Alles, was bleibt - Verlagsgruppe Droemer Knaur
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Annette Hohberg<br />
<strong>Alles</strong>, <strong>was</strong> <strong>bleibt</strong><br />
Ro man<br />
<strong>Knaur</strong>
Die Folie des Schutzumschlags sowie die Einschweißfolie sind<br />
PE-Folien und biologisch abbaubar.<br />
Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.<br />
Bitte besuchen Sie uns im Internet:<br />
www.knaur.de<br />
Copyright © 2011 <strong>Knaur</strong> Verlag.<br />
Ein Unternehmen der <strong>Droemer</strong>schen Verlagsanstalt<br />
Th. <strong>Knaur</strong> Nachf. GmbH & Co. KG, München<br />
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –<br />
nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.<br />
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München<br />
Umschlagfoto: © Philip Harvey / Corbis<br />
Satz: Adobe InDesign im Verlag<br />
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-426-65227-5<br />
2 4 5 3 1
Für Pe ter
1<br />
Al les war so sau ber. Der Par kett bo den ver sie gelt, die<br />
Wän de ge weiß elt, die Räu me ge putzt. Es roch nach<br />
Rei ni gungs mit teln. Nach Boh ner wachs. Nach Far be.<br />
Nach ih rem Le ben roch es nicht mehr. Ihr Le ben hat te<br />
nach Bra ten ge ro chen. Nach Cal va dos. Nach Kräu tern.<br />
Nach ihm.<br />
Ge sine hol te tief Luft. Nein, da war nichts mehr. Die<br />
Woh nung emp fing sie wie eine Frem de. Wie eine der<br />
vie len Miet in ter es sen ten, die in den letz ten Wo chen<br />
durch die Zim mer ge zo gen wa ren: man che mit kri tischer<br />
Her ab las sung, an de re mit un ter wür fi ger Freundlich<br />
keit, alle neu gie rig. Es sehe gut aus, hat te die Makle<br />
rin Ge sine ge sagt. Es gebe vie le, die ein zie hen wollten.<br />
Und auf diese gut ge laun te Art, die so ty pisch ist<br />
für Leu te ih res Schlags, hat te sie noch hin zu ge fügt, alle<br />
sei en be reit, die Ab lö se für die ein ma li ge Kü che zu zahlen,<br />
Be geis te rung, we nigs tens An er ken nung von Gesine<br />
er war tend. Statt des sen war sie mit ei nem mü den<br />
Ni cken be dacht wor den.<br />
Ges ines Ab sät ze hall ten auf dem blan ken Ei chen holz<br />
7
wi der. Wie ein Echo ga ben die Wän de das har te Klacken<br />
zu rück. Vor sich tig zog sie ihre hoch ha cki gen<br />
Pumps aus. Leo moch te Schu he mit ho hen Ab sät zen.<br />
»Du hast so schö ne Bei ne dar in«, hat te er ihr im mer<br />
ge sagt. Schö ne Bei ne hat te sie im mer noch, fand sie.<br />
Sie stand im ehe ma li gen Ess zim mer, bar fuß, die<br />
Schu he in der Hand, und als sie für ei nen Mo ment die<br />
Au gen schloss, hör te sie Mu sik. Ein Chan son von<br />
Georges Bras sens – der passe so gut zum Es sen, hör te<br />
sie ihn sa gen –, dazu die ses Ge räusch, das Glä ser beim<br />
Zu pros ten mach ten, und Stim men, vie le Stim men von<br />
vie len Freun den. Sie öff ne te die Au gen ab rupt, und ihr<br />
wur de fast schwind lig von der plötz li chen Stil le, die sie<br />
um gab. Sie tau mel te, als sie ih ren Gang durch diese<br />
lee ren Räu me fort setz te, die nur dar auf zu war ten<br />
schie nen, sich mit an de rem Le ben zu fül len – Hu ren<br />
gleich, die ihre Rei ze neu en Frei ern an bo ten.<br />
Im Ba de zim mer öff ne te Ge sine die Ein bau schrän ke.<br />
Ab ge räum te Re ga le, auf de nen bis vor kur zem ihre<br />
hell blau en und sei ne grau en Hand tü cher ge le gen hatten<br />
und sein Par fum ne ben ih rem ge stan den war.<br />
Manch mal hat te sie mor gens sei nes auf ge tra gen, um<br />
den gan zen Tag von ihm be glei tet zu wer den. »Escort<br />
Ser vice«, hat te sie das ge nannt. Mei ne Ro man ti ke rin,<br />
hat te Leo dann zu ihr ge sagt und sie in die Arme genom<br />
men. Diese Arme, auf die sie jetzt kein An recht<br />
mehr hat te. Wie ein Grund stück, auf dem man als Kind<br />
Ver ste cken spiel te und das plötz lich ei nen neu en Be sitzer<br />
hat, der Zäu ne zieht und Schil der auf stellt: Zu gang<br />
ver wehrt!<br />
Sie dreh te sich um und sah ihr Spie gel bild. Tau sen de<br />
Male hat te sie sich hier ge se hen, nach durch fei er ten<br />
Näch ten, nach Rot wein aben den zu zweit. Nach denk-<br />
8
lich keit und Über mut, Trau rig keit und Trun ken heit,<br />
Aus ge las sen heit und Zu ver sicht – Wi der spie ge lung all<br />
des sen, <strong>was</strong> Leo in ihr hin ter las sen hat te. Heu te trug<br />
sie Make-up. Trotz dem sah man sie, die Fält chen an<br />
den ty pi schen Stel len, die un wei ger lich kom men, wenn<br />
man sech sund vier zig Jah re Le ben hin ter sich hat. Sie<br />
hat te viel ge lacht in ih rem Le ben mit ihm. Der Kummer<br />
hat te noch nicht ge nü gend Zeit ge habt, sich in ihrem<br />
Ge sicht ein zu nis ten, aber sie wuss te, dass er nicht<br />
mehr lan ge war ten wür de. Konn te man Kum mer Einhalt<br />
ge bie ten? Ihn auf hal ten?<br />
Sie be trach te te sich: hohe Wan gen, grü ne Au gen, breite<br />
Lip pen. Ein paar Som mer spros sen um die Nase herum,<br />
»mei ne Ge sichts punk te« hat te er die ge nannt. Dunkel<br />
blon de Haa re, die ers tes Grau zeig ten. Es hat te ihn<br />
amü siert, als sie vor zwei Jah ren vom Fri seur ge kom men<br />
war, mit Strähn chen. Und dann hat te er ih ren Kopf in<br />
bei de Hän de ge nom men und die sen Satz ge sagt, ei nen<br />
die ser Leo-Sät ze, die noch heu te in ihr nach klan gen: »Du<br />
und ich – das <strong>bleibt</strong>. Für im mer.« Wo hin war das Im mer<br />
ver schwun den? Viel leicht hielt es sich nur ir gend wo verbor<br />
gen, dar auf war tend, zu ge ge be ner Zeit her vor zukom<br />
men und sein Werk wie der auf zu neh men? Was kann<br />
uns schon pas sie ren – so hat te sie da mals ge dacht. Heu te<br />
wuss te sie, <strong>was</strong> pas sie ren konn te …<br />
Das Schlaf zim mer wür dig te Ge sine nur ei nes kur zen<br />
Bli ckes. Ver schob die Ge dan ken, die auf kom men wollten.<br />
Spä ter, spä ter, ver such te ihr Ver stand ihr ein zu reden.<br />
Aus nahms wei se gab sie ihm nach. Ver ta gen wir’s.<br />
Ein schö nes Wort, ei nes, das half – Tage, die sich aus<br />
dem Staub ma chen, mit un be stimm tem Ziel.<br />
Und nun die Kü che. Nein, hier wich sie nicht aus.<br />
Die Kü che ist das Herz ei nes Hau ses, war ei ner von<br />
9
Leos Lieb lings sät zen. Die ses hier hat te auf ge hört zu<br />
schla gen. Lang sam fuhr sie mit der Hand über die Arbeits<br />
flä chen – un zäh li ge Schnit zer im dunk len Nussholz.<br />
Ker ben, die von Bœuf bour gig non und Sa la de<br />
niç oise und Rata tou ille er zähl ten. Kurz über schlug sie,<br />
wie vie le Kilo Ge mü se, Fleisch, Fisch hier zer legt, wie<br />
vie le Li ter Wein hier ge trun ken, wie vie le Küs se hier<br />
mal eben so ge ge ben wor den wa ren. Das reins te Zahlen<br />
ka rus sell. Ihr Blick glitt über die lee ren Stan gen, an<br />
de nen Schnee be sen, Pfan nen wen der, Teig räd chen,<br />
Spa tel, Zes ten rei ßer, Trüf fel ho bel, Kar tof fel stamp fer<br />
ge han gen hat ten, über die Re ga le, in de nen die von ihr<br />
be schrif te ten Do sen mit Kreuz küm mel und Sa fran,<br />
Kar da mom und Ku be ben pfef fer, Zimt und Fen chel samen<br />
ge stan den hat ten – und blieb schließ lich hän gen<br />
an den kal ten Ce ran-Koch fel dern. Es piep te kurz, als<br />
sie den Herd ein schal te te. Kurz dar auf glüh te eine Platte<br />
in er war tungs vol lem Rot, und Ge sine woll te fast reflex<br />
haft die Schub la de mit den Töp fen und Pfan nen<br />
auf zie hen. Doch sie hielt inne. Wuss te sie doch – auch<br />
da er war te te sie Lee re. Eine Lee re, die stell ver tre tend<br />
war für die, die sich in ih rem Le ben aus ge brei tet hat te.<br />
Ein über gro ßer Hun ger, dem man nur Brot kru men<br />
hin warf. Fast ver zwei felt riss sie die Tür zum Kühlschrank<br />
auf. Da wa ren sie doch im mer ge we sen, die<br />
Pas te ten und Schin ken und Käse. Jetzt gab es da nur<br />
ge putz te Git ter und blan ke Kunst stoff scha len und<br />
küh les Licht.<br />
Sie öff ne te das Tief kühl fach – und hielt inne. Da<br />
stand et <strong>was</strong>. Ganz hin ten, na he zu ver steckt von dem<br />
Eis wür fel-Kas ten. Fast in Zeit lu pe tas te te sie nach<br />
ei nem Kunst stoff be häl ter mit blau em De ckel. »Fischfond<br />
à la norm ande« stand dar auf in Leos gro ßer run-<br />
10
der Hand schrift. Sie griff nach die sem klei nen Eis klotz.<br />
Die Käl te spür te sie kaum. Sie spür te nur, wie ihr Wasser<br />
trop fen in den Är mel ih res Bla zers lie fen. Und plötzlich<br />
ka men die Trä nen. Sie stand dort in der Kü che,<br />
ih rer Kü che, wäh rend auf ein mal al les floss. Ein Stausee<br />
an Ge füh len. Damm bruch al ler orten. Heiß und<br />
kalt. Sie hör te sich selbst schluch zen. Und ir gend et <strong>was</strong><br />
in ihr dach te: End lich! Jetzt konn te hier nichts mehr<br />
inne hal ten.<br />
Als es an der Tür klin gel te, zuck te Ge sine zu sammen,<br />
such te mit der lin ken Hand in ih rer Ta sche nach<br />
ei nem Ta schen tuch. Mit der rech ten hielt sie noch immer<br />
den ei si gen Klotz um klam mert. Ihre Schu he la gen<br />
vor dem ge öff ne ten Kühl schrank. Schließ lich hat te sie<br />
ein Ta schen tuch ge fun den, schneuz te kurz hin ein, und<br />
wie der klin gel te es, dies mal un ge dul di ger, for dern der.<br />
Ge sine ließ sich Zeit, als sie zur Tür ging. Das sind die<br />
letz ten Mo men te, die ich hier al lein bin, dach te sie. So<br />
vie le Jah re sind diese Räu me Zu flucht und Zen trum<br />
ge we sen, ih rer bei der Ba sis sta ti on. Jetzt gab sie al les<br />
frem den Men schen preis.<br />
Mit ei nem Ruck öff ne te sie die Tür. Ein jun ges Paar<br />
und die Mak le rin stan den da vor. In ih ren Ge sich tern<br />
er schie nen so fort Er stau nen, Ir ri ta ti on, Ver le gen heit,<br />
als sie eine Frau, bar fuß, mit ei nem trop fen den Et <strong>was</strong><br />
in der Hand da ste hen sa hen, die zwi schen ver lau fe ner<br />
Wim pern tu sche, ver schmier tem Lip pen stift und Tränen<br />
ver geb lich so et <strong>was</strong> wie ein Lä cheln ver such te.<br />
»Ent schul di gen Sie«, be gann die jun ge Frau, während<br />
sie ver le gen an dem Griff ih rer ro ten Ta sche drehte.<br />
Der Mann über nahm so fort: »Wir wol len nicht aufdring<br />
lich sein, aber wir ha ben jetzt den Ter min für die<br />
Schlüs sel über ga be.«<br />
11
»Ja, ja, kom men Sie her ein«, ent geg ne te Ge sine. Und<br />
wäh rend die zwei fast er leich tert an ihr vor bei dräng ten,<br />
hielt sie die Mak le rin am Arm fest: »Ich habe noch<br />
einen drin gen den Ter min. Kön nen Sie das hier für<br />
mich er le di gen?« Ohne eine Ant wort ab zu war ten,<br />
füg te sie hin zu: »Falls noch ir gend et <strong>was</strong> sein soll te, Sie<br />
wis sen ja, wo Sie mich er rei chen. Mo ment, ich gebe Ihnen<br />
hier die Schlüs sel.« Aus ih rer Ta sche hol te sie<br />
ei nen schwe ren Um schlag und drück te ihn der verblüff<br />
ten Frau in die Hand.<br />
»Wol len Sie denn nicht über die Ab lö se für die Küche<br />
spre chen?«, frag te die und hol te ein paar Un ter -<br />
lagen aus ei ner Ak ten map pe.<br />
»Das ist mir egal«, sag te Ge sine nur. »Die zwei sol len<br />
mir ein fach ei nen Be trag über wei sen, den sie für an gemes<br />
sen hal ten.«<br />
In die sem Mo ment kam der jun ge Mann mit Ge sines<br />
Pumps an die Tür. »Hier, die ha ben Sie ver gessen.«<br />
»Dan ke«, flüs ter te sie, schlüpf te in die Schu he und<br />
stürz te die Trep pe hin un ter, eine Spur von Trop fen<br />
hin ter sich las send. Sie spür te das Kopf schüt teln der<br />
Mak le rin in ih rem Rü cken, als sie den klei nen Eis klotz<br />
in ihre Ta sche steck te.<br />
12
2<br />
Die Fisch händ le rin be grüß te sie mit ei nem kur zen<br />
Ni cken, wäh rend sie noch eine an de re Kun din be diente.<br />
Wie im mer hat te sie diese klei ne Woll müt ze auf dem<br />
Kopf, und wie im mer über leg te Ge sine, ob sie die wohl<br />
trug, weil es in ih rem La den so kalt war oder weil sie<br />
kei ne Haa re mehr hat te. Sie hat te sie nie da nach gefragt.<br />
Sie hat te nur nach Fi schen ge fragt, nach Sar dinen<br />
und Se pien und Dor aden. Sie hat te wis sen wol len,<br />
ob die Wolfs bar sche aus der Zucht ka men oder Kut terfang<br />
wa ren und wann nach der Som mer pau se, nach<br />
den Mo na ten ohne »r«, die ers ten Mies mu scheln eintra<br />
fen.<br />
»War um tra gen Sie ei gent lich diese Müt ze?«<br />
Die Frau sah sie er staunt an. »Ich war sehr krank«,<br />
sag te sie dann.<br />
»Ent schul di gung, ich woll te nicht in dis kret sein …«,<br />
ent geg ne te Ge sine.<br />
»Ach <strong>was</strong>«, un ter brach sie die Fisch händ le rin, während<br />
sie mit ei nem gro ßen Schlauch Was ser über die<br />
Ar beits flä che aus Alu spritz te. Et <strong>was</strong> Blut lief in ei ner<br />
13
Rin ne am Bo den ab. »Wir ken nen uns ja schließ lich<br />
schon so lan ge.«<br />
»Ja, ja, aber ir gend wie ha ben wir im mer nur über<br />
Fi sche ge re det.«<br />
»Wun dert Sie das?« Sie dreh te das Was ser ab.<br />
Ge sine muss te la chen, sie war selbst er staunt, dass<br />
noch La chen in ihr war. »Nein, ei gent lich nicht.«<br />
»Also, <strong>was</strong> darf’s sein?« Die Frau mit der Müt ze hatte<br />
ein freund li ches Ge sicht. Ge sine war oft mit Leo hier<br />
ge we sen. Es sei er staun lich, dass je mand, der den ganzen<br />
Tag dum me Leu te be die ne, de ren ein zi ge Fra ge sei,<br />
ob es auch kei ne Grä ten im Fisch gebe, da bei so freundlich<br />
blei be, hat te er im mer ge sagt.<br />
»Ich brau che eine See zun ge, Mu scheln und ei nen<br />
Topf Crème fraî che.«<br />
»Aha, ist wie der ein Fei er tag?«<br />
»Ja«, sag te Ge sine lei se, »und nein.«<br />
»Par don, ich woll te auch nicht …«<br />
»… in dis kret sein? Nein, das sind Sie nicht.«<br />
»Ist et <strong>was</strong> mit Ih rem Mann?« Die Frau leg te ein Zögern<br />
in ihre Fra ge. »Die See zun ge gab es doch im mer<br />
zu be son de ren An läs sen?«<br />
»Ja, das stimmt. Der An lass heu te ist auch be son ders.<br />
Ich ko che die ses Ge richt zum ers ten Mal für mich al lein.<br />
Mein Mann, nun ja, mein Mann ist nicht mehr da.«<br />
In die sem Mo ment be trat ein Mann den La den. Die<br />
Ver käu fe rin hol te ei nen Fisch aus der Aus la ge, schaufel<br />
te ein paar Mu scheln in eine Tüte, wog bei des ab<br />
und nann te Ge sine den Preis.<br />
Als sie zahl te, tra fen sich ihre Bli cke.<br />
»Viel Glück«, sag te Ge sine beim Hin aus ge hen.<br />
»Das wün sche ich Ih nen auch«, rief die Frau ihr nach<br />
und zog kurz an ih rer Müt ze.<br />
14
Am Ge mü se stand hol te Ge sine ein paar Scha lot ten,<br />
ein Bund Möh ren und Pe ter si lie. Als sie in ihr Auto<br />
stieg, hielt sie kurz inne, be vor sie den Gang ein leg te.<br />
Nach Hau se – das war jetzt wo an ders. Das war dort, wo<br />
sie bis lang nur ihr Büro ge habt hat te. Ihr Büro mit<br />
Frank, für je den ein gro ßes Zim mer, in dem sie ihre<br />
Klien ten emp fin gen.<br />
Seit sie ben Jah ren ar bei te ten sie jetzt zu sam men.<br />
Ma na ge ment- und Ein zel-Coac hing stand auf dem sil bernen<br />
Schild am Ein gang. Frü her hät te man The ra pie<br />
dazu ge sagt, doch das war es nicht, <strong>was</strong> die Leu te heute<br />
woll ten. Coac hing da ge gen war wie ein Tür öff ner.<br />
Plötz lich trau ten sich nicht nur alle, über ihre Pro bleme<br />
zu re den, es war so gar ver däch tig, kei ne zu ha ben.<br />
»Wir sind ein Aus lauf mo dell«, hat te Leo oft ge sagt –<br />
und ge lacht. »Kum mer ist et <strong>was</strong> für die an de ren.« Jetzt<br />
hat te der Kum mer sie ein ge holt.<br />
Sie hat te mit dem Haus be sit zer ge re det, als ne ben dem<br />
Büro eine klei ne Woh nung frei ge wor den war – und<br />
na tür lich wil lig te der so fort ein. »Mein Gott, Sie Arme!<br />
Ich ken ne Sie jetzt schon seit so vie len Jah ren. Und Ihren<br />
Mann auch. Wie konn te das bloß pas sie ren?« Sie<br />
fer tig te sei ne Fra gen mit ei nem Ach sel zu cken ab. Merkwür<br />
dig, wie ver trau lich die Leu te auf ein mal wer den,<br />
wenn je mand an de rem ein Un glück wi der fährt. Wie<br />
nahe sie ei nem kom men, jeg li ches Min dest maß an Abstand<br />
fah ren las send. Und sie dach te: Ei gent lich wür de<br />
ich ihm jetzt am liebs ten sa gen: »Be hal ten Sie doch<br />
Ihre Woh nung.« Aber das tat sie na tür lich nicht. Sie<br />
wil lig te so gar ein, ei nen Kaf fee mit ihm und sei ner Frau<br />
zu trin ken und de ren Rühr ku chen zu es sen. Ir gend wie<br />
fand sie die ses Wort plötz lich so pas send – »Rühr-<br />
15
kuchen«. Als sie kurz lach te, be kam sie rat lo se Bli cke.<br />
Die Woh nung be kam sie auch.<br />
Nun stan den dort ihre Mö bel, zu min dest ein Teil davon.<br />
Wie Pas sa gie re, die ins Un ge wis se auf bre chen,<br />
aber ih ren Platz an Bord noch nicht ge fun den ha ben.<br />
Das hell brau ne Sofa und die grau en Ses sel hat te sie<br />
be hal ten, eben so den Ess tisch mit vier der ehe mals<br />
acht Stüh le; die an de ren vier hat te Leo ge nom men.<br />
Das Bett woll te sie nicht, statt des sen hat te sie sich an<br />
ei nem Frei tag nach mit tag schnell ein schma les ge kauft.<br />
Fast so schnell wie ein Kilo Kar tof feln; der Ver käu fer<br />
war ent täuscht ge we sen, dass sie kei ne Be ra tung wollte,<br />
son dern nach ei ner Mi nu te sag te: »Das da neh me<br />
ich.« Vier Tage spä ter wur de es ge lie fert. Es war bequem,<br />
aber sie leg te sich trotz dem nicht gern hin ein.<br />
Auf dem Nacht tisch lag eine blaue Schach tel; dar in<br />
be wahr te sie Fo tos auf, von sich und ihm. Es wa ren<br />
sieb zehn Fo tos, für je des Leo-Jahr eins. Wenn sie<br />
abends nicht schla fen konn te, ließ sie die Bil der ans<br />
Licht. Gab ih nen Aus gang, wie ei nem un wil li gen Hund,<br />
den man Gassi führt. Sie blieb im mer an den sel ben<br />
Or ten ste hen, manch mal kurz, manch mal län ger, bevor<br />
sie wei ter ging – bis zum Ende ih rer Er in ne rungsrun<br />
de. Wenn sie zu rück kam, zu rück kam in ihr neu es<br />
Le ben, nahm sie oft eine der Ta blet ten. Sie moch te keine<br />
Ta blet ten, aber diese hier hat te ihr der Arzt verschrie<br />
ben, ge gen Schlaflo sig keit. Und sie hal fen, hal fen<br />
ihr durch die Näch te.<br />
Ihre Bü cher kis ten harr ten noch un aus ge packt auf dem<br />
Bo den aus. Frank hat te ihr schon ein paarmal an ge bo ten,<br />
die Re ga le auf zu bau en. Doch sie hat te im mer wie der abge<br />
wun ken. Sie merk te, dass sie kei ne Eile hat te.<br />
Frank war jetzt im Büro. Er war mehr als ein Part ner in<br />
16
ih rem ge mein sa men Un ter neh men. Er war ein Freund.<br />
Ihr Trau zeu ge war er auch. Und er war auf ih rer Sei te.<br />
So be din gungs los, dass sie Leo manch mal so gar ver teidig<br />
te.<br />
»Na, wie ist es ge lau fen?«, frag te Frank. Und sie<br />
spür te so et <strong>was</strong> wie Dank bar keit. Auf sei ne ru hi ge<br />
Stim me war Ver lass – eine Kon stan te in ih rem Le ben,<br />
in dem die Kon stan ten sich an sons ten da von ge macht<br />
hat ten.<br />
»Die Woh nung ist weg«, sag te sie lei se.<br />
»Gut so.«<br />
»Ja, ja, ich bin er leich tert. Aber auch trau rig. Als hätte<br />
ich kei nen Bo den mehr un ter den Fü ßen.«<br />
»Das ist nor mal, Ge sine. Nach so vie len Jah ren. Aber<br />
du wirst se hen, das Le ben geht wei ter.« Er kom mentier<br />
te die sen Satz mit ei nem Grin sen, das nicht ganz<br />
ge lin gen woll te. Als ob er selbst nicht glaub te, <strong>was</strong> er<br />
ge ra de ge sagt hat te.<br />
Sie lä chel te bit ter. »War um fal len uns in sol chen Momen<br />
ten ei gent lich nur Plat ti tü den ein?«<br />
»Bei den gro ßen The men wie Lie be, Lei den schaft,<br />
Ver lust, Hass, Ra che ha ben wir alle ähn li che Re ak tions<br />
sche ma ta. Und die sind ziem lich sim pel, man kann<br />
auch sa gen platt.«<br />
»Dan ke für den Vor trag.«<br />
»Das ist mein Job.«<br />
»Ich weiß, ich weiß. We nigs tens ei ner von uns ist<br />
noch in der Lage, den Leu ten zu sa gen, wo’s lang geht …<br />
Apro pos, hast du mei ne Klien ten heu te über nommen?«<br />
»Ja, aber da von spä ter. Magst du ein Glas Weiß wein?<br />
Ich glau be, du könn test ei nes ver tra gen.«<br />
Ohne eine Ant wort ab zu war ten, ging er in die klei ne<br />
17
Kü che, hol te zwei Glä ser und eine Fla sche Al bariño.<br />
Und sei ne Zi ga ret ten. Er sieht gut aus, dach te Ge sine.<br />
Groß, im mer noch schlank, blaue Au gen, kur ze dunkel<br />
blon de, mitt ler wei le et <strong>was</strong> we ni ger Haa re. Sie dachte<br />
das nicht zum ers ten Mal. Sie kann te Frank län ger<br />
als Leo. Er war ihr Freund ge we sen, seit sie ihm da mals<br />
in der Uni be geg net war. Nie mals ihr Lieb ha ber. Er<br />
hat te an de re Frau en; sie hat te vie le kom men und gehen<br />
se hen. Er hat te an de re Frau en, weil sie Leo hat te.<br />
Man che blie ben Tage, an de re Mo na te. Kei ne blieb für<br />
im mer. Weil Frank nicht woll te, dass sie blie ben. Jah relan<br />
ges Glück mit ir gend ei ner Frau war in sei nem Lebens<br />
bau plan nicht vor ge se hen. Er war ein Mann in der<br />
War te schlei fe, und Ge sine wuss te nur zu gut, war um<br />
das so war.<br />
Beim Ein schen ken sah er sie kurz an. »Heu te Abend<br />
schon <strong>was</strong> vor?« Er reich te ihr ein Glas und zün de te<br />
sich eine Zi ga ret te an. Es passt zu ihm, dach te sie. Sie<br />
dach te das nicht zum ers ten Mal. Er war ein Mensch,<br />
dem sie gern beim Rau chen zu sah.<br />
Sie stieß mit ihm an. »Ja. Und nein.«<br />
»Was heißt das?«<br />
»Ich«, sie stock te, »ich ko che.«<br />
»Wer kommt?«<br />
»Nie mand. Es wird eine Art Er in ne rungs es sen …«<br />
Wie zur Er klä rung hol te sie die klei ne Plas tik box aus<br />
ih rer Ta sche und hielt sie ihm hin. Der In halt war fast<br />
auf ge taut.<br />
»Was ist das?«, frag te er und run zel te die Stirn.<br />
»Das hier habe ich heu te in un se rem Kühl schrank in<br />
der al ten Woh nung ge fun den«, er klär te sie. »Leo hat es<br />
ge kocht, und ich will dar aus das Es sen ma chen, das es<br />
bei uns im mer zu be son de ren An läs sen ge ge ben hat.«<br />
18
»Ge sine …«<br />
»Ja, ich weiß, es klingt ko misch, aber ich möch te uns<br />
noch ein mal schme cken.«<br />
»Brauchst du da bei viel leicht Ge sell schaft?«<br />
Sie zö ger te kurz, ihr Ge sicht wirk te plötz lich verschlos<br />
sen, als hät te Frank mit sei ner Fra ge Tü ren verrie<br />
gelt. »Nein«, sag te sie. »Das ist eine Sa che, die ich allein<br />
hin ter mich brin gen muss.«<br />
Er nahm ei nen Schluck. »Ich habe dir für mor gen<br />
Nach mit tag ei nen Ter min ver ein bart«, wech sel te er das<br />
The ma. Er hat Rou ti ne im Weg schal ten, Ab dre hen,<br />
Um len ken, dach te sie. Er wuss te im mer, wann es genug<br />
war, hat te es im mer ge wusst.<br />
»Und wer ist es?« Sie hat te jetzt ihre Ge schäftsstimme.<br />
»Diese Frau, die Pro ble me mit ih rem Chef hat. Und<br />
nächs te Wo che hast du das Se mi nar in der Com pu terfir<br />
ma.«<br />
Sie lä chel te wie der, wie zur Pro be. »Manch mal fra ge<br />
ich mich wirk lich, wie ich an de ren Leu ten hel fen soll,<br />
ihre Pro ble me zu lö sen, wäh rend ich an mei nen herum<br />
kaue.«<br />
»Das ist ein al tes The ma bei dir.«<br />
»Bit te, Frank, fang jetzt nicht da mit an.«<br />
»Ich hör schon auf.«<br />
»Ich kann mich ein fach so schwer auf die Ar beit konzen<br />
trie ren.«<br />
»Viel leicht soll test du mal eine Aus zeit neh men.«<br />
Aus zeit, dach te sie – die Jetzt-Zeit aus schal ten.<br />
Frank fing ih ren ent leer ten Blick auf und goss ihr noch<br />
ein Glas Wein ein. Sie trank es in ei nem Zug aus.<br />
19
3<br />
»Mir ist da et <strong>was</strong> pas siert«, hat te Leo ge sagt. An die sem<br />
Abend vor zwei Mo na ten.<br />
Sie sa ßen im Wohn zim mer. Ge sine auf dem Sofa, er<br />
im Ses sel ihr ge gen über. Auf dem Plat ten spie ler lief<br />
Miles Da vis. Die Ti tel mu sik zu Fahr stuhl zum Scha fott,<br />
die sem Film mit Jeanne Moreau, in dem lau ter Miss -<br />
verständ nis se in die Ka ta stro phe füh ren. Exis ten zia lismus<br />
von sei ner schwär zes ten Sei te, sag te Leo im mer.<br />
Er lieb te die sen be harr lich lau ern den Jazz, in des sen<br />
Ton fol gen so et <strong>was</strong> wie Un er bitt lich keit zu lie gen<br />
schien. Die Schall plat te ar bei te te sich ge ra de an ei nem<br />
Krat zer ab. Leo moch te kei ne CD-Player. Das sei nur<br />
et <strong>was</strong> fürs Auto, sag te er im mer. Rich tig Mu sik hö ren<br />
kön ne man nur ana log. Ge sine gab ihm recht, über die<br />
ir ri tier ten Bli cke ih rer Freun de amü sier ten sie sich gemein<br />
sam.<br />
Sie sah von ih rem Buch hoch. »Was denn?«, frag te sie.<br />
Sie ließ sich un gern beim Le sen stö ren. Das wuss te er<br />
doch.<br />
Er leg te sei ne Zei tung zur Sei te. Seit ei ner gu ten<br />
20
halben Stun de hat te er im Feuil le ton ge le sen. Ohne<br />
um zu blät tern.<br />
»Ge sine, wir müs sen re den.«<br />
»Das tun wir doch ge ra de. Aber viel leicht hat es auch<br />
noch Zeit bis spä ter …«<br />
»Nein«, un ter brach er sie. »Hat es nicht.«<br />
Et <strong>was</strong> in sei nem Ton fall ließ sie auf hor chen. Es klang<br />
so an ders, so gar nicht nach Leo. Sie leg te ihr Buch neben<br />
sich und sah ihn an. »Also«, sag te sie, be müht, ihre<br />
Stim me gleich mü tig klin gen zu las sen. Es ge lang ihr<br />
nicht. »Wor über willst du mit mir re den?«<br />
»Ich habe eine Frau ken nen ge lernt. Und ich möch te<br />
mit ihr zu sam men le ben.«<br />
Ge sine griff wie in stink tiv nach ih rem Rot wein und<br />
nahm ei nen viel zu gro ßen Schluck. Als könn te sie seinen<br />
Satz da mit ver dün nen. Sie lach te. Das La chen<br />
klirr te wie dün nes Glas. »Bit te, sag, dass das nicht wahr<br />
ist.«<br />
»Es ist wahr.«<br />
»Aber wer …?«<br />
»Sie ar bei tet seit ei nem hal ben Jahr als Prak ti kan tin<br />
in mei nem Res sort. Sie heißt Jule. Vor drei Mo na ten<br />
sind wir zu sam men es sen ge gan gen; du warst in Ber lin<br />
an dem Abend. Es ist ein fach ge sche hen. Ich dach te, es<br />
gibt sich wie der. Aber ich lie be sie.«<br />
Ge sine war te te auf Trä nen. Sie ka men doch sonst so<br />
schnell und bei nich ti ge ren An läs sen. Aber ihre Au gen<br />
blie ben tro cken. Wie ihr Mund. Sie trank noch ei nen<br />
Schluck Wein. Er schmeck te bit ter. Schmeck te nach<br />
Tan nin. »Prak ti kan tin … Leo, aus ge rech net du! Äl te rer<br />
Mann nimmt sich jün ge re Ge lieb te. Du, du …« Sie<br />
such te nach pas sen den Wor ten, doch es gab kei ne.<br />
»Du hasst doch Kli schees«, stam mel te sie schließ lich.<br />
21
»Es ist nicht das, wo nach es aus sieht.«<br />
»Ach, und <strong>was</strong> ist es dann?«<br />
»Ich sag te es schon: Es ist Lie be.«<br />
»Aber, wir, wir lie ben uns doch, Leo. Was ist da mit?<br />
Das kann doch nicht auf ein mal ein fach so auf hören …«<br />
»Du wirst mir im mer viel be deu ten …«<br />
»Lass das«, schrie sie auf ein mal. Er zuck te zu sammen,<br />
doch sie wur de noch lau ter. »Ver scho ne mich mit<br />
sol chen Sät zen. Das ist wie in ei nem schlech ten Film.<br />
War um, Leo? War um?«<br />
»Ge sine, mir fällt es auch nicht leicht.«<br />
»Merkst du ei gent lich nicht, wie du eine Wort hül se<br />
nach der an de ren pro du zierst?« Ihre Stim me überschlug<br />
sich.<br />
Er such te ih ren Blick. Ver geb lich. »Manch mal ist das<br />
Le ben so … so schlicht«, flüs ter te er fast.<br />
Die Plat te war zu Ende, aber sie dreh te sich wei ter;<br />
man hör te nur noch das Lau fen der Na del auf den Rillen<br />
und zwi schen drin ein lei ses Kna cken. Kei ner von<br />
bei den stand auf.<br />
»Wie alt ist sie?«, frag te Ge sine, be müht, mit ei ner<br />
nüch ter nen Fra ge we nigs tens wie der ei nen Zip fel ih rer<br />
Fas sung zu rück zu ho len.<br />
»Neun und zwan zig.«<br />
»O mein Gott, Leo. Tu mir das nicht an.«<br />
»Ich weiß, wie schwer das für dich ist …«<br />
»War um hast du nie mit mir ge re det? Kein Wort hast<br />
du zu mir ge sagt. Seit drei Mo na ten be trügst du mich<br />
jetzt schon und hast die gan ze Zeit so ge tan, als sei<br />
nichts. Wir wa ren so gar noch zu sam men in Frank reich.<br />
In un se rem Haus …«<br />
»Ich habe im mer ge hofft, es hört wie der auf. Wie eine<br />
schwe re Grip pe, die man ir gend wann über stan den hat.<br />
22
Des halb habe ich dir nichts ge sagt. Ich … ich woll te dir<br />
nicht weh tun.«<br />
»Aber das tust du.«<br />
»Ich weiß. Aber ich und Jule …«<br />
»Bit te nen ne die sen Na men nicht mehr!«<br />
»Also gut, wir ha ben et <strong>was</strong> mit ein an der, das so frisch,<br />
so un be schwert, so jung ist. Ich weiß, dass ich dar auf<br />
nicht ver zich ten will. Ich will diese Frau, Ge sine.«<br />
»Und <strong>was</strong> ist mit uns?« Jetzt ka men sie doch, die<br />
Trä nen. »Was ha ben wir?«<br />
»Muss ich dar auf wirk lich ant wor ten?« Er stand auf<br />
und schal te te den Plat ten spie ler ab. Dann setz te er sich<br />
ne ben sie, nahm ihre Hand. Sie ließ sie dort lie gen. Wie<br />
ein klei nes ster ben des Tier.<br />
»Was soll ich ohne dich tun, Leo?«, frag te sie ton los<br />
und hielt ihm ihr nas ses Ge sicht ent ge gen.<br />
»Du hast Freun de. Du hast Frank.«<br />
»Weiß er es?«<br />
»Ja, ich habe es ihm ges tern er zählt. Ich dach te, er<br />
kennt dich so gut …«<br />
»Und <strong>was</strong> hat er ge sagt?«<br />
»Nichts. Er hat mich raus ge schmis sen aus sei ner<br />
Woh nung.«<br />
»Gu ter Jun ge!«<br />
Sie lach ten auf ein mal bei de. Ein kur zes Mit ein ander.<br />
Ein Rück fall in das, <strong>was</strong> er ge ra de be en det hat te.<br />
Sieb zehn Jah re wir. Zwei samk eits-Ko kon. Vor zei gepaar.<br />
Dann rück te Ge sine von ihm ab. »Was hast du<br />
jetzt vor?«, frag te sie lei se.<br />
»Wir su chen be reits eine neue Woh nung. Wenn du<br />
es mit mir nicht mehr er trägst, kann ich das ver ste hen.<br />
Ich pa cke vor her ein paar Sa chen und zie he zu Ju… zu<br />
ihr.«<br />
23
»Und das hier?« Sie mach te eine Hand be we gung,<br />
die aus la dend sein woll te, aber müde ge riet.<br />
»Dar über re den wir spä ter.«<br />
Sie nick te.<br />
Das Schwei gen, das folg te, dau er te eine klei ne Ewigkeit.<br />
Sie wein te nicht mehr. Da war nichts mehr in ihr,<br />
nur Lee re. Ein frem des Ge fühl. Wie ein Be su cher, der<br />
ei nem un heim lich ist. Von dem man nur will, dass er<br />
schnell wie der geht.<br />
»Leo?«, frag te sie plötz lich.<br />
Er schreck te hoch. »Ja?«<br />
»Kann sie ko chen?«<br />
»Nein.«<br />
Sie schlief nicht in die ser Nacht; sie lag nur da und<br />
hör te auf sei ne Atem zü ge ne ben sich. Sie rech ne te,<br />
sieb zehn mal 365 – so vie le Näch te hat te sie ne ben ihm<br />
ge le gen. Es war eine un vor stell bar hohe Zahl. Es war<br />
ihre letz te Nacht.<br />
Zu min dest dach te sie das da mals.<br />
Ge sine mach te noch Früh stück am nächs ten Mor gen,<br />
die sem letz ten Mor gen. War um soll te sie et <strong>was</strong> las sen,<br />
das sie so vie le Jah re ge tan hat te? Sie trug den gel ben<br />
Bade mantel, den er ihr mal zu Weih nach ten ge schenkt<br />
hat te. Sie stell te Brot, But ter, Mar me la de, Ho nig und<br />
Schin ken auf das gro ße Holz ta blett. Zwei Tel ler, zwei<br />
Mes ser, zwei Tas sen. Zwei sam keit auf ei nem Früh stücksta<br />
blett. Sie woll te nicht glau ben, dass das hier das Ende<br />
war. Als die Eier an fin gen zu ko chen, sah sie auf die Küchen<br />
uhr, ein kit schi ges Teil aus weiß-blau er Email le, das<br />
sie auf ei nem Floh markt in Rou en ge fun den hat ten. Vier<br />
Mi nu ten. Sie schnitt sechs Oran gen auf und press te sie<br />
aus. Den Saft ver teil te sie auf zwei Glä ser.<br />
»Was machst du, Ge sine?«<br />
24
Sie zuck te zu sam men, ver schüt te te et <strong>was</strong> von dem<br />
Saft. »Früh stück.«<br />
»Aber hast du über haupt Hun ger?«<br />
Sie schluck te und schüt tel te den Kopf. »Nein, aber<br />
ich dach te, du viel leicht?«<br />
Er sah sie an, ein Blick aus grau en Au gen. Ein Blick,<br />
der mal alle Lie be für sie re ser viert hat te. Fast re si gniert<br />
wand te er sich zur Es pr es so ma schi ne, gab Kaf fee in<br />
den Ein satz, drück te den mit dem klei nen Me tallstamp<br />
fer fest, fes ter als nö tig, hak te den Ein satz in die<br />
Ma schi ne ein und ließ den dunk len Kaf fee in eine kleine<br />
Kan ne lau fen. Er ging zum Kühl schrank, hol te<br />
Milch her aus und füll te sie in eine Ka raf fe. Der Lärm,<br />
den das Auf schäu men ver ur sach te, tat bei den fast gut.<br />
Die Stil le da nach war umso be klem men der.<br />
Wort los trug er das Ta blett ins Ess zim mer, deck te<br />
den Tisch, goss ihr und sich den Milch kaf fee ein. Er<br />
wuss te, wel che Mi schung sie moch te.<br />
Ge sine setz te sich ihm ge gen über, zog ih ren Ba deman<br />
tel fes ter um sich, als könn te der ihr Schutz bie ten.<br />
Schutz vor Leo lo sigk eit.<br />
»Wie hast du ge schla fen?«, frag te sie lei se.<br />
»Was glaubst du?«, ent fuhr es ihm. Er schien über<br />
die Hef tig keit, mit der die Wor te her aus bra chen, selbst<br />
er schro cken.<br />
Sie zö ger te, hielt ihre Kaf fee tas se mit bei den Hän den<br />
um fasst. Es war das Ein zi ge in die sem Raum, das ihr<br />
noch eine Ah nung von Wär me gab. Sie ver such te ei nen<br />
Schluck, um gleich da nach zag haft zu pus ten. Als ob<br />
sie die sen Kloß in sich ein fach weg pus ten könn te, aber<br />
er blieb dort, wo er sich fest ge setzt hat te. Sie schluck te.<br />
»Magst du et <strong>was</strong> Brot?« Ihre Stim me war nicht mehr<br />
als ein Hauch.<br />
25
Leo igno rier te den Korb, den sie ihm hin hielt. »Was<br />
soll das, Ge sine? Du kannst doch nicht hier sit zen und<br />
so tun, als ob nichts wäre.«<br />
Sie sah ihn an, und er duck te sich fast un ter die sem<br />
Blick, der ihn so plötz lich, so un er war tet traf. Wie ein<br />
Se zier mes ser bohr te sie ihre grü nen Au gen in sei ne,<br />
leg te of fen, <strong>was</strong> er ver ber gen woll te.<br />
»Und <strong>was</strong> wäre dei ner Mei nung nach die an ge messe<br />
ne Re ak ti on?«, schrie sie auf ein mal, als hät te je mand<br />
den Laut stär ke reg ler ih rer Stimm bän der heim lich bis<br />
zum An schlag ge dreht. »Soll ich von jetzt auf gleich<br />
um schal ten? Mein Le ben weg wer fen und mir ein neues<br />
kau fen? Wie stellst du dir das vor? Du gehst mit<br />
die ser … die ser Frau ins Bett und mus terst uns ein fach<br />
aus. Sieb zehn Jah re auf die Müll hal de, in den gro ßen<br />
Schred der!«<br />
»Das, <strong>was</strong> wir zwei hat ten, wird im mer blei ben«, hielt<br />
er da ge gen. Es klang kraft los.<br />
»Ach ja«, jetzt kann te sie kein Hal ten mehr, »und <strong>was</strong><br />
ma chen wir dann mit dem gan zen Mist hier?« Mit einer<br />
aus la den den Hand be we gung feg te sie über den<br />
Tisch, er wisch te die Saft glä ser, den Mar me la de topf, die<br />
But ter scha le, die alle mit ei nem lau ten Kra chen zu Boden<br />
gin gen.<br />
Er sprang auf. »Ge sine …«<br />
Sie ant wor te te mit ei nem Wei nen, das sie so nicht von<br />
sich kann te. Es kroch aus den Tie fen ih res Kör pers empor<br />
und schüt tel te sie. Im mer und im mer mehr. Ein Erdbe<br />
ben der ma xi ma len Stär ke auf der Rich ter ska la der<br />
Ver zweiflung. Bin ich das?, frag te sie sich, wäh rend Töne<br />
aus ihr her vor bra chen, die ihr Angst mach ten, weil sie<br />
sie nicht mehr ein fan gen konn te.<br />
Sie merk te nicht, dass Leo Kehr schau fel, Be sen und<br />
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ei nen Lap pen ge holt hat te und mit den Scher ben beschäf<br />
tigt war, in die jetzt sei ne Trä nen fie len, na he zu<br />
laut los. Erst als er sich vor ihr auf rich te te, sah Ge sine<br />
das Glit zern in sei nen Au gen. Und ver stumm te.<br />
»Ist sie das wert?«, frag te sie Mi nu ten spä ter, ihre<br />
Stim me lang sam wie der er ken nend.<br />
Er stand noch im mer vor ihr, die Schau fel in der<br />
Hand. »Ich hof fe es.«<br />
»Und«, sie stock te, »<strong>was</strong> tun wir jetzt? Ich … ich<br />
habe kei ne Übung in sol chen Din gen.«<br />
»Ich pa cke ein paar Sa chen zu sam men und zie he erst<br />
mal aus«, er klär te er – und sie hör te sei nen Wor ten an,<br />
dass er ei nen lan ge vor her ge fass ten Plan for mu lier te.<br />
»Ich bin die nächs ten zwei Wo chen nicht in der Stadt,<br />
da nach re den wir dar über, wie al les wei ter geht. Mit der<br />
Woh nung und so.«<br />
»Wo bist du? Fährst du weg?«<br />
»Wir fah ren nach Grie chen land.«<br />
Das »Wir« saß. Wie ein gut pla zier ter Faust hieb. So<br />
muss te sich ein Bo xer nach ei nem K. o. füh len. Nur<br />
dass Ge sine ihre blau en Fle cke und Bles su ren nicht sehen<br />
konn te. Sie spür te le dig lich, wie tief in ihr drin nen<br />
et <strong>was</strong> zu blu ten be gann.<br />
Sie blieb auf ih rem Stuhl sit zen, wäh rend Leo das<br />
rest li che Ge schirr ab räum te. Und als er eine Stun de<br />
spä ter mit ei ner Rei se ta sche zu rück kam, saß sie im mer<br />
noch dort.<br />
Er ging zum Te le fon, wähl te eine Num mer und warte<br />
te. Er roch nach dem Eau de Toi let te, das sie für ihn<br />
aus ge sucht hat te. »Hal lo, Frank«, hör te sie ihn sa gen.<br />
Und dann: »Bit te, lass mich aus re den. Ich habe ihr al les<br />
ge sagt. Könn test du her kom men?« Es ent stand eine<br />
lan ge Pau se, ge füllt mit Franks Wor ten; eine Ah nung<br />
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von Vor wür fen kroch in die Stil le. »Ich weiß, ich weiß«,<br />
ent geg ne te Leo schließ lich, »aber ich kann nicht anders.<br />
Ich mel de mich in zwei Wo chen.«<br />
Sein »Frank kommt gleich« hör te sie kaum. Sie hör te<br />
nur das Fal len der Tür im Schloss und konn te nicht<br />
glau ben, dass sei ne Stim me nun diese Woh nung für<br />
im mer ver las sen hat te. Sein Duft hing noch im Raum;<br />
am liebs ten hät te sie ihn ein ge fan gen und kon ser viert;<br />
so roch es, wenn Lie be sich ver flüch tigt.<br />
Als Frank klin gel te, hat te sie die Fens ter ge öff net und<br />
die Bet ten ab ge zo gen und sei ne nas sen Hand tü cher<br />
zu sam men mit den La ken in die Wasch ma schi ne<br />
ge ge ben. Ir gend et <strong>was</strong> muss te sie ja schließ lich tun.<br />
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