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StudienVerlag - Oapen

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Niveau derer standen, die bei Gericht dem Kriegsverweigerer aus Gewissensgründen<br />

entgegengeschleudert werden? Und auch in Zweigs Kunst des Scheidens mag<br />

eine große und feine Tapferkeit gelegen haben. Zwei Tage vor seinem Tod bekam<br />

ich von ihm einen Brief, eben den, welchen ich zu spät beantwortete. Er schrieb in<br />

dem ihm eigenen, ein wenig unbeholfenen Englisch. Ich entnehme seinem Brief die<br />

folgenden Zeilen: „Mein lieber Freund, wie hasse ich mein Alter und den sinnwidrig<br />

tückischen Umstand, daß ich in keiner zweiten Sprache zu schreiben vermag und<br />

daher nutzlos bin! Und daß ich unseligerweise nicht imstande bin, „to beware of<br />

pity“, das Erbarmen in mir abzutöten. Wie im ersten Weltkrieg überwältigt mich<br />

das Elend von Millionen Unschuldiger. Nichts schmerzt mich mehr, als daß man<br />

jahrelang machtlos gegen die Dummheit der Politiker war und nun hilflos deren<br />

Folgen gegenübersteht. Lieber Freund, wir wollen uns nichts vormachen. Die Nachkriegswelt<br />

wird der früheren kaum mehr gleichen, und ich habe das Gefühl, daß<br />

ich aufbewahren muß, was in Wirklichkeit gar nicht mehr besteht – daß ich nichts<br />

mehr weiter sein soll als ein Zeuge. Es muß jeder für sich wissen, wie weit er gehen<br />

kann: das Beste, das ich tun kann – ich weiß es – ist, mir selbst treu bleiben, sogar<br />

auf die Gefahr hin, als ein seltsames Überbleibsel einer anderen Zeit angesehen zu<br />

werden. Auch habe ich erkannt, daß mir das Talent zur Propaganda oder irgend<br />

einer Art öffentlicher Zurschaustellung fehlt. Ich bin nicht vermessen genug, meine<br />

persönliche Überzeugung auf den Rang gültiger Gewißheit erheben zu wollen. So<br />

kann ich nichts anderes tun, als recht ruhig und bescheiden in diesem Dörfchen<br />

zu leben – und zu warten.“<br />

Dabei will ich es belassen. Adieu, Stefan Zweig.<br />

Der gedruckte Aufsatz ist mit einer redaktionellen Anmerkung versehen. „Gekürzt<br />

mit Wissen des Autors. Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Neumann“; das<br />

Original-Konzept ist nicht erhalten.<br />

„Beware of Pity“ ist der englische Titel von Zweigs Roman „Ungeduld des Herzens“.<br />

Zum „Luftpostbrief“ siehe in diesem Band den Brief an Stefan Zweig vom 21.2.1942.<br />

Zweigs letzter Brief an RN ist mit „Petropolis, 6.1.42“ datiert; er umfasst drei dicht<br />

beschriebene handschriftliche Seiten. Dieser Umfang und insbesondere der persönliche<br />

bekenntnishaft-bilanzierende Inhalt unterscheiden ihn deutlich von den eher<br />

lakonischen früheren Briefen Zweigs. Die von RN zitierten „Zeilen“ sind in äußerst<br />

geraffter Form (wenn auch nicht in der Textfluss-Abfolge) diesem Brief entnommen.<br />

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