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Rockstar schreibt Kultkrimis - Börsenblatt des deutschen Buchhandels

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Die Ex-Polizistin Tracy Waterhouse hat in ihrem Leben schon vieles gesehen<br />

und vieles erlebt. Doch dann kommt der Tag, an dem sie ein Kind kauft.<br />

Zwar handelt es sich dabei eigentlich um eine Rettungsaktion, dennoch ist<br />

das Ganze keineswegs legal, und Tracy ist von Stund an auf der Flucht.<br />

Ecke sitzen, ein schmutziges Schultertuch umgeschlungen. Sie<br />

hatte daran gedacht, als Freiwillige bei einer Organisation zu arbeiten,<br />

die nach Katastrophen und Kriegen aufräumte. Schließlich<br />

hatte sie das ihr ganzes Leben lang getan, doch letztlich entschied<br />

sie sich für den Job im Merrion Center.<br />

Als sie den Job der Sicherheitschefin <strong>des</strong> Centers übernahm,<br />

dachte Tracy: „Neuanfang“, und veränderte noch so einiges andere.<br />

Sie zog nicht nur um, sondern waxte sich auch den Damenbart,<br />

ließ ihr Haar länger wachsen und zu einer weicheren Frisur gestalten,<br />

kaufte Blusen mit Schleifen und Perlmuttknöpfen und Schuhe<br />

mit leichtem Absatz, die sie zu dem obligatorischen schwarzen<br />

Kostüm trug. Selbstverständlich funktionierte es nicht.<br />

Die Welt fuhr in einem Einkaufswagen zur Hölle. Die ganze<br />

Bandbreite menschlichen Lebens fand sich hier. Großbritannien<br />

– die Hauptstadt <strong>des</strong> Ladendiebstahls in Europa, mehr als zwei<br />

Milliarden Pfund Verlust je<strong>des</strong> Jahr aufgrund von „Einzelhandelseinbußen“,<br />

ein lächerlicher Ausdruck für lupenreinen Diebstahl.<br />

Die Summe verdoppelte sich, wenn man die<br />

Menge Zeug dazuzählte, die das Personal<br />

»Was für Chancen<br />

hatte dieses<br />

Kind mit Kelly<br />

als Mutter?«<br />

klaute. Unglaublich.<br />

Man überlege nur, wie viele hungernde<br />

Kinder man mit diesem fehlenden Geld ernähren<br />

und ausbilden könnte. Aber andererseits<br />

war es kein Geld, nicht wahr, kein<br />

echtes Geld. So etwas wie echtes Geld gab es<br />

nicht mehr, Geld war ein Akt kollektiver<br />

Fantasie. Wenn wir alle in die Hände klatschen<br />

und daran glauben … Von den fünftausend Pfund in ihrer<br />

Tasche hätte das Finanzamt natürlich auch nichts, aber jeder Bürger<br />

hatte das Recht auf bescheidenen Steuerbetrug, es war kein<br />

Verbrechen. Es gab Verbrechen und Verbrechen. Tracy hatte eine<br />

Menge der anderen Art gesehen, alle Ps – Pädophilie, Prostitution,<br />

Pornografie. Menschenhandel. Kaufen und Verkaufen, nichts anderes<br />

taten die Menschen. Man konnte Frauen kaufen, man konnte<br />

Kinder kaufen, man konnte alles kaufen. Die westliche Zivilisation<br />

hatte lange Glück gehabt, aber jetzt hatte sie ihre Existenz nahezu<br />

ausverkauft. Alle Kulturen hatten ein eingebautes Verfallsdatum,<br />

nicht wahr? Nichts hielt ewig. Außer vielleicht Diamanten, wenn<br />

das Lied stimmte. Und Kakerlaken wahrscheinlich.<br />

Irgendwo weinte ein Kind – das gehörte zur Geräuschkulisse aller<br />

Einkaufszentren der Welt. Es war ein Schreien, das die Schale<br />

noch immer durchdringen konnte wie eine rotglühende Nadel.<br />

Das schreiende Kind kam näher und lenkte sie ab. Sie hörte es, sah<br />

es aber nicht. Sein Elend war erschreckend. Es machte sie wütend.<br />

Dinge, die sie bedauerte, davon gab es einige. Ziemlich viele sogar.<br />

Sie wünschte, sie hätte jemanden gefunden, der sie schätzte,<br />

wünschte, sie hätte Kinder und gelernt, sich besser anzuziehen.<br />

Sie wünschte, sie wäre auf der Schule geblieben und hätte studiert.<br />

Medizin, Geografie, Kunstgeschichte. Das Übliche. Sie war<br />

wie alle anderen, sie wollte jemanden lieben. Noch besser wäre,<br />

wenn sie wiedergeliebt würde. Sie spielte mit dem Gedanken, sich<br />

eine Katze zuzulegen. Aber eigentlich mochte sie Katzen nicht.<br />

Das konnte ein Problem werden. Sie mochte Hunde – vernünftige,<br />

schlaue Hunde, nicht die dummen kleinen Schoßhunde, die in<br />

eine Handtasche passten. Ein guter großer Deutscher Schäferhund<br />

vielleicht, der beste Freund einer Frau. Besser als jede Alarmanlage.<br />

Ah, ja – Kelly Cross. Kelly Cross war der Grund für das schreiende<br />

Kind. Kein Wunder. Prostituierte, Junkie, Diebin, Abschaum.<br />

Ein Gerippe. Tracy kannte sie. Alle kannten sie. Kelly hatte mehrere<br />

Kinder, die meisten waren in Pflege, und<br />

das waren die, die Glück gehabt hatten, was<br />

einiges hieß. Sie stürmte durch den Hauptgang<br />

<strong>des</strong> Merrion Centre, eine besessene<br />

Frau, und sie versprühte Zorn, als würde sie<br />

mit Messern werfen. Es war erstaunlich, wie<br />

viel Kraft sie ausstrahlte, obwohl sie klein<br />

und mager war. Sie trug ein ärmelloses Unterhemd,<br />

das ein paar asoziale blaue Flecken<br />

und eine Reihe von Gefängnistätowierungen<br />

frei ließ. Auf einem Unterarm ein ungeschickt gezeichnetes<br />

Herz, von einem Pfeil durchbohrt und mit den Initialen „K“<br />

und „S“. Tracy fragte sich, wer der bedauernswerte „S“ war. Kelly<br />

telefonierte und machte jemanden lauthals zur Sau. Sie hatte<br />

höchstwahrscheinlich etwas geklaut. Die Chance, dass diese Frau<br />

einen Laden mit einer gültigen Quittung verließ, war gleich null.<br />

Sie zerrte das Kind an der Hand, zog es hinter sich her, weil es<br />

unmöglich mit ihren wütenden Schritten mithalten konnte. Kaum<br />

hatte man gehen gelernt, sollte man laufen wie ein Erwachsener.<br />

Hin und wieder riss Kelly das Kind vom Boden hoch, so dass das<br />

Kind für einen Moment zu fliegen schien. Plärrend. Ununterbrochen.<br />

Eine rotglühende Nadel durch die Schale. Durch das Trommelfell.<br />

Ins Gehirn.<br />

Kelly Cross teilte die Menschenmenge wie ein unheiliger Moses.<br />

Viele Leute waren erkennbar entsetzt, aber keiner hatte den<br />

0<br />

buchjournal 5/2011 49

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