Ansiehten wilhelminischer Kultur - Neue Zürcher Zeitung
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WOCHENENDE<br />
24^/81<br />
Samstag/Sonntag, 20/21. Oktober 1984 Nr. 245 81<br />
Wilhelm II. (erster von links) begibt sich mit seinen Söhnen zur Neujahrsparade (1914). Das «unruhige Reich» dieses sensiblen, auf Pose und Pomp ausgerichteten Herrschers steuerte dem furchtbaren Untergang zu.<br />
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<strong>Ansiehten</strong> <strong>wilhelminischer</strong> <strong>Kultur</strong><br />
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Die Szene könnte von Arnold Böcklin gemalt sein: Ein weisses<br />
Kirchlein zwischen rabenschwarzen Zypressen, in dessen<br />
gelblichem Turm eine vom Alter grüne Glocke hängt. «Sie klingt<br />
von der Liebe, die nicht von dieser Welt. Aber sieh schärfer hin.<br />
Das Kreuz, das von der Kuppel ins uferlose Wunderblau sich<br />
reckt, läuft oben in eine lange, verdächtige Spitze aus. Ein Blitzableiter.<br />
Die doppelte Versicherung der neuen Zeit: über dem<br />
Kreuz der Mystik der metallene Schaft, der den Himmelsstrahl<br />
bändigt mit der Erkenntnis der Physik, der Wissenschaft...<br />
Mag die alte grüne Glocke rufen, wenn die schwarze Wetterwolke<br />
sich wie ein Raubvogel auf diese freie Höhe wirft und mit<br />
glühenden Fängen krallt ... der Blitzableiter ist stärker - er ist<br />
das Kreuz unserer Zeit.»<br />
Von Hermann Glaser<br />
Das Zitat kann Schlüssel sein für einen wichtigen Bereich der<br />
wilhelminischen <strong>Kultur</strong>: nämlich ihre Technik- und Fortschrittsgläubigkeit,<br />
die sich aber die Hintertür «irrationale<br />
r<br />
Versicherung»<br />
schon auch noch offen hält; der Blitzableiter ist stärker -<br />
aber das Kreuz will man deshalb nicht «abmontieren». Mythologische<br />
Beschwörung und technologische Rationalität, Romantik<br />
und Elektrizität gehen Hand in Hand. In seinem Roman<br />
«Der Mann ohne Eigenschaften» charakterisiert Robert Musil<br />
die hier Paul Arnheim genannte Persönlichkeit Walther Rathenaus<br />
- eines führenden «Aktivisten» der kapitalistischen Wirtschaftsordnung<br />
(u. a. war er Präsident der AEG) - als eine «Vereinigung<br />
von Kohlenpreis und Seele». Die zitierte Kernstelle<br />
steht im Vorwort eines Buches, das zu den berühmtesten seiner<br />
Zeit gehörte - in Wilhelm Bölsches dreibändigem Werk «Das<br />
Liebesleben in der Natur» (1898-1902); der Verfasser von Romanen<br />
und volkstümlichen naturkundlichen Schriften («Von<br />
Sonnen und Sonnenstäubchen» hiess sein nächster Bestseller<br />
1903) besang rhapsodisch die verschiedenen Formen der geschlechtlichen<br />
Vereinigung, von den ihre Seligkeit bewusstlos<br />
geniessenden Eintagsfliegen bis zum hehren Menschenpaar.<br />
Überall Orgiasmus und Orgasmus - die Menschen waren Teil<br />
der kosmischen Melodie; Tabus, Prüderie, Schamhaftigkeit waren<br />
da nicht angebracht. Die Epoche des Zwielichts, der Nische,<br />
des Schnörkels, des Boudoirs, der Verführung, Verdrängung, des<br />
Geheimnisses sehnte sich im tiefsten «Zeitgrunde» nach Befreiung,<br />
Offenheit, Ekstase.<br />
Topos<br />
Berlin Friedrichstrasse. Bahnhof: «Kathedrale der Technik», Drehpunkt<br />
der modernen Stadt; Durchgangsort der Klassen und Massen.<br />
Geschichte als «Umzug»: Auf dem Weg vom Gestern, ins Morgen - einer euphorisch begrüssten und zugleic h gefürchteten Zukunft entgegen -führt man<br />
die Versatzstücke der Tradition mit sich, voller Hoffnung, sich so im Werte- Vakuum besser einrichten zu können (Schützenfestzug Frankfurt a. M.. 1887).<br />
<strong>Neue</strong> <strong>Zürcher</strong> <strong>Zeitung</strong> vom 20.10.1984
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82<br />
Samstag/Sonntag, 20/21. Oktober 1984 Nr. 245<br />
WOCHENENDE<br />
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WOCHENENDE<br />
245/83<br />
SuniUg/SonnUg, 20./21. Oktober 1984 Nr. 245 83<br />
war er unglücklich wie die Volksseele, weil er das Unsichtbare<br />
und die blauen<br />
Blumengerüche fürs «Eigentlichere» als die<br />
Stahlerzeugung hielt. So schwankte er zwischen Kunst und Kanonen,<br />
was aus seinem Staat - Michael Stürmer hat in einem<br />
tiefschürfenden Buch die politische Geschichte dieser Epoche<br />
auf die richtige Formel gebracht - ein «ruheloses Reich»<br />
machte. Das beherrschende Element seines Charakters war eine<br />
provokante, unberechenbare Unruhe. Er wollte immer im Mittelpunkt<br />
stehen, Stil und Stimmung prägen. Stets in Bewegung,<br />
vielfach auf Reisen, hielt er lärmende Reden - entschlossen,<br />
Härte zu zeigen, als Prototyp männlicher Kraft zu erscheinen.<br />
Sein Leben war eine sorgfältige Maskerade; in Wahrheit zeigt er<br />
weibliche Züge, hatte eine zarte Gesundheit, eine überempfindliche<br />
Seele; er war insgesamt nervös wie ein eingeschlossenes Tier,<br />
quengelig, «ruhig wie Espenlaub» (Isabel V. Hüll). Die Defizite<br />
seiner<br />
Erziehung waren für seine seelische Entwicklung von<br />
grosser Bedeutung: Das bedrückende Verhältnis zu den Eltern,<br />
die überstrengen und verkrampften Erziehungsmethoden des<br />
Geheimrates Hinzpeter, der Minderwertigkeitskomplex, den er<br />
auf Grund seines seit Geburt verkrüppelten linken Armes empfand<br />
(während er doch ganz aufs Männlich-Soldatische hin erzogen<br />
wurde).<br />
Walther Rathenau meinte, nicht einen Tag lang hätte<br />
Deutschland regiert werden können, wie es regiert worden ist,<br />
ohne die Zustimmung des Volkes. Und in der Tat: Dieser Mann,<br />
der in glitzerndem Kostüm, ordensbehängt, mit wehendem<br />
Helmbusch kreuz und quer durch sein Land jagte, dieser<br />
schwadronierende Imperator, der sich als beifallsumrauschter<br />
Volksführer feiern liess, zugleich ein äusserst sensibler, vielseitig<br />
interessierter, den" Umgang mit bedeutenden Persönlichkeiten<br />
aus allen Lebenssphären suchender Landesherr, der im Grunde<br />
seines Herzens lieber ein Künstler geworden wäre - diese ambivalente<br />
Persönlichkeit entwickelte, wie Nicolaus Sombart herausstellt,<br />
den Führungsstil einer modernen Massengesellschaft.<br />
Mehr Propagandist als Dynast, hatte er den Ehrgeiz, das darzustellen,<br />
was die Mehrheit des Volkes wünschte: Macht, Grösse,<br />
Glanz. «Ein dekoratives Talent, ohne Zweifel», bemerkte Thomas<br />
Mann. Friedrich Nietzsche, der so sehr an der Exstirpation<br />
des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches litt, hätte<br />
von Wilhelm II. sagen können: il est une nevrose. Er sagte es<br />
aber von Richard Wagner.<br />
«Leidend und gross wie das Jahrhundert, dessen vollkommener<br />
Ausdruck sie ist, das neunzehnte, steht die geistige Gestalt<br />
Richard Wagners mir vor Augen. Physiognomisch zerfurcht von<br />
allen seinen Zügen, überladen mit allen seinen Trieben, so sehe<br />
ich sie, und kaum weiss ich die Liebe zu seinem Werk, einem der<br />
grossartig fragwürdigsten, vieldeutigsten und faszinierendsten<br />
Phänomene der schöpferischen Welt, zu unterscheiden von der<br />
Liebe zu dem Jahrhundert, dessen grössten Teil sein Leben ausfüllt,<br />
dies unruhvoll<br />
umgetriebene, gequälte, besessene und verkannte,<br />
in Weltruhmesglanz mündende Leben.» Bei der Beschäftigung<br />
mit dieser Zeit sei ihm immer wieder in Erinnerung<br />
gekommen, dass wir uns zum 19. Jahrhundert wie Söhne zum<br />
Vater, voller Kritik, verhielten. «Wir zucken die Achsel über seinen<br />
Glauben sowohl, der ein Glaube an Ideen war, wie über seinen<br />
Unglauben, das heisst seinen melancholischen Relativismus.<br />
Seine liberale Anhänglichkeit an Vernunft und Fortschritt<br />
scheint uns belächelnswert, sein Materialismus allzu kompakt,<br />
sein monistischer<br />
Weltenträtselungsdünkel ausserordentlich<br />
seicht. Und doch wurde sein wissenschaftlicher Stolz kompen-<br />
isrms<br />
siert, ja überwogen von seinem Pessimismus, seiner musikalischen<br />
Nacht- und Todverbundenheit, die es wahrscheinlich ein-<br />
Fidus: Tempel der eisernen Krone, 1899. Mythische Fluchtburg für die im<br />
«Psychodrom des Kapitalismus» verkümmerten Gefiihle.<br />
Thomas Theodor Heine: Serpentinentänzerin (1900). Der Protest des Jugendstils<br />
richtet sich gegen eine durch Technik und Industrialisierung entzauberte<br />
Welt.<br />
Fidus (eig. Hugo Höppener): Menschenpaar 1910. Mit seinem Kult des<br />
schönen, starken Lebens befriedigte der Künstler vor allem kleinbürgerliche<br />
Sehnsüchte.<br />
ADER<br />
Josef Hefter, Reichenberg<br />
Das Fahrrad war ein Vehikel, das den Menschen zur Arbeit und in der<br />
Freizeit beförderte: es transportierte auch ein neues Gefühl weiblicher<br />
Emanzipation.<br />
Prinzips; von den Qualen irdische n Verhaftetseins ist er unberührt;<br />
er redet laut, salopp und gutgelaunt, wie ein Mann, dessen<br />
Verdauung sich in so guter Ordnung befindet wie seine Börse; er<br />
ist mittelgross, breit, stark und kurzbeinig und besitzt ein volles,<br />
rotes Gesicht mit wasserblauen Augen, die von hellblonden<br />
Wimpern beschattet sind, geräumigen Nüstern und feuchten<br />
Lippen. Er liebt es, viel und gut zu speisen und zu trinken, zeigt<br />
sich als ein wirklicher Kenner von Küche und Keller. Dass er<br />
auch anderen irdischen Freuden nicht abhold ist, beweist er,<br />
indem er mit dem Stubenmädchen in ziemlich unerlaubter Weise<br />
scherzt. In «Einfried» kann er nicht lange verweilen; Pflichten<br />
von grosser Wichtigkeit, sein blühendes Kind, sein ebenfalls blühendes<br />
Geschäft rufen ihn in die Heimat zurück. - Gabriele Klöterjahn<br />
dagegen ist von unsäglicher Zartheit, Süssigkeit, Mattigkeit.<br />
Ihr lichtbraunes Haar, tief im Nacken zu einem Knoten<br />
zusammengefasst, ist glatt zurückgestrichen, und nur in der<br />
Nähe der rechten Schläfe fällt eine krause, lose Locke in die<br />
Stirn, unfern der Stelle, wo über der markant gezeichneten<br />
Braue ein kleines, seltsames Äderchen sich blassblau und kränklich<br />
in der Klarheit und Makellosigkeit dieser wie durchsichtigen<br />
Stirn verzweigt. Es tritt sichtbar hervor, wenn sie Klavier spielt.<br />
Und spielt sie, so transzendiert ihr lädiertes Leben in Sphären,<br />
wo Schwerkraft ihre Einwirkung verliert. Höhepunkt der Novelle<br />
ist der Augenblick, da Gabriele dem Mitpatienten Spinell,<br />
Schriftsteller, seelenverwandt, den zweiten Aufzug von Wagners<br />
«Tristan» vorspielt. «. ..O, sink hernieder, Nacht der Liebe,<br />
gib ihnen jenes Vergessen, das sie ersehnen, umschliesse sie<br />
ganz mit deiner Wonne und löse sie los von der Welt des Truges<br />
und der Trennung! Siehe, die letzte Leuchte verlosch! Denken<br />
und Dünken versank in heiliger Dämmerung, die sich welterlösend<br />
über des Wahnes Qualen breitet. Dann, wenn das Blendwerk<br />
erbleicht, wenn in Entzücken sich mein Auge bricht: Das,<br />
wovon die Lüge, des Tages mich ausschloss, was sie zu unstillbarer<br />
Qual meiner Sehnsucht täuschend<br />
entgegenstellte - selbst<br />
dann, o Wunder der Erfüllung! selbst dann bin ich die Welt. -<br />
Habet-Acht-Gesang je-<br />
Und es erfolgte zu Brangänens dunklem<br />
ner Aufstieg der Violinen, welcher höher ist als alle Vernunft.»<br />
Der Traum - kein Leben mehr. Todeserwachen, wenn das<br />
Leben stirbt, die Realität versinkt. Die Epoche offenbart sich in<br />
ihrer Tiefenschicht durchs musikalische Gesamtkunstwerk, das<br />
mal stärker kennzeichnen wird als alles andere.» Mag das in<br />
manchem zu positiv eingefärbt sein, mögen die aus den Widersprüchlichkeiten<br />
der Epoche aufsteigenden Verdrängungen in<br />
ihrer fatalen sozialpathologischen Wirkung zu gering eingeschätzt<br />
werden - Thomas Mann hat in diesem Zitat, den Essay<br />
«Leiden und Grösse Richard Wagners» eröffnend, leitmotivisch<br />
angeschlagen, was die <strong>Kultur</strong> des Wilhelminismus durchzieht.<br />
Für Peter Wapnewski (Thomas Manns «Aufzählung» fortführend<br />
und ergänzend) ist das Jahrhundert Richard Wagners das<br />
Jahrhundert der Revolution und Restauration; das Jahrhundert<br />
der grossen Prospekte und Maschinen; das Jahrhundert des Materialismus<br />
und des Materials; das Jahrhundert der Toterklärung<br />
Gottes; das Jahrhundert des Dramas; das Jahrhundert des Bürgers<br />
Überhebung;<br />
und seiner<br />
das Jahrhundert des grossen<br />
Pomps, der hohen Pose, der schimmernden Wehr; das Jahrhundert<br />
der Nationen und ihrer schneidigen Hoffart; das Jahrhundert<br />
der sozialen Frage; das Jahrhundert der Redouten und<br />
Paraden, der Soirees, des Bai pare, der grossen Selbstrepräsentation;<br />
das Jahrhundert der lähmenden Schwermut und sanften<br />
Melancholie, der verlorenen Hoffnungen, der preisgegebenen<br />
Ideale; das der Drogen, der verselbständigten Schönheit; das<br />
Jahrhundert der Angst, vor allem der Todesangst, die nunmehr<br />
ohne Gott bewältigt werden sollte; das Jahrhundert, das sein<br />
Ende meinte, wenn es vom Ende eines Jahrhunderts sprach: Fin<br />
de siede . .<br />
In Thomas Manns Novelle «Tristan» (1903) bringt Herr Klöterjahn,<br />
Grosskaufmann<br />
(in Firma A. C. Klöterjahn & Komp.),<br />
seine Gattin in ein Schweizer<br />
Lungensanatorium («Einfried»).<br />
Klöterjahn ist eine naive<br />
Verkörperung des materialistischen<br />
Die Salonkunst der Zeit ist voller süsslicher Genreszenen, die von der Wirklichkeit<br />
abzulenken suchen («Ballgeisterchen», von Ch. Morin, 1905).<br />
Oskar Kokoschka: Zeichnung (um 1908) zum Drama «Mörder, Hoffnung<br />
der Frauen», das die Polarität der Geschlechter auf hymnisch überhöhte<br />
Weise darstellt.<br />
<strong>Neue</strong> <strong>Zürcher</strong> <strong>Zeitung</strong> vom 20.10.1984
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