Die Evolution entlässt ihre Kinder – geht das überhaupt?
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Textarchiv TA2013-6<br />
ben wir uns an unsere Umwelt angepasst. Den Ausschnitt der realen Welt, an den wir kognitiv<br />
angepasst sind, nennen wir Mesokosmos. Er ist <strong>–</strong> in Analogie zur ökologischen Nische <strong>–</strong><br />
die kognitive Nische des Menschen. Er ist räumlich dreidimensional; bei Entfernungen reicht<br />
er von Millimetern („Haaresbreite“) zu Kilometern (Tagesmarsch), zeitlich vom subjektiven<br />
Zeitquant (etwa 1/20 Sekunde) zum eigenen Lebensalter, von Gramm zu Tonnen, von Stillstand<br />
zur Geschwindigkeit eines geworfenen Steins, von gleichförmiger Bewegung (Beschleunigung<br />
Null) zur Sprinter- oder Erdbeschleunigung, vom Gefrier- bis zum Siedepunkt<br />
des Wassers, von Komplexität Null (unzusammenhängender Staub) bis zu linearen Systemen<br />
und damit auch zu linearer Kausalität. Dagegen gehören elektrische und magnetische<br />
Felder nicht zum Mesokosmos: Sie sind zwar, wie <strong>das</strong> Erdmagnetfeld zeigt, makroskopisch;<br />
wir haben jedoch kein Sinnesorgan für sie und können sie deshalb nicht „unmittelbar“ wahrnehmen.<br />
Auf diesen Mesokosmos sind wir genetisch vorbereitet; auf ihn werden wir zusätzlich geprägt;<br />
dort finden wir uns leicht zurecht; hier können wir uns auf unsere Intuition verlassen.<br />
Außerhalb des Mesokosmos kann uns die Intuition leicht in die Irre führen. Zwar meint René<br />
Descartes (1596-1650):<br />
Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, <strong>das</strong>s es besser ist, nach dem Muster der<br />
in den großen Körpern durch unsere Sinne wahrgenommenen Vorgänge über die zu<br />
urteilen, die an den kleinen Körpern geschehen, aber wegen <strong>ihre</strong>r Kleinheit nicht<br />
wahrgenommen werden können, als zu <strong>ihre</strong>r Erkenntnis neue Dinge, ich weiß nicht<br />
welche, auszudenken, welche mit den wahrgenommenen keine Ähnlichkeit haben.<br />
(Descartes 1644, 1965)<br />
Es mag eine vernünftige Maxime sein, zunächst einmal anzunehmen, die Welt sei überall so<br />
beschaffen wie im Mesokosmos. Doch wissen wir längst, <strong>das</strong>s diese Annahme oft genug<br />
falsch ist. Und sie ist desto häufiger falsch, je weiter die Systeme von unserem Mesokosmos<br />
entfernt sind.<br />
Über die Rolle der Intuition wird in letzter Zeit viel diskutiert und zum Glück auch geforscht <strong>–</strong><br />
oft mit Ergebnissen, die der Intuition widersprechen. Auf der einen Seite stellt sich heraus,<br />
<strong>das</strong>s unsere Intuition <strong>–</strong> unser „Bauchgefühl“, wie man heute gern sagt <strong>–</strong> oft eine gute Richtschnur<br />
bietet (Gigerenzer 2007; Kast 2009; Traufetter 2009).<br />
Auf der anderen Seite wird unsere Intuition viel kritisiert. So gibt es ganze Bücher über die<br />
Fehlleistungen unserer Intuition (Beck 2008; Beck-Bornholdt/Dubben 2001; Brafman 2008;<br />
Dörner 1989). Besonders leicht irren wir uns, wenn es um Wahrscheinlichkeit und Statistik<br />
<strong>geht</strong> (Dubben/Beck-Bornholdt 2005; Gigerenzer 2002; Tillemans 1996). Mehrere Autoren<br />
versuchen, solche Fehlleistungen nicht nur darzustellen, sondern auch zu erklären (Piatelli-Palmarini<br />
1997). Einige von ihnen machen deutlich, <strong>das</strong>s wir viele unserer Fehler und Irrtümer<br />
der <strong>Evolution</strong> zu verdanken haben (Frey 2007; 2009). Und natürlich gibt es auch<br />
Ratschläge, wie man solche Irrtümer vermeiden kann (Bördlein 2002; Brafman 2008).<br />
Allerdings sind einige Autoren der Meinung, <strong>das</strong>s solche Fehlleistungen, gerade wenn und<br />
weil sie evolutiv bedingt sind, nahezu unvermeidlich seien (Ariely 2008). Tatsächlich ist es<br />
manchmal erschreckend, wie dieselben Fehler immer wieder gemacht werden. Dazu bieten<br />
gerade die Bücher von Frey viele eindrucksvolle Fallstudien. Auch die Pädagogik wird sich<br />
© fowid / Erstellungsdatum / Fassung vom 02/10/2013 / sfe 7