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berlin-istanbul und wieder zurück - Partysan

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INTERVIEW _ THROBBING GRISTLE<br />

INTERVIEW _ THROBBING GRISTLE<br />

Guerre“, die Guerrileros des neuen Zeitalters. Sie vertraten die<br />

Ansicht, dass Menschen nicht mehr durch Gewalt, sondern<br />

durch Informationen kontrolliert werden. Wer die<br />

Informationen kontrolliert, hat demnach auch Macht über die<br />

Gesellschaft. Und TG wollten der Fehler im System sein. Nach<br />

nur wenigen Jahren des künstlerischen Schaffens löste sich<br />

TG 1980 <strong>wieder</strong> auf; zeitgleich mit <strong>und</strong> auch aufgr<strong>und</strong> der<br />

Pleite von Industrial Records. Das Label hatte sich an einer<br />

aufwändigen Album-Produktion verhoben <strong>und</strong> eine<br />

Steuernachzahlung brach Industrial Records schließlich das<br />

Genick.<br />

KEIMZELLEN<br />

Die Bandmitglieder zerstreuten sich als Keimzellen der weitergehenden<br />

Industrial-Kultur in alle Winde. Genesis P-<br />

Orridge gründete mit Sleazy das Multimedia-Projekt Psychick<br />

TV, das auch heute noch besteht. Eines seiner jüngsten<br />

Projekte ist die Auflösung der Geschlechtlichkeit. Seine<br />

Lebensgefährtin ließ sich per chirurgischem Eingriff ihr Kinn<br />

an das von Genesis angleichen, er ließ sich Brüste nach ihrem<br />

Vorbild verpassen <strong>und</strong> bespielt seitdem als seltsam androgyn<br />

anmutendes Wesen die Bühnen dieser Welt. Sleazy war aber<br />

nur bei den ersten beiden Alben Mitglied bei Psychick TV. Kurz<br />

nach seinem Ausscheiden gründete er mit Fre<strong>und</strong>en die spätere<br />

Kult-Industrial-Formation Coil, die auch aus heutiger<br />

Sicht wirklich grandiose Alben jenseits des Mainstreams produzierte.<br />

Erst der Tod des Coil-Frontmanns John Balance im<br />

Jahr 2005 setzte dem Schaffen der Band ein jähes Ende.<br />

Chris Carter <strong>und</strong> Cosey Fanni Tutti produzierten viele Jahre<br />

lang als Chris&Cosey mehr oder minder gefälligen Elektropop,<br />

vergaßen aber nie ihre künstlerische Herkunft <strong>und</strong> vermieden<br />

allzu seichte Fahrwasser. Cosey arbeitete zudem <strong>wieder</strong> als<br />

bildende Künstlerin <strong>und</strong> Performancekünstlerin. Sie fiel in den<br />

80ern zunächst mit einer skandalösen Collagen-Ausstellung<br />

auf, die sie selbst in pornografischen Posen zeigte. Dafür<br />

modelte <strong>und</strong> strippte sie für ganz reguläre Herrenmagazine,<br />

signierte die Cover <strong>und</strong> zeigte ihre Bilder unter anderem in der<br />

Schweiz.<br />

TG gilt zu Recht als die Keimzelle des Industrial <strong>und</strong> damit als<br />

der Gr<strong>und</strong>stein einer ganzen Kunst- <strong>und</strong> Kulturbewegung. Sie<br />

sind damit auch einer der wichtigsten Impulse für Gruppen<br />

wie Kraftwerk <strong>und</strong> Telex, für Nitzer Ebb <strong>und</strong> Front242, die <strong>wieder</strong>um<br />

wichtige Impulse für die Geburt der repetativen Musik<br />

<strong>und</strong> des Techno setzten. Auch Künstler wie Marilyn Manson,<br />

die Einstürzenden Neubauten, Nine Inch Nails oder Ministry<br />

wären ohne TG <strong>und</strong>enkbar. Um so mehr ehrt es uns, dass wir<br />

Chris Carter zu einem Interview bewegen konnten.<br />

Die Release des nun vorliegenden Albums „Part Two“ wurde<br />

<strong>wieder</strong>um um ein Jahr auf den April 2007 verschoben. Warum,<br />

darüber schweigen sich das Label <strong>und</strong> die Künstler aus. Die<br />

offizielle Begründung ist, dass die Veröffentlichung des<br />

Albums mit anderen Aktivitäten der Band koordiniert werden<br />

sollte. Unter anderem steht auch eine kleine Live-Tour auf<br />

dem Programm, in deren Timetable sich auch ein Konzert in<br />

Berlin findet.<br />

<strong>Partysan</strong>: Im Sommer kommt Euer neues Album “Part Two”<br />

heraus. Was war die Motivation, nach 25 Jahren ein neues<br />

Album zu produzieren?<br />

Chris Carter: Es dauerte fast drei Jahre, bis wir seit unserer<br />

Neuformation 2003 dieses Album entwickelt haben. Davor<br />

wollten wir nur die TG24-Box live präsentieren <strong>und</strong> ein paar<br />

Auftritte geben. Doch wir probten <strong>und</strong> stellten fest, das TG<br />

zusammen besser ist als die Summe der Einzelteile. Es gibt<br />

noch Relevantes zu sagen in kreativer Hinsicht. So war es nur<br />

logisch, sich neu zu formieren <strong>und</strong> ein Album einzuspielen.<br />

Sind es noch die selben Bandmitglieder (Chris Carter,<br />

Genesis P-Orridge, Cosey Fanni Tutti <strong>und</strong> Peter ‚Sleazy’<br />

Christopherson)?<br />

Wir sind alle älter <strong>und</strong> in vielerlei Hinsicht klüger als damals,<br />

als die Mission zuerst beendet war. Egal wie wir nun aussehen:<br />

wir sind noch die selben Leute.<br />

In den 1980ern betonte Genesis, TG habe mit dem nächsten<br />

Album immer das vorherige eliminieren wollen. Wie wird<br />

das neue klingen? Pop? Oldschool Industrial..? Wie wollt Ihr<br />

die heutigen Hörgewohnheiten zerstören?<br />

Wie alle TG-Alben ist Part Two sehr unterschiedlich <strong>und</strong> es<br />

wird die Hörer herausfordern <strong>und</strong> befremden. Es ist weder Old<br />

School Industrial, Folk Industrial noch Jazz Industrial. Es ist<br />

TG-Musik. Da gibt es kein Genre.<br />

Jedes Album der Originalpressung soll ein Art Totem als<br />

Beigabe enthalten. Was steckt hinter dieser Idee?<br />

Diese Totem-Gaben sind eine Art nonverbale Kommunikation<br />

wie sie auch ,Geschenke’ sind. Sie stehen mit dem Symbol des<br />

endlosen Knoten in Zusammenhang, der das Album<br />

schmückt. Es ist die Adaption eines tibetischen Symbols. Das<br />

ist nicht nur ein gutes Omen, sondern auch eine Brücke zwischen<br />

Geber <strong>und</strong> Nehmer. Es erinnert auch an das Ursache-<br />

Wirkungs-Konzept des Karmas. Das ist nichts neues für TG, es<br />

war immer schon da in unserem Konzept.<br />

Hat Genesis’ annähernde Geschlechtsumwandlung in eine<br />

Frau einen Einfluss auf die Arbeit gehabt?<br />

Es ist nun mal so, dass Genesis ist, was er ist, egal was wir<br />

darüber denken. Aber ja, ich denke, es beeinflusst seine<br />

Arbeit.<br />

Wie kam das British Parlament darauf, Euch „wreckers of<br />

civilization“ zu nennen?<br />

So nannte uns ein konservatives Mitglied des Parlaments<br />

namens Nicholas Fairburn. Er sah unsere Musik, unsere politischen<br />

Ansichten <strong>und</strong> unser Verhalten als Gefahr für die<br />

Gesellschaft. Er war nur ein Mann mit schwachem Ego, der<br />

sich moralisch erhaben fühlte. Später starb er, nachdem die<br />

Presse ihn im Visier hatte. Das Karma wird Dich immer pakken,<br />

wenn Du es missbrauchst.<br />

Auch heute floriert eine Industrial-Szene. Einige Bands setzen<br />

Euren Informationskrieg fort. Wie seht Ihr diese<br />

Aktivität, vor allem hinsichtlich politischer Tendenzen?<br />

Im Gr<strong>und</strong>e verfehlt jeder, der den Begriff Industrial weiterträgt,<br />

das Ziel <strong>und</strong> nimmt ihn zu wörtlich. Für uns war das eine<br />

Lebensart in den 1970ern <strong>und</strong> 80ern, eine Einstellung der<br />

Nonkonformität. Wir waren antifaschistisch, antikommunistisch,<br />

anti-Musikindustrie <strong>und</strong> anti-Regierung. So sind wir heute noch.<br />

Industrial al Genre ist ein Frankensteinmonster <strong>und</strong> hat nichts<br />

mehr mit den Anfängen zu tun. Es ist zu einem metallprügelnden<br />

Subgenre von Gothic, Punk <strong>und</strong> Rock geworden.<br />

Wer hat den Informationskrieg gewonnen?<br />

Die Internet-User.<br />

Ich habe mich gefragt, ob Euer altes Logo von Industrial-<br />

Records wirklich ein Krematorium in Auschwitz zeigt, <strong>und</strong><br />

nicht einfach einen Fabrikschornstein. Was war denn die<br />

ursprüngliche Idee dahinter <strong>und</strong> wie seht Ihr das heute?<br />

Ich weißt nicht genau, was das Foto zeigt, vielleicht ist es<br />

real, vielleicht nicht. Aber wichtig ist, dass es den Betrachter<br />

auf einen gegenwärtigen Verlust an Humanität aufmerksam<br />

machen wollte. Wir hätten es als KGB-Gebäude bezeichnen<br />

können, oder als Pol Pot-Exekutionsstätte. Das Logo reflektierte<br />

seine Zeit, <strong>und</strong> in den 1970ern steckten die Leute gerne<br />

den Kopf in den Sand. Es sollte eine Reaktion provozieren.<br />

Seht Ihr Euch als Ahnen der Techno/Elektro-Bewegung?<br />

Möglicherweise, aber ich denke, unsere Arbeit als Chris &<br />

osey in den 1980ern hatte größeren Einfluss. Unser zweites<br />

Rough-Trade-Album ‚Trance’ wurde oft erwähnt von<br />

Produzenten, Remixern <strong>und</strong> DJs.<br />

Wie siehst Du diese Entwicklung elektronischer Musik in<br />

den 1980ern gr<strong>und</strong>sätzlich?<br />

Da gibt es natürlich viele Höhen <strong>und</strong> Tiefen. Für mich war die<br />

beste Zeit während der 70er <strong>und</strong> 80er, vor der weitgreifenden<br />

Nutzung von Heimcomputern. Was komisch klingt, da ich ja<br />

selbst so viel damit arbeite. Ich mag verallgemeinernd klingen,<br />

aber ich denke, heute wird mehr Müll produziert denn je.<br />

Das liegt an der Verfügbarkeit von billiger Software.<br />

Programme wie Acid können von jedem ohne Aufwand bedient<br />

werden. Wie in den Jahren zuvor, als Heimorgeln mit zahlreichen<br />

Presets populär waren <strong>und</strong> man einen Song mit dem<br />

Druck einer Taste abspielen konnte. Das taugt nur zum<br />

Beeidrucken der Familie. Müll bleibt eben Müll. Den meisten<br />

fehlt heute die Phantasie außerhalb der geschützten Sphäre<br />

ihres PCs. Wo sind die Experimente? Die eindrucksvollste<br />

Performance im letzten Jahr war Stockhausen in London. Das<br />

war unfassbar.<br />

Kann TG die Bedeutung <strong>zurück</strong>erlangen, die sie in den<br />

80ern hatten?<br />

Nicht auf dem selben Level. Die Welt hat sich stark verändert<br />

seitdem <strong>und</strong> ist ein völlig unterschiedlicher Ort geworden.<br />

Aber das kümmert mich nicht, weder damals, noch heute.<br />

Das komplette Interview findet Ihr auf www.partysan.net<br />

16 PARTYSAN 04/07<br />

PARTYSAN 04/07 17

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