245/8 82 Samstag/Sonntag, 20/21. Oktober 1984 Nr. 245 WOCHENENDE 91euc
Since 3iiid|tr ;!ciüiii.n WOCHENENDE 245/83 SuniUg/SonnUg, 20./21. Oktober 1984 Nr. 245 83 war er unglücklich wie die Volksseele, weil er das Unsichtbare und die blauen Blumengerüche fürs «Eigentlichere» als die Stahlerzeugung hielt. So schwankte er zwischen Kunst und Kanonen, was aus seinem Staat - Michael Stürmer hat in einem tiefschürfenden Buch die politische Geschichte dieser Epoche auf die richtige Formel gebracht - ein «ruheloses Reich» machte. Das beherrschende Element seines Charakters war eine provokante, unberechenbare Unruhe. Er wollte immer im Mittelpunkt stehen, Stil und Stimmung prägen. Stets in Bewegung, vielfach auf Reisen, hielt er lärmende Reden - entschlossen, Härte zu zeigen, als Prototyp männlicher Kraft zu erscheinen. Sein Leben war eine sorgfältige Maskerade; in Wahrheit zeigt er weibliche Züge, hatte eine zarte Gesundheit, eine überempfindliche Seele; er war insgesamt nervös wie ein eingeschlossenes Tier, quengelig, «ruhig wie Espenlaub» (Isabel V. Hüll). Die Defizite seiner Erziehung waren für seine seelische Entwicklung von grosser Bedeutung: Das bedrückende Verhältnis zu den Eltern, die überstrengen und verkrampften Erziehungsmethoden des Geheimrates Hinzpeter, der Minderwertigkeitskomplex, den er auf Grund seines seit Geburt verkrüppelten linken Armes empfand (während er doch ganz aufs Männlich-Soldatische hin erzogen wurde). Walther Rathenau meinte, nicht einen Tag lang hätte Deutschland regiert werden können, wie es regiert worden ist, ohne die Zustimmung des Volkes. Und in der Tat: Dieser Mann, der in glitzerndem Kostüm, ordensbehängt, mit wehendem Helmbusch kreuz und quer durch sein Land jagte, dieser schwadronierende Imperator, der sich als beifallsumrauschter Volksführer feiern liess, zugleich ein äusserst sensibler, vielseitig interessierter, den" Umgang mit bedeutenden Persönlichkeiten aus allen Lebenssphären suchender Landesherr, der im Grunde seines Herzens lieber ein Künstler geworden wäre - diese ambivalente Persönlichkeit entwickelte, wie Nicolaus Sombart herausstellt, den Führungsstil einer modernen Massengesellschaft. Mehr Propagandist als Dynast, hatte er den Ehrgeiz, das darzustellen, was die Mehrheit des Volkes wünschte: Macht, Grösse, Glanz. «Ein dekoratives Talent, ohne Zweifel», bemerkte Thomas Mann. Friedrich Nietzsche, der so sehr an der Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches litt, hätte von Wilhelm II. sagen können: il est une nevrose. Er sagte es aber von Richard Wagner. «Leidend und gross wie das Jahrhundert, dessen vollkommener Ausdruck sie ist, das neunzehnte, steht die geistige Gestalt Richard Wagners mir vor Augen. Physiognomisch zerfurcht von allen seinen Zügen, überladen mit allen seinen Trieben, so sehe ich sie, und kaum weiss ich die Liebe zu seinem Werk, einem der grossartig fragwürdigsten, vieldeutigsten und faszinierendsten Phänomene der schöpferischen Welt, zu unterscheiden von der Liebe zu dem Jahrhundert, dessen grössten Teil sein Leben ausfüllt, dies unruhvoll umgetriebene, gequälte, besessene und verkannte, in Weltruhmesglanz mündende Leben.» Bei der Beschäftigung mit dieser Zeit sei ihm immer wieder in Erinnerung gekommen, dass wir uns zum 19. Jahrhundert wie Söhne zum Vater, voller Kritik, verhielten. «Wir zucken die Achsel über seinen Glauben sowohl, der ein Glaube an Ideen war, wie über seinen Unglauben, das heisst seinen melancholischen Relativismus. Seine liberale Anhänglichkeit an Vernunft und Fortschritt scheint uns belächelnswert, sein Materialismus allzu kompakt, sein monistischer Weltenträtselungsdünkel ausserordentlich seicht. Und doch wurde sein wissenschaftlicher Stolz kompen- isrms siert, ja überwogen von seinem Pessimismus, seiner musikalischen Nacht- und Todverbundenheit, die es wahrscheinlich ein- Fidus: Tempel der eisernen Krone, 1899. Mythische Fluchtburg für die im «Psychodrom des Kapitalismus» verkümmerten Gefiihle. Thomas Theodor Heine: Serpentinentänzerin (1900). Der Protest des Jugendstils richtet sich gegen eine durch Technik und Industrialisierung entzauberte Welt. Fidus (eig. Hugo Höppener): Menschenpaar 1910. Mit seinem Kult des schönen, starken Lebens befriedigte der Künstler vor allem kleinbürgerliche Sehnsüchte. ADER Josef Hefter, Reichenberg Das Fahrrad war ein Vehikel, das den Menschen zur Arbeit und in der Freizeit beförderte: es transportierte auch ein neues Gefühl weiblicher Emanzipation. Prinzips; von den Qualen irdische n Verhaftetseins ist er unberührt; er redet laut, salopp und gutgelaunt, wie ein Mann, dessen Verdauung sich in so guter Ordnung befindet wie seine Börse; er ist mittelgross, breit, stark und kurzbeinig und besitzt ein volles, rotes Gesicht mit wasserblauen Augen, die von hellblonden Wimpern beschattet sind, geräumigen Nüstern und feuchten Lippen. Er liebt es, viel und gut zu speisen und zu trinken, zeigt sich als ein wirklicher Kenner von Küche und Keller. Dass er auch anderen irdischen Freuden nicht abhold ist, beweist er, indem er mit dem Stubenmädchen in ziemlich unerlaubter Weise scherzt. In «Einfried» kann er nicht lange verweilen; Pflichten von grosser Wichtigkeit, sein blühendes Kind, sein ebenfalls blühendes Geschäft rufen ihn in die Heimat zurück. - Gabriele Klöterjahn dagegen ist von unsäglicher Zartheit, Süssigkeit, Mattigkeit. Ihr lichtbraunes Haar, tief im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst, ist glatt zurückgestrichen, und nur in der Nähe der rechten Schläfe fällt eine krause, lose Locke in die Stirn, unfern der Stelle, wo über der markant gezeichneten Braue ein kleines, seltsames Äderchen sich blassblau und kränklich in der Klarheit und Makellosigkeit dieser wie durchsichtigen Stirn verzweigt. Es tritt sichtbar hervor, wenn sie Klavier spielt. Und spielt sie, so transzendiert ihr lädiertes Leben in Sphären, wo Schwerkraft ihre Einwirkung verliert. Höhepunkt der Novelle ist der Augenblick, da Gabriele dem Mitpatienten Spinell, Schriftsteller, seelenverwandt, den zweiten Aufzug von Wagners «Tristan» vorspielt. «. ..O, sink hernieder, Nacht der Liebe, gib ihnen jenes Vergessen, das sie ersehnen, umschliesse sie ganz mit deiner Wonne und löse sie los von der Welt des Truges und der Trennung! Siehe, die letzte Leuchte verlosch! Denken und Dünken versank in heiliger Dämmerung, die sich welterlösend über des Wahnes Qualen breitet. Dann, wenn das Blendwerk erbleicht, wenn in Entzücken sich mein Auge bricht: Das, wovon die Lüge, des Tages mich ausschloss, was sie zu unstillbarer Qual meiner Sehnsucht täuschend entgegenstellte - selbst dann, o Wunder der Erfüllung! selbst dann bin ich die Welt. - Habet-Acht-Gesang je- Und es erfolgte zu Brangänens dunklem ner Aufstieg der Violinen, welcher höher ist als alle Vernunft.» Der Traum - kein Leben mehr. Todeserwachen, wenn das Leben stirbt, die Realität versinkt. Die Epoche offenbart sich in ihrer Tiefenschicht durchs musikalische Gesamtkunstwerk, das mal stärker kennzeichnen wird als alles andere.» Mag das in manchem zu positiv eingefärbt sein, mögen die aus den Widersprüchlichkeiten der Epoche aufsteigenden Verdrängungen in ihrer fatalen sozialpathologischen Wirkung zu gering eingeschätzt werden - Thomas Mann hat in diesem Zitat, den Essay «Leiden und Grösse Richard Wagners» eröffnend, leitmotivisch angeschlagen, was die <strong>Kultur</strong> des Wilhelminismus durchzieht. Für Peter Wapnewski (Thomas Manns «Aufzählung» fortführend und ergänzend) ist das Jahrhundert Richard Wagners das Jahrhundert der Revolution und Restauration; das Jahrhundert der grossen Prospekte und Maschinen; das Jahrhundert des Materialismus und des Materials; das Jahrhundert der Toterklärung Gottes; das Jahrhundert des Dramas; das Jahrhundert des Bürgers Überhebung; und seiner das Jahrhundert des grossen Pomps, der hohen Pose, der schimmernden Wehr; das Jahrhundert der Nationen und ihrer schneidigen Hoffart; das Jahrhundert der sozialen Frage; das Jahrhundert der Redouten und Paraden, der Soirees, des Bai pare, der grossen Selbstrepräsentation; das Jahrhundert der lähmenden Schwermut und sanften Melancholie, der verlorenen Hoffnungen, der preisgegebenen Ideale; das der Drogen, der verselbständigten Schönheit; das Jahrhundert der Angst, vor allem der Todesangst, die nunmehr ohne Gott bewältigt werden sollte; das Jahrhundert, das sein Ende meinte, wenn es vom Ende eines Jahrhunderts sprach: Fin de siede . . In Thomas Manns Novelle «Tristan» (1903) bringt Herr Klöterjahn, Grosskaufmann (in Firma A. C. Klöterjahn & Komp.), seine Gattin in ein Schweizer Lungensanatorium («Einfried»). Klöterjahn ist eine naive Verkörperung des materialistischen Die Salonkunst der Zeit ist voller süsslicher Genreszenen, die von der Wirklichkeit abzulenken suchen («Ballgeisterchen», von Ch. Morin, 1905). Oskar Kokoschka: Zeichnung (um 1908) zum Drama «Mörder, Hoffnung der Frauen», das die Polarität der Geschlechter auf hymnisch überhöhte Weise darstellt. <strong>Neue</strong> <strong>Zürcher</strong> <strong>Zeitung</strong> vom 20.10.1984