<br />

Beschränkungen; denn wann immer wir etwas erreichen wollen, ist es zweckmäßig zu<br />

wissen, was den Erfolg begünstigt und was ihm im Wege steht.<br />

Unsere kognitive Nische <strong>–</strong> der Mesokosmos<br />

<strong>Die</strong> <strong>Evolution</strong>äre Erkenntnistheorie betrachtet <strong>das</strong> menschliche Erkenntnisvermögen als eine<br />

Fähigkeit, die wir im Laufe der <strong>Evolution</strong> erworben haben. Auch mit diesem Vermögen ha-<br />

© fowid / Erstellungsdatum / Fassung vom 02/10/2013 / sfe 6

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