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Die Evolution entlässt ihre Kinder – geht das überhaupt?

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Textarchiv TA2013-6<br />

Mathematiker wie Gauß, Bolyai, Lobatschewski und Riemann formulieren nichteuklidische<br />

Geometrien; Physiker wie Einstein verwenden diese Geometrien zur Beschreibung und Erklärung<br />

der Welt und sind damit erfolgreich; daraufhin fühlen wir uns berechtigt, der Welt<br />

eine nichteuklidische Struktur zuzuschreiben. Andere Mathematiker erweitern den herkömmlichen<br />

dreidimensionalen Raumbegriff auf mehr als drei Dimensionen; Physiker versuchen,<br />

den physikalischen Raum mit solch mehrdimensionaler Geometrie zu beschreiben, sind dabei<br />

jedoch <strong>–</strong> wenigstens im makroskopischen Bereich <strong>–</strong> nicht erfolgreicher als mit drei Dimensionen,<br />

finden sogar Gründe, warum Planetenbahnen nur in einem dreidimensionalen<br />

Raum stabil sind; daraufhin sind wir erst recht überzeugt, <strong>das</strong>s unsere Welt räumlich dreidimensional<br />

ist. Nichteuklidische und mehrdimensionale Räume können wir uns beim besten<br />

Willen nicht vorstellen; aber wir können sie entwerfen, versuchsweise zur Beschreibung der<br />

Welt verwenden und zu dem Ergebnis kommen, <strong>das</strong>s unsere Welt tatsächlich nichteuklidisch<br />

und dreidimensional ist. Im ersteren Falle haben wir unsere mesokosmische Raumvorstellung<br />

deutlich überschritten. Das verdanken wir der Mathematik, die <strong>ihre</strong>rseits auf der Sprache<br />

beruht; letztlich verdanken wir es also dem kreativen Charakter und Gebrauch unserer<br />

Sprache.<br />

Ebenso unterschätzt Wittgenstein <strong>das</strong> kreative Potenzial der <strong>Evolution</strong>. „<strong>Die</strong> Darwinsche<br />

Theorie hat mit der Philosophie nicht mehr zu schaffen als irgendeine andere Hypothese der<br />

Naturwissenschaft.“ (Wittgenstein 1921/1961, § 4.1122) Auch hier irrt Wittgenstein. <strong>Die</strong> beiden<br />

Irrtümer hängen offenbar eng zusammen: Er übersieht, <strong>das</strong>s die Zukunft der <strong>Evolution</strong><br />

und die Zukunft der Sprache offen sind. Dass wir nicht mehr denken können, als wir denken<br />

können (§ 5.61), <strong>das</strong> ist immer wahr, und <strong>das</strong>s wir <strong>–</strong> noch allgemeiner <strong>–</strong> nicht mehr können,<br />

als wir können, <strong>das</strong> bleibt ebenfalls wahr. Es ist aber durchaus möglich, <strong>das</strong>s wir in Zukunft<br />

mehr sagen können als jetzt, mehr denken können als jetzt, mehr können als jetzt.<br />

Es gibt noch mehr Denkzeuge. Viele Kulturtechniken sind Denkzeuge: <strong>das</strong> Schreiben, <strong>das</strong><br />

Rechnen, die Mathematik, Algorithmen aller Art (Vollmer 1990). Aber auch Geräte: Rechenmaschinen,<br />

Computer (also programmierbare Rechen- und Denkmaschinen), Computersprachen,<br />

Computerprogramme. Sie alle helfen uns, den Mesokosmos zu verlassen. <strong>Die</strong>ser<br />

Schritt mag schwierig sein; er ist möglich und in vielfacher Weise nützlich. Deshalb pflegen<br />

wir unsere Denkzeuge und machen sie uns weiterhin zunutze.<br />

Wenn wir den Mesokosmos verlassen, dann können wir sagen, <strong>das</strong>s uns die <strong>Evolution</strong> <strong>entlässt</strong>.<br />

Sie hat uns all die Fähigkeiten mitgegeben, die wir beim Verlassen des Mesokosmos<br />

nützen: Wir können verallgemeinern, abstrahieren, Begriffe bilden, sprechen, schließen, Erfahrungen<br />

machen, uns etwas merken, von Erfahrungen in der Vergangenheit übergehen zu<br />

Erwartungen an die Zukunft. Auf all diesen elementaren Fähigkeiten lagen evolutive Prämien.<br />

Sie waren nützlich; deshalb wurden sie, einmal entstanden, auch beibehalten. In diesem<br />

Sinne bleiben wir natürlich immer „<strong>Kinder</strong> der <strong>Evolution</strong>“.<br />

Aber in <strong>ihre</strong>r Gesamtheit, also im Verbund, dienen diese Fähigkeiten zu viel mehr, als in der<br />

<strong>Evolution</strong> zunächst gebraucht wurde. Wenn wir uns die eingängige teleologische Redeweise<br />

noch einmal erlauben, dann können wir auch sagen, diese Fähigkeiten dienten zu mehr, als<br />

von der <strong>Evolution</strong> „vorgesehen“ war. Wir sehen <strong>das</strong> sofort, wenn wir uns vor Augen halten,<br />

<strong>das</strong>s alle oben genannten Kulturtechniken höchstens einige Jahrtausende alt sind. In dieser<br />

Zeit kann sich unser genetisches Erbe nicht wesentlich verändert haben. <strong>Die</strong> Erfindung der<br />

Schrift, die Entstehung und Weiterentwicklung weiterer Kulturtechniken, letztlich die gesamte<br />

© fowid / Erstellungsdatum / Fassung vom 02/10/2013 / sfe 11

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