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Oliver Twist - Buch.de

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CHARLES<br />

DICKENS<br />

<strong>Oliver</strong> <strong>Twist</strong><br />

ROMAN


<strong>Oliver</strong> <strong>Twist</strong> lebt als Waisenkind im Armenhaus und ist <strong>de</strong>m harten<br />

Regiment <strong>de</strong>s selbstgefälligen Mr. Bumble ausgeliefert. In <strong>de</strong>r Hoffnung<br />

auf eine bessere Zukunft flieht er ohne einen Penny in seinen Taschen<br />

nach London. Doch er kommt vom Regen in die Traufe: Statt <strong>de</strong>m Elend<br />

zu entgehen, gerät er in die Fänge <strong>de</strong>s Hehlers Fagin, <strong>de</strong>r eine Ban<strong>de</strong> jugendlicher<br />

Taschendiebe um sich schart. <strong>Oliver</strong> ist aber nicht nur Fagin<br />

ausgeliefert, es gibt noch jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ein ganz spezielles Interesse<br />

daran hat, <strong>de</strong>n Jungen in Verbrechen zu verwickeln, um ihm dauerhaft<br />

zu scha<strong>de</strong>n. <strong>Oliver</strong> aber bemüht sich, allen widrigen Umstän<strong>de</strong>n zum<br />

Trotz <strong>de</strong>m Bçsen zu entkommen . . .<br />

Charles Dickens berühmtester Roman über das ergreifen<strong>de</strong> Schicksal<br />

eines Waisenjungen, <strong>de</strong>r trotz <strong>de</strong>s Verbrechens und <strong>de</strong>s Bçsen in<br />

<strong>de</strong>r Welt das Gute in sich bewahren kann.<br />

Charles Dickens wur<strong>de</strong> am 7. Februar 1812 in Landport, England, geboren.<br />

In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, arbeitete er später<br />

bei einem Rechtsanwalt und als Journalist. Mit Sketches by Boz (1836)<br />

und The Pickwick Papers (1837) wur<strong>de</strong> er zu einem <strong>de</strong>r bekanntesten<br />

Autoren Englands. 1837 erschien sein erster Roman, <strong>Oliver</strong> <strong>Twist</strong>. Neben<br />

<strong>de</strong>r Schriftstellerei verdiente er sich sein Geld mit Lese- und Vortragsreisen<br />

in England und <strong>de</strong>n USA. Charles Dickens starb am 9. Juni<br />

1870 in Kent.<br />

Von ihm sind im insel taschenbuch u. a. erschienen: Die Weihnachten<br />

<strong>de</strong>s Mr. Scrooge (it 4062), Große Erwartungen (it 4078), Eine Geschichte<br />

aus zwei Städten (it 4079) und Der Raritätenla<strong>de</strong>n (it 4080).


eBook insel<br />

Charles Dickens<br />

<strong>Oliver</strong> <strong>Twist</strong>


Charles Dickens<br />

<strong>Oliver</strong> <strong>Twist</strong><br />

Aus <strong>de</strong>m Englischen von<br />

Gustav Meyrink<br />

Insel Verlag


Umschlagfoto: Debra Lill/Trevillon Images<br />

eBook Insel Verlag Berlin 2011<br />

dieser Ausgabe Insel Verlag Berlin 2011<br />

Alle Rechte vorbehalten, insbeson<strong>de</strong>re das <strong>de</strong>s çffentlichen<br />

Vortrags sowie <strong>de</strong>r Übertragung durch Rundfunk<br />

und Fernsehen, auch einzelner Teile.<br />

Kein Teil <strong>de</strong>s Werkes darf in irgen<strong>de</strong>iner Form<br />

(durch Fotografie, Mikrofilm o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Verfahren)<br />

ohne schriftliche Genehmigung <strong>de</strong>s Verlages reproduziert<br />

o<strong>de</strong>r unter Verwendung elektronischer Systeme<br />

verarbeitet, vervielfältigt o<strong>de</strong>r verbreitet wer<strong>de</strong>n.<br />

Umschlag: bürosüd, München<br />

eISBN 978-3-458-76131-0<br />

www.insel-verlag.<strong>de</strong>


OLIVER TWIST


ERSTES KAPITEL<br />

Schil<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n Ort, wo <strong>Oliver</strong> auf die Welt kam,<br />

sowie die seine Geburt begleiten<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong><br />

Unter an<strong>de</strong>rn çffentlichen Gebäu<strong>de</strong>n in einer gewissen<br />

Stadt, die ich nicht nennen, <strong>de</strong>r ich aber auch andrerseits<br />

keinen erdichteten Namen beilegen mçchte, befand sich<br />

eines, wie es wohl die meisten Städte, ob groß o<strong>de</strong>r klein,<br />

besitzen, nämlich ein Arbeitshaus; und in diesem wur<strong>de</strong><br />

eines Tages <strong>de</strong>r kleine Weltbürger geboren, <strong>de</strong>ssen Name<br />

dieses <strong>Buch</strong> trägt.<br />

Lange Zeit, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Arzt <strong>de</strong>s Kirchspiels ihm zum<br />

Eintritt in diese Welt <strong>de</strong>r Mühen und Sorgen geholfen,<br />

schien es recht zweifelhaft, ob er lange genug wür<strong>de</strong> am Leben<br />

bleiben, um überhaupt einen Namen nçtig zu haben.<br />

Obwohl ich nicht behaupten mçchte, daß es vielleicht<br />

ein glücklicher o<strong>de</strong>r benei<strong>de</strong>nswerter Umstand wäre, <strong>de</strong>r<br />

einem menschlichen Wesen zustoßen kçnnte, in einem Arbeitshaus<br />

geboren zu wer<strong>de</strong>n, so schien es doch in diesem<br />

beson<strong>de</strong>rn Fall für <strong>Oliver</strong> <strong>Twist</strong> das Beste, was sich augenblicklich<br />

für ihn ereignen konnte. Immerhin war es mit erheblichen<br />

Schwierigkeiten verbun<strong>de</strong>n, ihn so weit zu bringen,<br />

daß er sich <strong>de</strong>r Aufgabe <strong>de</strong>s Atmens selbst unterzog,<br />

und eine Weile lang lag er als kleiner Weltbürger nach Luft<br />

schnappend auf einer Wollmatratze, be<strong>de</strong>nklich hin und<br />

her schwankend, ob er sich für diese o<strong>de</strong>r jene Welt entschei<strong>de</strong>n<br />

sollte, wobei sich die Waage beträchtlich mehr<br />

für das Jenseits als für das Diesseits neigte. Wäre <strong>Oliver</strong> in<br />

diesem kritischen Zeitabschnitt von besorgten Großmüttern,<br />

ängstlichen Tanten, erfahrenen Ammen und ¾rzten<br />

voll tiefer Weisheit umgeben gewesen, er hätte selbstver-<br />

9


ständlich die Stun<strong>de</strong> nicht überlebt. Da jedoch niemand zugegen<br />

war als ein armes altes Weib, das überdies infolge <strong>de</strong>s<br />

ungewohnten Genusses von Bier sich in ziemlich angeheiterter<br />

Stimmung befand, und da auch <strong>de</strong>r Kirchspielarzt<br />

die Sache ganz gewohnheitsmäßig behan<strong>de</strong>lte, so focht <strong>Oliver</strong><br />

seinen Kampf mit <strong>de</strong>r Natur auf eigene Faust aus. Und<br />

die Folge davon war, daß er nach kurzem Kampfe atmete,<br />

nieste und endlich <strong>de</strong>n Bewohnern <strong>de</strong>s Arbeitshauses die<br />

Tatsache kund und zu wissen gab, daß er <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> eine<br />

neue Last aufgebür<strong>de</strong>t habe – das heißt, entschlossen sei am<br />

Leben zu bleiben. Er erhob zu diesem Zweck ein so lautes<br />

Geschrei, wie man es von einem Kind männlichen Geschlechtes<br />

füglich nur erwarten durfte.<br />

Als <strong>Oliver</strong> diesen ersten Beweis selbständiger Tätigkeit<br />

gab, bewegte sich eine Flicken<strong>de</strong>cke, die nachlässig über<br />

eine eiserne Bettstelle geworfen war, und das bleiche Gesicht<br />

einer jungen Frau erhob sich matt von <strong>de</strong>m harten Kissen,<br />

und eine schwache Stimme hauchte mühsam die Worte: »Lassen<br />

Sie mich das Kind sehen; dann will ich gern sterben.«<br />

Der Arzt, <strong>de</strong>r, das Gesicht <strong>de</strong>m Feuer zugewandt, am Kamin<br />

saß und sich die Hän<strong>de</strong> wärmte, trat bei diesen Worten<br />

<strong>de</strong>r jungen Frau an das Kopfen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Bettes und sagte<br />

mit mehr Freundlichkeit im Ton, als man von ihm wohl erwartet<br />

hätte: »Sie haben durchaus keinen Grund, ans Sterben<br />

zu <strong>de</strong>nken.«<br />

»I Gott bewahre«, mischte sich die Wärterin ein und<br />

versenkte in ihrer Tasche eine grüne Flasche, von <strong>de</strong>ren<br />

Inhalt sie sich bisher in einer verschwiegenen Ecke mit<br />

sichtlichem Behagen gestärkt hatte. »I Gott bewahr, wenn<br />

sie erst amal so alt g’wor<strong>de</strong>n is wie ich, Herr Doktor, und<br />

dreizehn Kin<strong>de</strong>r g’habt hat und ihr erst alle gestorben sein<br />

wer<strong>de</strong>n wie mir bis auf zwei, die jetzt mit mir zusamm im<br />

Arbeitshaus sin, dann wird sie schon auf vernünftigere Ge-<br />

10


danken kommen. Gott o Gott, <strong>de</strong>nken Sie sich doch nur<br />

was es heißt, Mutter sein von so an hübschen kleinen Buberl;<br />

vergessens dçs net.«<br />

Ihre trçstlichen Worte schienen in<strong>de</strong>s ihre Wirkung zu<br />

verfehlen, <strong>de</strong>nn die Wçchnerin schüttelte <strong>de</strong>n Kopf und<br />

streckte nur stumm ihre Arme nach <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong> aus. Der<br />

Arzt reichte es ihr, sie preßte ihre kalten blutleeren Lippen<br />

heftig auf die Stirn <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, fuhr sich mit <strong>de</strong>r Hand über<br />

das Gesicht, blickte wild umher, schau<strong>de</strong>rte zusammen,<br />

sank zurück – und starb. Sie rieben ihr Brust, Hän<strong>de</strong> und<br />

Schläfen, aber das Herz hatte für immer zu schlagen aufgehçrt.<br />

Sie sprachen auf sie ein von Hoffnung und Zukunft,<br />

aber Hoffnung und Zuversicht waren <strong>de</strong>r Armen seit langem<br />

fremd gewor<strong>de</strong>n.<br />

»Es ist vorbei mit ihr, Mrs. Thingummy«, sagte <strong>de</strong>r Arzt<br />

schließlich.<br />

»Ja, ja, die Arme«, sagte die Wärterin und bückte sich<br />

nach <strong>de</strong>m Propfen <strong>de</strong>r grünen Flasche, <strong>de</strong>r auf das Kissen<br />

gefallen war, als sie sich nie<strong>de</strong>rgebeugt, um das Kind aufzunehmen.<br />

»Das arme Kleine.«<br />

»Sie brauchen nicht nach mir zu schicken,wenn das Kind<br />

schreien sollte«, sagte <strong>de</strong>r Arzt und zog sich mit großer<br />

Sorgfalt seine Handschuhe an. »Es wird wahrscheinlich unruhig<br />

wer<strong>de</strong>n, dann geben Sie ihm etwas Haferschleim.«<br />

Damit setzte er seinen Hut auf und fragte, als er auf seinem<br />

Weg zur Tür an <strong>de</strong>m Bett vorüberkam. »Es war eine recht<br />

hübsche Person, wo ist sie <strong>de</strong>nn hergekommen?«<br />

»Man hat sie gestern nacht hergeschafft«, erwi<strong>de</strong>rte die<br />

alte Frau, »auf Befehl <strong>de</strong>s Herrn Vorstands. Man hat sie auf<br />

<strong>de</strong>r Gasse liegend gefun<strong>de</strong>n. Sie muß hübsch weit hergekommen<br />

sein, <strong>de</strong>nn ihre Schuhe waren zerrissen; aber wo sie<br />

herkommen ist o<strong>de</strong>r wohin sie hat gehen wollen, weiß niemand.«<br />

11


Der Arzt beugte sich über die Tote und ergriff ihre linke<br />

Hand. »Die alte Geschichte«, murmelte er kopfschüttelnd,<br />

»kein Ehering, wie ich sehe. Also gute Nacht.«<br />

Damit ging er zu seinem Aben<strong>de</strong>ssen, und die Wärterin<br />

setzte sich, nach<strong>de</strong>m sie noch einmal <strong>de</strong>r grünen Flasche zugesprochen,<br />

auf einen Stuhl in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Kamins und<br />

begann das Kind in Win<strong>de</strong>ln zu wickeln.<br />

Da sah man wie<strong>de</strong>r, wie wahr das Wort ist, daß Klei<strong>de</strong>r<br />

Leute machen: bisher in ein Tuch gehüllt und in sonst<br />

nichts, hätte <strong>Oliver</strong> ebensogut das Kind eines A<strong>de</strong>ligen wie<br />

das eines Bettlers sein kçnnen, aber jetzt, wo er in <strong>de</strong>m alten<br />

Kattunsteckkissen untergebracht war, <strong>de</strong>ssen Farbe in<br />

langjährigem Dienst zu einem häßlichen Gelb verschossen<br />

war, sah man ihm sofort das Waisenkind <strong>de</strong>s Arbeitshauses<br />

an, das nur dazu da war, durch die Welt geknufft zu wer<strong>de</strong>n,<br />

verspottet und verachtet von je<strong>de</strong>rmann und von niemand<br />

bemitlei<strong>de</strong>t. <strong>Oliver</strong> schrie aus vollem Halse. Hätte er<br />

gewußt, daß er eine Waise war und nur <strong>de</strong>r Barmherzigkeit<br />

von Kirchenvorstehern ausgeliefert, hätte er wahrscheinlich<br />

noch viel lauter geschrien.<br />

ZWEITES KAPITEL<br />

Wie <strong>Oliver</strong> <strong>Twist</strong> aufwuchs, erzogen<br />

und verpflegt wur<strong>de</strong><br />

Die nächsten acht bis zehn Monate war <strong>Oliver</strong> das Opfer<br />

systematischer Säuglingsfürsorge. Er wur<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Flasche<br />

aufgezogen. Von <strong>de</strong>r elen<strong>de</strong>n Lage <strong>de</strong>s kleinen Waisenjungen<br />

machte man seitens <strong>de</strong>r Vorstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Arbeitshauses<br />

pflichtgemäß <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s Kirchspiels Meldung, worauf von<br />

letzteren in aller Form die Anfrage einlief, ob sich <strong>de</strong>nn<br />

nicht im »Hause« eine Frauensperson befän<strong>de</strong>, die in <strong>de</strong>r<br />

12


Lage sei, <strong>Oliver</strong> seine natürliche Nahrung reichen zu kçnnen.<br />

Der Vorstand <strong>de</strong>s Armenarbeitshauses erwi<strong>de</strong>rte darauf<br />

untertänigst, daß dies lei<strong>de</strong>r nicht <strong>de</strong>r Fall sei, worauf<br />

die Kirchspielbehçr<strong>de</strong> <strong>de</strong>n hochherzigen Entschluß faßte,<br />

<strong>Oliver</strong> in ein etwa drei Meilen entferntes Zweigarmenhaus<br />

bringen zu lassen, wo etwa zwanzig andre kleine Übertreter<br />

<strong>de</strong>s Zuständigkeitsgesetzes unter <strong>de</strong>r mütterlichen Aufsicht<br />

und ohne allzusehr mit Nahrung o<strong>de</strong>r Kleidung behelligt<br />

zu wer<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Stubenfußbo<strong>de</strong>n umherkollerten,<br />

was mit achteinhalb Pence pro Kopf und Woche in Rechnung<br />

gestellt wur<strong>de</strong>. Mit achteinhalb Pence läßt sich nicht<br />

viel bestreiten, aber die würdige Hausdame war eine kluge<br />

und erfahrene Frau und wußte, wie leicht sich Kin<strong>de</strong>r überfressen<br />

kçnnen und was ihnen zuträglich ist; andrerseits<br />

aber auch, was ihr selbst zuträglich war. Sie verwen<strong>de</strong>te<br />

daher <strong>de</strong>n grçßeren Teil <strong>de</strong>s Kostgel<strong>de</strong>s zu ihrem eigenen<br />

Wohl und verstand es auf diese Weise, die gesetzliche Grausamkeit<br />

noch um ein Beträchtliches zu vertiefen; sie bewies<br />

damit, wie weit sie es in <strong>de</strong>r Experimentalphilosophie auf<br />

eigene Faust gebracht hatte.<br />

Wohl je<strong>de</strong>r kennt die Geschichte <strong>de</strong>s bekannten Experimentalphilosophen,<br />

<strong>de</strong>r sich vorgenommen hatte, einem<br />

Pfer<strong>de</strong> das Fressen abzugewçhnen, und diese Theorie so<br />

vorzüglich in die Praxis umsetzte, daß er sein Pferd bis<br />

auf einen Strohhalm pro Tag heruntertrainierte und zweifelsohne<br />

ein außeror<strong>de</strong>ntliches, kräftiges, je<strong>de</strong>m Futter abhol<strong>de</strong>s<br />

Tier aus ihm gemacht haben wür<strong>de</strong>, wäre es nicht<br />

lei<strong>de</strong>r vierundzwanzig Stun<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>m ersten kompletten<br />

Fasttag gestorben. Lei<strong>de</strong>r waren die Erfolge <strong>de</strong>r erwähnten<br />

trefflichen Kostfrau nicht selten, was die Kirchspielkin<strong>de</strong>r<br />

anbelangte, von gleichem Mißerfolg gekrçnt, in<strong>de</strong>m<br />

die Kleinen entwe<strong>de</strong>r vor Kälte o<strong>de</strong>r Hunger, o<strong>de</strong>r weil sie<br />

sich tçdlich verletzten o<strong>de</strong>r verbrannten, frühzeitig starben<br />

13


und zu ihren Vätern, die sie nie gekannt, versammelt wur<strong>de</strong>n.<br />

Stellten wirklich einmal die Vorstän<strong>de</strong> schärfere Nachforschungen<br />

als sonst nach <strong>de</strong>m Verbleib irgen<strong>de</strong>ines Waisenkin<strong>de</strong>s<br />

an, o<strong>de</strong>r mischte sich das Gericht hinein und<br />

beschwerte sich <strong>de</strong>n Kopf mit überflüssigen Fragen, so<br />

schützte das Zeugnis und die Aussage <strong>de</strong>s Arztes und <strong>de</strong>s<br />

Kirchspieldieners die Treffliche je<strong>de</strong>smal gegen Ungemach.<br />

Je<strong>de</strong>smal hatte <strong>de</strong>r erstere dann die Leichen geçffnet und<br />

begreiflicherweise nichts darin gefun<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r letzterer beschwor<br />

rastlos, was <strong>de</strong>m Kirchspiel paßte, und lieferte damit<br />

einen Beweis seiner Hingebung und Selbstaufopferung.<br />

Besuchte das Vorstandskollegium von Zeit zu Zeit einmal<br />

die Zweiganstalt <strong>de</strong>s Arbeitshauses, so versäumte es nie,<br />

je<strong>de</strong>smal Tags zuvor <strong>de</strong>n Kirchspieldiener vorauszusen<strong>de</strong>n,<br />

damit auch alles in Ordnung sei. Und je<strong>de</strong>smal sahen dann<br />

die Kleinen reinlich und gut genährt aus –! Was konnte<br />

man mehr verlangen.<br />

Daß dieses Pflege- und Ernährungssystem ein allzu kräftiges<br />

Ge<strong>de</strong>ihen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zur Folge gehabt hätte, ließ sich<br />

nicht erwarten, und so zeigte sich <strong>de</strong>nn auch <strong>Oliver</strong> <strong>Twist</strong><br />

von seinem neunten Geburtstage an als ein schwaches, bläßliches,<br />

im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Dennoch lebte,<br />

ob von Natur o<strong>de</strong>r als Erbschaft seiner Vorfahren, in<br />

<strong>Oliver</strong>s Brust ein kräftiger energischer Geist, <strong>de</strong>r dank <strong>de</strong>r<br />

strengen Diät <strong>de</strong>s Hauses Raum genug hatte, sich noch weiter<br />

zu entfalten.<br />

Es war an <strong>Oliver</strong>s neuntem Geburtstage. Während er diese<br />

Feier im Kohlenkeller zusammen mit zwei an<strong>de</strong>rn jungen<br />

Herrn beging, die sich gleich ihm von einer or<strong>de</strong>ntlichen<br />

Tracht Prügel erholten, die ihnen zuteil gewor<strong>de</strong>n,<br />

weil sie sich erfrecht hatten hungrig gewesen zu sein, wur<strong>de</strong><br />

Mrs. Mann, die treffliche Pflegefrau, durch das plçtz-<br />

14


liche Erscheinen Mr. Bumbles, <strong>de</strong>s Kirchspieldieners, <strong>de</strong>r<br />

seine Schritte <strong>de</strong>m Gartenpfçrtchen zu lenkte, in Schrekken<br />

gesetzt.<br />

»Du mein Gott, Mr. Bumble, sind Sie’s wirklich?« rief<br />

Mrs. Mann und steckte <strong>de</strong>n Kopf anscheinend hocherfreut<br />

aus <strong>de</strong>m Fenster. »Susanna! Holen Sie gleich <strong>de</strong>n kleinen<br />

<strong>Oliver</strong> herauf und die bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn Lausbuben und waschen<br />

Sie sie – ach, Mr. Bumble, wie ich mich freue, Sie wie<strong>de</strong>r<br />

einmal zu sehen!«<br />

Mr. Bumble war nun aber ein wohlbeleibter und ebenso<br />

heißblütiger Herr, und daher rüttelte er anstatt auf diese<br />

freundliche Bewillkommnung in hçflicher Weise zu antworten,<br />

wütend an <strong>de</strong>r Gartenpforte und stieß mit <strong>de</strong>m Fuß in<br />

einer Weise dagegen, wie sie eben nur ein Kirchspieldiener<br />

beherrscht.<br />

»Gott im Himmel«, rief Mrs. Mann aus <strong>de</strong>m Zimmer<br />

stürzend – die drei Jungen hatte man inzwischen weggebracht<br />

–, »ich habe ganz vergessen, daß ich <strong>de</strong>r lieben Kleinen<br />

wegen das Gattertor von innen verriegelt habe. So<br />

spazieren Sie doch weiter, Sir. Bitte, treten Sie ein, Mr.<br />

Bumble.«<br />

Ihre Einladung war von einem so freundlichen Lächeln<br />

begleitet, daß es sicherlich sogar das Herz eines Kirchenpresbyters<br />

erweicht haben wür<strong>de</strong>; <strong>de</strong>nnoch besänftigte es<br />

<strong>de</strong>n Kirchspieldiener nicht im min<strong>de</strong>sten.<br />

»Nennen Sie das einen respektvollen Empfang, Mrs.<br />

Mann?« fragte Mr. Bumble und faßte seinen Amtsstab noch<br />

fester, »daß Sie die Kirchspielbeamten an Ihrer Türe warten<br />

lassen, wenn sie in Parochialangelegenheiten und in betreff<br />

<strong>de</strong>r Parochialkin<strong>de</strong>r hierher kommen? Sie wissen doch,<br />

Mrs. Mann, daß Sie von <strong>de</strong>r Parochialbehçr<strong>de</strong> angestellt<br />

sind und von <strong>de</strong>r Parochialbehçr<strong>de</strong> bezahlt wer<strong>de</strong>n!«<br />

»Ich erzählte gera<strong>de</strong> einem paar <strong>de</strong>r lieben Kleinen, Mr.<br />

15


Bumble, <strong>de</strong>rentwegen Sie so freundlich sind sich herzubemühen,<br />

daß Sie kommen wür<strong>de</strong>n«, wen<strong>de</strong>te Mrs. Mann<br />

mit großer Unterwürfigkeit ein.<br />

Mr. Bumble hatte eine sehr hohe Meinung von seiner<br />

Rednergabe und seiner amtlichen Wichtigkeit. Er hatte soeben<br />

die eine entfaltet und die andre gewahrt. Er schlug daher<br />

einen mil<strong>de</strong>ren Ton an.<br />

»Nun, nun, Mrs. Mann«, sagte er, »ich bezweifle das ja<br />

gar nicht. Lassen Sie mich aber jetzt hinein, Mrs. Mann.<br />

Ich komme in Geschäften und habe Ihnen etwas mitzuteilen.«<br />

Mrs. Mann führte <strong>de</strong>n Kirchspieldiener in ein kleines<br />

Sprechzimmer, bot ihm einen Sessel an und legte dienstbeflissen<br />

seinen dreieckigen Hut und seinen Amtsstab auf<br />

<strong>de</strong>n Tisch. Mr. Bumble wischte sich <strong>de</strong>n Schweiß von <strong>de</strong>r<br />

Stirn, blickte wohlgefällig auf seinen Dreispitz und lächelte.<br />

Wirklich und wahrhaftig, er lächelte! Aber Kirchspieldiener<br />

sind eben auch nur Menschen, daher lächelte Mr.<br />

Bumble.<br />

»Sie dürfen jetzt nicht beleidigt sein wegen <strong>de</strong>m, was ich<br />

Ihnen sagen will«, begann Mrs. Mann mit bestricken<strong>de</strong>r<br />

Liebenswürdigkeit. »Sie haben einen weiten Weg hinter sich,<br />

sonst wür<strong>de</strong> ich gar nicht davon anfangen, aber sagen Sie,<br />

wollen Sie nicht ein Gläschen nehmen?«<br />

»Nicht einen Tropfen, nicht einen Tropfen«, wehrte Mr.<br />

Bumble ab und schwenkte seine Rechte in wür<strong>de</strong>voller,<br />

aber freundlicher Weise.<br />

»Sie wer<strong>de</strong>n mir gewiß <strong>de</strong>n Gefallen tun«, beharrte Mrs.<br />

Mann auf ihrer Bitte, <strong>de</strong>n Ton, in <strong>de</strong>m die Weigerung gesprochen<br />

wor<strong>de</strong>n, aber auch die begleiten<strong>de</strong> Gebär<strong>de</strong> wohl<br />

erfassend. »Nur ein ganz kleines Gläschen mit einem bissel<br />

kaltem Wasser und einem Stückchen Zucker?«<br />

Mr. Bumble hüstelte.<br />

16


»Nur ein ganz kleines Gläschen«,wie<strong>de</strong>rholte Mrs. Mann<br />

ihre Bitte in dringen<strong>de</strong>m Ton.<br />

»Was ist es <strong>de</strong>nn?« fragte <strong>de</strong>r Kirchspieldiener.<br />

»Ach Gott, ich muß immer ein bisserl davon hier haben,<br />

daß ich <strong>de</strong>n lieben Kleinen eine kleine Herzstärkung<br />

geben kann, wenn ihnen nicht recht gut ist, Mr. Bumble«,<br />

erwi<strong>de</strong>rte Mrs. Mann, çffnete ein Schränkchen und holte<br />

eine Flasche und ein Glas hervor. »Es ist Genever, ich<br />

will Ihnen nichts vormachen, Mr. Bumble, es ist nur Genever.«<br />

»Geben Sie <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn Schnaps, Mrs. Mann?«<br />

fragte <strong>de</strong>r Kirchspieldiener und verfolgte mit <strong>de</strong>n Blicken<br />

<strong>de</strong>n interessanten Prozeß <strong>de</strong>r Mischung.<br />

»O mein, ich tue’s halt, so teuer es auch kommen mag«,<br />

versetzte die Pflegefrau. »Sie wissen doch, ich kçnnt die<br />

armen Kleinen niemals nicht lei<strong>de</strong>n sehen.«<br />

»Nein, nein«, sagte Mr. Bumble zustimmend, »Sie kçnnen<br />

es nicht. Sie sind überhaupt eine sehr humane Frau« –<br />

dabei setzte sie das Glas vor ihn hin – »ich wer<strong>de</strong> nicht versäumen,<br />

bei <strong>de</strong>r nächsten besten Gelegenheit es <strong>de</strong>n Vorstän<strong>de</strong>n<br />

gegenüber zur Sprache zu bringen, Mrs. Mann«,<br />

(dabei zog er das Glas näher zu sich) »Sie fühlen wie eine<br />

Mutter«, (dabei ergriff er das Glas) »Ich trinke hiermit auf<br />

Ihre Gesundheit, Mrs. Mann« (dabei goß er das Glas zur<br />

Hälfte hinunter). »So und jetzt wollen wir vom Geschäft<br />

re<strong>de</strong>n«, sagte er und holte ein le<strong>de</strong>rnes Taschenbuch hervor.<br />

»Der Knabe, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Waisentaufe <strong>de</strong>n Namen <strong>Oliver</strong><br />

<strong>Twist</strong> bekommen hat, wird heute neun Jahre alt.«<br />

»Gottes Segen über ihn«, warf Mrs. Mann dazwischen<br />

und konnte nicht umhin, sich die Augen mit <strong>de</strong>r Schürze<br />

zu trocknen.<br />

»Trotz <strong>de</strong>r ausgeschriebenen Belohnung von zehn Pfund,<br />

und später sogar von zwanzig Pfund, und trotz <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong>-<br />

17


zu übernatürlichen Anstrengungen <strong>de</strong>s Kirchspiels«, fuhr<br />

Mr. Bumble fort, »sind wir nicht imstan<strong>de</strong> gewesen, seinen<br />

Vater zu eruieren o<strong>de</strong>r in Erfahrung zu bringen, wie seine<br />

Mutter hieß, was sie war und woher sie stammte.«<br />

Mrs. Mann hob erstaunt die Hän<strong>de</strong> gen Himmel, dachte<br />

einen Augenblick nach und fragte: »Wie kommt es <strong>de</strong>nn<br />

dann, daß er überhaupt einen Namen hat?«<br />

Der Kirchspieldiener warf sich in die Brust und antwortete:<br />

»Den hab ich erfun<strong>de</strong>n.«<br />

»Sie, Mr. Bumble?«<br />

»Jawohl, ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsre Zçglinge<br />

immer nach <strong>de</strong>m Alphabet. Zuletzt hielten wir bei S –<br />

Swubble, so nannte ich das vorletzte Waisenkind, und <strong>de</strong>r<br />

nächste war ein T – <strong>Twist</strong>; ich habe ebenfalls <strong>de</strong>n Namen<br />

erfun<strong>de</strong>n. Wenn wie<strong>de</strong>r einer kommt, wird er Unwin heißen,<br />

und <strong>de</strong>r Nächstfolgen<strong>de</strong> Vilkins. Ich habe mir schon<br />

eine ganze Reihe von Namen ausgedacht, durchs ganze Alphabet<br />

hindurch; und wenn ich bei Z angekommen bin,<br />

fange ich beim A wie<strong>de</strong>r an.«<br />

»Ja, ja, Sie sind halt fast ein Dichter«, sagte Mrs. Mann.<br />

»Nun, nun, mag sein«, gab <strong>de</strong>r Kirchspieldiener zu, durch<br />

dieses Kompliment sichtlich geschmeichelt; »mag sein, Mrs.<br />

Mann.« Damit trank er sein Glas aus und setzte hinzu:<br />

»<strong>Oliver</strong> ist jetzt schon viel zu alt, um noch länger hier bleiben<br />

zu dürfen. Deshalb hat die Behçr<strong>de</strong> beschlossen, ihn<br />

wie<strong>de</strong>r zurück ins Arbeitshaus zu nehmen. Ich bin selber<br />

hergekommen, um ihn abzuholen. Wo steckt er?«<br />

»Ich wer<strong>de</strong> ihn sogleich holen«, sagte Mrs. Mann und<br />

ging zur Türe.<br />

Gleich darauf erschien sie wie<strong>de</strong>r mit <strong>Oliver</strong>, <strong>de</strong>r inzwischen<br />

gewaschen, gestriegelt und angeklei<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n war.<br />

»Mach ein Buckerl vor <strong>de</strong>m Herrn, <strong>Oliver</strong>«, sagte sie.<br />

<strong>Oliver</strong> machte einen Kratzfuß, <strong>de</strong>r zur Hälfte <strong>de</strong>m Kirch-<br />

18


spieldiener und zur an<strong>de</strong>ren Hälfte <strong>de</strong>m Dreispitz auf <strong>de</strong>m<br />

Tische galt.<br />

»Willst du mit mir gehen, <strong>Oliver</strong>?« fragte Mr. Bumble feierlichst.<br />

<strong>Oliver</strong> wollte schon antworten, daß er je<strong>de</strong>rzeit aufs bereitwilligste<br />

mit wem immer fortzugehen willens sei, blickte<br />

aber zufällig dabei Mrs. Mann an, die hinter <strong>de</strong>n Stuhl<br />

<strong>de</strong>s Kirchspieldieners getreten war und <strong>Oliver</strong> mit fürchterlicher<br />

Miene mit <strong>de</strong>r Faust drohte. Er begriff sofort, <strong>de</strong>nn<br />

er wußte nur zu gut, was diese Faust alles vermochte.<br />

»Kommt sie auch mit?« fragte er schüchtern.<br />

»Nein, sie kann nicht mitkommen«, sagte Mr. Bumble,<br />

»aber sie wird dich schon zuweilen besuchen dürfen.«<br />

Das war gewiß kein beson<strong>de</strong>rer Trost für <strong>Oliver</strong>, aber<br />

trotz seiner Jugend hatte er Grütze genug, sich zu stellen,<br />

als verließe er das Haus nur ungern, und überdies waren<br />

ihm die Tränen infolge <strong>de</strong>s ewigen Hungerlei<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>r<br />

erst vor kurzem erfahrenen Züchtigung näher als das Lachen.<br />

Wie<strong>de</strong>rholt umarmte ihn Mrs. Mann und gab ihm,<br />

was er am meisten brauchte, nämlich ein großes Stück Butterbrot,<br />

damit er im Arbeitshaus nicht allzu hungrig ankäme.<br />

Damit war die Sache abgemacht. Mit <strong>de</strong>m Stück Brot in<br />

<strong>de</strong>r Hand und seiner kleinen Waisenjungenkappe aus braunem<br />

Tuch auf <strong>de</strong>m Kopf, wur<strong>de</strong> er sogleich von Mr. Bumble<br />

aus <strong>de</strong>m fürchterlichen Heim geführt, wo niemals <strong>de</strong>r<br />

Strahl eines freundlichen Blickes die Finsternis seiner ersten<br />

Kin<strong>de</strong>rjahre erhellt hatte. Dennoch konnte er Tränen<br />

kindlichen Schmerzes nicht zurückdrängen, als sich das<br />

Gartentor hinter ihm schloß; verließ er doch seine Lei<strong>de</strong>nsgefährten,<br />

die einzigen Kamera<strong>de</strong>n, die er je gekannt, und<br />

jetzt zum erstenmal, seit er wußte, was Erinnerung ist,<br />

wur<strong>de</strong> ihm das Gefühl gänzlicher Verlassenheit in <strong>de</strong>r großen<br />

weiten Welt bewußt.<br />

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