Der kleine Prinz beim Pädagogen - arbeitskreis.ch
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<strong>Der</strong> <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong> <strong>beim</strong> <strong>Pädagogen</strong> (Helmut Zöpfl)<br />
„Guten Tag“, sagte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>. „Spri<strong>ch</strong> einen guten Satz“, befahl der Pädagoge. Es<br />
heißt: „I<strong>ch</strong> wüns<strong>ch</strong>e dir einen guten Tag. Sag es langsam na<strong>ch</strong>.“ „I<strong>ch</strong> wüns<strong>ch</strong>e dir einen<br />
guten Tag“, sagte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong> artig. „So ist es re<strong>ch</strong>t“, sagte der Pädagoge und zog ein<br />
Bü<strong>ch</strong>lein aus der Tas<strong>ch</strong>e. „Was hast du da?“ fragte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>. „I<strong>ch</strong> trage dir eine gute<br />
Note für gutes Betragen ein“, antwortete der Pädagoge. „Willst du in meine S<strong>ch</strong>ule gehen?“<br />
fragte er. „Was muss i<strong>ch</strong> denn da tun?“ fragte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>. „Du musst zunä<strong>ch</strong>st<br />
einen Eignungstest ma<strong>ch</strong>en.“ „Eignungstest, was ist das?“ fragte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>. „I<strong>ch</strong><br />
muss kontrollieren, ob du lernfähig bist.“ „Lernfähig wozu?“ fragte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>. „Das ist<br />
ni<strong>ch</strong>t so wi<strong>ch</strong>tig“, sagte der Pädagoge, „das Wi<strong>ch</strong>tigste ist, es lässt si<strong>ch</strong> lei<strong>ch</strong>t kontrollieren.“<br />
„Gut“, sagte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>, „dann fange an, mi<strong>ch</strong> zu testen.“ <strong>Der</strong> Pädagoge rei<strong>ch</strong>te<br />
dem <strong>kleine</strong>n <strong>Prinz</strong>en ein Arbeitsblatt. „Lies den Text dur<strong>ch</strong> und kreuze die ri<strong>ch</strong>tigen Antworten<br />
an“, befahl er. „Aber“, sagte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>, „i<strong>ch</strong> kann do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t lesen.“<br />
<strong>Der</strong> Pädagoge war empört. „Du willst in die S<strong>ch</strong>ule und kannst ni<strong>ch</strong>t lesen? Hast du denn<br />
keine Frühförderung gehabt?“ „Frühförderung, was ist das?“ wollte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong> wissen.<br />
„Frühförderung, das heißt, dass wir <strong>Pädagogen</strong> festgestellt haben, dass es notwendig<br />
ist, Kindern vor der S<strong>ch</strong>ule das Lesen, Re<strong>ch</strong>nen und logis<strong>ch</strong>es Denken beizubringen, damit<br />
sie das ni<strong>ch</strong>t erst in der S<strong>ch</strong>ule lernen müssen.“ „Und was lernt man dann in der S<strong>ch</strong>ule?“<br />
fragte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>. „Die S<strong>ch</strong>ule baut“, so der Pädagoge, „auf der Vors<strong>ch</strong>ule auf<br />
und kann si<strong>ch</strong> dann wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Dingen zuwenden. Sie bereitet so vor auf die weiterführenden<br />
S<strong>ch</strong>ulen. So spart man eine Menge Zeit. Was hast du denn in deiner Vors<strong>ch</strong>ulzeit<br />
gema<strong>ch</strong>t?“ fragte er den <strong>kleine</strong>n <strong>Prinz</strong>en. „I<strong>ch</strong> habe gespielt.“ „Spielen ist Zeitvers<strong>ch</strong>wendung“,<br />
sagte der Pädagoge. „Waren es wenigstens Lernspiele?“ „Das weiß i<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t“, sagte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>, „i<strong>ch</strong> habe zum Beispiel gemalt: Willst du es sehen?2 fragte<br />
er und zeigte dem <strong>Pädagogen</strong> sein Bild mit der S<strong>ch</strong>lange, die einen Elefanten gefressen<br />
hat. „Na gut“, meinte der Pädagoge, „das ist wohl die Umgrenzung von Nullelementen in<br />
einer Menge.“ „Elemente von was?“ „hast du no<strong>ch</strong> nie etwas von Mengenlehre gehört? So<br />
wirst du den Numerus clausus nie s<strong>ch</strong>affen.“ <strong>Der</strong> <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong> s<strong>ch</strong>aute fragend. „S<strong>ch</strong>on<br />
gut“, meinte der Pädagoge, „i<strong>ch</strong> will es dir erklären. Das Wi<strong>ch</strong>tigste im Leben ist die re<strong>ch</strong>tzeitige<br />
Vorbereitung. Die Vors<strong>ch</strong>ule bereitet auf die Grunds<strong>ch</strong>ule, die Grunds<strong>ch</strong>ule auf die<br />
weiterführende S<strong>ch</strong>ule, die weiterführende S<strong>ch</strong>ule auf die Universität, die Universität auf<br />
den Beruf vor. Hast du das verstanden?“ „Und auf was bereitet der Beruf vor?“ fragte der<br />
<strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>. „Auf die Pension natürli<strong>ch</strong>.“ „Und die Pension?“ „Du bist ein entsetzli<strong>ch</strong>er<br />
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Quälgeist“, sagte der Pädagoge. „Wenn jemand in seinem Leben etwas geleistet hat, wird<br />
er au<strong>ch</strong> seinen Ruhestand zu nutzen wissen, damit die Leute einmal an seinem Grabe sagen<br />
können, er habe ein erfülltes Leben gehabt.“ „Komis<strong>ch</strong>“, sagte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>, „i<strong>ch</strong><br />
habe den Eindruck, jemand, der immer vorbereitet wird, hat nie Zeit gehabt zu leben.“<br />
„Das verstehst du no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t“, sagte der Pädagoge s<strong>ch</strong>roff. „Sag mir lieber, was du bisher<br />
geleistet hast. Bringst du wenigstens ein biologis<strong>ch</strong>es Wissen mit? Wel<strong>ch</strong>e Pflanzen und<br />
Tiere kennst du?“ „I<strong>ch</strong> habe auf meinem Planeten eine Rose.“ „Es gibt viele Rosenarten“,<br />
entgegnete der Pädagoge. „I<strong>ch</strong> habe hier ein Arbeitsblatt über Rosen. Da du ni<strong>ch</strong>t lesen<br />
kannst, will i<strong>ch</strong> es dir vorlesen:<br />
1. Arbeitsaufgabe: Meine Rose ist eine<br />
a. Pfingstrose<br />
b. Heckenrose<br />
c. Polyantharose<br />
d. Ho<strong>ch</strong>stammrose.<br />
Kreuze die ri<strong>ch</strong>tige Antwort an!<br />
2. Arbeitaufgabe: Wel<strong>ch</strong>e <strong>ch</strong>emis<strong>ch</strong>en Prozesse vollziehen si<strong>ch</strong> bei der Nahrungsaufnahme<br />
der Rose? Du hast mehrere Antworten zur Auswahl.<br />
3. Arbeitsaufgabe: Bilde mindestens fünf zusammengesetzte Hauptwörter mit Rose<br />
wie Rosenkohl, Rosenduft!<br />
„Meine Rose duftet sehr gut“, unterbra<strong>ch</strong> ihn der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>. „Guter Duft ist im kognitiven<br />
Erfassungsberei<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vorgesehen, der lässt si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wer kontrollieren und gehört daher<br />
ni<strong>ch</strong>t in den Lernzielkatalog“, winkte der Pädagoge ab. „I<strong>ch</strong> mag meine <strong>kleine</strong> Rose“, sagte<br />
der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>, „und denke immer darüber na<strong>ch</strong>, wie i<strong>ch</strong> sie vor dem S<strong>ch</strong>af auf meinem<br />
Planeten s<strong>ch</strong>ützen kann.“ „Über Pflanzens<strong>ch</strong>utzmittel spre<strong>ch</strong>en wir im <strong>ch</strong>emis<strong>ch</strong>en Sa<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t.<br />
Du wirst sehen, das ist interessant.“ „Und i<strong>ch</strong> freue mi<strong>ch</strong> jeden Tag an meiner<br />
Rose.“ „Freude ist ein affektives Lernziel. Das ist ni<strong>ch</strong>t so wi<strong>ch</strong>tig, aber du darfst am<br />
S<strong>ch</strong>luss der Unterri<strong>ch</strong>tsstunde au<strong>ch</strong> Freude über Rosen empfinden. I<strong>ch</strong> werde s<strong>ch</strong>on einen<br />
Weg finden, wie i<strong>ch</strong> kontrollieren kann, ob deine Freude lernspezifis<strong>ch</strong> war.“ „I<strong>ch</strong> will<br />
mi<strong>ch</strong> aber ni<strong>ch</strong>t nur freuen, wenn es auf deinem Plan steht“, sagte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>. „Zur<br />
ständigen Freude haben wir leider keine Zeit, sonst errei<strong>ch</strong>en wir unsere Lernziele ni<strong>ch</strong>t“,<br />
sagte der Pädagoge unwirs<strong>ch</strong>. „Und wenn wir die ni<strong>ch</strong>t errei<strong>ch</strong>en, bist du lebensuntü<strong>ch</strong>tig.<br />
Ni<strong>ch</strong>t für die S<strong>ch</strong>ule, für das Leben lernen wir.“ „Du hast re<strong>ch</strong>t“, sagte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong>,<br />
„deshalb glaube i<strong>ch</strong>, ist deine S<strong>ch</strong>ule do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts für mi<strong>ch</strong>.“ Und er ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> wieder auf<br />
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die Reise. „Halt, halt!“ rief ihm der Pädagoge na<strong>ch</strong>. „Du hast no<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t gehört, wie<br />
meine didaktis<strong>ch</strong>e Analyse weitergeht, und wel<strong>ch</strong>e Lernziele i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> vorgesehen habe:<br />
Re<strong>ch</strong>nen mit Rosenkranzperlen im Religionsunterri<strong>ch</strong>t,<br />
Mikroskopieübungen mit Rosenblättern,<br />
Bestimmungen der Kadenzen im Lied „Sah ein Knab ein Röslein steh’ n“.<br />
Über Bräu<strong>ch</strong>e spre<strong>ch</strong>en und Freude über den Rosenmontag empfinden.<br />
Das literaris<strong>ch</strong>e Werk Herbert Rosendorfers würdigen lernen.<br />
Die Gewinnspanne des Rosenheimer Verlagshauses bei Zöpfl-Bü<strong>ch</strong>ern ausre<strong>ch</strong>nen, ...“<br />
Aber das hörte der <strong>kleine</strong> <strong>Prinz</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr, denn er hatte si<strong>ch</strong> ganz s<strong>ch</strong>nell davon gema<strong>ch</strong>t,<br />
um ni<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> eine Neurose zu bekommen.<br />
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