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StudienVerlag - Oapen

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Die Rahmenhandlung schildert den Versuch einiger Dutzend Europäer und<br />

Amerikaner in der Neujahrsnacht „voriges Jahr“, auf einem Schiff dem „Unglück“<br />

zu entkommen:<br />

„– das war der große Bruderkrieg der Chinesen, in dem die von den<br />

Sowjets aufgerufenen Völker des Südens und die von England bezahlten<br />

Nordtruppen seit bald zehn Jahren einander zerfleischten – und noch heute<br />

zerfleischen, wobei es nicht selten vorkommt, daß den neunmal weisen<br />

Drahtziehern ihr Schnurwerk entgleitet […]. So erwachten eben auch<br />

damals die planvoll aufgezogenen Puppen zu einem höchst eigenwilligen<br />

Sonderleben, ihnen galt nicht mehr die von Moskau gepredigte Weltrevolution,<br />

sie scherte nicht mehr die von London finanzierte nationale Idee,<br />

denn hüben und drüben waren schließlich die Horden für Brüderlichkeit.“<br />

(„Espérance“, 7/8)<br />

Im Bauch des Schiffs – unterhalb eines Maskenballs am Deck – werden hunderte<br />

chinesische Kulis und kommunistische Aufständische gefangen gehalten, die<br />

schließlich meutern. Tage später, am 3. Jänner, treibt das (funktionstüchtige) Schiff<br />

in einen Hafen, doch alle 495 Personen an Bord sind spurlos verschwunden, was<br />

aus ihnen geworden ist, „hat man niemals erfahren“.<br />

Qualität und Reiz der Erzählung erwachsen weniger aus diesem Abenteuer-Rahmen<br />

als aus den raffinierten Brechungen von textinterner „Realität“ und textinterner<br />

„Fiktion“ sowie aus der Variation der Erzähler-Passagiere und ihrer „Anekdoten“,<br />

die das Thema von Täuschung und Selbst-Täuschung umkreisen: Chaplin scheitert<br />

in einem Wettbewerb von Chaplin-Doubles; Boccaccio und Casanova verpassen als<br />

Erzählende ihre unmittelbaren Situationsziele; der „Fremde“ erklärt als „Philosoph“<br />

Geld zur „Wirklichkeit an sich“ und jagt einer Schatzgräberillusion nach; der US-<br />

Journalist Bogenbolz wird entlassen, weil er „einmal“ Wahres, ein Nicht-Attentat<br />

auf Lenin, meldet; der erfolglose Dichter Siebenhals wird Opfer seines Passes, den<br />

er einem Selbstmörder entwendet hat; Kyritz fürchtet, eines Mordes bezichtigt zu<br />

werden, legt falsche Spuren und wird eben dadurch als Mörder verurteilt. (Einige<br />

dieser Motive hat RN in späteren Romanen – in „Blind Man’s Buff “ und in „Die<br />

dunkle Seite des Mondes“ – in leicht gewandelter Form wiederverwertet.)<br />

Nochmals U. Scheck: „Das Schiff ‚Espérance‘ ist ein Glanzstück Neumannscher<br />

Mehrbödigkeit, Verwandlungskunst und grotesker Phantastik. Auch die zeitgenössische<br />

Kritik hat das Buch als eine von Neumanns reifsten Schöpfungen gelobt, ja<br />

als ‚Geniestreich‘.“<br />

Verkaufserfolge werden die – literarisch wenig ambitionierten – Gelegenheitsarbeiten:<br />

„Panoptikum. Bericht über fünf Ehen aus der Zeit“ und „Passion. Sechs<br />

Dichter-Ehen“ (beide 1930). Einige der – teils dialogischen – dokumentarischen<br />

Fiktionen über Shelley, Strindberg, Dostojewski, Goethe, Byron und Balzac übersetzt<br />

RN 1958 in das Hörspiel „Dichterehen“. Übrigens nähert sich RN den Porträtierten<br />

sehr respektvoll und keinesfalls parodistisch; dies sei erwähnt, da der<br />

Völkische Beobachter Jahre später, am 31.12.1938 (!), einen Hetzartikel unter der<br />

Überschrift „Aus Passion ins Panoptikum“ der „jüdischen Asphaltpflanze“ RN als<br />

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