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AliceMiller DasGeheimnis derPsycho - Neue Zürcher Zeitung

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NZZ amSonntag<br />

Nr.8|29. September 2013<br />

<strong>AliceMiller</strong> Nominiert Brasilien Weissrussland<br />

<strong>DasGeheimnis</strong> FünfAutoren Streifzugdurch Porträtsvon<br />

<strong>derPsycho</strong>analytikerin<br />

fürSchweizer 150Jahre Swetlana<br />

Buchpreis Literatur Alexijewitsch<br />

16<br />

4/5und11 12–14 22<br />

Bücher<br />

am Sonntag


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Inhalt<br />

Wennbeim<br />

SchreinerzuHause<br />

dieTüre knarrt<br />

<strong>AliceMiller</strong><br />

(Seite16).<br />

Illustration von<br />

AndréCarrilho<br />

DieKindheitsforscherin Alice Miller (1923–2010)hat sich mitihrem<br />

Weltbestseller «Das Drama des begabten Kindes» (1979) in die Herzen<br />

vieler Eltern, Kinder,Pädagoginnen und Erzieher geschrieben. Sie<br />

beschwört die Nötedes sensiblen Kindes, das schon frühdie Erwartungen<br />

seiner Eltern spürt, sich ihnen anpasst und damiteinen Teil seiner<br />

«unerwünschten» Gefühle unterdrückt oder abspaltet. Dieses Drama hat<br />

offenbar auch Millers eigener Sohn Martin erlebt, der sich mitseiner<br />

verstörten Kindheit, den Schlägen seines Vaters und dem vergeblichen<br />

Versuch auseinandersetzt, eine emotionale Beziehungzuseiner Mutter<br />

aufzubauen. Ein Phänomen, das der Volksmund mitdem Bonmot<br />

kommentiert, dass beim Schreiner zu Hause die Türen knarren. Dass<br />

Martin Miller keine Anklageerhebt, sondern dem Kindheitstrauma von<br />

Alice Miller,ihrer Jugend im Ghetto,ihren jüdischen Wurzeln und der<br />

unglücklichen Ehe nachgeht,machteszueinem «ebenso ergreifenden wie<br />

historisch bedeutsamen Buch» (Seite 16).<br />

Im Weiteren stellen wirIhnen in dieser Nummer die fünf Nominierten für<br />

den Schweizer Buchpreis vor–mit einer Ausnahme alles Nachwuchstalente<br />

(S.4und 11). Ebenso den «Roman in Stimmen» vonSwetlana<br />

Alexijewitsch, die am 13. Oktober mitdem Friedenspreis des Deutschen<br />

Buchhandels ausgezeichnet wird (S.22).<br />

Wirwünschen Ihnen viel Lesevergnügen! Urs Rauber<br />

Belletristik<br />

4 Jonas Lüscher:Frühling der Barbaren<br />

VonRegula Freuler<br />

6 NorbertGstrein: Eine Ahnung vom<br />

Anfang<br />

VonSandra Leis<br />

7 Elizabeth Strout:Das Leben, natürlich<br />

VonSimone vonBüren<br />

8 Ayelet Gundar-Goshen: Eine Nacht,Markowitz<br />

VonKlara Obermüller<br />

Felix Krämer,Max Hollein: Hans Thoma<br />

VonGerhardMack<br />

9 AmyHempel: Die Ernte<br />

VonMartin Zingg<br />

10 Patrick Roth: Die amerikanische Fahrt<br />

VonBruno Steiger<br />

11 E-Krimi des Monats<br />

Marcus Richmann: Engelschatten<br />

VonChristine Brand<br />

Kurzkritik SchweizerBuchpreis<br />

11 HenrietteVásárhelyi: immeer<br />

VonManfredPapst<br />

Ralph Dutli: Soutines letzteFahrt<br />

VonManfredPapst<br />

Jens Steiner:Carambole<br />

VonRegula Freuler<br />

Roman Graf:Niedergang<br />

VonRegula Freuler<br />

Essay<br />

12 Die Hälftevon Südamerika<br />

GeorgSütterlin über die Literatur Brasiliens,<br />

des diesjährigen Gastlandes an der<br />

Frankfurter Buchmesse<br />

Kolumne<br />

15 Charles Lewinsky<br />

Das Zitatvon Gilbert KeithChesterton<br />

Die amerikanische Autorin AmyHempel isteine Meisterin<br />

des minimalistischen Erzählens (S. 9).<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

15 Henryk M. Broder:Die letzten Tage Europas<br />

VonUrs Rauber<br />

D. Schwegler,V.Püntener:Traum Alp<br />

VonGenevièveLüscher<br />

UweHinrichs: Multi Kulti Deutsch<br />

VonGenevièveLüscher<br />

Stephen Emmott:Zehn Milliarden<br />

VonKathrin Meier-Rust<br />

Sachbuch<br />

16 Martin Miller:Das wahre «Drama des begabten<br />

Kindes»<br />

VonKathrin Meier-Rust<br />

JIM COOPER /AP<br />

18 Ruedi Leuthold: Brasilien<br />

VonSebastian Bräuer<br />

19 MaikeAlbath: Rom, Träume<br />

VonJanika Gelinek<br />

20 Thomas Wynn, Frederick L.Coolidge: Denken<br />

wie ein Neandertaler<br />

VonGenevièveLüscher<br />

21 Bernd Roeck, Martina Stercken et al.: Schweizer<br />

Städtebilder,Urbane Ikonographien (15.–21.<br />

Jahrhundert)<br />

VonTobias Kaestli<br />

22 Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit<br />

VonIna Boesch<br />

23 GünterEbert:DieTopagentin.JohannaOlbrich<br />

aliasSonjaLüneburg<br />

VonUrs Rauber<br />

Alessandro Della Bella: Helvetia by night<br />

VonKatrin Meier-Rust<br />

24 Carolyn Abbate, Roger Parker:Eine Geschichte<br />

der Oper<br />

VonFritz Trümpi<br />

Stephen Grosz: Die Frau, die nicht lieben wollte<br />

und andere wahre Geschichten über das<br />

Unbewusste<br />

VonAnja Hirsch<br />

25 John C. G. Röhl: Wilhelm II.<br />

VonAlexis Schwarzenbach<br />

26 Nate Silver:Die Berechnung der Zukunft<br />

VonMichael Holmes<br />

Dasamerikanische Buch<br />

Adrian Miller:Soul Food: The Surprising Storyof<br />

an American Cuisine,One Plate at aTime<br />

VonAndreas Mink<br />

Agenda<br />

27 Steve McCurry: Untold. Die Geschichten hinter<br />

den Bildern<br />

VonManfredPapst<br />

Bestseller September 2013<br />

Belletristik und Sachbuch<br />

Agenda Oktober 2013<br />

Veranstaltungshinweise<br />

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung),Regula Freuler (ruf.), GenevièveLüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), ManfredPapst (pap.)<br />

StändigeMitarbeit Urs Altermatt,Urs Bitterli, ManfredKoch, GunhildKübler,Sandra Leis, Charles Lewinsky,Beatrix Mesmer,Andreas Mink, Klara Obermüller,Angelika Overath,<br />

Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans PeterHösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), KorrektoratSt.Galler Tagblatt AG<br />

Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax0442617070,E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />

29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 3


Belletristik<br />

SchweizerBuchpreis JonasLüscher istdie literarischeEntdeckung des Jahres.<br />

Sein Debüt«Frühling derBarbaren» isteine brillante Novelleüber dieFinanzkrise<br />

Mankannes<br />

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ULRIKE ARNOLD<br />

Jonas Lüscher:Frühling der Barbaren.<br />

C. H. Beck, München 2013. 125 Seiten,<br />

Fr.21.90,E-Book 14.90.<br />

VonRegula Freuler<br />

Jonas Lüscher<br />

1976 in Zürich geboren, liessJonas Lüscher<br />

sich in Bern zumPrimarlehrer ausbilden.<br />

Danach arbeiteteerinMünchen als Dramaturg<br />

und Drehbuchlektor. Es folgteein<br />

Studium der Philosophie,anschliessend<br />

arbeiteteerals Ethiklehrer.Seit Februar<br />

2011 schreibtLüscher an der ETH Zürich an<br />

seiner philosophischen Dissertation über<br />

die Bedeutung vonNarrationen für die<br />

Beschreibung sozialer Komplexität.Sein<br />

Roman «Frühling der Barbaren» istfür den<br />

Schweizer Buchpreis nominiert.<br />

DenTunesiern ist das Kamel ja gewissermassen,<br />

was uns Schweizern die Kuh.<br />

Passend zum Schauplatz seines literarischen<br />

Debüts «Frühling der Barbaren»,<br />

einer brillanten Parabel zur Finanzkrise,<br />

wählte Jonas Lüscher den behöckerten<br />

Paarhufer als Leitmotiv. Doch setzt der<br />

Schriftsteller das Vieh nicht etwa als folkloristische<br />

Kulisse ein, nein, er veranstaltet<br />

ein regelrechtes Kamel-Ragout.<br />

Zuerst wird eine ganze Herde von einem<br />

Touristenbus totgekarrt, dann muss ein<br />

Exemplar als Partyattraktion herhalten,<br />

und am Ende wird es geschlachtet und<br />

nach Survival-Rezept zubereitet.<br />

Die Hauptfigur, der Schweizer Fabrikerbe<br />

Preising, ein weltfremder Schöngeist,<br />

wird während einer Geschäftsreise<br />

Zeuge der Gemetzel. War dieses plötzliche<br />

Umschlagen von Zivilisation in Barbarei<br />

der Grund, weshalb Preising sich<br />

nun in einer psychiatrischen Einrichtung<br />

befindet, wie wir zu Beginn des Buches<br />

lesen? Wir erfahren es nicht. Stattdessen<br />

berichtet erüber die Ereignisse aus seiner<br />

Sicht, die durch eine allwissende Erzählerstimme<br />

ergänzt wird. Dazu streut<br />

der AutorKommentarevon Preisings Zuhörer<br />

ein, der Patient inderselben Anstalt<br />

ist. IhreGemeinsamkeit: Beide sind<br />

zur Passivität bestimmt –was Preising,<br />

ein Schweizer Oblomow mit Vorliebe für<br />

Tweedjacket und Manchesterhose,<br />

durchaus als Tugend auffasst.<br />

Geschmeidige Frauen<br />

Preisingist der Prototyp jenes Menschen,<br />

der sich stets aus der Verantwortung<br />

stiehlt, wiegleich zu Beginn erklärt wird.<br />

Vornicht allzu langer Zeit hat er die väterliche<br />

Firma im Seeland geerbt. Kurz<br />

darauf erfand ein Mitarbeiter, ein junger<br />

Messtechniker, ein elektronisches Bauteil,<br />

das für Mobilfunkantennen unerlässlich<br />

ist. Aus dem maroden Familienbetrieb<br />

wurde ein internationales Unternehmen<br />

mit 1500 Mitarbeitern, an der<br />

Spitzeder ehemaligeMesstechniker «zusammen<br />

mit einer Riege entschlussfreudiger<br />

Leistungsträger und Wertschöpfer».<br />

Preisings Aufgabe ist es, «Beständigkeit<br />

zuvermitteln». Dafür scheint er<br />

wie geschaffen zu sein, was der 37-jährige<br />

Autor nicht nur mit der Beschreibung<br />

von Preisings Kleidergeschmack, sondern<br />

auch mit einem ungewöhnlichen<br />

Erzählstil vermittelt. Ungewohnt altmodisch<br />

ist dieser mitseinen verschachtelten<br />

Satzkonstruktionen und der<br />

gespreizten Wortwahl –ein raffinierter<br />

Kunstgriff,mit dem der Schriftsteller uns<br />

einerseits den Protagonisten vom Leib<br />

hält und andererseits moralische Fragen<br />

aufwerfen kann, ohne moralisierend zu<br />

wirken.<br />

Lüscher setzt auf die Kraft der feinen<br />

Ironie: in absatzlangen Abschweifungen<br />

wie jenen über die Transpirationsfähigkeit<br />

von Säugetieren, insbesondere von<br />

Kamelen. Oder jenen über Roger Trinquier,<br />

Propagator der brutalen «modernen<br />

Kriegsführung», die der Autor mit<br />

der schlichten Bemerkung enden lässt:<br />

«Doch die Quelle [dieser Geschichte], so<br />

erinnertesich Preising, war zweifelhaft.»<br />

Wie Lüscher hier einer Figur nonchalant<br />

den Teppich unterden Füssen wegzieht,<br />

ist einfach köstlich zu lesen. Solche Stellen<br />

gibt es zuhauf in diesem Buch, das<br />

seitseinem Erscheinen im Januar bereits<br />

mit mehreren Preisen ausgezeichnet<br />

worden ist, auf der Longlist des Deutschen<br />

Buchpreises stand und nun ein Favoritfür<br />

den Schweizer Buchpreis ist, der<br />

am 27.Oktober vergeben wird.<br />

Wie geht esweiter mit Preising? Stehen<br />

in der Firma wichtige Entscheidungenan,<br />

wird er in die «Ferien» geschickt.<br />

Diesmal soll er nach Tunesien. Von der<br />

Tochter eines ansässigen Geschäftspartners<br />

wird er in ein Oasenresort geleitet.<br />

An dieser Stelle liest man zum ersten Mal<br />

vonder prekären Lage des englischen Finanzsystems,<br />

die wie ein Fremdkörper<br />

in den Bericht dieses Realitätsphobikers<br />

Schauplatz des<br />

Zivilisationszerfalls<br />

in der Novelle von<br />

Jonas Lüscher<br />

istein luxuriöses<br />

Oasenresortin<br />

Tunesien.<br />

4 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013


JEAN-PIERE DEGAS /LAIF<br />

erst nur hineinragt, sie dann aber schrittweise<br />

übernimmt. Preising selbst hatte<br />

erst beschlossen, die Newsmeldungen<br />

nicht weiter zuverfolgen. Im Anschluss<br />

an den eingangs erwähnten Zusammenstoss<br />

miteiner Kamelherde verkriechter<br />

sich im Auto und liest in einer <strong>Zeitung</strong><br />

von einem sich rasant ausbreitenden internationalen<br />

Chaos. Die verendenden<br />

Kamele rühren ihn allerdings weit mehr<br />

als die erzürnten Kleinanleger auf dem<br />

<strong>Zeitung</strong>sfoto, die gerade eine englische<br />

Provinzbank stürmen.<br />

Doch da erreichen Preising und seine<br />

Begleiterin auch schon das Oasenresort<br />

«Thousand and One NightResort»: weisse<br />

Zelte imPalmenhain, in der Mitte ein<br />

Natursteinpool, daneben eine exquisite<br />

Spa-Anlage. Die anderen Gäste gehören<br />

mehrheitlich zu einer 70-köpfigen Gesellschaft<br />

aus England. Unter ihnen<br />

Pippa, eine Dame in Preisings Alter,<br />

deren Bekanntschaft er baldmacht.<br />

Pippas Sohn Marc feiert hier mit<br />

Freunden und den engsten Verwandten<br />

seine Hochzeit. Seine Freunde stammen,<br />

wie Marc selbst, aus der Londoner Finanzwelt:<br />

«Cityboys» in Badehosen àla<br />

JFK und «geschmeidige» Frauen. Selbstsicher,<br />

unbekümmert, stets den Blackberryinder<br />

Hand, so ist dieses makellose<br />

Völkchen. «Selbst nahezu nackt wirkten<br />

sie wie in Uniform.» Pippa, eine Englischlehrerin,<br />

gehört einer anderen Welt<br />

an, jener «alten» Welt, in der Dinge wie<br />

ein Gedicht noch einen Wert darstellen.<br />

Ein Gedicht rezitiert sie dann auch während<br />

der Hochzeitszeremonie, doch sie<br />

strauchelt während ihres Vortrags –das<br />

Todesurteil in einer Runde von Menschen,<br />

die sich an perfekt einstudierte<br />

Präsentationen gewöhntsind. Das weitere<br />

Fest findet «in einer seltsam abgeklärten<br />

Stimmung» statt. «Getanzt wurde<br />

zugleich miteinem Übermass an Körperlichkeit<br />

und Coolness, gelacht wurde<br />

kurz und ironisch.»<br />

Leiche im Pool<br />

Doch dann kommteszur angekündigten<br />

Katastrophe. Geradezu beiläufig placiert<br />

der Autor jene Zäsur, die am Anfang<br />

einer Reihe von globalen Umwälzungen<br />

stand: «Während Preising schlief, ging<br />

England unter.» Derweil die Hochzeitsgesellschaft<br />

inmitten der Hinterlassenschaften<br />

des vorabendlichen Exzesses<br />

noch ihren Rausch ausschläft, erklärt der<br />

britische Premier den Staatsbankrott.<br />

Die Hotelmanagerin reagiert sofort, lässt<br />

das Frühstücksbuffet wieder abräumen<br />

und Kreditkarten vorsorglich belasten.<br />

Allmählich erwachen die Finanzboys<br />

und -girls, und baldschon treffen die ersten<br />

Kündigungsmails auf den Smartphones<br />

ein. Von jetzt an werden wir<br />

Zeuge einer apokalyptischen Szenerie.<br />

Denn jetzt, wo eh alles verloren ist, kennt<br />

die Jeunesse dorée keine Hemmungen<br />

mehr: Entgegen dem Verbot durch die<br />

Hotelmanagerin wird der Pool benützt.<br />

Die Scheibe des abgeschlossenen Getränkekühlschranks<br />

wird eingeschlagen,<br />

um den Alkoholnachschub zu gewährleisten.<br />

Als die tunesischen Telefongesellschaften<br />

schliesslich die Leitungen<br />

kappen –zuviel Risikobei den Roaminggebühren<br />

–, wird die Oase zur abgelegenen<br />

Insel, und man denkt unweigerlich<br />

an William Goldings Klassiker «Der Herr<br />

der Fliegen». Während draussen die Welt<br />

zum Stillstand kommt, rast hier der Zivilisationsprozess<br />

im Rückwärtsgang. Erst<br />

ein Feuer bereitet diesem Sodom und<br />

Gomorrha ein Ende. Freilich geschah<br />

dies ohne Preisings Zutun, schliesslich<br />

fand er «immer einen Grund, nicht zu<br />

handeln», selbst wenn im Pool schon die<br />

ersteLeiche schwimmt.<br />

Dass es sich bei «Frühling der Barbaren»<br />

nicht umein gewöhnliches Debüt<br />

handelt, wird einem schon nach wenigen<br />

Zeilen klar. Seit zweieinhalb Jahren ist<br />

Jonas Lüscher Doktorand am philosophischen<br />

Lehrstuhl der ETH Zürich. Er erforscht,<br />

inwiefern fiktives Erzählen zur<br />

Beschreibung komplexer sozialer Zusammenhänge<br />

wieeben der Wirtschaftskrise<br />

dient. Man kann nur sehr hoffen,<br />

dass ihn die Forschungstätigkeit zuweiterer<br />

literarischer Beweisführung beflügeln<br />

wird. ●<br />

29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 5


Belletristik<br />

Roman Wiegross istdie Mitschuld einesLehrers,wenn sein Schülerspäterauf Abwege gerät? Der<br />

österreichischeAutor NorbertGstrein suchtnachAntworten<br />

Zunah,umscharfzusehen<br />

NorbertGstrein: Eine Ahnung vomAnfang.<br />

Hanser,München 2013. 352 Seiten,<br />

Fr.31.90,E-Book 24.90.<br />

VonSandraLeis<br />

Eine Bombendrohung erschüttert eine<br />

Kleinstadt in der österreichischen Provinz:<br />

Die Attrappe ist gemäss Polizei<br />

wahrscheinlich nur ein Kinderstreich.<br />

Bedrohlicher ist ein Zettel, auf dem Botschaften<br />

zu lesen sind wie «Kehret um!»<br />

oder «Beim nächsten Mal wird es ernst!».<br />

Ein Fahndungsfoto inder <strong>Zeitung</strong> lässt<br />

die Spekulationen ins Kraut schiessen;<br />

die Anrufe bei der Polizei schnellen sofort<br />

in die Höhe. «Wir könnten die Karikatur<br />

eines Schimpansen abdrucken lassen<br />

[…] und hätten denselben Ansturm»,<br />

sagt der zuständigeInspektor.«Das Land<br />

ist voller Denunzianten.»<br />

Auch Anton, der Ich-Erzähler im<br />

Roman «Eine Ahnung vom Anfang», hat<br />

beim Betrachtendes Fahndungsfotos augenblicklich<br />

einen Verdacht: Handelt es<br />

sich um seinen ehemaligen Lieblingsschüler<br />

Daniel? Der war früher ein Einzelgängerund<br />

Buchverrückter,ein harmloser<br />

Spinner mit dem Spitznamen<br />

«Jesus», und seine Lieblingsfächer waren<br />

Mathematik und Religion. Anton interpretiertediese<br />

Kombination als «doppelte<br />

Liebe zum Unendlichen», die in den<br />

Zahlen und im Himmel ihre Erfüllung<br />

finde. Er selber unterrichtetDeutsch und<br />

Geschichte und versorgte Daniel mit Lesestoff:<br />

VonCamus bis Handke war alles<br />

dabei.<br />

Herausgefallen ausder Zeit<br />

Das Fahndungsfoto löst bei Anton eine<br />

lange Selbstbefragung aus. Er denkt zurück<br />

an den Sommer vorzehn Jahren, als<br />

Daniel die Matura ablegte und danach<br />

gemeinsam mit einem Freund immer<br />

wieder bei Anton zuGast war. Erhatte<br />

draussen am Fluss eine alte Mühle erworben,<br />

die sie gemeinsam so weit herrichteten,<br />

dass sie Schutz vor Wind und<br />

Wetter bot. Hier verbrachten sie den<br />

Sommer zu dritt, gingen baden und angeln,<br />

lasen und redeten immer wieder<br />

über den Sinn des Lebens.<br />

Im Rückblick merkt Anton, «was für<br />

ein unglaubliches Geschenk diese Wochen<br />

[…] über die Jahregeworden waren,<br />

ganz und gar herausgefallen aus der<br />

Zeit».<br />

So weit, soschön. Die Kernfrage aber<br />

treibt Anton um: Wie konnte aus einem<br />

Jungen, der mit14noch ministrierteund<br />

die Bibel als sein Lieblingsbuch bezeichnete,<br />

ein religiöser Fanatiker,javielleicht<br />

sogar ein religiös motivierter Bombenleger<br />

werden? Schlimm genug, dass er<br />

Frauen mitZitaten aus dem Hohelied bedrängteund<br />

auch Antons Freundin in die<br />

Flucht schlug, aber ein Bombenleger?<br />

Antonwar und ist Atheist –hat er ihn gerade<br />

deshalb in die Fängeeines amerikanischen<br />

Endzeitpredigers getrieben, der<br />

VomLieblingsschüler<br />

zumBombenleger?<br />

In NorbertGstreins<br />

neuem Roman geht<br />

jede Gewissheit<br />

verloren. Im Bild:<br />

Entwarnung nach<br />

der Explosion eines<br />

Koffers(Wien, 20.Juni<br />

2006).<br />

plötzlich aufkreuzte, weil sein Vater<br />

gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit<br />

einem Bomber abstürzte? Oder war es<br />

der Religionslehrer am Gymnasium, der<br />

aus Daniel unbedingt einen Priester machen<br />

wollte?<br />

Möglicherweise ist das alles kreuzfalsch,<br />

und es waren die Bücher, die Daniel<br />

aus der Bahn geworfen haben. Das<br />

mag im 21. Jahrhundert absurd klingen,<br />

doch Anton treibt die Frage nach der<br />

Wirkung von Büchern um. Sein jüngerer<br />

Bruder Robert, dem er genau wie später<br />

Daniel Bücher empfohlen hatte, hat sich<br />

vor Jahren in einer Höhle am Fluss das<br />

Leben genommen –die Gründe sind bis<br />

heute nicht geklärt. Anton notiert: «Ich<br />

kann nicht sagen, ob Robert sich aus der<br />

Welt hinausgelesen hatoder ob es genau<br />

umgekehrt war, ein vergeblicher Versuch,<br />

sich mit dem Lesen in der Welt zu<br />

halten.»<br />

ÖsterreichischesTimbre<br />

DerFluss, er ziert den Buchumschlag, ist<br />

ein Sinnbildfür Bewegungund Verwandlung,<br />

gleichzeitig steht erfür den Tod:<br />

Der Bruder und ein Onkel haben sich<br />

nahe des Flusses umgebracht, der Grossvater<br />

ist tödlich verunfallt, und am<br />

Schluss des Romans rettet der Inspektor<br />

den Erzähler aus den Fluten; Antonwollte<br />

den Fluss überqueren, doch die Strömungwar<br />

plötzlich stärker.<br />

Norbert Gstrein, 1961 geboren und in<br />

einem Berghotel in Tirol aufgewachsen,<br />

lebt heuteinHamburg. Seine österreichischen<br />

Wurzeln aber sind unverkennbar,<br />

und wenn er, wie in diesem Roman, den<br />

Mikrokosmos einer österreichischen<br />

Kleinstadt beschreibt, so macht der studierteMathematiker<br />

das mitder nötigen<br />

Präzision –erporträtiert, schält Charaktere<br />

heraus, spitzt zu oder überzeichnet.<br />

Da ist Judith, eine Klassenkameradin, in<br />

die Daniel über beide Ohren verliebt war<br />

und die sich zehn Jahre später inihrer<br />

Wohnung verbarrikadiert aus Angst, Daniel<br />

könnte ihr auflauern. Es gibt den<br />

Schuldirektor, der seine schützende<br />

Hand über Anton hält, und die Kellnerin<br />

Agata, die stets die Gerüchteküche brodeln<br />

hört.<br />

Norbert Gstrein aber will keine narrative<br />

Geradlinigkeit; Romane wie «Die<br />

englischen Jahre» (1999) oder «Das<br />

Handwerk des Tötens» (2003) spielen<br />

hochkomplex auf mehreren Ebenen und<br />

kreisen um Realität, Erinnerung und die<br />

Suche nach Wahrheit. Sigrid Löffler<br />

schreibt treffend von einer «Erzählstrategie<br />

der Verunsicherung».<br />

Im Roman «Eine Ahnung vom Ende»<br />

verliert der Erzähler sämtliche Gewissheiten:<br />

«Bei mir verfestigte sich immer<br />

mehr der Eindruck, dass ich weniger von<br />

Daniel wusstedenn je. […] Mir wärealles<br />

lieber gewesen als diese buchstäbliche<br />

Auflösungder Figur, […] ihr Verdampfen<br />

und Vernebeln in müden Weihrauchschwaden.»<br />

Ein wenig ähnlich geht es<br />

auch dem Leser dieses Romans: Er liest<br />

sich durch 350 elegant geschriebene Seiten,<br />

doch wäre das Buch um einen Viertelkürzer,könnte<br />

es konziser und richtig<br />

gut sein. ●<br />

HERBERTNEUBAUER /REUTERS<br />

6 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013


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Roman ElizabethStrouterzähltvom vertrackten<br />

Innenleben einer amerikanischen Familie<br />

Provokation<br />

inderMoschee<br />

Elizabeth Strout:Das Leben, natürlich.<br />

Deutsch vonSabine Roth und Walter<br />

Ahlers. Luchterhand, München 2013.<br />

400 Seiten, Fr.29.90,E-Book 20.–.<br />

VonSimone vonBüren<br />

Zachary Olson, eine zentrale Figur in<br />

Elizabeth Strouts neuem Roman «Das<br />

Leben, natürlich» ist «so ein ganz Stiller,<br />

der bei seiner Mutter wohnt», bei Walmart<br />

Regale einräumt und die Wände<br />

seines Zimmers schwarz gestrichen hat.<br />

Eines Tages wirft er –niemand weiss,<br />

wieso –amRamadan einen gefrorenen<br />

Schweinekopf in eine Moschee.<br />

«Genau so eine Geschichte, wie sie in<br />

Maine passiert», findet Zacharys New<br />

Yorker Tante, die abschätzig herunterschaut<br />

auf Maine, den «weissesten Staat<br />

im ganzen Land», der sich mit der Abwanderungder<br />

jüngerenGeneration von<br />

Amerikanern ebenso schwertut wie mit<br />

der Einwanderung somalischer Flüchtlinge.<br />

Der Schweinekopf-Zwischenfall<br />

hatsich tatsächlich voreinigen Jahren in<br />

Maine ereignet. In Elizabeth’ Strouts fiktiverKleinstadt<br />

bleibt er dennoch schwer<br />

nachvollziehbar.<br />

Der 19-jährige Zachary scheint weder<br />

gewieft noch aggressivgenug für die Tat.<br />

Elizabeth Strout, die schon in ihrem<br />

preisgekrönten Roman «Mit Blick aufs<br />

Meer» (erschienen bei Luchterhand<br />

2010) ihre Fähigkeit bewiesen hat, das<br />

unspektakuläre Leben einfacher Menschen<br />

literarisch zu fassen, benutzt die<br />

Episode primär als Mittel, um eine sich<br />

entfremdete Familie wieder zusammenzuführen:<br />

Denn als die Generalstaatsanwaltschaft<br />

Zachary wegen Verletzung<br />

der Bürgerrechte anklagt, schalten sich<br />

seine beiden Anwalt-Onkel ein. Sie reisen<br />

widerwillig zurück in die trostlose<br />

Kleinstadt ihrer Kindheit und in das ungeheizte<br />

Haus ihrer Schwester. Die Konflikte<br />

zwischen Polizei, Presse, Bundesanwaltschaft,<br />

Somaliern und Rechtsradikalen<br />

bilden in der Folge nur mehr den<br />

blassen Hintergrund für die alten und<br />

neuen Auseinandersetzungen zwischen<br />

den Geschwistern.<br />

Während die Brüder studiert haben<br />

und nach New York gezogen sind, ist<br />

Susan in Maine geblieben, wo sie in<br />

einem Optikergeschäft arbeitet und sich<br />

alleinerziehend um ihren verkorksten<br />

Sohn sorgt. Bob ist geschieden, trinkt zu<br />

viel und geht begleitet vom «Schatten<br />

seiner nie geborenen Kinder durchs<br />

Leben». Jim ist mit Karriere, Vorzeigefamilie<br />

und viel Geld der erfolgreiche<br />

Fixstern im Leben der anderen, die sich<br />

nach seiner Aufmerksamkeitsehnen und<br />

dabei stets enttäuschtwerden.<br />

So faszinierend Jim für seine Mitwelt<br />

zu sein scheint, so einseitig gefühlskalt<br />

und egoistisch wirkt er als literarische<br />

Figur.Elizabeth Strout, die zwischen den<br />

personalen Erzählperspektivenverschiedener<br />

Figuren hin und her wechselt, enthält<br />

uns Jims Sicht auf die Dinge konsequent<br />

vor. Sein Innenleben bleibt dem<br />

Leser und der Leserin also ebenso verborgenwie<br />

seinen Verwandten. Wieso er<br />

es auch selbst wegzuschliessen versucht<br />

und was das mit seinem Bruder zu tun<br />

hat, beginnen wirimVerlauf des Romans<br />

zu verstehen.<br />

In dieser vertrackten Familiendynamik,<br />

in alten Schuldzuweisungen und<br />

neuen Enttäuschungen, in scheinbar<br />

kleinen Verletzungen und im Lebensgefühl<br />

der Hauptfiguren, die sich in der<br />

Mitte des Lebens ertappen wie ineiner<br />

fremden Wohnung, liegt der pulsierende<br />

Kern vonStrouts Material.<br />

Und da gäbe es auch mehr als genug<br />

dramatisches Potenzial. Aber das scheint<br />

der 57-jährigen Autorin und Pulitzer-<br />

Preisträgerin nichtzugenügen. Elizabeth<br />

Pulitzer-Preisträgerin<br />

Elizabeth Strout,57,<br />

schildertKonflikte in<br />

einer US-Kleinstadt.<br />

Strout konstruiert dazu allzu angestrengt<br />

einen gesellschaftspolitischen Kontext,<br />

der trotz interessanter Bezüge zur Familiendynamik<br />

– wechselnde Machtverhältnisse,<br />

falsche Schuldzuweisungen,<br />

fehlende Perspektiven – weder besonders<br />

interessant noch nötig ist. Denn die<br />

Diskriminierungen, die sich auf der<br />

Ebene einzelner Worte einschleichen,<br />

die unausgesprochenen Ängste und die<br />

Verunsicherung, die die Figuren in der<br />

familiären Vertrautheitzur Sprache bringen,<br />

sagen mehr aus über die gesellschaftlichen<br />

Probleme als gewissenhaft<br />

recherchierte Kommentare zuRassismus<br />

und Einwanderung oder drastische<br />

Aktionen mitgefrorenen Schweineköpfen.<br />

●<br />

LEEMAGE /AFP<br />

Die nominieRten<br />

SoutineS letzte Fahrt Ralph Dutli Wallstein Verlag<br />

niedergang Roman Graf Knaus Verlag<br />

Frühling der BarBaren Jonas Lüscher C.H. BeCK Verlag<br />

CaramBole Jens Steiner Dörlemann Verlag<br />

immeer Henriette Vásárhelyi Dörlemann Verlag<br />

29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 7


Belletristik<br />

Roman DiejungeisraelischeAutorin Ayelet Gundar-Goshen erzähltdie Geschichte einer bäuerlichen<br />

Dorfgemeinschaftzwischen TelAvivund Haifa<br />

Todtraurig,aberumwerfendkomisch<br />

Ayelet Gundar-Goshen: Eine Nacht,<br />

Markowitz. Kein &Aber,Zürich 2013.<br />

432Seiten, Fr.31.90,E-Book 23.40.<br />

VonKlaraObermüller<br />

Die britische Mandatszeit ist als heroische<br />

Epoche ins historische Gedächtnis<br />

Israels eingegangen. Man war ins Gelobte<br />

Land zurückgekehrt, hatte Dörfer und<br />

Städteerrichtetund hattegekämpft nach<br />

allen Seiten, gegen die Araber, die jüdische<br />

Siedlungen überfielen, wie gegen<br />

die Briten, die den Verfolgten aus Europa<br />

die Einreise verwehrten. Am Ende jedoch<br />

hatte man gesiegt und jenen Staat<br />

gegründet, der nach Ansicht der Zionisten<br />

zur Heimstätte der Juden aus aller<br />

Welt werden sollte.<br />

Hans Thoma Malerdeutscher Idyllenwiederentdeckt<br />

Perfekterkann ein Traum vomunbeschädigten Leben<br />

wohl kaum in ein Bild finden: Kinder tanzen in einer<br />

weiten Landschaft hingebungsvoll Reigen. Die Wiese ist<br />

saftig grün, Himmel und See zeigen ungetrübtesBlau.<br />

Kein Wölkchen deutet darauf hin, dassder Deutsch-<br />

Französische Krieg und die schwierige Reichsgründung<br />

erst kurz zurücklagen, als Hans Thoma das Bild 1872<br />

malte. Der Künstler warbeliebtfür solche Idyllen. Im<br />

Schwarzwald auf einem Bauernhofgeboren, wurde<br />

er zunächstzwarwegen einfacher Herkunft und seiner<br />

naiven Darstellung vonder Kritik gescholten, bald aber<br />

als Maler einer heilen Welt gefeiert,auf die sich in der<br />

rasant industrialisiertenWelt Sehnsüchteprojizieren<br />

liessen. Vonder Erotik und Rohheit eines Gustave Courbet<br />

istauf seinen Bildern ebenso wenig zu spüren wie<br />

8 |NZZ am Sonntag |29. September 2013<br />

Über diese Zeitnun hatdie 1982 geborene<br />

israelische Autorin Ayelet Gundar-<br />

Goshen einen Roman geschrieben und<br />

dafür gleich den angesehenen Sapir-<br />

Preis für das beste Debüt 2012 kassiert.<br />

Das Buch erzählt die Geschichte einer<br />

bäuerlichen Dorfgemeinschaft irgendwo<br />

zwischen Tel Aviv und Haifa, und die ist<br />

alles andere als heroisch. Die Weltgeschichte<br />

wird zwar nicht ausgeblendet,<br />

sie ist da als ein «dumpfes Begleitgeräusch<br />

der Alltagsmelodie», doch worum<br />

es wirklich geht, das sind so banale, so<br />

allgemein menschliche Dinge wie Liebe<br />

und Leidenschaft, Zank und Eifersucht,<br />

Mutund Angst –und die Sehnsucht, einmal<br />

irgendwozuHause zu sein.<br />

Ayelet Gundar-Goshen skizziert ihre<br />

Figuren, den Irgun-Vizechef Efraim<br />

Grünberg, seine beiden Freunde Jakob<br />

vonder Brüchigkeit Arnold Böcklins. Auch wenn Hans<br />

Thoma beide als seine Anreger verehrte. Meyers<br />

Konversationslexikon nannteihn 1909 den «Lieblingsmaler<br />

des deutschen Volkes», Hitler begeistertesich für<br />

ihn. Die scheinbare Harmlosigkeit und die Deutschtümelei<br />

wurden ihm nach dem Zweiten Weltkrieg zum<br />

Verhängnis. Hans Thomas Werk wurde vergessen. Der<br />

nun vorgelegteBand will das mit kritischen Beiträgen<br />

und Abbildungen vonder Landschaftsmalerei bis zu<br />

mythologischen Szenen ändern: Hans Thoma als deutscher<br />

Pop-Star um 1900.Ein mutiger Versuch.<br />

Gerhard Mack<br />

Felix Krämer,Max Hollein (Hrsg.): Hans Thoma –«Lieblingsmaler<br />

des deutschen Volkes». Wienand, Köln 2013.<br />

160 Seiten, 139Abbildungen, Fr.44.90.<br />

Markowitz und Seev Feinberg, deren<br />

Frauen Bella und Sonja sowie die gemeinsamen<br />

Kinder Zwi, Jair und Naama,<br />

mit leichter Hand und einem ausgeprägten<br />

Sinn für Ironie. Es klingt etwas von<br />

osteuropäischer Erzählweise und deren<br />

Hang zum Skurrilen aus ihrer Art zu<br />

schreiben an. Die Autorin holt weit aus,<br />

zu weit manchmal für den auf Kürze getrimmten<br />

westlichen Zeitgeschmack,<br />

aber es gelingt ihr doch immer wieder,<br />

einen mit ihren todtraurigen und umwerfend<br />

komischen Schilderungen zu<br />

fesseln.<br />

Über die Zeit, in der die Romanhandlung<br />

angesiedelt ist, über die britische<br />

Mandatszeit, den Unabhängigkeitskrieg<br />

und die Staatsgründung, ist von einer<br />

jüngeren Historikergeneration in Israel<br />

viel geschrieben worden, viel Kritisches<br />

vor allem, und es sind in letzter Zeit<br />

immer wieder hitzige Debatten darüber<br />

entbrannt, wie das Projekt Zionismus<br />

aus heutiger Sicht zubewerten sei. Ayelet<br />

Gundar-Goshen führt diese Auseinandersetzung<br />

auf ihre Weise weiter:<br />

indem sie die Waffe der Ironie einsetzt<br />

und die heroisch verklärte Vergangenheit<br />

herunterbricht auf die Ebene des<br />

Alltäglichen. Während draussen in der<br />

Welt der Vernichtungskrieg gegen die<br />

Juden tobt und der angehende StaatIsrael<br />

sich im Innern des Landes der Angriffe<br />

der Araber erwehren muss, leben ihre<br />

Romanfiguren ihr kleines Leben, das gemessen<br />

am Weltgeschehen bedeutungslos<br />

und doch das Einzige ist, was ihnen<br />

bleibt. Sie haben den alten Kontinentmit<br />

seinen traumatischen Erfahrungen hinter<br />

sich gelassen und sich eingerichtetin<br />

der überschaubaren kleinen Welt ihres<br />

Dorfes irgendwo zwischen Tel Aviv und<br />

Haifa.<br />

Wassie wollen, ist nicht viel, ein bisschen<br />

Sicherheit, ein bisschen Ansehen,<br />

ein bisschen Glück, doch Ort und Zeit<br />

sind nicht dazu angetan, ihnen diese<br />

Wünsche zu erfüllen.<br />

Als JakobMarkowitz, der Unscheinbare,<br />

einmal in seinem Leben etwas Aussergewöhnliches<br />

wagt und zusammen<br />

mitanderen jungenMännern nach Europa<br />

reist, um verfolgten Jüdinnen durch<br />

eine Scheinehe zur Einreise nach Palästina<br />

zu verhelfen, da beginnt für ihn ein<br />

Abenteuer mit zweifelhaftem Ausgang.<br />

Er kriegt zwar die schöne Bella zur Frau,<br />

aber sie liebt ihn nicht und wird ihn nie<br />

lieben, auch nicht nach jener einen gemeinsam<br />

verbrachten Nacht, die dem<br />

Roman den Titelgegeben hat.<br />

Ayelet Gundar-Goshen lässt ihreFiguren<br />

indie Irre gehen, sie lässt sie scheitern,<br />

am Leben, an der Liebe, an den eigenen<br />

Ansprüchen, aber sie stellt sie nie<br />

bloss. Denn sie mögen sich noch so unvernünftig,<br />

noch so verbohrt verhalten,<br />

die Autorin liebt sie und hat Erbarmen<br />

mitihnen. Es ist dieser warmherzigeund<br />

zugleich ironisch gebrochene Umgang<br />

mit menschlichen Schwächen, der dem<br />

Roman dieser jungen Autorin seine besondereAnmutungverleiht.<br />


Erzählungen DieAmerikanerin AmyHempelgiltstilistisch als Minimalistin. Nunerscheinen ihre<br />

spannungsgeladenen Kurzgeschichtenauf Deutsch<br />

Momentaufnahmen<br />

vollerAndeutungen<br />

AmyHempel: Die Ernte. Erzählungen.<br />

Ausdem Amerikanischen vonJakob<br />

Jung.Luxbooks, Wiesbaden 2013.<br />

113 Seiten, Fr.21.90,E-Book 12.–.<br />

VonMartin Zingg<br />

Es ist Halloween, irgendwo inden USA.<br />

An Halloween ziehen bekanntlich die<br />

Kinder durch die Gegend und verlangen<br />

an den Haustüren Süssigkeiten, und wer<br />

nichts herausrückt, darf mit einem<br />

Streich rechnen. «Trick or treat», Streich<br />

oder Leckerbissen sind die beiden Möglichkeiten,<br />

und Kinder können durchaus<br />

ungnädig sein. Miss Locey braucht an<br />

diesem Abend vor Allerheiligen Unterstützung,<br />

denn sie kann sich nichtbewegen,<br />

sie muss liegen. Bei einer Agentur<br />

hat sie eine Frau engagiert, die den Kindern<br />

Süsses aushändigen und Saures abwenden<br />

soll – unzufriedene Kinder,<br />

fürchtetMiss Locey,könntenauf die Idee<br />

kommen, ihren Garten umzugraben.<br />

«Tiefenrausch» heisst die Geschichte<br />

von Amy Hempel, in welcher die Ich-Erzählerin<br />

von ihrem Aufenthalt bei Miss<br />

Locey berichtet. Es ist ein durchaus ereignisloser<br />

Abend, nur am Rande geht es<br />

um Süsses oder Saures. Das Gespräch<br />

plätschert so vor sich hin und dreht sich<br />

vorwiegend um Ringe, umFingerringe.<br />

Miss Locey trägt an jedem Finger mindestens<br />

einen Ring, einige hat sie ihrer<br />

Mutter abgeschwatzt, die restlichen hat<br />

sie später geerbt. Und die Ich-Erzählerin<br />

hatnur gerade einen Ring. Er erinnert sie<br />

an den Mann, den sie einst heiratenwollte,<br />

der aber kurz vor der Hochzeit beim<br />

Tauchen im Meer ertrunken ist: im Tiefenrausch.<br />

HintergründigerHumor<br />

Auf wenigen Seiten wird hier eine Welt<br />

der Gegensätze entworfen, die wohl<br />

kaum grösser sein könnten. Zugleich erfährt<br />

man nur wenig über die beiden<br />

Frauen: Das meistesteht hinterund zwischen<br />

den Zeilen, in kleinen Andeutungen.<br />

Alles andere fügt man lesenderweise<br />

hinzu. Denn Amy Hempel, das ist<br />

Teil ihrer Kunst, erzählt diese Geschichte<br />

nichtzuletzt auch dadurch, dass sie eine<br />

Menge verschweigt. Warum Miss Locey<br />

liegen muss etwa, wird beiläufig angedeutet.<br />

Ein Sportunfall. Über Anspielungengehtdie<br />

Geschichte nichthinaus.<br />

Amy Hempel ist eine amerikanische<br />

Autorin, die man nun endlich auch im<br />

deutschen Sprachraum entdecken kann.<br />

Geboren 1951, wohnhaft in New York,<br />

Verfasserin von gerade einmal vier<br />

schmalen Bänden mit Kurzgeschichten.<br />

400 Seiten, die in zwanzig Jahren entstanden<br />

sind, zwischen 1985 und 2005,<br />

und mit denen sie in den USA grosses<br />

AmyHempel arbeitet<br />

mit Gegensätzen:<br />

Leckerbissen oder<br />

Streiche?Kinder<br />

in Miami erbetteln<br />

Süsses an Halloween;<br />

erhalten sie es<br />

nicht,treiben sie<br />

Schabernack.<br />

Aufsehen erregt hat. Auf Deutsch liegt<br />

nun der Band «Die Ernte» vor, der 1990<br />

unter dem Titel «At the Gates ofthe Animal<br />

Kingdom» erschienen ist. Sechzehn<br />

Geschichtenversammelt der Band, kurze<br />

Texte, die alle etwas Skizzenhaftes<br />

haben, mit Aussparungen arbeiten und<br />

Momentaufnahmen präsentieren.<br />

AmyHempel ist eine Meisterin des minimalistischen<br />

Erzählens. Allein schon<br />

der kurze Text, der den Band eröffnet –<br />

«Anbruch des Tages», zwei Seiten lang–,<br />

zeigt das sichere Gespür, mit welchem<br />

sie schummrige, diffuse Situationen in<br />

einer höchst spannungsreichen Ambivalenz<br />

schildern kann. ZweiPaareauf einer<br />

Insel, ein Hund, der sieben Welpen geworfen<br />

hat. Es wird gegessen, geplaudert<br />

und geschnorchelt –und mit einem einzigen<br />

rätselhaften Satz ist alle Heiterkeit<br />

blamiert, steht das kleine Paradies kopf.<br />

Wirerfahren nicht, wo sich das ereignet,<br />

auch nicht: wann.<br />

Mitwenigen Strichen, die leichthingeworfen<br />

scheinen, entwirft Amy Hempel<br />

brüchige Situationen, Lebensmomente<br />

auf der Kippe. Immer wieder geht es um<br />

Verluste, erzählt wird von bedrohlichen<br />

Situationen und von Menschen, die aus<br />

dem Gesichtskreis geraten oder gar gestorben<br />

sind. Beim Versuch, die Geschichteninschlichtenund<br />

geraden Sätzen<br />

nachzuerzählen, würde das meiste<br />

wohl düster erscheinen. Aber AmyHempel<br />

hat auch einen hintergründigen<br />

Humor, den sie gegen alle Kalamitäten<br />

des Alltags aufbieten kann. «Die ersten<br />

drei Tage sind die schlimmsten, sagt<br />

man, aber es sind jetzt schon zwei Wochen,<br />

und ich warte immer noch darauf,<br />

dass die ersten drei Tage vorbei sind.» So<br />

beginnt «Du Jour», und darin geht es<br />

nichtnur um den Versuch, mitdem Rauchen<br />

aufzuhören.<br />

Es zähltjedes Wort<br />

Wer Hempels Geschichten «en passant»<br />

lesen möchte, bleibt vermutlich ohne<br />

Chance, denn die Geschichten diktieren<br />

ihr eigenes Lesetempo, sie drosseln jede<br />

Eile. Eine Lektüre, die bloss den «Inhalt»<br />

absucht, wird hier also alles versäumen.<br />

Es zählt jedes Wort. Und es lauert nicht<br />

selten die Gefahr, dass beim Übergang<br />

von der einen Ich-Erzählung in die<br />

nächstedie sehr unterschiedlichen Texte<br />

einander kontaminieren. Zudem gibt es<br />

in den Texten immer wieder kleine<br />

Anspielungen auf Filme, Fernsehserien<br />

oder Lieder aus der nordamerikanischen<br />

Kultur des vergangenen Jahrhunderts. In<br />

den Anmerkungenwerden diese nachgewiesen<br />

und erklärt, und auch darin ist<br />

JakobJung, der sich der Übersetzungmit<br />

unterschiedlicher Fortüne angenommen<br />

hat, sehr findig gewesen.<br />

Erschienen ist der Band bei Luxbooks,<br />

einem kleinen Wiesbadener Verlag, der<br />

mit grossem Mut und wohltuender Neugierde<br />

aktuelle Lyrik und zeitgenössische<br />

amerikanische Literatur herausgibt,<br />

jüngst etwa John Ashberrys legendäres<br />

Langgedicht «Flowchart /Flussbild».<br />

Luxbooks will im Abstand von jeweils<br />

zwei Jahren die drei übrigen Erzählungsbände<br />

von Amy Hempel in Übersetzungen<br />

erscheinen lassen. Man kann sich<br />

darauf freuen. ●<br />

CARLOS BARIA /REUTERS<br />

NZZ am Sonntag |29. September 2013 | 9


Belletristik<br />

Geschichten Hinreissend erzähltder deutsche Schriftsteller und RegisseurPatrick Roth von<br />

seinen Obsessionen für Filmklassiker<br />

ErleuchtungimKinosaal<br />

Patrick Roth: Die amerikanische Fahrt.<br />

Stories eines Filmbesessenen. Wallstein,<br />

Göttingen2013. 294Seiten, Fr. 28.50,<br />

E-Book 18.90.<br />

VonBruno Steiger<br />

Von1975 bis 2012 lebte Patrick Roth als<br />

Autor, Regisseur und Filmjournalist in<br />

Los Angeles. In diesem Zeitraum entstanden<br />

neben etlichen Filmen auch<br />

Hörspiele und Theaterstücke sowie ein<br />

rund 15 Titel umfassendes, vielfach<br />

preisgekröntes literarisches Werk. Aufgewachsen<br />

ist der heute 60-Jährige in<br />

Karlsruhe, wo er,einen Tagvor dem Abitur,<br />

erstmals Bekanntschaft mit dem<br />

Schaffen des amerikanischen Filmpioniers<br />

D. W. Griffith machte. Esmuss<br />

ein eigentliches Erweckungserlebnis für<br />

Roth gewesen sein; es brachte ihn dazu,<br />

unmittelbar nach Schulabschluss nach<br />

Paris zu ziehen und sich in der Cinémathèque<br />

einem autodidaktischen Filmstudium<br />

zu widmen.<br />

FürPatrick Roth ist D. W. Griffith noch<br />

jetzt «der Gott, der am Filmanfang<br />

stand». Griffith verstarb 1948 im Alter<br />

von 73 Jahren, im vorliegenden Buch<br />

sitzt er vierzig Jahrenach seinem Todam<br />

Tresen von «Musso and Frank», dem legendären,<br />

ältesten Promi-Restaurant<br />

von Hollywood, und isst «in Geisterseelenruhe<br />

sein Brot». Keiner beachtet<br />

ihn, von niemandem wird er auch nur<br />

gesehen – mit Ausnahme von Patrick<br />

Roth selber, wenn wir seiner Erzählung<br />

«Lost in Your Shadow» trauen dürfen.<br />

Und das dürfen, das wollen wir, mitnicht<br />

geringerFreude.<br />

Rückgriff aufdie Bibel<br />

Als «ultimatives Remake» bezeichnet<br />

Roth seine gespenstische Begegnungmit<br />

Griffith. «Remake» ganz allgemein ist<br />

Roths Schlüsselwort für seine Kinoerfahrungen.<br />

Der technische Terminus steht<br />

bei ihm nicht allein für die Wiederholung,<br />

die Neu- oder Zweitfassung eines<br />

Filmwerks, sondern mehr noch für eine<br />

«wahrere» Neuschöpfungunserer im steten<br />

Übergang von Gewesenem in Kommendes<br />

nie fassbaren Lebensrealität.<br />

Das Gefühl, «am Feuer des Dauerns von<br />

Zeit» teilzuhaben, ergibt sich für Roth allein<br />

im Kinosessel. Da sieht ersich eingespannt<br />

in ein unmittelbares, unverfälschtes,<br />

jedem zeitlichen Verlauf enthobenes<br />

Erleben. Er scheintdas Filmbild<br />

als eigentliche Epiphanie zu begreifen,<br />

als Offenbarung jenes ursprünglichen<br />

Geheimnisses, das wirinder Realwelt so<br />

schmerzlich vermissen. Das hat etwas<br />

entschieden Religiöses, und es erstaunt<br />

somit keineswegs, dass Roth in einigen<br />

seiner jüngsten Romane auf biblische<br />

Motive zurückgreift.<br />

Roth einen Mystiker des Films zu nennen,<br />

wäre gleichwohl verfehlt. Die kritische<br />

Nüchternheit ebenso wie die vieles<br />

offen lassende Zurückhaltung, die seine<br />

Zu seinen stärksten<br />

Passagen findet<br />

Patrick Roth, wenn<br />

er Jean-Luc Godards<br />

Film «Vivresavie»<br />

(1962;Szene mit Anna<br />

Karina) analysiert.<br />

«Stories» prägen, zeugen voneinem hellwachen,<br />

immer analytisch ausgerichteten<br />

Blick selbst da, wo sich ihm Filmund<br />

Traumbilder ununterscheidbar vermengen.<br />

Stets zeichnet sich darin Roths<br />

Sehnsucht nach einem Gefühl des Daund<br />

Dabeiseins ab, das ihm nur im Dunkel<br />

eines Kinosaals als erfahrbar erscheint.<br />

In der Feier des filmisch verdichteten,<br />

währenden Augenblicks verhehlt Roth<br />

seine Vorliebe für längere Sequenzen<br />

dennoch nicht. Er findet sie nicht nur,<br />

beispielsweise, bei Eric Rohmer,sondern<br />

auch in Godards Film «Vivre sa vie»,<br />

dessen erzählerischer Analyse sich die<br />

stärksten Passagen des Buches verdanken.<br />

Roth ruft sich da etwa die Szene vor<br />

Augen, wo Godards Hauptdarstellerin<br />

Anna Karina sich den Stummfilm «Jeanne<br />

d’Arc» ansiehtund beim Zwischentitel<br />

«La Mort» in Tränen ausbricht. «Zu viel»<br />

Tränen kommentiert Roth trocken,<br />

gleichwohl kommt ihm in der Erinnerung<br />

an «Vivre sa vie» der sehnliche<br />

Wunsch auf, gerade diesen Film immer<br />

wieder selber «zu leben».<br />

Autobiografischgrundiert<br />

Dass bei einem derart reichen Buch nicht<br />

alle Texteingleichem Masse zu überzeugen<br />

vermögen, ist wohl unvermeidlich.<br />

Zu David Lynch etwa fällt dem Autor geradezu<br />

verblüffend wenig ein, und auch<br />

sein fiktivesInterview mitJohn Ford gibt<br />

ausser einer ebenso luziden wie bedauerlich<br />

kurzen Reflexion über die notwendige<br />

Dunkelheit des «vierten Ecks jedes<br />

guten Filmbilds» wenig her.<br />

Hochinteressant nehmen sich Roths<br />

Ausführungen zu den psychischen Aspekten<br />

des Filmerlebnisses aus. Das<br />

dunkle «Innen» des Kinos wie das zauberhafte<br />

Flimmern auf der Leinwand<br />

stellen sich ihm als Präfigurationen des<br />

nie hinreichend erhellbaren Innens der<br />

Psyche, der eigenen Seele dar. Ausgehend<br />

von C.G.Jungs Konzept einer «aktiven<br />

Imagination» beschreibt er das Oszillieren<br />

zwischen inneren und äusseren<br />

Bildern, das ihn immer wieder zu einer<br />

Gleichsetzung von Nacht und Film<br />

bringt. Eine Grundlage dafür findet er in<br />

der Wirkungsmacht einer psychischen<br />

Energie, die über alles individuell oder<br />

kollektiv Unbewusste hinausreicht. Hinaus<br />

–oder hinein –injenen Raum, wo<br />

«die Substanz des Unsichtbaren nichtbegriffen,<br />

aber berührt» werden kann.<br />

Das so persönlich gehaltene, durchweg<br />

autobiografisch grundierte Buch<br />

kann als geglücktes Beispiel für Roths<br />

Ansatz jenes nicht auf Erfindung und<br />

Konstruktion beruhenden Schreibens<br />

gelten, das er selbst als «no fiction» bezeichnet.<br />

Gleichwohl sehen wir einen<br />

Regisseur der Sprache am Werk, dem es<br />

immer wieder gelingt, die «sichtbare<br />

Wirklichkeit auf eine andere, umfassendere<br />

Wirklichkeit hin» zu öffnen. Darin<br />

führt Roth nicht nur den Filmkenner in<br />

jene numinose Zwischensphäre, die wir<br />

Kunst nennen und in der allein wir vollumfänglich<br />

zu uns kommen. ●<br />

KOBAL COLLECTION /IMAGES<br />

10 |NZZ am Sonntag |29. September 2013


E-Krimi desMonats<br />

DieSpurender Sonnentempler<br />

Kurzkritiken Schweizer Buchpreis<br />

Marcus Richmann: Engelschatten.<br />

Gmeiner,Messkirch 2013. 376 Seiten,<br />

Fr.17.90,E-Book 14.90.<br />

HenrietteVásárhelyi: immeer. Roman.<br />

Dörlemann, Zürich 2013. 191 Seiten,<br />

Fr.26.–.<br />

Ralph Dutli: Soutines letzteFahrt. Roman.<br />

Wallstein, Göttingen2013. 272 Seiten,<br />

Fr.28.50,E-Book 19.90.<br />

«Wie viel Leid erträgt ein Mensch?» Mit<br />

dieser Fragefängt die Geschichte an.<br />

Und miteinem qualvollen Sterben:<br />

Iwan Solowjow liegt in der <strong>Zürcher</strong><br />

Liebfrauenkirche nackt auf dem kalten<br />

Boden, und sein Todwirdihm nicht<br />

leichtgemacht. Seine Glieder kann er<br />

nichtrühren, sein Körper ist betäubt.<br />

Wehrlos muss er geschehen lassen, dass<br />

ihm jemand einen Schlauch in die Luftröhreschiebt.<br />

Wasser fliesst, ein Gebet<br />

wird gesprochen, es sind die letzten<br />

Worte, die Solowjow hört, bevor er am<br />

Wasser aus dem Taufbecken ertrinkt.<br />

DerKrimi des Schweizer Autors<br />

MarcusRichmann beginntinder Manier<br />

amerikanischer Thriller:rasant<br />

und brutal. Der<strong>Zürcher</strong> Kommissar<br />

Maxim Charkow –der wieder Autor<br />

russische Wurzeln hat–wirdmit einer<br />

unheimlichen Mordserie konfrontiert.<br />

Alle Opfer sterben in Kirchen und Klöstern.<br />

Beijeder Leiche finden sich Insignien<br />

der heiligen Sakramente.Charkow,<br />

der beziehungsunfähigeKommissar<br />

im Kostüm des einsamen Wolfes,<br />

den seine Schwächen so sympathisch<br />

machen, denkt sofort an einen religiös<br />

motivierten Serientäter. Auch ermittelt<br />

er im Milieu, war doch das ersteOpfer<br />

Solowjow ein schwuler Nobelklub-<br />

Betreiber.Doch der dritteMordweist<br />

auf eine neue Spur.Sie führt Kommissar<br />

Charkow zurück in die Vergangenheit,<br />

zu einer längst vergessen geglaubtenSekte,<br />

die in der realen Kriminalgeschichte<br />

der Schweiz ein schwarzes Kapitelschrieb:<br />

zu den Sonnentemplern.<br />

Am Anfangder fiktivenGeschichte<br />

stehtalso ein reales Drama aus den<br />

neunziger Jahren: In einem Gehöft des<br />

Weilers CheiryimKantonFreiburgfindet<br />

die Polizei 23 in Kultgewänder gehüllteLeichen<br />

in einem Keller.Sie sind<br />

kreisförmig ausgerichtet, der Raum<br />

gleichteiner Kapelle. Tags darauf bietet<br />

sich im Wallis den Polizisten ein ähnliches<br />

Bild. Diesmal findet sie in ausgebranntenChalets<br />

25 Tote,darunter<br />

3Kinder.Nichtalle Mitglieder der Endzeitsektesind<br />

freiwillig aus dem Leben<br />

geschieden.<br />

Was, wenn jemand damals das<br />

Drama überlebt hat? Waswäreaus ihm<br />

geworden?Was, wenn die Polizei<br />

bei den Ermittlungenetwas<br />

übersehen hat? Mitdiesen<br />

Fragen gingKrimiautor<br />

Richmann ans Werk und<br />

konstruierteeinen spannenden<br />

Plot, der sich um<br />

tödliche Abhängigkeitund<br />

um Verlust dreht, um Qual<br />

und um Rache. «Wie viel Leid<br />

erträgt der Mensch?» Die Eingangsfragekönnte<br />

auch anders<br />

lauten: Wieviel Leid<br />

muss jemand erfahren,<br />

damitereinen Mord<br />

begeht?<br />

VonChristine<br />

Brand ●<br />

Henriette Vásárhelyi, die 1977 inOstberlin<br />

geboren wurde, in Mecklenburg aufwuchs<br />

und heutemit ihrer Familie in Biel<br />

lebt, legt mit «immeer» einen eindringlichen<br />

Erstlingvor.Das Meer ist in ihm ein<br />

Leitmotiv – deshalb der eigenwillige<br />

Titel. Eva, die Ich-Erzählerin, trauert um<br />

ihren Lebensgefährten Jan, der an einem<br />

Hirntumor gestorben ist. Sie ergibt sich<br />

ihrer Trauer ganz und gar, lässt sich herausfallen<br />

aus dem Arbeitsalltag, folgt<br />

den Kreisbewegungen der Erinnerung.<br />

Jan und sie haben sich kennengelernt,<br />

als sie dreizehn waren, und in Berlin in<br />

einer Dreier-WG mit dem drogensüchtigen<br />

Heiner gelebt. Wilde Zeiten. Vorbei.<br />

Und dann die Zweifel. Hat Jan wirklich<br />

sie gemeint? War ernicht homosexuell?<br />

Das Befremden darüber, dass nach so<br />

einem Verlust das Leben einfach weitergeht,<br />

prägt den zornigen, unsentimentalen<br />

Text. Er ist eine Zumutung, aber eine<br />

lohnende.<br />

ManfredPapst<br />

Jens Steiner:Carambole. Ein Roman in<br />

zwölf Runden. Dörlemann, Zürich 2013.<br />

223 Seiten, Fr.27.–, E-Book 17.90.<br />

Die Hitze liegt schwer über dem Dorf,<br />

und es scheint so, als bäumten sich die<br />

Menschen in diesem Buch verzweifelt<br />

gegen die natürlich bedingte Trägheit<br />

auf: Eine Fabrik fliegt in die Luft, ein<br />

Mann stirbt, einer verschwindet, eine<br />

junge Frau wird vergewaltigt. In zwölf<br />

Kapiteln erzählt Jens Steiner in seinem<br />

Zweitling «Carambole» nicht nur die Geschehnisse<br />

eines Sommers in der Provinz,<br />

sondern verwebt auch geschickt<br />

die Vergangenheit mit der Gegenwart.<br />

Der 37-jährige <strong>Zürcher</strong> Schriftsteller, der<br />

bereits mit seinem Debüt «Hasenleben»<br />

beeindruckte, tut dies auf unkonventionelle<br />

Weise: Zwölf sich überschneidende<br />

Perspektiven ergeben das Puzzle eines<br />

Dorflebens. Am Ende hat man kein vollständiges<br />

Bild, aber genau das macht<br />

den Reiz dieses Buches aus. Eine poetische<br />

Mutprobe, die der Autor mit Bravour<br />

bestanden hat.<br />

Regula Freuler<br />

Als Lyriker, Essayisten und Übersetzer<br />

kennen wir Ralph Dutli seit vielen Jahren.<br />

Nun legt der 1954 geborene Schaffhauser<br />

seinen ersten Roman vor. Er dreht<br />

sich um den jüdisch-weissrussischen<br />

Maler Chaim Soutine (1894–1943), der in<br />

Paris ein von Krankheit und Armut geprägtes<br />

Leben führt. Seine farbintensive<br />

figürliche Kunst gilt den Surrealisten als<br />

Anachronismus, doch Soutine hält an<br />

seiner Malweise fest. Dutli begleitet den<br />

Maler in seiner letzten Lebensphase, als<br />

er sich auf dem Land vor den Nazis versteckt,<br />

dann aber in einem Leichenwagen<br />

nach Paris gebracht wird, um dort notfallmässig<br />

operiert zu werden. Dutli lässt<br />

das Leben des Malers in dessen Fieberträumen<br />

aufleuchten. Kunstvoll mischt<br />

er Fakten und Fiktionen, geschickt webt<br />

er reale Personen und historische Dokumente<br />

ein. Deranspruchsvolle, intensive<br />

Roman wird seinem Thema auf eigenwilligeWeise<br />

gerecht.<br />

ManfredPapst<br />

Roman Graf: Niedergang. Roman.<br />

Knaus, München 2013. 207 Seiten,<br />

Fr.27.90,E-Book 17.90.<br />

Für seinen Erstlingsroman «Herr Blanc»,<br />

von 2009, erhielt Roman Graf viel Lob<br />

und mehrere Preise. Ein Jahr später liess<br />

der 1978 geborene Winterthurer einen<br />

Band mitGedichtenfolgen. Und nun also<br />

der zweite Roman, «Niedergang». Die<br />

Geschichte ist schnell erzählt: Ein junges<br />

Paar –sie Deutsche, er Schweizer –geht<br />

im Hochgebirge wandern. Eine strapaziöse<br />

Tour ist geplant, die Umstände sind<br />

widrig: Es nieselt und ist kalt. Kurz vor<br />

dem Gipfel will die Frau nichtmehr weiter<br />

und steigt wieder ab, der Mann klettert<br />

aus reiner Sturheitweiter, obwohl er<br />

weiss, dass der Aufstieg unmöglich im<br />

Alleingang zuschaffen ist. –Wie schon<br />

bei seinem Debüt weiss der Autorerneut<br />

durch eine virtuose Sprachkraft zu beeindrucken.<br />

Roman Grafs Prosa ist aussergewöhnlich<br />

lyrisch und entwickelt<br />

eine starke Sogwirkung, der man sich<br />

kaum entziehen kann.<br />

Regula Freuler<br />

NZZ am Sonntag |29. September 2013 | 11


Essay<br />

Brasilien istimOktober Ehrengastander Buchmesse in Frankfurt. Dasgrösste Land Lateinamerikas<br />

verfügt über eine reichhaltigeliterarischeTradition, wieein Streifzugdurch dieletzten anderthalb<br />

Jahrhunderte zeigt.Ein Essayvon GeorgSütterlin<br />

DieandereFacette<br />

vonSüdamerika<br />

Langebevor Gabriel GarcíaMárquez aus Kolumbien<br />

zum bekanntesten Schriftsteller Lateinamerikas<br />

avancierte, war es der Brasilianer Jorge<br />

Amado (1912–2001), der einer Leserschaft im<br />

Norden Träume von südamerikanischem Überschwang<br />

und Lebenslust vermittelte. In Romanen<br />

wie «Gabriela wie Zimt und Nelken» (1958)<br />

oder «Dona Flor und ihre zwei Ehemänner»<br />

(1966) hatAmado das Leben vonSchwarzen und<br />

Mulatten so saftig-sinnlich wie beschönigendexotisierend<br />

evoziert.<br />

Einen erfahrungshungrigen jungen Leser,<br />

mehr an literarisierter Wirklichkeit als an der<br />

künstlerischen Form interessiert, versetzten<br />

solche Romane in einen erwartungsvollen Zustand.<br />

Erst später hat dieser Leser Amados<br />

schriftstellerische Anfänge entdeckt, die in die<br />

dreissiger Jahre zurückreichen und das karge<br />

Leben armer Kleinbauern und Fischer in Amados<br />

HeimatBahia mitdokumentarischem Impetus<br />

zur Darstellung bringen. Es waren diese frühen<br />

Romane –und die Treue zum Kommunismus<br />

–, die Amado in den fünfziger Jahren zum<br />

meistgelesenen Schriftsteller Lateinamerikas<br />

machten: Im Ostblock wurde sein Werk in gewaltigen<br />

Auflagen gedruckt. Aufdie Buchmesse<br />

hin bringt nun der S. Fischer Verlag zwei seiner<br />

Brasilianische Literatur<br />

Brasilien istdieses Jahr Ehrengastder Frankfurter<br />

Buchmesse (9.bis 13. Oktober). Ausdiesem Anlass<br />

erscheinen in deutschen Verlagen zahlreiche<br />

Bücher hierzulande unbekannter,meistjunger<br />

Autorinnen und Autoren. Zudem werden Klassiker<br />

und viele Werkebekannter Schriftsteller neu<br />

übersetzt und aufgelegt,einige erscheinen auch<br />

nur als E-Books.<br />

WerKostproben brasilianischer Literatur sucht,<br />

greift am bestenzueiner der neuen Anthologien<br />

wie «Brasilien erzählt» (S.Fischer), «Microcontos»<br />

(DTV)oder «In so einem Augenblick istalles<br />

möglich» (Die Horen 246).<br />

Eine kommentierte Liste aller deutschsprachigen<br />

<strong>Neue</strong>rscheinungen aus und über Brasilien findet<br />

man auf www.buchmesse.de/de/ehrengast/<br />

12 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013<br />

berühmtesten Werke, teils in neuer Übersetzung,<br />

heraus: «Der Todund der Toddes Quincas<br />

Wasserschrei» sowie «Die Abenteuer des Kapitäns<br />

Vasco Moscoso» (beide 1961).<br />

Brasilien macht rund die Hälfte Südamerikas<br />

aus, und die grossen Städte liegen vorwiegend<br />

im Küstensaum. Dünn besiedeltes und schwach<br />

erschlossenes Hinterland bildet den Löwenanteil<br />

dieses Riesenlandes. Das spiegelt sich auch<br />

in der Literatur. Vor allem der Nordosten, noch<br />

immer von Dürre und feudalen Besitzverhältnissen<br />

geprägt, hateine überraschend reiche Literatur<br />

hervorgebracht. Eines der wichtigen brasilianischen<br />

Bücher handelt in diesem Nordosten.<br />

1897 wurde Euclides da Cunha (1866–1909)<br />

Augenzeuge eines militärischen Vernichtungsfeldzugs<br />

gegeneine religiöse Gemeinschaft. Verlauf<br />

und Hintergründe zeigt er in «Krieg im Sertão»<br />

(1902)auf,einer buchlangenReportage, die<br />

auch erzählende Soziologie und romanhafter<br />

Essayist. DerVerfasser dieses geschliffenen Dokumentartextes<br />

kann durchaus als Vorläufer<br />

jener amerikanischen Journalisten mit literarischem<br />

Flair gelten, die in den 1960er Jahren den<br />

New Journalism begründeten.<br />

Archaische Welten<br />

Beivielen Autorenaus dem Nordosten stehtdie<br />

Beschreibung der Lebenswirklichkeit im Vordergrund.<br />

José Lins do Rego (1901–1957), Sohn<br />

eines Grossgrundbesitzers, hat ineiner Romanserie<br />

den Niedergang der Zuckerbarone geschildert.<br />

«Karges Leben» (1938) von Graciliano<br />

Ramos (1892–1953) ist die Geschichte eines Paares,<br />

das mitseinen Kindern ziellos unterwegs ist<br />

auf der Suche nach einer Existenz. Die Journalistin<br />

Rachel de Queiroz (1910–2003) debütierte<br />

blutjung als Schriftstellerin. Ihr Roman «Das<br />

Jahr 15» (1930) über eine verheerende Dürrekatastrophe<br />

gehört zu den markanten Büchern<br />

Brasiliens.<br />

Die archaische Welt von landlosen Bauern,<br />

Wanderarbeitern, Gutsbesitzern und Gesetzlosen<br />

hat auch João Guimarães Rosa (1908–1967)<br />

verarbeitet, wenngleich literarisch ambitionierter.<br />

In seinem ausufernden, labyrinthischen<br />

Roman «Grande Sertão» (1956) versinken Lebensraum<br />

und Menschen in einer hypnotischen<br />

Zeitlosigkeit. Gleichzeitig fügt Rosa eine Unzahl<br />

von Realien ein, was diesem träumerischen<br />

Monstermonolog eine überraschende Würze<br />

verleiht. Rosa meidet den schlichten Realismus<br />

und gelangt dadurch zu einem tieferen Verständnis<br />

der Wirklichkeit.<br />

Rosa war der Sohn eines begüterten Viehzüchters,<br />

doch wie viele Intellektuelle aus<br />

ländlichen Gegenden suchte er im städtischen<br />

Ambiente Auskommen und Stimulanz. Er<br />

wurde Diplomat und arbeitete später imAussenministerium<br />

in Rio de Janeiro, wo in den<br />

Die Gegensätze zwischen<br />

dem armen Nordostenund<br />

der Metropole SãoPaulo<br />

scheinen auch in der Literatur<br />

Brasiliens auf.<br />

letzten Lebensjahren der Grossteil seines<br />

schriftstellerischen Werks entstand. Eine Dimension<br />

dieses Œuvres bleibt den nichtbrasilianischen<br />

Lesern allerdings verschlossen: die<br />

sprachliche. Rosa jongliert derart hemmungslos<br />

mit Dialekt, Fremdsprachen, Mehrdeutigkeit,<br />

Lautmalerei, Wortschöpfung, dass selbst<br />

einer in Portugal erschienenen Ausgabe von<br />

«Grande Sertão» ein Glossar beigegeben wurde.<br />

Die deutsche Fassung stammt von Curt Meyer-<br />

Clason, der sich während eines halben Jahrhunderts<br />

für die lateinamerikanische und insbesondere<br />

die brasilianische Literatur einsetzte.<br />

Eine Neuübersetzung soll 2015 im Hanser<br />

Verlag erscheinen.<br />

Wie inanderen Kolonialgebieten wurde auch<br />

in Brasilien die Sprache des Mutterlandes durch<br />

vielerlei Einflüsse verändert und vitalisiert. Die<br />

oberen Schichten rümpften über das brasilianische<br />

Portugiesisch des Volkes die Nase, es galt<br />

ihnen als unfein. In den 1920er Jahren traten<br />

dann Künstler und Schriftsteller auf, die eine<br />

Aufwertung alles Brasilianischen betrieben. In<br />

«Macunaíma, der Held ohne jeden Charakter»<br />

(1928) hat Mário de Andrade (1893–1945) das<br />


Brasilien istein Land voller Gegensätze:<br />

Die Welt der Ureinwohner kontrastiert<br />

mit der Moderne.ImBild das vonOscar<br />

Niemeyergeschaffene Museum für<br />

moderne KunstinRio de Janeiro.<br />

ULF ANDERSEN /GETTY<br />

MACELLOMENCAINI /LEEMAGE /IMAGES.DE<br />

GUNNAR KNECHTEL /LAIF<br />

EDER CHIODETTO/FOLHAPRESS<br />

Brasilianische Autoren<br />

und Autorinnen (im<br />

Uhrzeigersinn von<br />

oben): Jorge Amado<br />

(Aufnahme 1984);<br />

Patrícia Melo (1998) und<br />

Antônio Callado (1987).<br />

29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 13


10CFWMIQ7DQAwEX-TTrn1OzjGswqKCqtykCs7_UXthBUNWs3Mc6Q03j_353l9JoLtwLIGRHt6sr8mwRjARHAraRlejcfDPFzAWg9V0BPGbiy6q0tdSRtFmoeYbaNfn_AJgqy6kgAAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx1TW0MLM0sAAAdvNexA8AAAA=<br />

Essay<br />

gesprochene Brasilianisch mit dem geschriebenen<br />

Portugiesisch verschmolzen. Er öffnete<br />

damit die Tür für eine sorglosere, lebendigere,<br />

volkstümliche Ausdrucksweise in der Literatur.<br />

Hauptfigur dieses vergnüglichen Romans ist ein<br />

Indio, dessen Name und Abenteuer allerdings<br />

den Studien eines deutschen Ethnologen entnommen<br />

sind.<br />

Zur Aufwertung des Autochthon-Brasilianischen<br />

gehörte auch ein wachsendes Interesse<br />

für die Indios, deren Kultur bis anhin zumeist<br />

von ausländischen Gelehrten studiert worden<br />

war.Zuden bekanntenbrasilianischen Ethnologen<br />

zählt Darcy Ribeiro (1922–1997), der in späteren<br />

Jahren zum Schriftsteller wurde. Sein<br />

Roman «Maíra» (1976) fasziniert vor allem deshalb,<br />

weil Darcy Ribeiro Ethnologie und Literatur<br />

verbindet, und es ihm gelingt, eine Ahnung<br />

vom Wesen traditionell lebender Indios zu vermitteln.<br />

Auch Antônio Callado (1917–1997) thematisierte<br />

wiederholt das Brasilien der Eingeborenen.<br />

Callado kam 1952 mitden Waldbewohnern<br />

Amazoniens in Kontakt, als er sich als Journalist<br />

einer Expedition anschloss, die das Verschwinden<br />

des englischen Forschers PercyFawcettaufklären<br />

sollte. Wasdaraus resultierte, kann man<br />

im Bericht «Der Tote imSee» (1953) nachlesen,<br />

der zur Buchmesse 2013 erstmals auf Deutsch<br />

erscheint. In Callados Roman «Expedition Montaigne»<br />

(1982) macht sich ein blauäugiger Journalist<br />

auf, umisoliert lebende Indios gegen Regierungund<br />

Zivilisation aufzuwiegeln. Er merkt<br />

nicht, dass diese nichts sehnlicher wünschen,<br />

als an den materiellen Segnungender invasiven<br />

neuen Kultur teilzuhaben.<br />

▲<br />

Immer mehr Schriftstellerinnen<br />

Einem Bewohner der 20-Millionen-Metropole<br />

SãoPaulo mögen Romane aus dem armen Nordosten<br />

oder über die Ureinwohner des Landes so<br />

fremd erscheinen wie der hiesigen Leserschaft.<br />

In der Tatfrappiert das Nebeneinander krass unterschiedlicher<br />

Lebensweisen wohl jeden Besucher<br />

Brasiliens. Diese schroffen Gegensätze<br />

kommen auch in der Literatur zum Ausdruck. Es<br />

überrascht deshalb nicht, dass auch der Gesellschaftsroman<br />

und der psychologische Roman<br />

auf eine lange Tradition zurückblicken. Mitdem<br />

Werk vonMachado de Assis (1839–1908)erreichte<br />

die urbane Literatur bereits im 19. Jahrhundert<br />

einen ersten Höhepunkt. Man genehmige<br />

sich die köstlichen «Nachträglichen Memoiren<br />

des Bras Cubas» (1881), gewidmet dem «Wurm,<br />

der zuerst an meinem kalten Leichnam nagt»,<br />

wo ein verblichener Hagestolz in durchaus Tristram-Shandy-hafter<br />

Manier sein burlesk-hypochondrisches<br />

Leben aufrollt und dabei aus dem<br />

gut bestückten erzähltechnischen Arsenal seines<br />

Schöpfers gehörig Nutzen zieht.<br />

Auch die Welt der entlang dem Amazonas lebenden<br />

Indios istThema in der brasilianischen Literatur.<br />

Ein paar Generationen später verwendete<br />

João Ubaldo Ribeiro (*1941) in seinem zeitgeschichtlichen<br />

Epos «Brasilien, Brasilien» (1984)<br />

einen ähnlich temperamentvollen Erzählton.<br />

Die Kritik an sozialen und politischen Zuständen<br />

wird dabei im Zuckerguss einer rasanterzählten<br />

Fabel verabreicht. In jungen Jahren hatte Ribeiro<br />

mit seinem in viele Sprachen übersetzten<br />

Kurzroman «Sargento Getúlio» (1971) bereits<br />

dem Nordosten und den sprachlichen Delirien<br />

vonGuimarães Rosa seine Reverenz erwiesen.<br />

In der psychologischen Literatur nimmtClarice<br />

Lispector (1920–1977), eine aus der Ukraine<br />

stammende Jüdin, einen Sonderplatz ein. Ihr<br />

Erstling «Nahe dem wilden Herzen» leuchtete<br />

1943 wie eine Sternschnuppe in der brasilianischen<br />

Literatur auf. InLispectors Romanen erschafft<br />

sich die Sprache ein eigenes Universum,<br />

die äussere Wirklichkeit bleibt schattenhaft,<br />

Thema und Handlungverschwinden in einer Art<br />

Nebel. Bewusstseinsstrom und Wahrnehmung,<br />

Beobachtungund Empfinden, Reflexion und Introspektion<br />

bilden den Stoff dieser melancholischen<br />

Romane und Erzählungen, in denen die<br />

Autorin die Grenzen des Sagbaren und ihrer<br />

selbst auslotet.<br />

Weniger experimentell und doch von erfrischender<br />

Originalität ist das Werk von Lygia Fagundes<br />

Telles (*1923). Die studierte Juristin, die<br />

bereits mit 17Jahren ihre ersten Erzählungen<br />

schrieb,bewegt sich vornehmlich im weiblichen<br />

Universum vonSão Paulo,das sie mitbeträchtlichem<br />

psychologischem Scharfsinn und einem<br />

leichten, transparentenErzählstil seziert.<br />

Es ist nicht zuübersehen, dass auch in Brasilien<br />

die Zahl der Schriftstellerinnen stetig zunimmt.<br />

Patrícia Melo (*1962) hatte mit «O Matador»<br />

(1995) international Erfolg. In diesem irren<br />

DANITADELIMONT STOCK<br />

Rechtfertigungsmonolog hören wir einem Auftragskiller<br />

in São Paulo zu, der bevorzugt aus<br />

dem Weg räumt, was arm und schwarz ist. Basierend<br />

auf Interviews mit gedungenen Mördern,<br />

zeigt Melo diesen aufgeplusterten Vigilanten<br />

als geldgierigen und anerkennungssüchtigenKriminellen.<br />

Dass Melo als Drehbuchautorin<br />

fürs Fernsehen arbeitet, zeigt sich in der flotten<br />

Schnitttechnik und einem unfehlbaren Gespür<br />

für träfeRede.<br />

Städtischausgerichtete Literatur<br />

In Büchern wie jenen von Patrícia Melo sind<br />

Thema und Schauplatz zwar brasilianisch, doch<br />

sprachlich und formal erinnert nichts mehr an<br />

Regionalismus und Folklore. Wie gelungen sich<br />

schriftstellerisches Know-how mit brasilianischer<br />

Thematik verbindet, zeigt auch das Werk<br />

des mit allen literarischen Wassern gewaschenen<br />

Bernardo Carvalho (*1960). In seinem<br />

Roman «Neun Nächte»(2002)beispielsweise recherchiert<br />

der Autor die letzten Tage des nordamerikanischen<br />

Ethnologen Buell Quain, der<br />

sich 1939 während Feldstudien bei den Krahô-<br />

Indios das Leben nahm. Die Verflechtung von<br />

Fakten und Fiktion sowiedie Art und Weise, wie<br />

Bernardo Carvalho sich selber und die Entstehung<br />

seines Buches einbringt, ist packend und<br />

äusserst raffiniert.<br />

Als in den 1970er Jahren die Entdeckung der<br />

südamerikanischen Literatur einsetzte und<br />

schlagartig Dutzende erfrischender, faszinierender<br />

Bücher den Weg ins Deutsche fanden,<br />

war Brasilien in dieser Bücherflut nur schwach<br />

vertreten. Ausgehend vom Werk Gabriel García<br />

Márquez’ und seines Kollegen Miguel Ángel Asturias<br />

aus Guatemala wurde der Literatur eines<br />

ganzen Kontinents das Etikett des magischen<br />

Realismus angeheftet. Doch diese Spielart des<br />

Schreibens hat die brasilianischen Schriftsteller<br />

kaum berührt. Vielleicht hat das damit zutun,<br />

dass der Graben zwischen dem portugiesischsprachigen<br />

Brasilien und den spanischsprachigen<br />

Ländern Lateinamerikas nicht zu unterschätzen<br />

ist. Man nimmt voneinander nur zögerlich<br />

Kenntnis. Doch Brasilien hat sich mit<br />

Autoren wie Murilo Rubião (1916–1991) eine eigene<br />

Variante des Phantastischen und Absurden<br />

geschaffen. Auch dieser Charme wäre bei uns<br />

noch zu entdecken.<br />

Der Leser, dem Amado einst ein Fenster zu<br />

einer verlockenden Welt öffnete, blickt heute<br />

auf eine zunehmend städtisch ausgerichtete<br />

und reichhaltige Literatur, was sich wohl auch<br />

dem wirtschaftlichen Boom des letzten Jahrzehnts<br />

verdankt. Unter den Übersetzungen ins<br />

Deutsche, die dieses Jahr erscheinen, finden<br />

sich denn auch viele neue, unbekannte Namen.<br />

Verlockendes Neuland für alle, die sich Brasilien<br />

auf dem Wegder Literatur nähern möchten. l<br />

Lesen macht Freude! –Besuchen<br />

Sie uns mal wieder.<br />

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14 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013


Kolumne<br />

CharlesLewinskysZitatenlese<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

Die Leutestreitenim<br />

Allgemeinennur<br />

deshalb,weilsie nicht<br />

diskutierenkönnen.<br />

GilbertKeith Chesterton<br />

Henryk M. Broder:Die letzten Tage Europas.<br />

Wiewir eine guteIdee versenken. Knaus,<br />

München 2013. 223 Seiten, Fr.25.90.<br />

DanielaSchwegler,VanessaPüntener:Traum<br />

Alp. Älplerinnen im Porträt. Rotpunkt,<br />

Zürich 2013. 255 Seiten, Fr.42.90.<br />

GAËTAN BALLY/KEYSTONE<br />

Der AutorCharles<br />

Lewinsky arbeitet in<br />

den verschiedensten<br />

Sparten. Sein letztes<br />

Buch «Schweizen.<br />

Vierundzwanzig<br />

Zukünfte»ist im<br />

Verlag Nagel &<br />

Kimche erschienen.<br />

DerSuhrkampf-Verlag…<br />

Ichweiss, ich weiss, er schreibt sich<br />

nichtso, aber das falsche Schluss-F<br />

rutschteinem einfach in die Tastatur,<br />

wenn man an die permanenteninternen<br />

Querelen denkt. Suhrkamp also,jener<br />

legendäreVerlag, den Siegfried Unseld<br />

einst gründete, machtseiteiniger Zeit<br />

mehr Schlagzeilen im Wirtschaftsteil als<br />

in den Literaturbeilagen. Statt der Buchkritik<br />

wird sich wohl irgendwann nur<br />

noch die Kriegsberichterstattungdamit<br />

befassen.<br />

Ichwill in den innerverlaglichen Grabenkämpfen<br />

keine Partei ergreifen. Ich<br />

wunderemich nur,warum vonall den<br />

berühmtenund musengeküssten Suhrkamp-Autorenbis<br />

jetzt noch keiner<br />

einen Roman über die hauseigenen Titanenkämpfegeschrieben<br />

hat. Pamphlete<br />

sind erschienen, ja, und pathetische<br />

Aufrufe auch. Aber wo bleibt der grosse<br />

Roman?<br />

Dabei bietet das Thema doch jede<br />

MengeStoff!Hans Barlach wahlweise<br />

als Herostratoder Michael Kohlhaas,<br />

Ulla Berkéwiczjenach Standpunkt als<br />

Jeanne d’Arcoder Megäre, dazu noch<br />

der verstossene Sohn Joachim Unseld<br />

als Parricida –wenn das nichtMaterial<br />

genug für ein paar hundert Seiten ist…<br />

«Ich wunderemich», habe ich geschrieben,<br />

aber es müssteheissen: «Ich<br />

wundertemich». Denn unterdessen<br />

habe ich im Suhrkamp-Katalog geblättert<br />

und dabei festgestellt: DenRoman<br />

gibt es. Es gibt ihn sogar mehrfach.<br />

Denn durch die richtigeBrille betrachtet<br />

siehteigentlich jeder Suhrkamp-Titel<br />

danach aus.<br />

Waskann IvoAndrics«Derverdammte<br />

Hof» anderes sein als ein Berichtüber<br />

die Kämpfeumdas Erbe des Patriarchen<br />

Unseld? Wenn Isaiah Berlin ein Buch<br />

«Der Igel und der Fuchs» nennt–wen<br />

kann er damitmeinen als Frau Berkéwicz<br />

und Herrn Barlach?<br />

Und was ausser der immer schlechter<br />

werdenden Beziehungzwischen den<br />

beiden kann mitElisabeth Bronfens<br />

«Liebestod und femme fatale» gemeint<br />

sein?<br />

Selbst Dichter, die schon längst tot<br />

waren, als der Rosenkrieg im Hause<br />

Suhrkamp begann, haben –prophetisch,<br />

wiewahreSuhrkamp-Autorendas nun<br />

mal sind –über das Thema geschrieben.<br />

Denn selbstverständlich beziehtsich<br />

Emily Brontës«Sturmhöhe» auf Ulla<br />

Berkéwiczs Berliner Villa mitihren<br />

unkorrekt an den Verlag vermieteten<br />

Räumen.<br />

Und so weiter und so weiter.Wir sind<br />

erst beim Buchstaben B. Ichempfehle<br />

allen Lesern dieser Rubrik, das Spiel selber<br />

weiterzuführen. Man<br />

brauchtdazu nichts als<br />

den Suhrkamp-Katalog<br />

und ein bisschen<br />

Phantasie.<br />

Wer den jüdisch-deutschen Publizisten<br />

Henryk M. Broder,einen Kritiker vonpolitical<br />

correctness und Mitgründer des<br />

Blogs www.achgut.de, nichtliest, ist selber<br />

schuld. Auch sein neustes Buch über<br />

das bürokratisierte und gleichmacherische<br />

«Merkel-Barroso-Draghi-Europa»<br />

funkelt von Einsichten, Einfällen und<br />

Pointen. Sehr real ist der von ihm glossierte<br />

europäische Alltag, der hehre<br />

Brüsseler Visionen Lügen straft. «Der<br />

wahnwitzige Versuch, die Lebensverhältnisse<br />

in 28 Ländern zu homogenisieren,<br />

hatdazu geführt, dass der Abgrund,<br />

der überbrückt werden sollte, immer<br />

breiter und tiefer geworden ist.» Nur<br />

wem zur EU nichts einfalle, spreche<br />

vom Friedensprojekt. Wie weiland die<br />

Sowjetunion, die nach 70 Jahren implodierte.<br />

Wie lange braucht dazu die EU?<br />

Wersich wirklich um Europa sorgt, dem<br />

sei dieses zielgenaue und vergnügliche<br />

Büchlein empfohlen. Broder at his best.<br />

Urs Rauber<br />

UweHinrichs: Multi Kulti Deutsch. WieMigration<br />

die Sprache verändert. C. H. Beck,<br />

2013. 294Seiten, Fr.24.90,E-Book 14.90.<br />

Dass sich jede Sprache im Laufe der Zeit<br />

verändert, ist ein Allgemeinplatz. Der<br />

Sprachwissenschafter UweHinrichs zeigt<br />

auf, welchen Einfluss die Migration auf<br />

das gesprochene Deutsch hat. Nicht nur<br />

das omnipräsente Englisch färbt ab, sondern<br />

auch das Türkische, Russische, Albanische.<br />

Es entstehen Mischsprachen,<br />

die auf das «reine» Deutsch einwirken.<br />

Hinrichs, profunder Sprachenkenner, ist<br />

aber kein Purist. Er wertet nicht, sondern<br />

zeigt auf und erklärt, woher die Veränderungen<br />

kommen, wiesich die gesprochene<br />

Sprache vomgeschriebenen Standarddeutsch<br />

entfernt. Die wichtigsten Veränderungen<br />

sind der Abbau des Kasus’<br />

sowie des grammatischen Zusammenhangs,<br />

die Erosion der Endungen und<br />

Schwankungen beim Artikel. Das Deutsche<br />

werde aber dadurch flexibler, offener<br />

und einfacher. Hochinteressant für<br />

alle, die sich mitSprache beschäftigen.<br />

Geneviève Lüscher<br />

15 Frauen zwischen 20 und 75 Jahren, erstaunlicherweise<br />

viele mit einem akademischen<br />

Hintergrund, erzählen von<br />

ihrem Leben auf der Alp.Vanessa Püntener<br />

hatsie während ihrer Arbeitliebevoll<br />

fotografiert, Daniela Schwegler die Texte<br />

zusammengestellt. Entstanden sind berührende<br />

Porträts ganz unterschiedlicher<br />

Lebensentwürfe, die alle auf die Alp<br />

geführt haben. Die Leserin erfährt, wie<br />

die Frauen käsen und kochen, wie sie<br />

ihre Kühe, Schafe und Lamas pflegen<br />

und auch sich selber, zum Beispiel mit<br />

einem Bad imBrunnentrog. Nicht alles<br />

ist lustig und romantisch. Die Einsamkeit<br />

kann trotz Laptop und Handy am Gemüt<br />

zehren, der Tod ist allgegenwärtig, der<br />

Traum von der Alp liegt ganz nahe am<br />

Alptraum. Leider fehlt dem sonst ansprechenden<br />

Buch ein Vor- oder Nachwort,<br />

welches das Älplerinnendasein in<br />

einen grösseren, einordnenden Zusammenhanggestellt<br />

hätte.<br />

Geneviève Lüscher<br />

Stephen Emmott:Zehn Milliarden.<br />

Suhrkamp,Berlin 2013. 204 Seiten,<br />

Fr.23.90.<br />

Dieses Buch liest sich in weniger als zwei<br />

Stunden –esist der Text eines Stücks,<br />

das letztes Jahr auf einer Londoner<br />

Bühne Triumphe feierte. Sein Autor leitet<br />

ein Microsoft-Labor für computergestützte<br />

Naturwissenschaft und lehrt in<br />

Oxford. Erpräsentiert klare, kurze Sätze<br />

–oft ist es nur ein einziger proSeite –mit<br />

Fakten zum Zustand der Erde, einer<br />

Erde, die, zu heutigen Bedingungen, die<br />

zehn Milliarden Menschen nicht werde<br />

ernähren können, auf die die Weltbevölkerung<br />

bis zum Ende dieses Jahrhunderts<br />

zusteuert. Angesichts der ungebrochenen<br />

Langzeitrends, die Emmott als<br />

Illustration mitliefert, sieht dieser Wissenschafter<br />

keinen Ausweg, seine Botschaft<br />

lautet schlicht «we’re fucked», zu<br />

deutsch: «Wir sind nichtmehr zu retten.»<br />

Natürlich ist auch diese Botschaft, wie<br />

jede Untergangsprophezeiung, ein verzweifelter<br />

Weckruf zur Umkehr.<br />

KathrinMeier-Rust<br />

29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 15


Sachbuch<br />

Biografie DerSohn derKindheitsforscherin <strong>AliceMiller</strong> (1923–2010) untersucht dieverstecktenSeiten<br />

derLebensgeschichte seiner Mutter:die Ablehnung ihrer jüdischen Wurzeln, dieWut aufdie eigene<br />

Familieund ihr Überleben im Holocaust<br />

«Eswarnichtschön,<br />

dasKindvon<br />

<strong>AliceMiller</strong>zusein»<br />

Martin Miller:Das wahre«Drama des<br />

begabtenKindes». Die Tragödie Alice<br />

Millers. WieverdrängteKriegstraumata<br />

in der Familie wirken. Kreuz Verlag,<br />

Freiburgi.Br. 2013. 175 Seiten, Fr.29.90.<br />

VonKathrin Meier-Rust<br />

16 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013<br />

Die Wirkungdes ersten Buches vonAlice<br />

Miller ist kaum zu überschätzen: Millionenfach<br />

verkauft, in 30 Sprachen übersetzt<br />

hat das «Drama des begabten Kindes»,<br />

erschienen 1979, die westliche Erziehungund<br />

Sichtauf die physische und<br />

psychische Misshandlung von Kindern<br />

für immer verändert.<br />

Die Psychoanalytikerin schrieb danach<br />

noch elf weitere Bücher, brach jedoch<br />

radikal mit der Psychoanalyse und<br />

entzog sich ihrem Ruhm in die Provence,<br />

wo sie schliesslich in selbstgewählter<br />

Isolation nur noch über ihre Webseite<br />

mit ihren Anhängern kommunizierte.<br />

Beiihrem TodimApril 2010 galt sie weitherum<br />

als monomanische Missionarin,<br />

die prophezeite hatte, dass «an den Folgender<br />

Deliktegegen Kinder unsereWelt<br />

vielleicht zu Grunde gehen werde».<br />

Doch das «Drama», liest man heutedarin,<br />

nimmtsofort wieder gefangen: Selten ist<br />

so eindringlich geschildert worden, wie<br />

hellhörig Kinder aus schierer Not die<br />

Wünsche und Erwartungen ihrer Eltern<br />

auch dann noch erfüllen, wenn sie darüber<br />

ihr eigentliches Selbst verlieren.<br />

Mit dem erschütternden Buch ihres<br />

Sohnes Martin, der selber Psychotherapeut<br />

ist, wird nun klar:Alice Miller wusste<br />

wovon sie sprach. Martin Miller erzählt<br />

darin von zwei, ja im Grunde von<br />

drei eng miteinander verwobenen Leben:<br />

Einmal vom eigenen als Sohn, jedenfalls<br />

soweit es seine Eltern betrifft.<br />

Dann vom Leben der berühmten Mutter<br />

Alice Miller, sowie sie es Zeit ihres Lebens<br />

mehr verbarg als darstellte. Und<br />

schliesslich vom Leben der polnischen<br />

Jüdin Alicija Englard, das er erst nach<br />

dem Tod der Mutter kennenlernte und<br />

das die Persönlichkeit von Alice Miller<br />

zutiefst traumatisiert und gespalten hat.<br />

Der Autor trennt die drei Erzählungen<br />

schon im Aufbau seines Buches, unterscheidet<br />

«Meine Kindheit und Jugend»<br />

von «Was meine Mutter erzählte» von<br />

«Was ich herausfand». Ebenso sorgfältig<br />

trennt erFakten von Erinnerungen und<br />

Erklärungen, und unterscheidet immer<br />

wieder zwischen einem nach wievor bewundernswerten<br />

Werk und der gelebten<br />

Wirklichkeit seiner Mutter. Denn eines<br />

Martin Miller,Sohn von<strong>AliceMiller</strong> und Psychotherapeut,schreibtüber<br />

seine triste Kindheit.<br />

ist klar: Ihrer Theorie vermochte Alice<br />

Miller selbst nicht nachzuleben und «es<br />

war nicht schön, das Kind von Alice Miller<br />

zu sein», wie Martin Miller es einmal<br />

formuliert.<br />

Polnische Jüdin<br />

Alice Miller hat ihre Lebensgeschichte<br />

wie ein Geheimnis gehütet. Die äusserst<br />

knappen biografischen Angaben zu ihren<br />

Büchern oder auf ihrer Webseite beginnen<br />

geradezu stereotyp meist so: «Alice<br />

Miller wurde 1923 in Polen geboren und<br />

studierte inBasel Philosophie, Soziologie<br />

und Psychologie.» Dass sie den Zweiten<br />

Weltkrieg als Jüdin in Warschau<br />

überlebt hatte, war zwar Insidern bekannt.<br />

Aber viel mehr wussten selbst<br />

ihre beiden Kinder nicht, der 1950 geborene<br />

Martin und die 1956 mit Downsyndrom<br />

geborene Julika (von der übrigens<br />

das einzig verfügbare, immer gleiche<br />

Foto von Alice Miller stammt, das bis<br />

heute wie eine Ikone alle ihre Produkte<br />

von Büchern bis zu den Youtube-Lesungenziert).<br />

Zu spüren bekam der Sohn allerdings<br />

einiges: eine schon fast hasserfüllte Ablehnungdes<br />

Judentums und eine verbitterteFrustration<br />

über die eigene Familie,<br />

zu der kaum Kontakt bestand, oft habe<br />

eine «masslose Wut» die Erinnerungen<br />

seiner Mutter begleitet. Ansonsten<br />

wurde alles Jüdische und Polnische von<br />

Sohn Martin ferngehalten, der als katholischer<br />

Schweizer aufwachsen sollteund<br />

seine untereinander polnisch sprechenden<br />

Eltern nichteinmal verstand. In diesen<br />

Dingen habe ein «unausgesprochenes<br />

Verbot zu fragen» geherrscht.<br />

Erst ein konfrontatives Interview nach<br />

dem Tod der Mutter liess Martin Miller


daran denken, dieses Frageverbot zu<br />

brechen und bei noch lebenden Verwandten<br />

und Zeitzeugen in Amerika und<br />

Israel nachzuforschen. Die Geschichte,<br />

die er fand, ist erschütternd: Alice Miller<br />

wurde als Alicija Englard inder polnischen<br />

Kleinstadt Piotrkow in eine hochangesehene<br />

und wohlhabende jüdische<br />

Grossfamilie geboren. Sie war ein intelligentes,<br />

aber überaus schwieriges und sozial<br />

einsames Mädchen, das die jüdischen<br />

Regeln und Verbote als unsinnig<br />

empfand und mit den Eltern in einem<br />

Dauerkonflikt lag. Entsprechend setzte<br />

es durch, in eine öffentliche polnische<br />

Schule zu gehen (statt in die jiddisch-jüdische)<br />

und sprach in der Folge ebenso<br />

gut polnisch, wie später, nach zwei in<br />

Berlin verbrachtenJahren, auch Deutsch.<br />

<strong>AliceMiller</strong> mit ihrem<br />

Mann Andreas Miller<br />

in den 1950er Jahren,<br />

bevorsie durch ihr<br />

Buch weltberühmt<br />

wurde.<br />

In Zürich Kultfigur<br />

Dies ermöglichte es dem Teenager mit<br />

gefälschten Papieren unter dem polnischen<br />

Namen Alice Rostovska aus dem<br />

Ghetto zu fliehen, in das die jüdische Bevölkerung<br />

von Piotrkow nach der deutschen<br />

Besetzung gesperrt worden war.<br />

Nicht nur lebt die inzwischen 17jährige<br />

Alice dann unter falscher Identität in<br />

Warschau, ständig von Entlarvung bedroht<br />

und von einem Verfolger erpresst,<br />

sie verdient überdies als Lehrerin Geld,<br />

holt damit auch die ungeliebte Mutter<br />

und die als dumm verachtete jüngere<br />

Schwester aus dem Ghetto und bringt sie<br />

in Sicherheit. DerkrankeVater allerdings<br />

verweigert die Fluchtund stirbt im Ghetto,<br />

bevor Grosseltern und viele andere<br />

Familienmitglieder ins KZ abtransportiert<br />

werden.<br />

Noch vor Kriegsende gelang esAlice<br />

sich auf die russische Seite zu retten.<br />

Nach dem Krieg, sie war nun 22 Jahrealt,<br />

begann sie ein Studium in Lodz und setzte<br />

alles daran, Polen zu verlassen –ein<br />

Stipendium für die Schweiz erwies sich<br />

als einzige Möglichkeit. Einem Verehrer<br />

der klugen und schönen Alice Rostovska<br />

–den Decknamen behielt sie auch nach<br />

dem Krieg bei –gelanges, sie gegenihren<br />

Willen zu begleiten. Dieser katholische<br />

Pole, mit dem sie 1946 in der Schweiz<br />

strandete, wurdeihr Mann.<br />

Beide Ehepartner studierten erfolgreich<br />

und erreichten hochangesehene<br />

Positionen: Andreas Miller als Professor<br />

für Soziologie in St. Gallen, Alice Miller<br />

als führende Figur der Psychoanalyse in<br />

Zürich. Doch es war und blieb, bis zur<br />

späten Scheidung, eine Ehe voller Streit<br />

und Spannung – «gebändigter Hass»<br />

heisst das entsprechende Kapitel des<br />

Sohnes, der von seinem autoritär-unberechenbaren<br />

Vater vor den Augen der<br />

Mutter gedemütigt und geschlagen<br />

wurde.<br />

Erst die Entdeckung des jüdischen<br />

Mädchens, das gar nicht jüdisch sein<br />

wollte, und doch für sein jüdisch sein<br />

verfolgt wurde, erhellt dem Sohn, was<br />

seine Mutter meinte, wenn sie wütend<br />

bemerkte, sie habe «sich umbringen<br />

müssen, um zu überleben.» Lässt ihn<br />

verstehen, wie sich ein vier Jahre dauerndes<br />

lebensgefährliches Versteckspiel,<br />

die hochgefährliche Rettung einer ungeliebten<br />

Familie sowie die Schuld gegenüber<br />

einem nicht-gerettet-sein wollenden<br />

Vaterzum Trauma verbanden. Abgespalten<br />

und verdrängt, beherrschtesdas<br />

Leben, die Gefühlswelt und auch die Arbeit<br />

von Alice Miller vollkommen: nährt<br />

ihren Verfolgungs- und Kontrollwahn,<br />

führt in die besessene Mission für das<br />

überforderteKind und gleichzeitig in die<br />

Unfähigkeit, dem Sohn ein eigenständigesLeben<br />

zuzugestehen.<br />

In einem letzten Brief an diesen Sohn<br />

von 1998 gesteht die nun 75jährige Mutterdiesem<br />

endlich ihreMitschuldander<br />

Misere seiner Kindheit ein. Wie Martin<br />

Miller heute diesen Brief –erwird wie<br />

viele andereZeugnisse im Buch vollständig<br />

wiedergegeben – im Lichte seiner<br />

neuen Erkenntnis interpretiert, wie er<br />

versteht, dass seine Mutter den Sohn mal<br />

mit dem verlassenen Vater, mal mit dem<br />

Verfolger der Nazizeit unbewusst identifizierte<br />

–darin erreicht dieses an differenzierten<br />

Einsichten überreiche Buch<br />

seinen Höhepunkt.<br />

Eine erhellende Diskussion der Theorien<br />

vonAlice Miller im Lichte der heutigen<br />

psychotherapeutischen Praxis und<br />

ein Nachwort des Traumaspezialisten<br />

Oliver Schubbe zur generationenüberdauernden<br />

Langzeitwirkung von Kriegstraumata<br />

beschliessen ein ausserordentliches<br />

Buch, das menschlich ebenso ergreifend<br />

wiehistorisch bedeutsam ist. ●<br />

PRIVAT<br />

29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 17


Sachbuch<br />

Reisereportage Lebensmut,Improvisation und Optimismus kennzeichnen dasLeben in Brasilien. Doch<br />

RuediLeutholdzeigt,wie vordergründig diese Eindrücke oftsind<br />

NichtimmeristdasLächelnecht<br />

Ruedi Leuthold: Brasilien. DerTraum vom<br />

Aufstieg. Nagel &Kimche,<br />

Zürich 2013. 208 Seiten, Fr.25.90.<br />

VonSebastian Bräuer<br />

Gerade erst haben aufmerksame Leser<br />

von Wirtschaftszeitungen wieder eine<br />

verwirrende Nachricht aufnehmen müssen:<br />

Der amerikanische Ökonom Robert<br />

Shiller, der einst den Zusammenbruch<br />

des US-Immobilienmarktes vorhersagte<br />

und damitRechtbehielt, warntjetzt wieder<br />

vor einer Immobilienblase, diesmal<br />

in Brasilien. Dabei herrschte gerade noch<br />

der Eindruck vor, Brasilien müsse sich<br />

gegen Kapitalabflüsse stemmen, die<br />

Boomjahrehätten also ein jähes Ende gefunden.<br />

Die Boomjahre, in denen Brasilien<br />

plötzlich wie selbstverständlich in<br />

einem Atemzug mit China, Indien und<br />

Russland genannt und zum Hoffnungsträger<br />

der Weltwirtschaft stilisiert<br />

wurde. Jahre, die aber wiederum Jahrzehnten<br />

wirtschaftspolitischer Instabilität<br />

und davongaloppierender Inflationsraten<br />

gefolgt waren, in denen es hiess,<br />

Brasilien werde nie in die Erfolgsspur<br />

und aus der Armut finden.<br />

FAUTRE /LAIF<br />

EinverwirrendesLand<br />

Nicht nur Wirtschaftsexperten tun sich<br />

schwer, Brasiliens Entwicklung zu bewerten,<br />

ohne früher oder spätervon den<br />

Fakten überrollt zu werden. Das Land<br />

lässt sich nicht soeinfach in Raster einordnen.<br />

Selbst, wenn es um Fussball<br />

geht. Wer glaubte, die Fussballbegeisterung<br />

sei im Land des fünffachen Weltmeisters<br />

grenzenlos, wurde imFrühjahr<br />

2013 überrascht, als der Confederations<br />

Cup von heftigen Massenprotesten<br />

überschattet wurde, in denen sich die<br />

Wut über mangelnde Teilhabe genauso<br />

entlud wie die Wahrnehmung der Ressourcenverschwendung<br />

beim Bau von<br />

Fussballstadien.<br />

Wer sich auf die Suche nach einem<br />

besseren Verständnis des begeisternden,<br />

polarisierenden, aber eben vor allem<br />

auch verwirrenden Landes mit seinen<br />

knapp 200 Millionen Einwohnern machen<br />

will, findet in Ruedi Leutholds Reportageband<br />

einen Einstieg. Leuthold,<br />

geboren 1952, ist Schweizer Journalist,<br />

gekrönt mit dem Filmpreis Civis und<br />

dem Columbus-Preis für die beste<br />

deutschsprachigeReisereportage. Er lebt<br />

seit einigen Jahren in Rio de Janeiro.<br />

Damit ist er prädestiniert, kundig über<br />

das Land zu schreiben, ohne gleichzeitig<br />

die Perspektive des Mitteleuropäers zu<br />

ignorieren. Er sei kein Anfänger inBrasilien,<br />

schreibt er selbst. Aber eben auch<br />

kein Eingeweihter. Das werde man nur,<br />

wenn man eine Brasilianerin heirate,<br />

denn die Frauen hüteten die Geheimnisse<br />

des Landes.<br />

Oder,der härtereWeg, indem man Geschäfte<br />

mache, inklusive Kampf mit der<br />

Menschen in Brasilien<br />

zwischen Boom<br />

und Niedergang.<br />

Hier:Fischer im<br />

Naturschutzgebiet<br />

APATinharée<br />

Boipeba.<br />

Bürokratie, Schmier- und Schutzgeld.<br />

Vorerst tut es auch die Lektüre. Wobei es<br />

nicht primär die knappen, manchmal<br />

etwas abrupt eingestreuten Zusammenfassungen<br />

von Geschichte, Politik und<br />

Wirtschaft sind, die das Buch empfehlenswert<br />

machen. Sie sind instruktiv,<br />

bleiben aber aufs Nötigstebeschränkt.<br />

Beeindruckend sind die Porträts von<br />

Personen, denen Leuthold auf seiner<br />

Reise durch Brasilien begegnet. Etwa<br />

von Socorro, der Tochter eines Fischers,<br />

deren Gesichtdurch einen schwerenUnfall<br />

seit früher Kindheit entstellt ist. Die<br />

als Jugendliche in ein Umfeld von Drogen,<br />

Gewalt und Prostitution abgleitet,<br />

später aber Selbstachtung und Zuversicht<br />

entdeckt. Oder von einem Richter,<br />

der mit einem Schiff von einem entlegenen<br />

Dorf zum nächsten fährt, mit einer<br />

zum Gerichtssaal umgebauten Kabine,<br />

um kleinere und grössere Streitigkeiten<br />

zu schlichten, weil für die Dschungelbewohner<br />

juristische Instanzen in unerreichbarer<br />

Ferne sind. Er wird mitBeziehungsproblemen<br />

konfrontiert und mit<br />

Wilderern, die Wasserschweine und<br />

einen Kaiman erlegt haben. Der Richter<br />

fällt salomonische Urteile und kostet<br />

auch mal vomWasserschwein.<br />

Die Erzählungen Leutholds zeugen<br />

von Lebensmut und Improvisationskunst,<br />

zerschmettern aber gleichzeitig<br />

auch das etwas schlichte Klischee, Brasilianer<br />

seien ständig gut gelauntund optimistisch.<br />

«Die soziale Übereinkunft in<br />

Brasilien will, dass man sich fröhlich<br />

zeigt», schreibt Leuthold. «Es ist unanständig,<br />

seine Sorgenzuzeigen.» Das Lächeln<br />

ist nicht immer echt, und hinter<br />

der Fassade tun sich manchmal Abgründe<br />

auf.Wie bei Aparecida, einer Frau, die<br />

alles dafür tut, den Anschein zu erwecken,<br />

sie gehöre zuder rasant wachsenden<br />

Mittelschicht. Die sich die Haare<br />

blond färbt und den Busen vergrössert,<br />

mitGeld, das sie eigentlich nichthat.Die<br />

zu Leuthold sagt, der Körper sei das<br />

Wichtigste. Was geradezu zynisch herüberkommt.<br />

Denn wenn sie eine unvorhergesehene<br />

Ausgabe stemmen muss,<br />

leidet ihreFamilie Hunger.<br />

Wuchernde Korruption<br />

Leutholdgehthart mitden Politikern ins<br />

Gericht, selbst mit dem national wie international<br />

hoch angesehenen ehemaligen<br />

Präsidenten Lula da Silva. Er hält<br />

ihm vor, viele Versprechen vergessen zu<br />

haben, etwa die Sistierung der Zahlungen<br />

anden Internationalen Währungsfonds<br />

(eswar im Sinne der Glaubwürdigkeit<br />

sicherlich eine gute Idee, an den<br />

Zahlungenfestzuhalten).<br />

Leuthold stempelt Politiker zu Lügnern<br />

ab. Eine einfache Arbeitslosenstatistik,<br />

von der Regierung veröffentlicht,<br />

sei ein Meisterwerk der Fiktion. Die Korruption<br />

wucherewie eh und je. Vielleicht<br />

ist ein Teil der Urteile etwas zu pauschal.<br />

Doch darüber lässt sich hinwegsehen,<br />

denn trotz allem wird der wirtschaftliche<br />

Fortschritt zum prägenderen Leitmotiv<br />

des Buches, erzählt anhand vieler Beispiele,<br />

die einen besseren Einblick verschaffen<br />

als jedes Studium ökonomischer<br />

Kennziffern. Ein Fortschritt, der<br />

sich in einem irrwitzigen Tempo abspielt<br />

und auch entlegenste Landstriche erfasst.<br />

Ein neues Brasilien entsteht. ●<br />

18 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013


10CFWMMQ7DMAwDXySDtCLZisYgW9Ch6O6l6Nz_T4G9ZSCOw5HXlVawcpyvz_lOApsJwxU9LazU5qkRxbslgr2CutO0svn20AWLOqYiCGEfNFGu4m1Q58GYY6D8v78bHhamx38AAAA=<br />

10CAsNsjY0MDAx1TW0NDM2sAAAEF-p9A8AAAA=<br />

Rom NostalgischeErinnerungen an Italiens goldene Jahre<br />

AlsAnitaEkbergimTrevi-Brunnen<br />

einBadnahm<br />

MaikeAlbath: Rom, Träume. Moravia,<br />

Pasolini, Gadda und die Zeitder Dolce<br />

Vita. Berenberg, Berlin 2013. 280 Seiten,<br />

Fr.37.90.<br />

VonJanika Gelinek<br />

Im Pantheon berühmter Filmszenen<br />

nimmt Anita Ekberg imTrevi-Brunnen<br />

einen Logenplatz ein: ihre exaltiert in<br />

den römischen Nachthimmel geworfenen<br />

Arme und der an ihrem Busen stammelnde<br />

Marcello Mastroianni sind weltweit<br />

Ikonografie geworden für «La dolce<br />

vita»; jenen Film, mit dem Fellini 1960<br />

römischen Sittenverfall aufs Korn nahm<br />

und Epochengeschichte schrieb.<br />

Dieser Epoche rund um den Film und<br />

seinen zentralen Schauplatz, die Via Veneto,<br />

hat die Kulturwissenschafterin<br />

Maike Albath nun ein Buch gewidmet,<br />

das fünf der massgeblichen Autoren dieser<br />

Jahre inihrem Lebensumfeld porträtiert:<br />

AlbertoMoravia, Elsa Morante,Pier<br />

Paolo Pasolini, Carlo Emilio Gadda und<br />

Ennio Flaiano. Rasch wechseln römische<br />

Topografie der fünfziger Jahre mit heutigenEindrücken<br />

aus dem Testaccio-Quartier<br />

oder vonder Stadtautobahn ab,Schilderungvon<br />

Film- oder Romanszenen mit<br />

knappen literaturwissenschaftlichen<br />

und soziologischen Analysen, statistische<br />

Befunde mit den ausführlichen Anekdoten<br />

vonZeitzeugen –darunterMoravias<br />

langjährige Lebensgefährtin Dacia<br />

Maraini, Pasolinis Cousin Nico Naldini<br />

und der Grosskritiker PietroCitati.<br />

Anders als in Albaths wunderbarem<br />

Buch über die Gründerjahre des Einaudi-<br />

Verlags in Turin liegt dieser manchmal<br />

eklektischen Methode kein eigentliches<br />

Thema zugrunde, vielmehr soll die Atmosphäre<br />

jenes aufregenden Jahrzehnts<br />

zwischen 1950 und 1960 eingefangen<br />

werden, in dem Italien einen beispiellosen<br />

ökonomischen und kulturellen Boom<br />

erlebte, sich Visconti, Fellini und William<br />

Wyler in den römischen Trattorien und<br />

Cinecittà die Klinke indie Hand gaben<br />

und man, so suggerieren Albaths wehmütige<br />

Gesprächspartner, eigentlich täglich<br />

im Café Rosati in hitzigeDebatten mitden<br />

Film- und Literaturgrössen der Zeitgeriet.<br />

BerühmteFilmszene: Marcello Mastroianni und<br />

Anita EkbergimTrevi-Brunnen in Rom(1960).<br />

Ein Buch also für neugierige Nostalgiker<br />

des Dolce Vita, in dem der Autorin<br />

luzide und flüssig geschriebene Porträts<br />

vorallem der intellektuellen Lichtgestalt<br />

Pasolini und des introvertierten Ingenieurs<br />

und grossen Stilisten Gadda gelingen.<br />

Sie lassen für die Dauer einer kurzweiligen<br />

Lektüre die heutige Misere Italiens<br />

in den Hintergrund treten. ●<br />

KEYSTONE<br />

Foto: ©Marco Okhuizen /laif<br />

Foto: ©Isolde Ohlbaum<br />

Foto: ©Bernard vanDierendonck<br />

Foto: ©Annalena McAfee<br />

Leon<br />

de Winter<br />

Ein gutes Herz<br />

Roman·Diogenes<br />

512 Seiten<br />

Leinen<br />

sFr32.90*<br />

UrsWidmer<br />

Reise<br />

an denRand<br />

desUniversums<br />

Diogenes<br />

352 Seiten<br />

Leinen<br />

sFr32.90*<br />

Lukas<br />

Hartmann<br />

Abschied<br />

vonSansibar<br />

Roman·Diogenes<br />

336 Seiten<br />

Leinen<br />

sFr32.90*<br />

Ian McEwan<br />

Honig<br />

Roman·Diogenes<br />

*unverbindliche Preisempfehlung<br />

464 Seiten<br />

Leinen<br />

sFr32.90*<br />

Verspielt, beunruhigend, berührend und<br />

spannend, einfach genial!Ein Roman, der<br />

ins Herz unserer Zeit trifft.<br />

»Leon de Winter kann erzählen wie<br />

kaum ein anderer.« Literaturen, Berlin<br />

»Kein Schriftsteller, der bei Trost ist,<br />

schreibt eine Autobiographie«, lautet<br />

der erste Satz. UrsWidmer hat die eigene<br />

Warnung in den Wind geschlagen<br />

und ein großartiges Erinnerungsbuch<br />

verfasst.<br />

Eine Prinzessin von Sansibar, die mit<br />

einem Hamburger Kaufmann durchbrennt.<br />

Die Saga einer west-östlichen<br />

Familie, in deren Zentrum eine vielschichtige<br />

und leidenschaftliche Frauengestalt<br />

steht.<br />

Sex, Spionage, Fiktion und die Siebziger:<br />

eine schöne Geheimagentin<br />

auf literarischer Mission.<br />

29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 19


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Sachbuch<br />

Urgeschichte Zwei amerikanischeForscher spekulieren über Denken und Fühlen des Neandertalers<br />

Witzereissenkonnteernicht<br />

Thomas Wynn, Frederick L.Coolidge:<br />

Denken wie ein Neandertaler. Zabern,<br />

Darmstadt 2013. 288 Seiten, Fr.44.90.<br />

VonGeneviève Lüscher<br />

Als der moderne Mensch vor rund<br />

150000 Jahren Afrika den Rücken kehrte<br />

und sich rund 100000 JahrespäterinEuropa<br />

niederliess, traf er nicht auf einen<br />

leeren Kontinent. Die Neandertaler<br />

waren schon da, erfolgreiche Jäger, fleissige<br />

Sammlerinnen, alteingesessen, gut<br />

angepasst und eigentlich erfolgreich im<br />

Leben. Dennoch war die alte Spezies<br />

ohne Chance und musste das Feld für<br />

den erfolgreicheren, neuen Homo sapiens<br />

räumen. Sie starb aus.<br />

Der Neandertaler ging zwar unter, geblieben<br />

aber ist sein schlechter Ruf. Die<br />

Umgangssprache sieht hinter dem Neandertaler<br />

einen keulenschwingenden<br />

Höhlenbewohner, bar jeder Kultur,<br />

ziemlich dumm, auf jeden Fall<br />

rückständig. Die beiden Autoren,<br />

der Anthropologe<br />

Thomas Wynn und der<br />

Neuropsychologe Frederick<br />

L. Coolidge,<br />

haben sich an die Rehabilitierung<br />

unseres Vorfahren<br />

gemacht. Ihrer Meinung nach<br />

war der Neandertaler nicht geistig<br />

zurückgeblieben, sondern er ging einfach<br />

grundlegend anders an die Probleme<br />

des Lebens heran, seine kognitiven<br />

Fähigkeiten unterschieden sich von<br />

denen des modernen Menschen.<br />

Wie also war der Neandertaler, was<br />

dachte er? Die Autoren fächern – vergnüglich,<br />

bisweilen gar kurzweilig und<br />

mit Beispielen aus unserer Zeit garniert<br />

– das Leben dieser Spezies vor uns auf:<br />

Wieernährtesie sich, welche Werkzeuge<br />

stellte sie her, welches Familienleben<br />

pflegtesie, wiewaren Klima und Umwelt<br />

am Ende der Eiszeiten?<br />

Ausder Lebensweise und den archäologischen<br />

Fakten schliessen die Autoren<br />

auf die Denkweise des Neandertalers,<br />

rein hypothetisch, versteht sich, denn<br />

SCHOENING /ARCO IMAGES<br />

Der Neandertaler<br />

war<br />

–entgegen<br />

seinem<br />

schlechten<br />

Ruf–kein<br />

kulturloser<br />

Mensch.<br />

beweisen lässt sich hier nichts. Gedankenerhalten<br />

sich nichtimBoden.<br />

Aber das in den Skeletten nachgewiesene<br />

GenFOXP2, das mitder Fähigkeitzu<br />

sprechen verbunden wird, lässt vermuten,<br />

dass der Neandertaler reden konnte.<br />

Auch die anatomischen Gegebenheiten<br />

unterstützen die Vermutung. Darüber<br />

hinaus beherrschte er das Entwickeln<br />

von Jagdstrategien, die für das Erlegen<br />

von Grosswild wie Mammuts nötig<br />

waren, und ausgeklügelteTechniken der<br />

Werkzeugherstellung–was auf ein Kommunikationsverhalten<br />

hinweist. Auch<br />

lachen konnte der Neandertaler mit Sicherheit,<br />

aber einen Witz erzählen, das<br />

ging wohl über seine kognitiven Fähigkeiten.<br />

Er besass Mitgefühl und sorgte<br />

für seine Leute, wenn sie krank oder verletzt<br />

waren. Andererseits scheinen (allerdings<br />

stark umstrittene) Spuren von<br />

Kannibalismus auf einen bisweilen doch<br />

recht lieblosen Umgang untereinander<br />

hinzuweisen.<br />

Die gelegentliche Verwendung von<br />

Pigmentenlassen die Autorenvermuten,<br />

dass der Neandertaler auch schon über<br />

symbolische Fähigkeiten verfügte, ohne<br />

dass sich diese in bildlichen Darstellungen<br />

äusserten. Eine Art Religion sprechen<br />

sie dem Neandertaler hingegen ab,<br />

auch wenn er seine Toten mit Sorgfalt<br />

niederlegte.<br />

Als spekulatives Gedankenexperiment<br />

lassen die Autoren ein Neandertalerbaby<br />

imHeute aufwachsen und ein<br />

heutiges Baby in einer Neandertalergruppe.<br />

Beide würden überleben, das<br />

Neandertalerkind vermutlich besser<br />

als der moderne Mensch,<br />

weil es alle Fähigkeiten erwerben<br />

könnte, umein normales<br />

modernes Leben zu führen.<br />

Die besser entwickelten kognitiven<br />

Fähigkeiten des modernen<br />

Menschenkindes hingegen würden ihm<br />

in der eiszeitlichen Umgebung kaum<br />

Vorteile bringen.<br />

Wenig Überlebenschancen hätten<br />

beide Arten, würde man sie als Erwachsene<br />

in die andere Gruppe verpflanzen.<br />

Dem modernen Menschen fehlt schon<br />

die körperliche Fitness, um im kalten<br />

Klima ohne Heizung und Thermowäsche<br />

zurechtzukommen.<br />

Das Buch ist gespickt mit Spekulationen,<br />

und die Autoren geben manchmal<br />

zu, dass alles auch ganz anders gewesen<br />

sein könnte.Gesichert ist hingegen, dass<br />

der Neandertaler ausstarb. Möglicherweise,<br />

weil seine kognitiven Fähigkeiten<br />

ihm nicht erlaubten, sich an die Klimaerwärmung<br />

amEnde der Eiszeit anzupassen.<br />

Das immerhin könnte uns zu<br />

denken geben. ●<br />

25. —27. Oktober 2013: Internationales Buch- und Literaturfestival<br />

Verleihung Schweizer Buchpreis<br />

www.buchbasel.ch<br />

20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013


Urbanität Ein opulenterBildband zeigt Siedlungen derSchweiz in vorindustriellerZeit, als es nochkeine<br />

Autobahnen, Hochspannungsleitungen und Agglomerationen gab<br />

VonderWehmutbeim<br />

BetrachtenalterStadtbilder<br />

Bernd Roeck, Martina Stercken, François<br />

Walter,Marco Jorio (Hrsg.): Schweizer<br />

Städtebilder,Urbane Ikonographien (15.–21.<br />

Jahrhundert). Chronos, Zürich 2013.<br />

528 Seiten, Fr.109.–.<br />

VonTobias Kaestli<br />

Wer wissen will, wie die Städte inder<br />

Schweiz aussahen, als es noch keine Autobahnen,<br />

Eisenbahnen und ausufernden<br />

Einfamilienhausquartieregab,sucht<br />

Bilder aus früheren Zeiten. Berühmtsind<br />

die Kupferstiche von Matthäus Merian<br />

dem Älteren aus der Mitte des 17. Jahrhunderts.<br />

Es sind nach der Natur gefertigte<br />

Bilder von kompakten Städten mit<br />

hohen Dächern und Kirchtürmen, umgeben<br />

vonfesten Wehranlagen. Ausserhalb<br />

der Stadtmauern sind Gärten, Wiesen<br />

oder Rebberge angedeutet.<br />

Neben Merian gibt es eine grosse Zahl<br />

von Kleinmeistern, die in ähnlicher Art<br />

Stadtansichten, sogenannte Veduten,<br />

schufen. Diejenigen des 18.Jahrhunderts<br />

widmeten oft der Umgebung mehr Sorgfalt<br />

als der Stadt. DerenLageinder Landschaft<br />

schien ihnen wichtig. Das hingmit<br />

dem vonRousseau geprägten Begriff der<br />

guten, heilsamen Natur zusammen.<br />

Wiesen, Bäume, Flüsse<br />

Erst spätertratendie technischen Errungenschaften<br />

ins Bild. Die Erfindung der<br />

Fotografie verändertedie Wahrnehmung<br />

der Stadt und der Landschaft. Bis heute<br />

gilt uns aber das Bild von der klar abgegrenzten<br />

Stadt inmitten einer von Wiesen,<br />

Bäumen und natürlichen Flussläufen<br />

geprägten Umgebung als eine Art<br />

Ideal. Deswegen leiden wirander zunehmenden<br />

Zersiedlungund verkehrsmässigen<br />

Intensivnutzung der Landschaft.<br />

Beim Betrachten alter Städtebilder im<br />

grossformatigen, schön gedruckten und<br />

ausgestatteten Bildband kommt fast<br />

zwangsläufig eine gewisse Wehmut auf.<br />

68 Städte und Städtchen der Schweiz<br />

und Liechtensteins sind von ebenso vielen<br />

Autorinnen und Autoren ikonographisch<br />

untersucht worden. Leider konnten<br />

längst nicht alle Bilder, auf die sie<br />

verweisen, abgebildet werden. Pro Aufsatz<br />

sind es vier bis acht. Sie sind, wiedie<br />

Texte, von unterschiedlicher Qualität,<br />

grösstenteils aber hoch interessant und<br />

aufschlussreich. Vordergründig geht es<br />

darum zu zeigen, wie der urbane Raum<br />

einst ausgesehen hat. Aber auch der Laie<br />

wird rasch merken, dass die Absichten<br />

der Herausgeber weit über die blosse Dokumentation<br />

einstiger baulicher Verhältnisse<br />

hinausgehen, dass sie anhand des<br />

Bildmaterials unsere Sehgewohnheiten<br />

und die Besonderheiten früherer Wahrnehmungsarten<br />

aufzeigen wollen.<br />

Bellinzona wuchs aus<br />

einer militärischen<br />

Befestigungsanlage<br />

heraus. Blick auf<br />

das Castelgrande;<br />

Aquarell vonDavid<br />

Alois Schmid aus dem<br />

Jahr 1834.<br />

Den Aufsatz über Zürich hat Mitherausgeberin<br />

Martina Stercken geschrieben.<br />

Sie setzt bei zwei Darstellungen der<br />

Stadt in der «<strong>Zürcher</strong> Chronik» von Gerold<br />

Edlisbach (1454–1530) ein. Hier ist<br />

das Bildindie Chronik der kriegerischen<br />

Ereignisse eingebettet und stellt Zürich<br />

als wehrhafte Stadt dar. Auf einer Darstellung<br />

des 16. Jahrhunderts wird dann<br />

die Stadt selbst zum Bildgegenstand. Das<br />

Rathaus als Ort der Selbstverwaltung ist<br />

ins Zentrum gerückt, die Türme des<br />

Grossmünsters sind unverhältnismässig<br />

hoch gezeichnet. Die Vogelperspektive<br />

lässt das Innenleben der Stadt erkennen.<br />

In einem Stich von 1638 verwendet Matthäus<br />

Merian dagegen viel Sorgfalt auf<br />

die barocke Befestigungsanlage. Seine<br />

Sicht beeinflusste viele spätere Darstellungen.<br />

Wasim18. Jahrhundert neu dazu<br />

kam, waren die exakten Grundrissaufnahmen,<br />

welche die Gebäude und die<br />

Quartiere in den richtigen Grössenverhältnissen<br />

erscheinen liessen. Doch bis<br />

in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

ist bei manchen Darstellungen eine Idyllisierung<br />

der Stadt in ihrer Einbettung in<br />

die Landschaft ablesbar.<br />

Über Bern schreibt der einstige Denkmalpfleger<br />

Bernhard Furrer. Erweist darauf<br />

hin, dass schon in den frühesten<br />

Darstellungen eine besondere Eigenart<br />

dieser Stadt herausgestellt wurde, nämlich<br />

die Anlagedes Strassennetzes in Anpassungandie<br />

Topografie jenes Felsens,<br />

der vonder Aareumflossen wird und der<br />

Bern jene besondere Gestalt verlieh, die<br />

es zum UNESCO Weltkulturerbe macht.<br />

Auch bei andern Städten wie Genf und<br />

Basel war die Topografie für die Ausgestaltung<br />

der Wehranlagen und damit<br />

auch für die innereForm entscheidend.<br />

Bellinzona ist ein besonders interessantes<br />

Beispiel dafür, wie eine Stadt aus<br />

einer militärischen Befestigungsanlage<br />

herausgewachsen ist. Aber nicht nur die<br />

Kantonshauptorte werden dargestellt,<br />

sondern auch kleine Städtewie Yverdon,<br />

Delémont, Aarwangen, Bischofszell oder<br />

Biel. Erstaunlich, wie viele Veduten vorhanden<br />

sind. Die Aufsätze französischund<br />

italienischsprachiger Autorinnen<br />

und Autoren sind in der Originalsprache<br />

belassen.<br />

EinForschungsprojekt<br />

Das Buch ist im Rahmen eines internationalen<br />

Forschungsprojekts entstanden,<br />

das schon 1989vom französischen Mediävisten<br />

Jacques Le Goff und vom Italiener<br />

Cesare deSeta lanciert wurde. Seta<br />

ist heuteDirektor des «Centrointerdipartimentale<br />

di Ricerca sull’ Iconografia<br />

della Città Europea» in Neapel. Italien,<br />

das eigentliche Geburtsland der «Schönen<br />

Stadt» in der Zeit der Renaissance,<br />

hat wohl den stärksten Anstoss zum europäischen<br />

Projekt einer vergleichenden<br />

Städteikonografie gegeben.<br />

Für den Band zur Schweiz zeichnet<br />

der gebürtige Augsburger Bernd Roeck,<br />

Geschichtsprofessor an der Universität<br />

Zürich, verantwortlich. Sein einleitender<br />

Text öffnet den Blick über die Schweiz<br />

und Europa hinaus und ist eine kurz gefassteGlobalgeschichte<br />

und eine Theorie<br />

der Städteikonografie.<br />

Es lohnt sich, diese Einleitung aufmerksam<br />

zu lesen, denn hier lernt man<br />

die Begriffe und Kategorien kennen, die<br />

es ermöglichen, die Abbildungen zu<br />

den schweizerischen Städten gleichsam<br />

unter einer globalen Perspektive zu erkunden.<br />

●<br />

KLOSTER EINSIEDELN SAMMLUNG DES STIFTES<br />

29.September 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21


Sachbuch<br />

Zeitgeschichte Swetlana Alexijewitschverleihtden Menschen in Weissrussland eine Stimme.Dafür<br />

erhältsie am 13.Oktober denFriedenspreis des Deutschen Buchhandels<br />

Jederträumtvoneinem<br />

anderenRusland<br />

Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit.<br />

Leben auf den Trümmern des<br />

Sozialismus. Hanser,Berlin 2013.<br />

576Seiten, Fr.39.90,E-Book 29.90.<br />

VonIna Boesch<br />

Eine Stimmensammlerin wird am 13. Oktober<br />

in der Frankfurter Paulskirche den<br />

renommierten Friedenspreis des Deutschen<br />

Buchhandels entgegennehmen.<br />

Bereits zum zweiten Mal ehrt die Jury<br />

damit ein besonderes literarisches Verfahren:<br />

Wie der letztjährige Preisträger<br />

Liao Yiwu verleiht die Schriftstellerin<br />

Swetlana Alexijewitsch denjenigen Menschen<br />

eine Stimme, die nicht gehört<br />

werden sollen. Gemäss der Jury hat die<br />

65-jährige Weissrussin eine «eigene<br />

literarische Gattung» begründet, den<br />

«Roman in Stimmen».<br />

Alexijewitsch arbeitet seit Mitte der<br />

Achtzigerjahre mit der Methode der Oral<br />

History: Sie führt ausführliche Gespräche<br />

mit Menschen der ehemaligen Sowjetunion,<br />

um «einen Chorus individueller<br />

Stimmen als Collage des tagtäglichen<br />

Lebens zu erstellen». In ihrer ersten Veröffentlichung,<br />

«Der Krieg hatkein weibliches<br />

Gesicht», korrigiertesie das Bildder<br />

Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs;<br />

für «Zinkjungen» führte sie mehr<br />

als fünfhundert Gespräche mit Hinterbliebenen<br />

vonSoldaten, die in Afghanistan<br />

gefallen sind; mitdem Buch «Tschernobyl<br />

–Eine Chronik der Zukunft», in<br />

dem sie Zeugnisse von Opfern und Augenzeugen<br />

der Reaktorkatastrophe versammelt,<br />

wurde sie weltberühmt. Alle<br />

ihreBücher erzählen die Geschichte vom<br />

Untergang des einstigen sowjetischen<br />

Imperiums, und ihr Werk ist in über<br />

dreissig Sprachen übersetzt. Einzig in<br />

ihrer Heimat wird esseit Lukaschenkos<br />

Machtantritt im Jahr 1994 nicht mehr<br />

verlegt.<br />

Zündstoff für Diktatoren<br />

Ob Alexijewitsch das Preisgeld –wie bereits<br />

nach der Verleihung des Leipziger<br />

Buchpreises zur Europäischen Verständigung<br />

–wieder für den Kauf ihrer Bücher<br />

verwenden wird,umsie nach Minsk<br />

zu schmuggeln? Ein gefährliches Unterfangen,<br />

denn die weissrussische Obrigkeit<br />

will die Stimme des Volkes nicht<br />

hören. Zum Beispiel die Stimme einer<br />

Architekturstudentin aus Minsk, der<br />

Swetlana Alexijewitsch für ihr neues<br />

Buch «Secondhand-Zeit» lange zugehört<br />

hat. Als die junge Frau anlässlich der<br />

letzten Präsidentschaftswahlen an einer<br />

Kundgebungteilnahm, wurdesie, wieso<br />

viele, für kurze Zeit verhaftet. Als einschneidende<br />

Erfahrung erwähnt sie jedoch<br />

nichtden Kerker,sondern den Mut,<br />

22 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013<br />

Die Bücher der<br />

65-jährigen Swetlana<br />

Alexijewitsch sind<br />

seit 1994 in ihrer<br />

HeimatWeissrussland<br />

verboten.<br />

innere Fesseln zu sprengen. «Wir sind<br />

auf die Strasse gegangen. Hatten keine<br />

Angst. Das ist das Wichtigste ... das ist<br />

das Allerwichtigste...» Welcher Zündstoff<br />

für einen Diktator. Wenwundert’s,<br />

dass LukaschenkoAlexijewitschs Bücher<br />

verbieten liess.<br />

Die Studentin ist eine von unzähligen<br />

Protagonisten, welche die Autorin zwischen<br />

1991 und 2011 ausführlich interviewthat.InjahrelangerArbeitwolltesie<br />

herausfinden, wer die «Kinder der kommunistischen<br />

Utopie» sind. Ihr ernüchterndes<br />

Fazit: Die Menschen der ehemaligen<br />

Sowjetunion leben in einer «Secondhand-Zeit»,<br />

die keine neuen Gedanken<br />

hervorbringt. Etwas zugespitzt: Der<br />

Kapitalismus habe über den Sozialismus<br />

gesiegt, doch gleichzeitig steckten die Individuen<br />

im stalinistischen Käfig.<br />

Zwangsläufig sind im Buch hoffnungsvolle<br />

Stimmen selten. Die meisten Menschen<br />

waren in der ehemaligen Sowjetunion<br />

der Freiheit so lange entwöhnt,<br />

dass sie es nicht gewohnt sind, die Entwicklungeines<br />

freiheitlichen politischen<br />

Systems voranzutreiben. Die Freiheit,<br />

EKKOVON SCHWICHOW<br />

die sie suchen, ist die «Freiheit Seiner<br />

Majestät Konsum». Das Leitmotiv des<br />

rund fünfhundertseitigen Oratoriums<br />

über den Untergang des Imperiums ist<br />

nicht die Freude, sondern die Trauer<br />

über den Verlust. Eine Stimme fasst das<br />

verbreitete Gefühl zusammen: «Ja, wir<br />

mussten Schlange stehen nach bläulichen<br />

Hühnchen und faulen Kartoffeln,<br />

aber das war unsereHeimat. Ichhabe sie<br />

geliebt.»<br />

MehrstimmigerChor<br />

Solche Aussagen sind für Kenner der<br />

ehemaligen Sowjetunion nicht neu, jedoch<br />

allemal erschütternd. Bestürzend<br />

auch die Tatsache, dass die Hälfte der<br />

Russen unter dreissig Stalin für einen<br />

grossartigen Politiker hält –weil er den<br />

Krieg gewonnen hat. Verständnislos liest<br />

man auch die Erzählung eines alten KP-<br />

Mitglieds, der im Zug der «Säuberungen»<br />

seine Frau verloren und selbst im Gefängnis<br />

gesessen, jedoch seinen Glauben<br />

an Stalin nie verloren hat. Deshalb ging<br />

er an die Front, vonder er hoch dekoriert<br />

nach Hause kam. Seine einzigeSorge war<br />

seine KP-Mitgliedschaft, die er wegen<br />

seiner Verhaftung eingebüsst hatte und<br />

unbedingt zurückerlangen wollte. Im<br />

Gegensatz dazu irritiert zwar eine Bemerkung<br />

des ehemaligen Chefs des Generalstabs,<br />

aber sie ist in seinem Gedankengebäude<br />

nachvollziehbar: «Es fehlte<br />

an Damenstrumpfhosen? Um einen<br />

Atomkrieg zu gewinnen, braucht man<br />

keine Strumpfhosen, sondern moderne<br />

Raketen und Bomber.»<br />

In diesen Chor reihen sich viele Stimmen<br />

ein: etwa die Stimme einer Ärztin,<br />

«die ohne vieles leben kann, nur nicht<br />

ohne das, was war»; einer Typografin,<br />

die ins Kloster ging; einer armenischen<br />

Flüchtlingsfrau, die den falschen Mann<br />

liebt, nämlich einen Aserbeidschaner;<br />

einer Werbemanagerin, die sich über die<br />

neuen Konsummöglichkeiten freut (und<br />

diese auch nutzen kann); Stimmen von<br />

kaukasischen Gastarbeitern, die in Moskauer<br />

Kellern hausen; Stimmen namenloser<br />

Bürgerinnen und Bürger.<br />

Zu viele Stimmen. Wer spricht, fragt<br />

man sich häufig und wünscht sich einen<br />

Stimmführer.<br />

Löblich, dass Swetlana Alexijewitsch<br />

sich zurückhält und der Leserschaft<br />

Raum für eigene Bilder des «homo sovieticus»<br />

lässt. Schwierig hingegen, dass sie<br />

keine Transparenz bezüglich der Auswahl<br />

der abgedruckten Monologe<br />

schafft. Unweigerlich stellt sich der Eindruck<br />

der Beliebigkeit ein –und damit<br />

die etwas magere Erkenntnis: Menschen<br />

machen je unterschiedliche Erfahrungen.<br />

Oder in den Worten einer Stimme<br />

aus dem Buch: «Wir träumen jeder von<br />

einem anderen Russland.» ●


Kalter Krieg Eine frühereAgentin des DDR-SpionagediensteserzähltihreGeschichte als Sekretärin<br />

hochrangiger Politiker in Westdeutschland<br />

DoppellebenfürdieStasi<br />

Günter Ebert(Hrsg.): Die Topagentin.<br />

Johanna Olbrich alias Sonja Lüneburg.<br />

Edition Ost, Berlin 2013. 254Seiten,<br />

Fr.24.40,E-Book 16.–.<br />

VonUrs Rauber<br />

Lichtund Dunkel DieSchweiz in derNacht<br />

Selbstauf Skipistenflackertnachts das Licht –hier die<br />

Scheinwerfer der Pistenfahrzeuge am Männlichen,<br />

im Hintergrund das Schilthorn, aufgenommen vom<br />

Titlis in der Nacht vom16. Februar 2013 mit Mehrfachbelichtung.<br />

Der Pressefotograf Alessandro Della Bella,<br />

geboren 1978,trug schon als Jugendlicher seine Kamera<br />

samt Schlafsack am Abend auf einen Berg, um dortin<br />

einen schwarzen Sucher zu blicken. Heutearbeitet er<br />

mit bis zu fünfKameras, oftbei eisiger Kälte, in einer<br />

Nacht entstehen bis 5000 Fotos. Aufder Website<br />

helvetiabynight.com kann man seine Fotoserien als<br />

Fürden ostdeutschen Spionagechef Markus<br />

Wolf war die Frau «auf dem Weg,<br />

eine Spitzenquelle für unseren Dienst zu<br />

werden». Noch in seinen Erinnerungen<br />

von1997 schrieb er über Johanna Olbrich<br />

(1926–2004) – ohne ihren Tarnnamen<br />

«Sonja Lüneburg» zu nennen, unterdem<br />

sie in der Bundesrepublik zwei Jahrzehnte<br />

unentdeckt als Sekretärin verschiedener<br />

hoher Politiker gearbeitet hatte. Am<br />

Ende war «Lüneburg» elf Jahre lang Mitarbeiterin<br />

vonFDP-Generalsekretär Martin<br />

Bangemann, später Wirtschaftsminister<br />

im KabinettKohl, gewesen.<br />

Die in Ostdeutschland geborene Johanna<br />

Olbrich war eine initiative, selbstbewusste<br />

Frau, die seit ihrer Jugend<br />

gerne gesellschaftliche Verantwortung<br />

übernahm. Voller Idealismus trat die<br />

Junglehrerin mit 20indie Sozialistische<br />

Einheitspartei Deutschlands (SED) ein,<br />

um beim Aufbau einer gerechteren Gesellschaft<br />

mitzuhelfen. Sie sei ein eher<br />

kritisches Parteimitglied gewesen, das<br />

hohle Rituale ablehnte. Etwas verwundert<br />

und neugierig sagte sie zu, als die<br />

Staatssicherheit(Stasi) sie 1965fragte, ob<br />

sie bereit sei, klandestin in den Westen<br />

zu gehen, «um für die DDR zu arbeiten».<br />

Olbrich war damals 39 und alleinstehend,<br />

aber keineswegs «ohne Männer».<br />

Es reizte sie, etwas Ungewöhnliches für<br />

Filme erleben. Der üppige Bildband «Helvetia by night»<br />

versammelt die schönstendieser Nachtaufnahmen: von<br />

der flammend rotenAbenddämmerung am Thunersee<br />

zumLichtermeer der Städteund Seeufer,vom Nebelmeer<br />

im Mondschein zurMilchstrasse,von den Lichtbahnen<br />

der startenden Flugzeuge zurMorgendämmerung<br />

über Lugano.Helvetia mag schlafen –ganz<br />

im Dunkeln liegt sie nie. Kathrin Meier-Rust<br />

Alessandro Della Bella: Helvetia by night.VorwortGuido<br />

Magnaguagno.NZZ Libro,Zürich 2013. 190 Seiten,<br />

100 Farbabbildungen, Fr.84.90.<br />

ihren Staat zu tun. Über die spezielle<br />

Herausforderung, mit zwei Identitäten<br />

zu leben, war sie sich überhaupt nichtim<br />

Klaren. «Ich war entsetzlich blauäugig»,<br />

schreibt sie in ihren postum herausgegebenen<br />

Erinnerungen. Dennoch lernte<br />

Johanna Olbrich rasch das konspirative<br />

Handwerk: mit gefälschten Papieren<br />

leben, Personen observieren, tote Briefkästen<br />

bedienen.<br />

Im Unterschied zur gängigen Bekenntnisliteratur<br />

von Ex-Geheimdienstlern ist<br />

Olbrichs Lebensbericht frei von Pathos,<br />

Eigenstilisierung und Beschönigung,<br />

wenn auch der Wille zur Rechtfertigung<br />

deutlich hervortritt. Schnörkellos beschreibt<br />

die Autorin ihr zweites Leben,<br />

das sie auch gegenüber ihrer eigenen Familie<br />

in der DDR geheim halten musste–<br />

offiziell war sie in einer DDR-Botschaft<br />

im Fernen Osten angestellt und durfte<br />

keinen Besuch empfangen. Finanziell<br />

brachte ihr die Spionagetätigkeit wenig<br />

ein, sie schildert im Gegenteil, wie pedantisch<br />

die Stasi-Buchhalter ihre knappen<br />

Spesen abrechneten.<br />

Olbrich hattedie Identitäteiner realen<br />

Person angenommen, die aus der BRD in<br />

die DDR übergesiedelt war, dort krank<br />

und von der Stasi hospitalisiert wurde.<br />

Die Agentin lernte die echte Sonja Lüneburg<br />

nie kennen. Dass sie kurze Zeit gar<br />

Sekretärin eines anderen Stasi-Informanten,<br />

des FDP-Bundestagsmitglieds<br />

William Borm, wurde, ohne dass die beiden<br />

von der geheimen Tätigkeit des jeweils<br />

anderen wussten, gehört zu den<br />

raffinierteren Spezialitäten der DDR-<br />

Spionage.<br />

Im August 1985 wurde «Sonja Lüneburg»<br />

überstürzt in die DDR zurückbeordert,<br />

weil sie in den Ferien in Rom ihre<br />

Tasche mit Ausweisen liegen gelassen<br />

hatteund um ihreAufdeckungfürchtete.<br />

Sie lebtefortan wieder ihr «erstes» Leben<br />

als Rentnerin in der DDR.<br />

Entdeckt wurde Johanna Olbrich erst<br />

nach dem Mauerfall im Juni 1991. Sie<br />

wurde wegen Nachrichtendienstes zugunsten<br />

eines fremden Staates zu 1¾<br />

Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt.<br />

DerBundesrepublik Deutschland<br />

war gemäss dem Gericht«kein messbarer<br />

Schaden» entstanden. Martin Bangemann<br />

sagte als Zeuge nur Gutes über<br />

seine Mitarbeiterin. Olbrich starb 2004<br />

im Alter von77Jahren; Markus Wolf hielt<br />

die Trauerrede.<br />

Olbrich war eine politische Überzeugungstäterin,<br />

die an den Sozialismus<br />

glaubte und das Ende der DDR zutiefst<br />

bedauerte. Das Buch enthält auch eine<br />

wehmütigeSeite,weil die Frau den autoritären<br />

Staat zwar nicht mochte, aber als<br />

Übergang ineine freiere, gerechtere Gesellschaft<br />

für unvermeidlich hielt. Man<br />

mag diesen Idealismus für naivhalten, in<br />

seiner Aufrichtigkeit nötigt er dennoch<br />

einen gewissen Respekt ab. Störend ist<br />

einzig die hymnische Einleitung durch<br />

den Herausgeber, einen ehemaligen Stasi-Mitarbeiter,<br />

und dessen kniefällige<br />

Haltunggegenüber der DDR. ●<br />

29.September 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 23


Sachbuch<br />

Musik Die400-jährigeEntwicklung einer merkwürdig realitätsfernen Kunstform vomillusionären<br />

Bühnenereignis bis zu ihrem Stillstand im 20.Jahrhundert<br />

EineOpermussdasPublikumbetäuben<br />

Carolyn Abbate, Roger Parker:Eine<br />

Geschichteder Oper. Die letzten<br />

400 Jahre. C. H. Beck, München 2013.<br />

736 Seiten, Fr.57.75.<br />

VonFritz Trümpi<br />

Opern können uns verändern: physisch,<br />

emotional, geistig. «Wir wollen erkunden,<br />

warum das so ist», erklären Carolyn<br />

Abbate und RogerParker.Kurz und bündig<br />

definieren die beiden versierten<br />

Opernspezialisten die Oper als «ein Theaterstück,<br />

bei dem die meisten Figuren<br />

(oder alle) die meiste (oder die ganze)<br />

Zeit singen.» Was dann auf 700 Seiten<br />

folgt, ist eine Geschichte dieser Kunstgattung,<br />

die kaum umfassender sein<br />

könnte:eine Musik-und Werkgeschichte<br />

sowie eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte<br />

zum Phänomen der Oper.<br />

Die Autoren vollbringen das Kunststück,<br />

einem musikalisch bewanderten<br />

Leserkreis noch so manches beizubringen,<br />

ohne <strong>Neue</strong>insteiger im Regen stehen<br />

zu lassen. Und sie tun dies mit viel<br />

Humor und der Bereitschaft, keinen<br />

noch so gefestigten Tatbestand unhinterfragt<br />

zu lassen. So finden sie es etwa<br />

keineswegs selbstverständlich, dass sich<br />

in Italien vor rund 400 Jahren eine<br />

Kunstform entwickelte, in der eine Bühnenhandlung<br />

(fast) ausschliesslich über<br />

den Gesang gestaltet wird. Damit seien<br />

Opern nämlich von vornherein realitätsfern:<br />

«Die Oper kann nie etwas Anderes<br />

sein als unwirklich.» Konsequenterweise<br />

verzichten die Autoren auch auf Notenbeispiele,<br />

denn die Oper bedeutet für sie<br />

weniger trockene Partitur als illusionsbeschwörendes<br />

Bühnenereignis. Nebst<br />

der Darstellung musikalischer Entwicklungsprozesse<br />

widmen sie sich deshalb<br />

auch dem Verlauf der bühnen- und inszenierungstechnischen<br />

sowie den inhaltlichen<br />

<strong>Neue</strong>rungen, die die Oper im<br />

Laufeihrer Geschichte erfahren hat.<br />

Eckpunkte dieser Entwicklung sind<br />

etwa Mozarts verdichtete Psychologisierung<br />

der Figuren, die formalisierte Virtuosität<br />

der Gesangssoli bei Rossini oder<br />

Wagners Verschwindenlassen des Orchesters<br />

im versteckten Graben. Solche<br />

<strong>Neue</strong>rungen verstärkten zwar die von<br />

vornherein bestehende Realitätsferne<br />

von Opernwerken. Sie wirken darum<br />

aber bis heute betäubender und vermögen<br />

das Publikum mit emotionaler, geistiger,<br />

japhysischer Wucht zuerfassen.<br />

Ausserdem wiesen die Opern in ihren<br />

ersten 300 Jahren hohe Aktualitätsbezüge<br />

auf,dajede Saison fast ausschliesslich<br />

brandneue Kompositionen vors Publikum<br />

kamen. Der Erfolgszwang war<br />

darum umso stärker: Ähnlich wie heute<br />

der Film musste jede Oper «auf Anhieb<br />

einschlagen», weshalb sich ernste und<br />

komische Spielarten der Oper ausbildeten,<br />

um unterschiedliche Publikumsschichtenzubedienen.<br />

Erst ab etwa 1850 etablierte sich «einhergehend<br />

mit der zunehmenden Wertschätzung<br />

für die Oper als Kunstwerk»<br />

ein Repertoire aus Klassikern, wie wir es<br />

heutekennen. Im Laufedes 20.Jahrhunderts<br />

verschob sich allerdings der «Proporz<br />

zwischen alten und neuen Werken»<br />

immer stärker zugunsten der Ersteren.<br />

Folge war die gepflegte Langeweile, der<br />

Rossini-Oper «Il Turco<br />

in Italia» mit Cecilia<br />

Bartoli und Ruggero<br />

Raimondi:Aufführung<br />

im Opernhaus Zürich<br />

am 28. April 2002.<br />

Kanon der anerkannten Meisterwerke<br />

war baldallzu vertraut. Davonprofitierte<br />

jedoch nicht das zeitgenössische Opernschaffen,<br />

sondern die «Wiederbelebung<br />

des Alten», wie sie sich etwa in der Händel-Renaissance<br />

zeigte. Während Kompositionsaufträge<br />

für Opern ab der zweitenHälftedes<br />

20.Jahrhunderts praktisch<br />

verschwanden, entwickeltesich die Neuinszenierung<br />

von Opernklassikern zur<br />

eigenen Kunst.<br />

Was müsste geschehen, um die «museale<br />

Leidenschaft» zugunsten eines ak-<br />

Psychologie DerbritischeAnalytiker Stephen GroszerzähltFallgeschichtenvon derCouch<br />

TiefenbohrungenindieSeele<br />

Stephen Grosz: Die Frau, die nicht lieben<br />

wollteund anderewahreGeschichten über<br />

dasUnbewusste.S. Fischer,Frankfurt a. M.<br />

2013. 235 Seiten, Fr.31.90,E-Book 22.–.<br />

VonAnja Hirsch<br />

24 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013<br />

Der Fallbericht, wie Sigmund Freud ihn<br />

schrieb, als literarisches Schmuckstück,<br />

ist aus der Mode gekommen. Dass er<br />

nichtnur als Fingerübungfür den Therapeuten,<br />

sondern auch für Leser von Gewinn<br />

sein kann, zeigt Stephen Grosz mit<br />

seinem Buch «Die Frau, die nicht lieben<br />

wollte und andere wahre Geschichten<br />

über das Unbewusste». Der inAmerika<br />

aufgewachsene, in London praktizierende<br />

Psychoanalytiker, der am University<br />

College lehrt und für die «Financial<br />

Times» schreibt, erzählt erstmals aus 25<br />

Jahren Arbeit und über 50000 Stunden<br />

kurzeEpisoden in einfacher Sprache.<br />

Zum Beispiel die Geschichte eines<br />

jungen Mannes, der nach einem Selbstmordversuch<br />

einige Stunden Patient bei<br />

Grosz ist –bis die Nachricht von seinem<br />

Tod eintrifft. Schon davor hatte Grosz<br />

das Gefühl, der Mann tauche in den<br />

Stunden einfach ab, sobald Nähe entstehen<br />

könnte. Und natürlich macht sich<br />

der Analytiker Vorwürfe, dass er den<br />

Selbstmord nicht hat verhindern können.<br />

Er schläft schlecht. Reichlich Supervision<br />

beruhigt ihn mässig. Da klingelt<br />

irgendwann das Telefon, und der «Tote»<br />

meldet sich zurück: Er lebe noch, ob er<br />

die Analyse fortsetzen könne?<br />

31 solcher Tiefenbohrungen in die<br />

menschliche Psyche sind hier versammelt,<br />

parabelhafte Detektivgeschichten,<br />

die nichtimmer gut ausgehen, in diesem<br />

Falle aber doch, nachdem der Schlüssel<br />

gefunden ist: Hineingeboren in eine unglückliche<br />

Ehe viel zu junger Eltern, die<br />

ihre Aggression auch am Baby entluden,<br />

war Abhängigkeit für den Mann immer<br />

gefährlich. Und so kommt es auch im<br />

Erwachsenenalter immer wieder dazu,<br />

dass er Freundschaften abbricht, sobald<br />

sie zu intim werden – zum Beispiel,<br />

indem er anderevor den Kopf stösst oder<br />

schockiert.<br />

Aber auch unscheinbare Konflikte<br />

sind Grosz der Weitererzählung wert.<br />

Graham etwa verbreitet überall Langeweile.<br />

Das wird ihm vonallen gesagt. Die<br />

Langeweile verhindert den Karrieresprung<br />

und zerstört die Beziehung. Sie<br />

ergreift auch bisweilen den Analytiker,<br />

der verschiedene Vermutungen über<br />

deren Funktion anstellt: Stellt sich der<br />

Patient damit tot? Will er unbequeme<br />

Themen meiden? Ist die Langeweile ein<br />

Instrument gegen emotionale Aufwallung?<br />

Jedes Stichwort ist Grosz Anlass,<br />

das Spielfeld zuumreissen, das im Therapieraum,<br />

auf der Strasse, auch in Grosz’<br />

privatem Leben eine dunkle Ecke ausleuchten<br />

hilft. «Schmerz als Geschenk»,<br />

«Wie man durch Lob Vertrauen verliert»<br />

– hinter solchen Überschriften öffnen<br />

sich Schicksale. Alle erzählen von der<br />

Möglichkeit, etwas zu ändern, und sei es<br />

nur die Einstellungzum Konflikt.


Geschichte John C. G. Röhls Standardwerk über Wilhelm II. erscheintneu<br />

als kompakte Kurzbiografie<br />

DerletztedeutscheKaiser<br />

unddieFolgenfürdieWelt<br />

tuellen Musikschaffens zu unterbinden?<br />

Nach Abbate und Parker reicht esnicht<br />

aus, bloss «auf dem Ritual zu bestehen,<br />

neue Opern in Auftrag zu geben». Ergänzend<br />

dazu wären alte Opern «zu begrenzen,<br />

für immer zu vernichten und deren<br />

Aufführungsorte zumeiden». Die Autoren<br />

fordern dies natürlich nicht ein, sie<br />

haben sich mit dem musealen Charakter<br />

der Oper abgefunden. Aber immerhin<br />

stellen sie kühne Positionen wie diese<br />

zur Diskussion – was eine anregende<br />

Lektüregarantiert. ●<br />

Unbedingt lesenswert aber wird dieses<br />

Buch durch die Haltung, die Stephen<br />

Grosz vermittelt. Psychoanalyse, sagt er<br />

in einem Interview, sei der Versuch, gemeinsam<br />

das Nicht-Wissen zu erkunden.<br />

Die Geschichten sind ja noch da, irgendwo<br />

begraben. Sie müssen nur erzählt<br />

werden. Er siehtsich als Begleiter.<br />

Denn wenn wir sie nicht erzählen,<br />

heisst es einmal, erzählt die Geschichte<br />

uns –mit vielleicht fatalen Folgen. An<br />

dieser ebenso spannenden wie berührenden<br />

Archivarbeit lässt uns Stephen<br />

Grosz in seinen Miniaturen teilhaben. Er<br />

schreibt mitNeugier und Bescheidenheit<br />

auf eine Erkenntnis zu, die er teilen<br />

möchte. Und er verschweigt dabei nicht<br />

die eigenen Ängste und Hilflosigkeit,<br />

sondern nutzt sie, wie jeder gute Therapeut,<br />

als Wegweiser. Passt es, zieht er<br />

auch mal unkonventionell die Literatur<br />

zu Rate, Geschichten wie Herman Melvilles<br />

«Bartleby». Sein Buch macht Mut<br />

zur Veränderung. Ein Ratgeber aber ist es<br />

zum Glück nie. ●<br />

NIKLAUSSTAUSS<br />

DDP IMAGES<br />

John C. G. Röhl: Wilhelm II. C. H. Beck,<br />

München 2013. 144 Seiten, Fr.14.90.<br />

VonAlexis Schwarzenbach<br />

Dreissig Jahre, von 1888 bis 1918, war<br />

Wilhelm II. deutscher Kaiser. Lange hat<br />

das kaum jemanden interessiert, denn<br />

man hielt den Monarchen für politisch<br />

unbedeutend. Das änderte sich, als der<br />

britisch-deutsche Historiker John C. G.<br />

Röhl 1993 mit der Publikation einer aussergewöhnlich<br />

gut recherchierten Kaiser-Biografie<br />

begann, deren letzter Band<br />

2008 erschien. Seither ist klar, dass Wilhelm<br />

II. die deutsche Politik entscheidend<br />

mitprägte, von der Entlassung Bismarcks<br />

bis hin zum Ersten Weltkrieg.<br />

Doch ob der eindrücklichen Länge der<br />

röhlschen Monografie –sie umfasst über<br />

4000 Seiten –haben die meisten Historiker,<br />

darunter auch der Autor dieses Beitrags,<br />

das Magnum opus bisher nur als<br />

Nachschlagewerk genutzt. Es<br />

ist daher sehr erfreulich, dass<br />

nun eine 144-seitige Zusammenfassung<br />

vorliegt, die sich<br />

in kurzer Zeit bequem lesen<br />

lässt.<br />

Wer glaubt, ein Biograf<br />

müsse nach jahrzehntelanger<br />

Beschäftigung mit<br />

einem Subjekt dem<br />

Stockholm-Syndrom<br />

anheimfallen und<br />

seinen Protagonisten<br />

idealisieren,<br />

wird bei Röhl eines<br />

«Unser Kaiser im<br />

Felde»: DasSujet<br />

auf einer Postkarte<br />

zeigt Wilhelm II.<br />

vonPreussen<br />

mit Pickelhaube<br />

(Aufnahmedatum<br />

unbekannt).<br />

Besseren belehrt. Statt den Kaiser in positivesLichtzurücken,<br />

machtder inzwischen<br />

emeritierte Professor deutlich,<br />

dass Wilhelm II. zwar nicht das Monster<br />

war, für das ihn die Entente-Propaganda<br />

im Ersten Weltkriegs ausgab, aber auch<br />

nicht der Spielball seiner Umgebung<br />

oder gar ein bemitleidenswerter Fürst,<br />

dessen politische Fehler mit einer<br />

schlimmen Kindheit und Jugend erklärt<br />

werden könnten. Obwohl er Wilhelms<br />

erste Lebensphase, die von seiner ehrgeizigen<br />

Mutter, der britischen Prinzessin<br />

Victoria, geprägt war, als «Seelenmord<br />

aneinem Thronerben» eindrücklich<br />

schildert, erklärt Röhl, dass sich sein<br />

Kaiserbild auf Grundlage neuester Forschungsergebnisse<br />

«um mehrere Schattierungenverdunkelt»<br />

habe.<br />

Besonders negativ bewertet er den<br />

Einfluss des «Persönlichen Regiments»,<br />

mit dem der Kaiser die Macht imStaate<br />

nicht nur symbolisch, sondern auch realiter<br />

an sich riss. Eine der «folgenschwersten<br />

Entscheidungen» war die<br />

Entlassung von Reichskanzler Bismarck<br />

1890. Mit der Wahl schwacher Nachfolger<br />

verlagerte sich das «Zentrum der<br />

Machtvom Kanzler zum Kaiser,von den<br />

grünen Tischen der Wilhelmstrasse ins<br />

Schloss, vom Staat zum Hof». Wilhelm<br />

umgab sich mit Beratern, die an der<br />

Zentralität seiner politischen Entscheidungsgewalt<br />

nichtzweifeln wollten. Das<br />

führte in den 1900er Jahren zwar zu<br />

einer Reihe von Skandalen, allen voran<br />

um den KaiserfavoritenEulenburg. Doch<br />

schliesslich wurde nur eine Freundesclique<br />

durch eine andere ausgetauscht,<br />

diejenige umden Fürsten Fürstenberg<br />

und den österreichischen Thronfolger<br />

Franz Ferdinand.<br />

Aus diesen Überlegungen heraus ergibt<br />

sich für Röhl «eine schwere Schuld»<br />

des Kaisers am Ersten Weltkrieg. Zwar<br />

zählte Wilhelm in der Julikrise von 1914<br />

nicht zuden Falken, doch habe das Persönliche<br />

Regiment den preussisch-deutschen<br />

Staat dermassen durchdrungen,<br />

dass in den entscheidenden Wochen<br />

keine «umsichtigen Mahner» die Entscheidungen<br />

getroffen hätten, sondern<br />

Kaisergünstlinge,die einen vonWilhelm<br />

selbst immer wieder herbeigeredeten<br />

Entscheidungskrieg mit England unterstützten.<br />

In dieser Einschätzung unterscheidet<br />

sich Röhl vom australischen<br />

Historiker und Preussenspezialisten<br />

Christopher Clark, der in seinem neuen<br />

Buch zum Kriegsausbruch die Wankelmütigkeit<br />

des Kaisers und die Entscheidungsautonomie<br />

der deutschen Regierung<br />

betont. Im Publikations-Tsunami<br />

zum Ersten Weltkrieg, der in den<br />

kommenden Wochen über uns hereinbrechen<br />

dürfte, ist Röhls Buch<br />

trotzdem eine unverzichtbare Navigationshilfe,<br />

da es einen der wichtigsten<br />

Akteure präzis und facettenreich<br />

darstellt. ●<br />

29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 25


Sachbuch<br />

Prognosen WarumWettervorhersagen eher zutreffenals ökonomischeModellrechnungen<br />

DerwahreProphetleugnetseineGabe<br />

Nate Silver:Die Berechnung der Zukunft.<br />

Warumdie meisten Prognosen falsch<br />

sind und manche trotzdem zutreffen.<br />

Heyne, München 2013. 656Seiten,<br />

Fr.34.90,E-Book 23.40.<br />

VonMichaelHolmes<br />

Der US-Statistiker Nate Silver verdiente<br />

sechsstellige Beträge beim Pokern und<br />

entwickelte eines der besten Prognosesysteme<br />

für Baseball-Karrieren. Vorden<br />

Präsidentschaftswahlen 2012 sagteerauf<br />

seinem «New York Times»-Blog die Gewinner<br />

aller 50 Bundesstaaten korrekt<br />

voraus. Viele seiner Fans feiern ihn wie<br />

einen modernen Propheten, der mit genialen<br />

Statistikprogrammen die verborgene<br />

OrdnungimDatenchaos enthüllt.<br />

Aber in seinem US-Bestseller «Die Berechnung<br />

der Zukunft» warnt Silver eindringlich<br />

vorverlockend einfachen Wundermodellen<br />

und alleserklärenden Weltformeln.<br />

Seine Hauptthese besagt, dass<br />

wir jede kluge Idee in eine gefährliche<br />

Ideologie verwandeln, wenn wirihreErklärungskraft<br />

und Reichweiteüberschätzen.<br />

Seinen Analysen zufolgelagen Fernsehexperten,<br />

die Vorhersagen zu zahlreichen<br />

Themen abgaben, ebenso häufig<br />

richtig wiefalsch.<br />

Silver demonstriert, dass wirdie exponentiell<br />

wachsenden Datenmengen und<br />

Rechenkapazitäten der Computer optimal<br />

nutzen, wenn wir möglichst viele<br />

Theorien, Methoden und Programme<br />

offen diskutieren, streng prüfen und<br />

schrittweise verbessern.<br />

Die grössten Fortschritte habe die<br />

Wettervorhersage vorzuweisen, da der<br />

harte Konkurrenzkampf der Wetterdiensteohne<br />

ideologische Scheuklappen<br />

geführt werde. Ausserdem hätten die<br />

Meteorologen die Stärken und Schwächen<br />

ihrer Computersimulationen erkannt.<br />

Zum Beispiel hatten die Sturmforscher,<br />

Tage bevor der Hurrikan Katrina<br />

New Orleans verwüstete, auf die Evakuierunggedrängt.<br />

Silver erläutert im Detail, warum er<br />

eine Klimaerwärmung um ein bis drei<br />

Grad in den nächsten 100 Jahren für sehr<br />

wahrscheinlich hält. Er legt überzeugend<br />

dar,wie der blinde Glaube an die Modelle<br />

der Ratingagenturen, Banker und Staatsökonomen<br />

zur Subprime-Krise führte.<br />

Auch der Angriff auf Pearl Harbour, die<br />

Terroranschläge vom 11. September und<br />

die Atomkatastrophe von Fukushima<br />

hätten sich seiner Einschätzung nach<br />

eventuell verhindern lassen, wenn die<br />

Verantwortlichen nicht das Seltene mit<br />

dem Unmöglichen verwechselt hätten.<br />

Silver mahnt zuSkepsis, Neugier und<br />

Bescheidenheit inden grossen Streitfragen.<br />

Wird es dem Statistik-Superstar wie<br />

Monty Pythons Brian ergehen? «Ich bin<br />

nicht der Messias!», ruft dieser seinen<br />

Jüngern zu –und die begreifen sogleich:<br />

«Nur der wahrhaftige Messias leugnet<br />

seine Göttlichkeit!» ●<br />

Dasamerikanische Buch Soul Food –Kochen für dieSeele<br />

Die afroamerikanische Tradition hat<br />

der Welt kräftigeAnstösse in Musik,<br />

Kunst und Mode gegeben. Seit den<br />

1970er Jahren «Soul Food» genannt,<br />

findet die Küche der Schwarzen jedoch<br />

weder in den USAnoch international<br />

einen vergleichbaren Anklang. Dabei<br />

hatSoul Food eine erhebliche gesellschaftspolitische<br />

Bedeutungund erlebt<br />

derzeitinRestaurants wiedem «Red<br />

Rooster» in Harlem eine schmackhafte<br />

Renaissance. Durch diese Landschaft<br />

führt mitleichterHand Adrian Miller in<br />

seinem erstenBuch SoulFood: The<br />

Surprising Story of an American Cuisine,One<br />

Plate at aTime (University of<br />

North Carolina Press, 333 Seiten). Von<br />

Haus aus Jurist, war Miller unteranderemfür<br />

Bill Clintontätig und dient<br />

heuteals Geschäftsführer einer Kirchenorganisation<br />

in Denver, Colorado.<br />

In den letzten Jahren hatsich der Absolventder<br />

EliteuniversitätenStanford<br />

und Georgetown auch als Küchenexperteund<br />

Richterbei Barbecue-<br />

Wettbewerben einen Namen gemacht.<br />

In den Rocky Mountains geboren, hat<br />

Miller seine Wurzeln nichtvergessen.<br />

Dafür sorgten die Rezepte, die Millers<br />

Eltern als Migrantenaus den ehemaligenSklavenstaatendes<br />

Südens mitgebrachthatten.<br />

Daran knüpft der Autor<br />

an, wenn er zunächst seine tiefeBindungandie<br />

frittierten Hühnchenteile,<br />

den Grünkohl und kandierten Yams seiner<br />

Kindheitschildert und dann die<br />

historische Entwicklungder afroamerikanischen<br />

Küche nachzeichnet.<br />

Miller erklärt, dass bestimmte Nahrungsmittel<br />

entweder vonversklavten<br />

Afrikanern mitindie heutigen USAgebrachtworden<br />

sind oder ohne deren<br />

Expertise kaum in der <strong>Neue</strong>n Welt Fuss<br />

Auch die schmackhafteBohnensuppe<br />

gehörtzum Soul Food,<br />

der traditionellen<br />

Küche der Schwarzen<br />

in den USA.<br />

AutorAdrian Miller<br />

(unten).<br />

gefasst hätten. Dies gilt besonders für<br />

den Reisanbau an der Küstevon South<br />

Carolina.<br />

Daneben nahm der Verzehr vonHühnern<br />

oder Innereien in der westafrikanischen<br />

Yoruba-Kultur eine zentrale Stellungein,<br />

da diese als Brücken zu spirituellen<br />

Sphären betrachtetwurden. Diese<br />

Tradition konnte in Nordamerika fortleben,<br />

da Hühner und Schweinedärme<br />

verhältnismässig preisgünstig oder<br />

durch eigene Aufzuchtauch für Sklaven<br />

verfügbar waren. Allerdings kamen<br />

beide Speisen bis in das 20.Jahrhundert<br />

vorrangig an Sonn- und Feiertagen auf<br />

den Tisch. Da die Schwarzen im Süden<br />

lange nichtüber einen Herd mitBackofen<br />

verfügten, wurdedas schon in<br />

Westafrika bekannte Frittieren zu einer<br />

bevorzugten Garmethode. Nichtzuletzt<br />

deshalb ist Soul Food bis heutesokalorienhaltig.<br />

Dies erklärt die Skepsis vieler<br />

Amerikaner der schwarzen Küche<br />

gegenüber jedoch nur teilweise. Dazu<br />

kamen –Miller zufolge–rassistische<br />

Vorurteile. So werden Hühner bis heute<br />

zwar als «Gospel Bird» bezeichnet, weil<br />

den schwarzen Pastoren bei ihren sonntäglichen<br />

Hausbesuchen frittierte<br />

Hühnchen vorgesetzt wurden. Diese<br />

Vorliebe entgingden Weissen nicht,<br />

weshalb das Geflügel in bösartigen Karikaturen<br />

auftauchte,die Schwarzeals<br />

dumm und schreckhaft denunzierten<br />

und mit«kopflosen Hühnern» verglichen.<br />

Neben dem Aufkommen vonpreiswerteremFast<br />

Food hatdiese negative Aufladungvielen<br />

Schwarzen den Appetit<br />

auf die Küche ihrer Vorfahren verdorben.<br />

Doch genau aus diesem Grund hat<br />

die Black-Power-Bewegungder 1960er<br />

Jahrediese Esskultur zu einem Symbol<br />

schwarzen Stolzes stilisiert. In jüngster<br />

Zeitkommtbei der Diskussion über<br />

«Chitterlings» (gekochte oder frittierte<br />

Schweinedärme) und Catfish auch akademisches<br />

Besteck zum Einsatz. So<br />

greift Miller bei seiner Darstellungauf<br />

alteKochbücher ebenso zurück, wieauf<br />

die umfangreiche Fachliteratur über<br />

Soul Food. Zudem hater150 einschlägige<br />

Lokale in allen Teilen der USAbesucht.<br />

Dass er in seiner anregenden<br />

Darstellungakademischen Jargonvermeidet<br />

und klassische Rezeptefür<br />

«Black-Eyed Peas» (Augenbohnen) oder<br />

«Hibiscus Aid» (ein rotesSüssgetränk<br />

aus Hibiscus-Blüten) vorstellt, trägt<br />

dem Buch in den USAzuRechtfreundliche<br />

Kritiken ein.<br />

VonAndreas Mink ●<br />

26 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013


Agenda<br />

Fotoreportage Unterwegsmit SteveMcCurry<br />

AgendaOktober2013<br />

Basel<br />

Mittwoch, 16.Oktober,20Uhr<br />

Michèle Roten: WieMuttersein. Lesung,<br />

Fr.15.–. Thalia Bücher,Freie Strasse 36.<br />

Tel. 061 2642655.<br />

Donnerstag, 17.Oktober,19Uhr<br />

Norbert Gstrein: Eine Ahnung<br />

vomAnfang. Lesung, Fr.17.–.<br />

Literaturhaus, Barfüssergasse<br />

3, Tel. 061 261 29 50.<br />

PETER HASSIEPEN<br />

Freitag, 25., bis Sonntag, 27.Oktober<br />

BuchBasel im Literaturhaus: u.a. mit<br />

Franz Hohler,Barbara Kopp und Naruddin<br />

Farah. Info: www.buchbasel.ch.<br />

Literaturhaus (siehe oben).<br />

STEVE MCCURRY/MAGNUM<br />

Der1950geboreneAmerikanerSteve McCurryzählt zu<br />

den bedeutendstenFotojournalistenunserer Zeit.Erist<br />

Mitglied der Agentur Magnum und arbeitet für internationale<br />

Publikationen wie das «National Geographic<br />

Magazine». Im grossformatigen Band «Untold» erzählt<br />

Steve McCurryinTextund Bild vonder Entstehung einiger<br />

seiner berühmtestenBildreportagen. Wirerleben<br />

mit ihm die indische Eisenbahn (siehe Bild) und den<br />

Monsun in Ländern Südostasiens. Wirbeobachten mit<br />

ihm die Umweltverheerungen des zweiten Golfkriegs<br />

BestsellerSeptember 2013<br />

Belletristik<br />

1<br />

2<br />

AlexCapus:<br />

3<br />

Jojo<br />

4<br />

Franz<br />

5<br />

Jonas<br />

6<br />

Gillian<br />

7<br />

Milena<br />

8<br />

DanBrown:<br />

9<br />

UrsWidmer:Reise<br />

10<br />

Joël Dicker:Die Wahrheit über den Fall Harry<br />

Quebert.Piper. 736Seiten, Fr.36.90.<br />

Der Fälscher,die Spionin und<br />

der Bombenbauer. Hanser. 281 S., Fr.27.90.<br />

Moyes: Ein ganzes halbes Jahr.<br />

Rowohlt. 512 Seiten,Fr. 21.90.<br />

Hohler:Gleis 4.<br />

Luchterhand.224 Seiten,Fr. 27.90.<br />

Jonasson: Der Hundertjährige.<br />

Carl’sBooks. 412Seiten, Fr.21.90.<br />

Flynn: Gone Girl –Das perfekteOpfer.<br />

FischerScherz. 576Seiten, Fr.27.90.<br />

Moser:Das wahre Leben.<br />

Nagel &Kimche. 320 Seiten,Fr. 29.90.<br />

Inferno.<br />

Bastei Lübbe. 685 Seiten,Fr. 36.50.<br />

an den Rand des Universums.<br />

Diogenes.352 Seiten,Fr. 34.90.<br />

Martin Suter:Allmen und die Dahlien.<br />

Diogenes.224 Seiten,Fr. 28.90.<br />

(1991) im Irak, die Tempel vonAngkor Watund die<br />

Ereignisse des 11.Septembers2001inNew York. Und<br />

wermöchtenicht mit ihm zu den Tibetern aufsDach der<br />

Welt steigen?Viele vonSteve McCurrys Bildern sind zu<br />

Ikonen geworden. Bisher unveröffentlichteNotizen und<br />

Dokumenteergänzen den vorzüglich gedrucktenBand.<br />

Manfred Papst<br />

Steve McCurry: Untold. Die Geschichten hinter den<br />

Bildern. Phaidon/Edel Books, Hamburg 2013, 264Seiten,<br />

Fr.74.90.<br />

Sachbuch<br />

ErhebungMedia Control im Auftrag des SBVV;17.9.2013. Preise laut Angaben vonwww.buch.ch.<br />

1<br />

Daniela Widmer,David Och: Und morgen seid ihr<br />

tot. Dumont. 320 Seiten,Fr. 29.90.<br />

2 Duden.DiedeutscheRechtschreibung.<br />

26.Aufl.Bibliogr.Institut. 1216 Seiten,Fr. 39.90.<br />

3<br />

Annemarie Wildeisen: Mein Küchenjahr.<br />

AT.464 Seiten,Fr. 63.50.<br />

4<br />

Bronnie<br />

5<br />

Ruth<br />

6<br />

PeterBieri:<br />

7<br />

Eben<br />

8<br />

Rolf<br />

9<br />

Pascal<br />

10<br />

Ware: 5Dinge,die Sterbende am<br />

meistenbereuen. Arkana.351 Seiten,Fr. 29.90.<br />

Maria Kubitschek: Anmutig älter werden.<br />

Nymphenburger. 156 Seiten,Fr. 29.90.<br />

Eine Artzuleben.<br />

Hanser. 384Seiten, Fr.38.90.<br />

Alexander:Blick in die Ewigkeit.<br />

Ansata. 256 Seiten,Fr. 29.90.<br />

Dobelli: Die Kunstdes klaren Denkens.<br />

Hanser. 246Seiten, Fr.24.90.<br />

Voggenhuber:Kinder in der geistigen<br />

Welt. Giger.200 Seiten,Fr. 35.90.<br />

Rolf Dobelli: Die Kunstdes klugen Handelns.<br />

Hanser. 248Seiten, Fr.24.90.<br />

Bern<br />

Mittwoch, 2. Oktober,19.30 Uhr<br />

AlexGfeller:MingLi. Lesung, musikalische<br />

BegleitungMarco Morelli, Fr.13.–.<br />

Wartsaal, Lorrainestrasse 15.<br />

Reservationen: Tel. 031331 02 28.<br />

Samstag, 19.Oktober,19Uhr<br />

5. Nachtder B-Lesenen mitden Nominierten<br />

des Schweizer Buchpreises: Henriette<br />

Vásárhelyi, Ralph Dutli, Jens<br />

Steiner,Roman Graf und Jonas Lüscher.<br />

Lesungen, Fr.20.–. Kornhausforum,<br />

Kornhausplatz 18.www.b-lesen.ch.<br />

Dienstag, 22.Oktober,20Uhr<br />

Sebastián Marincolo: High. Lesung,<br />

Fr.15.–. Stauffacher Buchhandlungen,<br />

<strong>Neue</strong>ngasse 25/37, Tel. 031313 63 63.<br />

Zürich<br />

Mittwoch, 2. Oktober,19.30 Uhr<br />

Henriette Meyer-Patzelt: Augenweide.<br />

Verena Keller:Silvester in der Milchbar.<br />

ZweiLesungen, Fr.10.–. ZSVForum im<br />

Gartensaal, Cramerstrasse 7.<br />

Info: www.zsv-online.ch.<br />

Freitag, 4. Oktober,20Uhr<br />

Urs Widmer:Reise an den Rand des Universums.<br />

Lesung. BuchhandlungHirslanden,<br />

Freiestrasse 221. Info:<br />

www.buchhandlung-hirslanden.ch.<br />

Mittwoch, 16.Oktober,18.30 Uhr<br />

Hans Widmer:Das Modell des konsequentenHumanismus.<br />

Lesung. rüffer &<br />

rubVerlag, Konkordiastrasse 20.<br />

Reservation: Tel. 044 381 77 30.<br />

Donnerstag, 17.Oktober,20Uhr<br />

Daniel Kehlmann: «F». Lesung,<br />

Fr.25.–. Kaufleuten, Festsaal,<br />

Pelikanplatz 1,<br />

Tel. 044 225 33 77.<br />

Donnerstag, 24., bis Sonntag, 27.Oktober<br />

«Zürich liest». Bekannte Autorinnen und<br />

Autorenlesen in der ganzen Stadt.<br />

Programm: www.zuerich-liest.ch.<br />

BücheramSonntagNr.9<br />

erscheintam27.10.2013<br />

WeitereExemplareder Literaturbeilage «Bücher am<br />

Sonntag» können bestellt werden per Fax044 258 13 60<br />

oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind<br />

–solange Vorrat –beim Kundendienstder NZZ,<br />

Falkenstrasse 11,8001Zürich, erhältlich.<br />

HEJI SHIN<br />

29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 27


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gute Literatur.<br />

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