AliceMiller DasGeheimnis derPsycho - Neue Zürcher Zeitung
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NZZ amSonntag<br />
Nr.8|29. September 2013<br />
<strong>AliceMiller</strong> Nominiert Brasilien Weissrussland<br />
<strong>DasGeheimnis</strong> FünfAutoren Streifzugdurch Porträtsvon<br />
<strong>derPsycho</strong>analytikerin<br />
fürSchweizer 150Jahre Swetlana<br />
Buchpreis Literatur Alexijewitsch<br />
16<br />
4/5und11 12–14 22<br />
Bücher<br />
am Sonntag
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Inhalt<br />
Wennbeim<br />
SchreinerzuHause<br />
dieTüre knarrt<br />
<strong>AliceMiller</strong><br />
(Seite16).<br />
Illustration von<br />
AndréCarrilho<br />
DieKindheitsforscherin Alice Miller (1923–2010)hat sich mitihrem<br />
Weltbestseller «Das Drama des begabten Kindes» (1979) in die Herzen<br />
vieler Eltern, Kinder,Pädagoginnen und Erzieher geschrieben. Sie<br />
beschwört die Nötedes sensiblen Kindes, das schon frühdie Erwartungen<br />
seiner Eltern spürt, sich ihnen anpasst und damiteinen Teil seiner<br />
«unerwünschten» Gefühle unterdrückt oder abspaltet. Dieses Drama hat<br />
offenbar auch Millers eigener Sohn Martin erlebt, der sich mitseiner<br />
verstörten Kindheit, den Schlägen seines Vaters und dem vergeblichen<br />
Versuch auseinandersetzt, eine emotionale Beziehungzuseiner Mutter<br />
aufzubauen. Ein Phänomen, das der Volksmund mitdem Bonmot<br />
kommentiert, dass beim Schreiner zu Hause die Türen knarren. Dass<br />
Martin Miller keine Anklageerhebt, sondern dem Kindheitstrauma von<br />
Alice Miller,ihrer Jugend im Ghetto,ihren jüdischen Wurzeln und der<br />
unglücklichen Ehe nachgeht,machteszueinem «ebenso ergreifenden wie<br />
historisch bedeutsamen Buch» (Seite 16).<br />
Im Weiteren stellen wirIhnen in dieser Nummer die fünf Nominierten für<br />
den Schweizer Buchpreis vor–mit einer Ausnahme alles Nachwuchstalente<br />
(S.4und 11). Ebenso den «Roman in Stimmen» vonSwetlana<br />
Alexijewitsch, die am 13. Oktober mitdem Friedenspreis des Deutschen<br />
Buchhandels ausgezeichnet wird (S.22).<br />
Wirwünschen Ihnen viel Lesevergnügen! Urs Rauber<br />
Belletristik<br />
4 Jonas Lüscher:Frühling der Barbaren<br />
VonRegula Freuler<br />
6 NorbertGstrein: Eine Ahnung vom<br />
Anfang<br />
VonSandra Leis<br />
7 Elizabeth Strout:Das Leben, natürlich<br />
VonSimone vonBüren<br />
8 Ayelet Gundar-Goshen: Eine Nacht,Markowitz<br />
VonKlara Obermüller<br />
Felix Krämer,Max Hollein: Hans Thoma<br />
VonGerhardMack<br />
9 AmyHempel: Die Ernte<br />
VonMartin Zingg<br />
10 Patrick Roth: Die amerikanische Fahrt<br />
VonBruno Steiger<br />
11 E-Krimi des Monats<br />
Marcus Richmann: Engelschatten<br />
VonChristine Brand<br />
Kurzkritik SchweizerBuchpreis<br />
11 HenrietteVásárhelyi: immeer<br />
VonManfredPapst<br />
Ralph Dutli: Soutines letzteFahrt<br />
VonManfredPapst<br />
Jens Steiner:Carambole<br />
VonRegula Freuler<br />
Roman Graf:Niedergang<br />
VonRegula Freuler<br />
Essay<br />
12 Die Hälftevon Südamerika<br />
GeorgSütterlin über die Literatur Brasiliens,<br />
des diesjährigen Gastlandes an der<br />
Frankfurter Buchmesse<br />
Kolumne<br />
15 Charles Lewinsky<br />
Das Zitatvon Gilbert KeithChesterton<br />
Die amerikanische Autorin AmyHempel isteine Meisterin<br />
des minimalistischen Erzählens (S. 9).<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
15 Henryk M. Broder:Die letzten Tage Europas<br />
VonUrs Rauber<br />
D. Schwegler,V.Püntener:Traum Alp<br />
VonGenevièveLüscher<br />
UweHinrichs: Multi Kulti Deutsch<br />
VonGenevièveLüscher<br />
Stephen Emmott:Zehn Milliarden<br />
VonKathrin Meier-Rust<br />
Sachbuch<br />
16 Martin Miller:Das wahre «Drama des begabten<br />
Kindes»<br />
VonKathrin Meier-Rust<br />
JIM COOPER /AP<br />
18 Ruedi Leuthold: Brasilien<br />
VonSebastian Bräuer<br />
19 MaikeAlbath: Rom, Träume<br />
VonJanika Gelinek<br />
20 Thomas Wynn, Frederick L.Coolidge: Denken<br />
wie ein Neandertaler<br />
VonGenevièveLüscher<br />
21 Bernd Roeck, Martina Stercken et al.: Schweizer<br />
Städtebilder,Urbane Ikonographien (15.–21.<br />
Jahrhundert)<br />
VonTobias Kaestli<br />
22 Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit<br />
VonIna Boesch<br />
23 GünterEbert:DieTopagentin.JohannaOlbrich<br />
aliasSonjaLüneburg<br />
VonUrs Rauber<br />
Alessandro Della Bella: Helvetia by night<br />
VonKatrin Meier-Rust<br />
24 Carolyn Abbate, Roger Parker:Eine Geschichte<br />
der Oper<br />
VonFritz Trümpi<br />
Stephen Grosz: Die Frau, die nicht lieben wollte<br />
und andere wahre Geschichten über das<br />
Unbewusste<br />
VonAnja Hirsch<br />
25 John C. G. Röhl: Wilhelm II.<br />
VonAlexis Schwarzenbach<br />
26 Nate Silver:Die Berechnung der Zukunft<br />
VonMichael Holmes<br />
Dasamerikanische Buch<br />
Adrian Miller:Soul Food: The Surprising Storyof<br />
an American Cuisine,One Plate at aTime<br />
VonAndreas Mink<br />
Agenda<br />
27 Steve McCurry: Untold. Die Geschichten hinter<br />
den Bildern<br />
VonManfredPapst<br />
Bestseller September 2013<br />
Belletristik und Sachbuch<br />
Agenda Oktober 2013<br />
Veranstaltungshinweise<br />
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung),Regula Freuler (ruf.), GenevièveLüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), ManfredPapst (pap.)<br />
StändigeMitarbeit Urs Altermatt,Urs Bitterli, ManfredKoch, GunhildKübler,Sandra Leis, Charles Lewinsky,Beatrix Mesmer,Andreas Mink, Klara Obermüller,Angelika Overath,<br />
Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans PeterHösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), KorrektoratSt.Galler Tagblatt AG<br />
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax0442617070,E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />
29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik<br />
SchweizerBuchpreis JonasLüscher istdie literarischeEntdeckung des Jahres.<br />
Sein Debüt«Frühling derBarbaren» isteine brillante Novelleüber dieFinanzkrise<br />
Mankannes<br />
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ULRIKE ARNOLD<br />
Jonas Lüscher:Frühling der Barbaren.<br />
C. H. Beck, München 2013. 125 Seiten,<br />
Fr.21.90,E-Book 14.90.<br />
VonRegula Freuler<br />
Jonas Lüscher<br />
1976 in Zürich geboren, liessJonas Lüscher<br />
sich in Bern zumPrimarlehrer ausbilden.<br />
Danach arbeiteteerinMünchen als Dramaturg<br />
und Drehbuchlektor. Es folgteein<br />
Studium der Philosophie,anschliessend<br />
arbeiteteerals Ethiklehrer.Seit Februar<br />
2011 schreibtLüscher an der ETH Zürich an<br />
seiner philosophischen Dissertation über<br />
die Bedeutung vonNarrationen für die<br />
Beschreibung sozialer Komplexität.Sein<br />
Roman «Frühling der Barbaren» istfür den<br />
Schweizer Buchpreis nominiert.<br />
DenTunesiern ist das Kamel ja gewissermassen,<br />
was uns Schweizern die Kuh.<br />
Passend zum Schauplatz seines literarischen<br />
Debüts «Frühling der Barbaren»,<br />
einer brillanten Parabel zur Finanzkrise,<br />
wählte Jonas Lüscher den behöckerten<br />
Paarhufer als Leitmotiv. Doch setzt der<br />
Schriftsteller das Vieh nicht etwa als folkloristische<br />
Kulisse ein, nein, er veranstaltet<br />
ein regelrechtes Kamel-Ragout.<br />
Zuerst wird eine ganze Herde von einem<br />
Touristenbus totgekarrt, dann muss ein<br />
Exemplar als Partyattraktion herhalten,<br />
und am Ende wird es geschlachtet und<br />
nach Survival-Rezept zubereitet.<br />
Die Hauptfigur, der Schweizer Fabrikerbe<br />
Preising, ein weltfremder Schöngeist,<br />
wird während einer Geschäftsreise<br />
Zeuge der Gemetzel. War dieses plötzliche<br />
Umschlagen von Zivilisation in Barbarei<br />
der Grund, weshalb Preising sich<br />
nun in einer psychiatrischen Einrichtung<br />
befindet, wie wir zu Beginn des Buches<br />
lesen? Wir erfahren es nicht. Stattdessen<br />
berichtet erüber die Ereignisse aus seiner<br />
Sicht, die durch eine allwissende Erzählerstimme<br />
ergänzt wird. Dazu streut<br />
der AutorKommentarevon Preisings Zuhörer<br />
ein, der Patient inderselben Anstalt<br />
ist. IhreGemeinsamkeit: Beide sind<br />
zur Passivität bestimmt –was Preising,<br />
ein Schweizer Oblomow mit Vorliebe für<br />
Tweedjacket und Manchesterhose,<br />
durchaus als Tugend auffasst.<br />
Geschmeidige Frauen<br />
Preisingist der Prototyp jenes Menschen,<br />
der sich stets aus der Verantwortung<br />
stiehlt, wiegleich zu Beginn erklärt wird.<br />
Vornicht allzu langer Zeit hat er die väterliche<br />
Firma im Seeland geerbt. Kurz<br />
darauf erfand ein Mitarbeiter, ein junger<br />
Messtechniker, ein elektronisches Bauteil,<br />
das für Mobilfunkantennen unerlässlich<br />
ist. Aus dem maroden Familienbetrieb<br />
wurde ein internationales Unternehmen<br />
mit 1500 Mitarbeitern, an der<br />
Spitzeder ehemaligeMesstechniker «zusammen<br />
mit einer Riege entschlussfreudiger<br />
Leistungsträger und Wertschöpfer».<br />
Preisings Aufgabe ist es, «Beständigkeit<br />
zuvermitteln». Dafür scheint er<br />
wie geschaffen zu sein, was der 37-jährige<br />
Autor nicht nur mit der Beschreibung<br />
von Preisings Kleidergeschmack, sondern<br />
auch mit einem ungewöhnlichen<br />
Erzählstil vermittelt. Ungewohnt altmodisch<br />
ist dieser mitseinen verschachtelten<br />
Satzkonstruktionen und der<br />
gespreizten Wortwahl –ein raffinierter<br />
Kunstgriff,mit dem der Schriftsteller uns<br />
einerseits den Protagonisten vom Leib<br />
hält und andererseits moralische Fragen<br />
aufwerfen kann, ohne moralisierend zu<br />
wirken.<br />
Lüscher setzt auf die Kraft der feinen<br />
Ironie: in absatzlangen Abschweifungen<br />
wie jenen über die Transpirationsfähigkeit<br />
von Säugetieren, insbesondere von<br />
Kamelen. Oder jenen über Roger Trinquier,<br />
Propagator der brutalen «modernen<br />
Kriegsführung», die der Autor mit<br />
der schlichten Bemerkung enden lässt:<br />
«Doch die Quelle [dieser Geschichte], so<br />
erinnertesich Preising, war zweifelhaft.»<br />
Wie Lüscher hier einer Figur nonchalant<br />
den Teppich unterden Füssen wegzieht,<br />
ist einfach köstlich zu lesen. Solche Stellen<br />
gibt es zuhauf in diesem Buch, das<br />
seitseinem Erscheinen im Januar bereits<br />
mit mehreren Preisen ausgezeichnet<br />
worden ist, auf der Longlist des Deutschen<br />
Buchpreises stand und nun ein Favoritfür<br />
den Schweizer Buchpreis ist, der<br />
am 27.Oktober vergeben wird.<br />
Wie geht esweiter mit Preising? Stehen<br />
in der Firma wichtige Entscheidungenan,<br />
wird er in die «Ferien» geschickt.<br />
Diesmal soll er nach Tunesien. Von der<br />
Tochter eines ansässigen Geschäftspartners<br />
wird er in ein Oasenresort geleitet.<br />
An dieser Stelle liest man zum ersten Mal<br />
vonder prekären Lage des englischen Finanzsystems,<br />
die wie ein Fremdkörper<br />
in den Bericht dieses Realitätsphobikers<br />
Schauplatz des<br />
Zivilisationszerfalls<br />
in der Novelle von<br />
Jonas Lüscher<br />
istein luxuriöses<br />
Oasenresortin<br />
Tunesien.<br />
4 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013
JEAN-PIERE DEGAS /LAIF<br />
erst nur hineinragt, sie dann aber schrittweise<br />
übernimmt. Preising selbst hatte<br />
erst beschlossen, die Newsmeldungen<br />
nicht weiter zuverfolgen. Im Anschluss<br />
an den eingangs erwähnten Zusammenstoss<br />
miteiner Kamelherde verkriechter<br />
sich im Auto und liest in einer <strong>Zeitung</strong><br />
von einem sich rasant ausbreitenden internationalen<br />
Chaos. Die verendenden<br />
Kamele rühren ihn allerdings weit mehr<br />
als die erzürnten Kleinanleger auf dem<br />
<strong>Zeitung</strong>sfoto, die gerade eine englische<br />
Provinzbank stürmen.<br />
Doch da erreichen Preising und seine<br />
Begleiterin auch schon das Oasenresort<br />
«Thousand and One NightResort»: weisse<br />
Zelte imPalmenhain, in der Mitte ein<br />
Natursteinpool, daneben eine exquisite<br />
Spa-Anlage. Die anderen Gäste gehören<br />
mehrheitlich zu einer 70-köpfigen Gesellschaft<br />
aus England. Unter ihnen<br />
Pippa, eine Dame in Preisings Alter,<br />
deren Bekanntschaft er baldmacht.<br />
Pippas Sohn Marc feiert hier mit<br />
Freunden und den engsten Verwandten<br />
seine Hochzeit. Seine Freunde stammen,<br />
wie Marc selbst, aus der Londoner Finanzwelt:<br />
«Cityboys» in Badehosen àla<br />
JFK und «geschmeidige» Frauen. Selbstsicher,<br />
unbekümmert, stets den Blackberryinder<br />
Hand, so ist dieses makellose<br />
Völkchen. «Selbst nahezu nackt wirkten<br />
sie wie in Uniform.» Pippa, eine Englischlehrerin,<br />
gehört einer anderen Welt<br />
an, jener «alten» Welt, in der Dinge wie<br />
ein Gedicht noch einen Wert darstellen.<br />
Ein Gedicht rezitiert sie dann auch während<br />
der Hochzeitszeremonie, doch sie<br />
strauchelt während ihres Vortrags –das<br />
Todesurteil in einer Runde von Menschen,<br />
die sich an perfekt einstudierte<br />
Präsentationen gewöhntsind. Das weitere<br />
Fest findet «in einer seltsam abgeklärten<br />
Stimmung» statt. «Getanzt wurde<br />
zugleich miteinem Übermass an Körperlichkeit<br />
und Coolness, gelacht wurde<br />
kurz und ironisch.»<br />
Leiche im Pool<br />
Doch dann kommteszur angekündigten<br />
Katastrophe. Geradezu beiläufig placiert<br />
der Autor jene Zäsur, die am Anfang<br />
einer Reihe von globalen Umwälzungen<br />
stand: «Während Preising schlief, ging<br />
England unter.» Derweil die Hochzeitsgesellschaft<br />
inmitten der Hinterlassenschaften<br />
des vorabendlichen Exzesses<br />
noch ihren Rausch ausschläft, erklärt der<br />
britische Premier den Staatsbankrott.<br />
Die Hotelmanagerin reagiert sofort, lässt<br />
das Frühstücksbuffet wieder abräumen<br />
und Kreditkarten vorsorglich belasten.<br />
Allmählich erwachen die Finanzboys<br />
und -girls, und baldschon treffen die ersten<br />
Kündigungsmails auf den Smartphones<br />
ein. Von jetzt an werden wir<br />
Zeuge einer apokalyptischen Szenerie.<br />
Denn jetzt, wo eh alles verloren ist, kennt<br />
die Jeunesse dorée keine Hemmungen<br />
mehr: Entgegen dem Verbot durch die<br />
Hotelmanagerin wird der Pool benützt.<br />
Die Scheibe des abgeschlossenen Getränkekühlschranks<br />
wird eingeschlagen,<br />
um den Alkoholnachschub zu gewährleisten.<br />
Als die tunesischen Telefongesellschaften<br />
schliesslich die Leitungen<br />
kappen –zuviel Risikobei den Roaminggebühren<br />
–, wird die Oase zur abgelegenen<br />
Insel, und man denkt unweigerlich<br />
an William Goldings Klassiker «Der Herr<br />
der Fliegen». Während draussen die Welt<br />
zum Stillstand kommt, rast hier der Zivilisationsprozess<br />
im Rückwärtsgang. Erst<br />
ein Feuer bereitet diesem Sodom und<br />
Gomorrha ein Ende. Freilich geschah<br />
dies ohne Preisings Zutun, schliesslich<br />
fand er «immer einen Grund, nicht zu<br />
handeln», selbst wenn im Pool schon die<br />
ersteLeiche schwimmt.<br />
Dass es sich bei «Frühling der Barbaren»<br />
nicht umein gewöhnliches Debüt<br />
handelt, wird einem schon nach wenigen<br />
Zeilen klar. Seit zweieinhalb Jahren ist<br />
Jonas Lüscher Doktorand am philosophischen<br />
Lehrstuhl der ETH Zürich. Er erforscht,<br />
inwiefern fiktives Erzählen zur<br />
Beschreibung komplexer sozialer Zusammenhänge<br />
wieeben der Wirtschaftskrise<br />
dient. Man kann nur sehr hoffen,<br />
dass ihn die Forschungstätigkeit zuweiterer<br />
literarischer Beweisführung beflügeln<br />
wird. ●<br />
29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik<br />
Roman Wiegross istdie Mitschuld einesLehrers,wenn sein Schülerspäterauf Abwege gerät? Der<br />
österreichischeAutor NorbertGstrein suchtnachAntworten<br />
Zunah,umscharfzusehen<br />
NorbertGstrein: Eine Ahnung vomAnfang.<br />
Hanser,München 2013. 352 Seiten,<br />
Fr.31.90,E-Book 24.90.<br />
VonSandraLeis<br />
Eine Bombendrohung erschüttert eine<br />
Kleinstadt in der österreichischen Provinz:<br />
Die Attrappe ist gemäss Polizei<br />
wahrscheinlich nur ein Kinderstreich.<br />
Bedrohlicher ist ein Zettel, auf dem Botschaften<br />
zu lesen sind wie «Kehret um!»<br />
oder «Beim nächsten Mal wird es ernst!».<br />
Ein Fahndungsfoto inder <strong>Zeitung</strong> lässt<br />
die Spekulationen ins Kraut schiessen;<br />
die Anrufe bei der Polizei schnellen sofort<br />
in die Höhe. «Wir könnten die Karikatur<br />
eines Schimpansen abdrucken lassen<br />
[…] und hätten denselben Ansturm»,<br />
sagt der zuständigeInspektor.«Das Land<br />
ist voller Denunzianten.»<br />
Auch Anton, der Ich-Erzähler im<br />
Roman «Eine Ahnung vom Anfang», hat<br />
beim Betrachtendes Fahndungsfotos augenblicklich<br />
einen Verdacht: Handelt es<br />
sich um seinen ehemaligen Lieblingsschüler<br />
Daniel? Der war früher ein Einzelgängerund<br />
Buchverrückter,ein harmloser<br />
Spinner mit dem Spitznamen<br />
«Jesus», und seine Lieblingsfächer waren<br />
Mathematik und Religion. Anton interpretiertediese<br />
Kombination als «doppelte<br />
Liebe zum Unendlichen», die in den<br />
Zahlen und im Himmel ihre Erfüllung<br />
finde. Er selber unterrichtetDeutsch und<br />
Geschichte und versorgte Daniel mit Lesestoff:<br />
VonCamus bis Handke war alles<br />
dabei.<br />
Herausgefallen ausder Zeit<br />
Das Fahndungsfoto löst bei Anton eine<br />
lange Selbstbefragung aus. Er denkt zurück<br />
an den Sommer vorzehn Jahren, als<br />
Daniel die Matura ablegte und danach<br />
gemeinsam mit einem Freund immer<br />
wieder bei Anton zuGast war. Erhatte<br />
draussen am Fluss eine alte Mühle erworben,<br />
die sie gemeinsam so weit herrichteten,<br />
dass sie Schutz vor Wind und<br />
Wetter bot. Hier verbrachten sie den<br />
Sommer zu dritt, gingen baden und angeln,<br />
lasen und redeten immer wieder<br />
über den Sinn des Lebens.<br />
Im Rückblick merkt Anton, «was für<br />
ein unglaubliches Geschenk diese Wochen<br />
[…] über die Jahregeworden waren,<br />
ganz und gar herausgefallen aus der<br />
Zeit».<br />
So weit, soschön. Die Kernfrage aber<br />
treibt Anton um: Wie konnte aus einem<br />
Jungen, der mit14noch ministrierteund<br />
die Bibel als sein Lieblingsbuch bezeichnete,<br />
ein religiöser Fanatiker,javielleicht<br />
sogar ein religiös motivierter Bombenleger<br />
werden? Schlimm genug, dass er<br />
Frauen mitZitaten aus dem Hohelied bedrängteund<br />
auch Antons Freundin in die<br />
Flucht schlug, aber ein Bombenleger?<br />
Antonwar und ist Atheist –hat er ihn gerade<br />
deshalb in die Fängeeines amerikanischen<br />
Endzeitpredigers getrieben, der<br />
VomLieblingsschüler<br />
zumBombenleger?<br />
In NorbertGstreins<br />
neuem Roman geht<br />
jede Gewissheit<br />
verloren. Im Bild:<br />
Entwarnung nach<br />
der Explosion eines<br />
Koffers(Wien, 20.Juni<br />
2006).<br />
plötzlich aufkreuzte, weil sein Vater<br />
gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit<br />
einem Bomber abstürzte? Oder war es<br />
der Religionslehrer am Gymnasium, der<br />
aus Daniel unbedingt einen Priester machen<br />
wollte?<br />
Möglicherweise ist das alles kreuzfalsch,<br />
und es waren die Bücher, die Daniel<br />
aus der Bahn geworfen haben. Das<br />
mag im 21. Jahrhundert absurd klingen,<br />
doch Anton treibt die Frage nach der<br />
Wirkung von Büchern um. Sein jüngerer<br />
Bruder Robert, dem er genau wie später<br />
Daniel Bücher empfohlen hatte, hat sich<br />
vor Jahren in einer Höhle am Fluss das<br />
Leben genommen –die Gründe sind bis<br />
heute nicht geklärt. Anton notiert: «Ich<br />
kann nicht sagen, ob Robert sich aus der<br />
Welt hinausgelesen hatoder ob es genau<br />
umgekehrt war, ein vergeblicher Versuch,<br />
sich mit dem Lesen in der Welt zu<br />
halten.»<br />
ÖsterreichischesTimbre<br />
DerFluss, er ziert den Buchumschlag, ist<br />
ein Sinnbildfür Bewegungund Verwandlung,<br />
gleichzeitig steht erfür den Tod:<br />
Der Bruder und ein Onkel haben sich<br />
nahe des Flusses umgebracht, der Grossvater<br />
ist tödlich verunfallt, und am<br />
Schluss des Romans rettet der Inspektor<br />
den Erzähler aus den Fluten; Antonwollte<br />
den Fluss überqueren, doch die Strömungwar<br />
plötzlich stärker.<br />
Norbert Gstrein, 1961 geboren und in<br />
einem Berghotel in Tirol aufgewachsen,<br />
lebt heuteinHamburg. Seine österreichischen<br />
Wurzeln aber sind unverkennbar,<br />
und wenn er, wie in diesem Roman, den<br />
Mikrokosmos einer österreichischen<br />
Kleinstadt beschreibt, so macht der studierteMathematiker<br />
das mitder nötigen<br />
Präzision –erporträtiert, schält Charaktere<br />
heraus, spitzt zu oder überzeichnet.<br />
Da ist Judith, eine Klassenkameradin, in<br />
die Daniel über beide Ohren verliebt war<br />
und die sich zehn Jahre später inihrer<br />
Wohnung verbarrikadiert aus Angst, Daniel<br />
könnte ihr auflauern. Es gibt den<br />
Schuldirektor, der seine schützende<br />
Hand über Anton hält, und die Kellnerin<br />
Agata, die stets die Gerüchteküche brodeln<br />
hört.<br />
Norbert Gstrein aber will keine narrative<br />
Geradlinigkeit; Romane wie «Die<br />
englischen Jahre» (1999) oder «Das<br />
Handwerk des Tötens» (2003) spielen<br />
hochkomplex auf mehreren Ebenen und<br />
kreisen um Realität, Erinnerung und die<br />
Suche nach Wahrheit. Sigrid Löffler<br />
schreibt treffend von einer «Erzählstrategie<br />
der Verunsicherung».<br />
Im Roman «Eine Ahnung vom Ende»<br />
verliert der Erzähler sämtliche Gewissheiten:<br />
«Bei mir verfestigte sich immer<br />
mehr der Eindruck, dass ich weniger von<br />
Daniel wusstedenn je. […] Mir wärealles<br />
lieber gewesen als diese buchstäbliche<br />
Auflösungder Figur, […] ihr Verdampfen<br />
und Vernebeln in müden Weihrauchschwaden.»<br />
Ein wenig ähnlich geht es<br />
auch dem Leser dieses Romans: Er liest<br />
sich durch 350 elegant geschriebene Seiten,<br />
doch wäre das Buch um einen Viertelkürzer,könnte<br />
es konziser und richtig<br />
gut sein. ●<br />
HERBERTNEUBAUER /REUTERS<br />
6 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013
10CFWMIQ7DQAwEX-TTrn32xT1YhUUBVblJFNz_ozZhBUNWs7Nt0xtunuv-Xl-TQHdRaOZvT286YjK1DY-J5KKgPejmGD3yzxcww2B1OYIULkUX60IUoxftKtT9Rvsc5xcrU7v_gAAAAA==<br />
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Roman ElizabethStrouterzähltvom vertrackten<br />
Innenleben einer amerikanischen Familie<br />
Provokation<br />
inderMoschee<br />
Elizabeth Strout:Das Leben, natürlich.<br />
Deutsch vonSabine Roth und Walter<br />
Ahlers. Luchterhand, München 2013.<br />
400 Seiten, Fr.29.90,E-Book 20.–.<br />
VonSimone vonBüren<br />
Zachary Olson, eine zentrale Figur in<br />
Elizabeth Strouts neuem Roman «Das<br />
Leben, natürlich» ist «so ein ganz Stiller,<br />
der bei seiner Mutter wohnt», bei Walmart<br />
Regale einräumt und die Wände<br />
seines Zimmers schwarz gestrichen hat.<br />
Eines Tages wirft er –niemand weiss,<br />
wieso –amRamadan einen gefrorenen<br />
Schweinekopf in eine Moschee.<br />
«Genau so eine Geschichte, wie sie in<br />
Maine passiert», findet Zacharys New<br />
Yorker Tante, die abschätzig herunterschaut<br />
auf Maine, den «weissesten Staat<br />
im ganzen Land», der sich mit der Abwanderungder<br />
jüngerenGeneration von<br />
Amerikanern ebenso schwertut wie mit<br />
der Einwanderung somalischer Flüchtlinge.<br />
Der Schweinekopf-Zwischenfall<br />
hatsich tatsächlich voreinigen Jahren in<br />
Maine ereignet. In Elizabeth’ Strouts fiktiverKleinstadt<br />
bleibt er dennoch schwer<br />
nachvollziehbar.<br />
Der 19-jährige Zachary scheint weder<br />
gewieft noch aggressivgenug für die Tat.<br />
Elizabeth Strout, die schon in ihrem<br />
preisgekrönten Roman «Mit Blick aufs<br />
Meer» (erschienen bei Luchterhand<br />
2010) ihre Fähigkeit bewiesen hat, das<br />
unspektakuläre Leben einfacher Menschen<br />
literarisch zu fassen, benutzt die<br />
Episode primär als Mittel, um eine sich<br />
entfremdete Familie wieder zusammenzuführen:<br />
Denn als die Generalstaatsanwaltschaft<br />
Zachary wegen Verletzung<br />
der Bürgerrechte anklagt, schalten sich<br />
seine beiden Anwalt-Onkel ein. Sie reisen<br />
widerwillig zurück in die trostlose<br />
Kleinstadt ihrer Kindheit und in das ungeheizte<br />
Haus ihrer Schwester. Die Konflikte<br />
zwischen Polizei, Presse, Bundesanwaltschaft,<br />
Somaliern und Rechtsradikalen<br />
bilden in der Folge nur mehr den<br />
blassen Hintergrund für die alten und<br />
neuen Auseinandersetzungen zwischen<br />
den Geschwistern.<br />
Während die Brüder studiert haben<br />
und nach New York gezogen sind, ist<br />
Susan in Maine geblieben, wo sie in<br />
einem Optikergeschäft arbeitet und sich<br />
alleinerziehend um ihren verkorksten<br />
Sohn sorgt. Bob ist geschieden, trinkt zu<br />
viel und geht begleitet vom «Schatten<br />
seiner nie geborenen Kinder durchs<br />
Leben». Jim ist mit Karriere, Vorzeigefamilie<br />
und viel Geld der erfolgreiche<br />
Fixstern im Leben der anderen, die sich<br />
nach seiner Aufmerksamkeitsehnen und<br />
dabei stets enttäuschtwerden.<br />
So faszinierend Jim für seine Mitwelt<br />
zu sein scheint, so einseitig gefühlskalt<br />
und egoistisch wirkt er als literarische<br />
Figur.Elizabeth Strout, die zwischen den<br />
personalen Erzählperspektivenverschiedener<br />
Figuren hin und her wechselt, enthält<br />
uns Jims Sicht auf die Dinge konsequent<br />
vor. Sein Innenleben bleibt dem<br />
Leser und der Leserin also ebenso verborgenwie<br />
seinen Verwandten. Wieso er<br />
es auch selbst wegzuschliessen versucht<br />
und was das mit seinem Bruder zu tun<br />
hat, beginnen wirimVerlauf des Romans<br />
zu verstehen.<br />
In dieser vertrackten Familiendynamik,<br />
in alten Schuldzuweisungen und<br />
neuen Enttäuschungen, in scheinbar<br />
kleinen Verletzungen und im Lebensgefühl<br />
der Hauptfiguren, die sich in der<br />
Mitte des Lebens ertappen wie ineiner<br />
fremden Wohnung, liegt der pulsierende<br />
Kern vonStrouts Material.<br />
Und da gäbe es auch mehr als genug<br />
dramatisches Potenzial. Aber das scheint<br />
der 57-jährigen Autorin und Pulitzer-<br />
Preisträgerin nichtzugenügen. Elizabeth<br />
Pulitzer-Preisträgerin<br />
Elizabeth Strout,57,<br />
schildertKonflikte in<br />
einer US-Kleinstadt.<br />
Strout konstruiert dazu allzu angestrengt<br />
einen gesellschaftspolitischen Kontext,<br />
der trotz interessanter Bezüge zur Familiendynamik<br />
– wechselnde Machtverhältnisse,<br />
falsche Schuldzuweisungen,<br />
fehlende Perspektiven – weder besonders<br />
interessant noch nötig ist. Denn die<br />
Diskriminierungen, die sich auf der<br />
Ebene einzelner Worte einschleichen,<br />
die unausgesprochenen Ängste und die<br />
Verunsicherung, die die Figuren in der<br />
familiären Vertrautheitzur Sprache bringen,<br />
sagen mehr aus über die gesellschaftlichen<br />
Probleme als gewissenhaft<br />
recherchierte Kommentare zuRassismus<br />
und Einwanderung oder drastische<br />
Aktionen mitgefrorenen Schweineköpfen.<br />
●<br />
LEEMAGE /AFP<br />
Die nominieRten<br />
SoutineS letzte Fahrt Ralph Dutli Wallstein Verlag<br />
niedergang Roman Graf Knaus Verlag<br />
Frühling der BarBaren Jonas Lüscher C.H. BeCK Verlag<br />
CaramBole Jens Steiner Dörlemann Verlag<br />
immeer Henriette Vásárhelyi Dörlemann Verlag<br />
29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik<br />
Roman DiejungeisraelischeAutorin Ayelet Gundar-Goshen erzähltdie Geschichte einer bäuerlichen<br />
Dorfgemeinschaftzwischen TelAvivund Haifa<br />
Todtraurig,aberumwerfendkomisch<br />
Ayelet Gundar-Goshen: Eine Nacht,<br />
Markowitz. Kein &Aber,Zürich 2013.<br />
432Seiten, Fr.31.90,E-Book 23.40.<br />
VonKlaraObermüller<br />
Die britische Mandatszeit ist als heroische<br />
Epoche ins historische Gedächtnis<br />
Israels eingegangen. Man war ins Gelobte<br />
Land zurückgekehrt, hatte Dörfer und<br />
Städteerrichtetund hattegekämpft nach<br />
allen Seiten, gegen die Araber, die jüdische<br />
Siedlungen überfielen, wie gegen<br />
die Briten, die den Verfolgten aus Europa<br />
die Einreise verwehrten. Am Ende jedoch<br />
hatte man gesiegt und jenen Staat<br />
gegründet, der nach Ansicht der Zionisten<br />
zur Heimstätte der Juden aus aller<br />
Welt werden sollte.<br />
Hans Thoma Malerdeutscher Idyllenwiederentdeckt<br />
Perfekterkann ein Traum vomunbeschädigten Leben<br />
wohl kaum in ein Bild finden: Kinder tanzen in einer<br />
weiten Landschaft hingebungsvoll Reigen. Die Wiese ist<br />
saftig grün, Himmel und See zeigen ungetrübtesBlau.<br />
Kein Wölkchen deutet darauf hin, dassder Deutsch-<br />
Französische Krieg und die schwierige Reichsgründung<br />
erst kurz zurücklagen, als Hans Thoma das Bild 1872<br />
malte. Der Künstler warbeliebtfür solche Idyllen. Im<br />
Schwarzwald auf einem Bauernhofgeboren, wurde<br />
er zunächstzwarwegen einfacher Herkunft und seiner<br />
naiven Darstellung vonder Kritik gescholten, bald aber<br />
als Maler einer heilen Welt gefeiert,auf die sich in der<br />
rasant industrialisiertenWelt Sehnsüchteprojizieren<br />
liessen. Vonder Erotik und Rohheit eines Gustave Courbet<br />
istauf seinen Bildern ebenso wenig zu spüren wie<br />
8 |NZZ am Sonntag |29. September 2013<br />
Über diese Zeitnun hatdie 1982 geborene<br />
israelische Autorin Ayelet Gundar-<br />
Goshen einen Roman geschrieben und<br />
dafür gleich den angesehenen Sapir-<br />
Preis für das beste Debüt 2012 kassiert.<br />
Das Buch erzählt die Geschichte einer<br />
bäuerlichen Dorfgemeinschaft irgendwo<br />
zwischen Tel Aviv und Haifa, und die ist<br />
alles andere als heroisch. Die Weltgeschichte<br />
wird zwar nicht ausgeblendet,<br />
sie ist da als ein «dumpfes Begleitgeräusch<br />
der Alltagsmelodie», doch worum<br />
es wirklich geht, das sind so banale, so<br />
allgemein menschliche Dinge wie Liebe<br />
und Leidenschaft, Zank und Eifersucht,<br />
Mutund Angst –und die Sehnsucht, einmal<br />
irgendwozuHause zu sein.<br />
Ayelet Gundar-Goshen skizziert ihre<br />
Figuren, den Irgun-Vizechef Efraim<br />
Grünberg, seine beiden Freunde Jakob<br />
vonder Brüchigkeit Arnold Böcklins. Auch wenn Hans<br />
Thoma beide als seine Anreger verehrte. Meyers<br />
Konversationslexikon nannteihn 1909 den «Lieblingsmaler<br />
des deutschen Volkes», Hitler begeistertesich für<br />
ihn. Die scheinbare Harmlosigkeit und die Deutschtümelei<br />
wurden ihm nach dem Zweiten Weltkrieg zum<br />
Verhängnis. Hans Thomas Werk wurde vergessen. Der<br />
nun vorgelegteBand will das mit kritischen Beiträgen<br />
und Abbildungen vonder Landschaftsmalerei bis zu<br />
mythologischen Szenen ändern: Hans Thoma als deutscher<br />
Pop-Star um 1900.Ein mutiger Versuch.<br />
Gerhard Mack<br />
Felix Krämer,Max Hollein (Hrsg.): Hans Thoma –«Lieblingsmaler<br />
des deutschen Volkes». Wienand, Köln 2013.<br />
160 Seiten, 139Abbildungen, Fr.44.90.<br />
Markowitz und Seev Feinberg, deren<br />
Frauen Bella und Sonja sowie die gemeinsamen<br />
Kinder Zwi, Jair und Naama,<br />
mit leichter Hand und einem ausgeprägten<br />
Sinn für Ironie. Es klingt etwas von<br />
osteuropäischer Erzählweise und deren<br />
Hang zum Skurrilen aus ihrer Art zu<br />
schreiben an. Die Autorin holt weit aus,<br />
zu weit manchmal für den auf Kürze getrimmten<br />
westlichen Zeitgeschmack,<br />
aber es gelingt ihr doch immer wieder,<br />
einen mit ihren todtraurigen und umwerfend<br />
komischen Schilderungen zu<br />
fesseln.<br />
Über die Zeit, in der die Romanhandlung<br />
angesiedelt ist, über die britische<br />
Mandatszeit, den Unabhängigkeitskrieg<br />
und die Staatsgründung, ist von einer<br />
jüngeren Historikergeneration in Israel<br />
viel geschrieben worden, viel Kritisches<br />
vor allem, und es sind in letzter Zeit<br />
immer wieder hitzige Debatten darüber<br />
entbrannt, wie das Projekt Zionismus<br />
aus heutiger Sicht zubewerten sei. Ayelet<br />
Gundar-Goshen führt diese Auseinandersetzung<br />
auf ihre Weise weiter:<br />
indem sie die Waffe der Ironie einsetzt<br />
und die heroisch verklärte Vergangenheit<br />
herunterbricht auf die Ebene des<br />
Alltäglichen. Während draussen in der<br />
Welt der Vernichtungskrieg gegen die<br />
Juden tobt und der angehende StaatIsrael<br />
sich im Innern des Landes der Angriffe<br />
der Araber erwehren muss, leben ihre<br />
Romanfiguren ihr kleines Leben, das gemessen<br />
am Weltgeschehen bedeutungslos<br />
und doch das Einzige ist, was ihnen<br />
bleibt. Sie haben den alten Kontinentmit<br />
seinen traumatischen Erfahrungen hinter<br />
sich gelassen und sich eingerichtetin<br />
der überschaubaren kleinen Welt ihres<br />
Dorfes irgendwo zwischen Tel Aviv und<br />
Haifa.<br />
Wassie wollen, ist nicht viel, ein bisschen<br />
Sicherheit, ein bisschen Ansehen,<br />
ein bisschen Glück, doch Ort und Zeit<br />
sind nicht dazu angetan, ihnen diese<br />
Wünsche zu erfüllen.<br />
Als JakobMarkowitz, der Unscheinbare,<br />
einmal in seinem Leben etwas Aussergewöhnliches<br />
wagt und zusammen<br />
mitanderen jungenMännern nach Europa<br />
reist, um verfolgten Jüdinnen durch<br />
eine Scheinehe zur Einreise nach Palästina<br />
zu verhelfen, da beginnt für ihn ein<br />
Abenteuer mit zweifelhaftem Ausgang.<br />
Er kriegt zwar die schöne Bella zur Frau,<br />
aber sie liebt ihn nicht und wird ihn nie<br />
lieben, auch nicht nach jener einen gemeinsam<br />
verbrachten Nacht, die dem<br />
Roman den Titelgegeben hat.<br />
Ayelet Gundar-Goshen lässt ihreFiguren<br />
indie Irre gehen, sie lässt sie scheitern,<br />
am Leben, an der Liebe, an den eigenen<br />
Ansprüchen, aber sie stellt sie nie<br />
bloss. Denn sie mögen sich noch so unvernünftig,<br />
noch so verbohrt verhalten,<br />
die Autorin liebt sie und hat Erbarmen<br />
mitihnen. Es ist dieser warmherzigeund<br />
zugleich ironisch gebrochene Umgang<br />
mit menschlichen Schwächen, der dem<br />
Roman dieser jungen Autorin seine besondereAnmutungverleiht.<br />
●
Erzählungen DieAmerikanerin AmyHempelgiltstilistisch als Minimalistin. Nunerscheinen ihre<br />
spannungsgeladenen Kurzgeschichtenauf Deutsch<br />
Momentaufnahmen<br />
vollerAndeutungen<br />
AmyHempel: Die Ernte. Erzählungen.<br />
Ausdem Amerikanischen vonJakob<br />
Jung.Luxbooks, Wiesbaden 2013.<br />
113 Seiten, Fr.21.90,E-Book 12.–.<br />
VonMartin Zingg<br />
Es ist Halloween, irgendwo inden USA.<br />
An Halloween ziehen bekanntlich die<br />
Kinder durch die Gegend und verlangen<br />
an den Haustüren Süssigkeiten, und wer<br />
nichts herausrückt, darf mit einem<br />
Streich rechnen. «Trick or treat», Streich<br />
oder Leckerbissen sind die beiden Möglichkeiten,<br />
und Kinder können durchaus<br />
ungnädig sein. Miss Locey braucht an<br />
diesem Abend vor Allerheiligen Unterstützung,<br />
denn sie kann sich nichtbewegen,<br />
sie muss liegen. Bei einer Agentur<br />
hat sie eine Frau engagiert, die den Kindern<br />
Süsses aushändigen und Saures abwenden<br />
soll – unzufriedene Kinder,<br />
fürchtetMiss Locey,könntenauf die Idee<br />
kommen, ihren Garten umzugraben.<br />
«Tiefenrausch» heisst die Geschichte<br />
von Amy Hempel, in welcher die Ich-Erzählerin<br />
von ihrem Aufenthalt bei Miss<br />
Locey berichtet. Es ist ein durchaus ereignisloser<br />
Abend, nur am Rande geht es<br />
um Süsses oder Saures. Das Gespräch<br />
plätschert so vor sich hin und dreht sich<br />
vorwiegend um Ringe, umFingerringe.<br />
Miss Locey trägt an jedem Finger mindestens<br />
einen Ring, einige hat sie ihrer<br />
Mutter abgeschwatzt, die restlichen hat<br />
sie später geerbt. Und die Ich-Erzählerin<br />
hatnur gerade einen Ring. Er erinnert sie<br />
an den Mann, den sie einst heiratenwollte,<br />
der aber kurz vor der Hochzeit beim<br />
Tauchen im Meer ertrunken ist: im Tiefenrausch.<br />
HintergründigerHumor<br />
Auf wenigen Seiten wird hier eine Welt<br />
der Gegensätze entworfen, die wohl<br />
kaum grösser sein könnten. Zugleich erfährt<br />
man nur wenig über die beiden<br />
Frauen: Das meistesteht hinterund zwischen<br />
den Zeilen, in kleinen Andeutungen.<br />
Alles andere fügt man lesenderweise<br />
hinzu. Denn Amy Hempel, das ist<br />
Teil ihrer Kunst, erzählt diese Geschichte<br />
nichtzuletzt auch dadurch, dass sie eine<br />
Menge verschweigt. Warum Miss Locey<br />
liegen muss etwa, wird beiläufig angedeutet.<br />
Ein Sportunfall. Über Anspielungengehtdie<br />
Geschichte nichthinaus.<br />
Amy Hempel ist eine amerikanische<br />
Autorin, die man nun endlich auch im<br />
deutschen Sprachraum entdecken kann.<br />
Geboren 1951, wohnhaft in New York,<br />
Verfasserin von gerade einmal vier<br />
schmalen Bänden mit Kurzgeschichten.<br />
400 Seiten, die in zwanzig Jahren entstanden<br />
sind, zwischen 1985 und 2005,<br />
und mit denen sie in den USA grosses<br />
AmyHempel arbeitet<br />
mit Gegensätzen:<br />
Leckerbissen oder<br />
Streiche?Kinder<br />
in Miami erbetteln<br />
Süsses an Halloween;<br />
erhalten sie es<br />
nicht,treiben sie<br />
Schabernack.<br />
Aufsehen erregt hat. Auf Deutsch liegt<br />
nun der Band «Die Ernte» vor, der 1990<br />
unter dem Titel «At the Gates ofthe Animal<br />
Kingdom» erschienen ist. Sechzehn<br />
Geschichtenversammelt der Band, kurze<br />
Texte, die alle etwas Skizzenhaftes<br />
haben, mit Aussparungen arbeiten und<br />
Momentaufnahmen präsentieren.<br />
AmyHempel ist eine Meisterin des minimalistischen<br />
Erzählens. Allein schon<br />
der kurze Text, der den Band eröffnet –<br />
«Anbruch des Tages», zwei Seiten lang–,<br />
zeigt das sichere Gespür, mit welchem<br />
sie schummrige, diffuse Situationen in<br />
einer höchst spannungsreichen Ambivalenz<br />
schildern kann. ZweiPaareauf einer<br />
Insel, ein Hund, der sieben Welpen geworfen<br />
hat. Es wird gegessen, geplaudert<br />
und geschnorchelt –und mit einem einzigen<br />
rätselhaften Satz ist alle Heiterkeit<br />
blamiert, steht das kleine Paradies kopf.<br />
Wirerfahren nicht, wo sich das ereignet,<br />
auch nicht: wann.<br />
Mitwenigen Strichen, die leichthingeworfen<br />
scheinen, entwirft Amy Hempel<br />
brüchige Situationen, Lebensmomente<br />
auf der Kippe. Immer wieder geht es um<br />
Verluste, erzählt wird von bedrohlichen<br />
Situationen und von Menschen, die aus<br />
dem Gesichtskreis geraten oder gar gestorben<br />
sind. Beim Versuch, die Geschichteninschlichtenund<br />
geraden Sätzen<br />
nachzuerzählen, würde das meiste<br />
wohl düster erscheinen. Aber AmyHempel<br />
hat auch einen hintergründigen<br />
Humor, den sie gegen alle Kalamitäten<br />
des Alltags aufbieten kann. «Die ersten<br />
drei Tage sind die schlimmsten, sagt<br />
man, aber es sind jetzt schon zwei Wochen,<br />
und ich warte immer noch darauf,<br />
dass die ersten drei Tage vorbei sind.» So<br />
beginnt «Du Jour», und darin geht es<br />
nichtnur um den Versuch, mitdem Rauchen<br />
aufzuhören.<br />
Es zähltjedes Wort<br />
Wer Hempels Geschichten «en passant»<br />
lesen möchte, bleibt vermutlich ohne<br />
Chance, denn die Geschichten diktieren<br />
ihr eigenes Lesetempo, sie drosseln jede<br />
Eile. Eine Lektüre, die bloss den «Inhalt»<br />
absucht, wird hier also alles versäumen.<br />
Es zählt jedes Wort. Und es lauert nicht<br />
selten die Gefahr, dass beim Übergang<br />
von der einen Ich-Erzählung in die<br />
nächstedie sehr unterschiedlichen Texte<br />
einander kontaminieren. Zudem gibt es<br />
in den Texten immer wieder kleine<br />
Anspielungen auf Filme, Fernsehserien<br />
oder Lieder aus der nordamerikanischen<br />
Kultur des vergangenen Jahrhunderts. In<br />
den Anmerkungenwerden diese nachgewiesen<br />
und erklärt, und auch darin ist<br />
JakobJung, der sich der Übersetzungmit<br />
unterschiedlicher Fortüne angenommen<br />
hat, sehr findig gewesen.<br />
Erschienen ist der Band bei Luxbooks,<br />
einem kleinen Wiesbadener Verlag, der<br />
mit grossem Mut und wohltuender Neugierde<br />
aktuelle Lyrik und zeitgenössische<br />
amerikanische Literatur herausgibt,<br />
jüngst etwa John Ashberrys legendäres<br />
Langgedicht «Flowchart /Flussbild».<br />
Luxbooks will im Abstand von jeweils<br />
zwei Jahren die drei übrigen Erzählungsbände<br />
von Amy Hempel in Übersetzungen<br />
erscheinen lassen. Man kann sich<br />
darauf freuen. ●<br />
CARLOS BARIA /REUTERS<br />
NZZ am Sonntag |29. September 2013 | 9
Belletristik<br />
Geschichten Hinreissend erzähltder deutsche Schriftsteller und RegisseurPatrick Roth von<br />
seinen Obsessionen für Filmklassiker<br />
ErleuchtungimKinosaal<br />
Patrick Roth: Die amerikanische Fahrt.<br />
Stories eines Filmbesessenen. Wallstein,<br />
Göttingen2013. 294Seiten, Fr. 28.50,<br />
E-Book 18.90.<br />
VonBruno Steiger<br />
Von1975 bis 2012 lebte Patrick Roth als<br />
Autor, Regisseur und Filmjournalist in<br />
Los Angeles. In diesem Zeitraum entstanden<br />
neben etlichen Filmen auch<br />
Hörspiele und Theaterstücke sowie ein<br />
rund 15 Titel umfassendes, vielfach<br />
preisgekröntes literarisches Werk. Aufgewachsen<br />
ist der heute 60-Jährige in<br />
Karlsruhe, wo er,einen Tagvor dem Abitur,<br />
erstmals Bekanntschaft mit dem<br />
Schaffen des amerikanischen Filmpioniers<br />
D. W. Griffith machte. Esmuss<br />
ein eigentliches Erweckungserlebnis für<br />
Roth gewesen sein; es brachte ihn dazu,<br />
unmittelbar nach Schulabschluss nach<br />
Paris zu ziehen und sich in der Cinémathèque<br />
einem autodidaktischen Filmstudium<br />
zu widmen.<br />
FürPatrick Roth ist D. W. Griffith noch<br />
jetzt «der Gott, der am Filmanfang<br />
stand». Griffith verstarb 1948 im Alter<br />
von 73 Jahren, im vorliegenden Buch<br />
sitzt er vierzig Jahrenach seinem Todam<br />
Tresen von «Musso and Frank», dem legendären,<br />
ältesten Promi-Restaurant<br />
von Hollywood, und isst «in Geisterseelenruhe<br />
sein Brot». Keiner beachtet<br />
ihn, von niemandem wird er auch nur<br />
gesehen – mit Ausnahme von Patrick<br />
Roth selber, wenn wir seiner Erzählung<br />
«Lost in Your Shadow» trauen dürfen.<br />
Und das dürfen, das wollen wir, mitnicht<br />
geringerFreude.<br />
Rückgriff aufdie Bibel<br />
Als «ultimatives Remake» bezeichnet<br />
Roth seine gespenstische Begegnungmit<br />
Griffith. «Remake» ganz allgemein ist<br />
Roths Schlüsselwort für seine Kinoerfahrungen.<br />
Der technische Terminus steht<br />
bei ihm nicht allein für die Wiederholung,<br />
die Neu- oder Zweitfassung eines<br />
Filmwerks, sondern mehr noch für eine<br />
«wahrere» Neuschöpfungunserer im steten<br />
Übergang von Gewesenem in Kommendes<br />
nie fassbaren Lebensrealität.<br />
Das Gefühl, «am Feuer des Dauerns von<br />
Zeit» teilzuhaben, ergibt sich für Roth allein<br />
im Kinosessel. Da sieht ersich eingespannt<br />
in ein unmittelbares, unverfälschtes,<br />
jedem zeitlichen Verlauf enthobenes<br />
Erleben. Er scheintdas Filmbild<br />
als eigentliche Epiphanie zu begreifen,<br />
als Offenbarung jenes ursprünglichen<br />
Geheimnisses, das wirinder Realwelt so<br />
schmerzlich vermissen. Das hat etwas<br />
entschieden Religiöses, und es erstaunt<br />
somit keineswegs, dass Roth in einigen<br />
seiner jüngsten Romane auf biblische<br />
Motive zurückgreift.<br />
Roth einen Mystiker des Films zu nennen,<br />
wäre gleichwohl verfehlt. Die kritische<br />
Nüchternheit ebenso wie die vieles<br />
offen lassende Zurückhaltung, die seine<br />
Zu seinen stärksten<br />
Passagen findet<br />
Patrick Roth, wenn<br />
er Jean-Luc Godards<br />
Film «Vivresavie»<br />
(1962;Szene mit Anna<br />
Karina) analysiert.<br />
«Stories» prägen, zeugen voneinem hellwachen,<br />
immer analytisch ausgerichteten<br />
Blick selbst da, wo sich ihm Filmund<br />
Traumbilder ununterscheidbar vermengen.<br />
Stets zeichnet sich darin Roths<br />
Sehnsucht nach einem Gefühl des Daund<br />
Dabeiseins ab, das ihm nur im Dunkel<br />
eines Kinosaals als erfahrbar erscheint.<br />
In der Feier des filmisch verdichteten,<br />
währenden Augenblicks verhehlt Roth<br />
seine Vorliebe für längere Sequenzen<br />
dennoch nicht. Er findet sie nicht nur,<br />
beispielsweise, bei Eric Rohmer,sondern<br />
auch in Godards Film «Vivre sa vie»,<br />
dessen erzählerischer Analyse sich die<br />
stärksten Passagen des Buches verdanken.<br />
Roth ruft sich da etwa die Szene vor<br />
Augen, wo Godards Hauptdarstellerin<br />
Anna Karina sich den Stummfilm «Jeanne<br />
d’Arc» ansiehtund beim Zwischentitel<br />
«La Mort» in Tränen ausbricht. «Zu viel»<br />
Tränen kommentiert Roth trocken,<br />
gleichwohl kommt ihm in der Erinnerung<br />
an «Vivre sa vie» der sehnliche<br />
Wunsch auf, gerade diesen Film immer<br />
wieder selber «zu leben».<br />
Autobiografischgrundiert<br />
Dass bei einem derart reichen Buch nicht<br />
alle Texteingleichem Masse zu überzeugen<br />
vermögen, ist wohl unvermeidlich.<br />
Zu David Lynch etwa fällt dem Autor geradezu<br />
verblüffend wenig ein, und auch<br />
sein fiktivesInterview mitJohn Ford gibt<br />
ausser einer ebenso luziden wie bedauerlich<br />
kurzen Reflexion über die notwendige<br />
Dunkelheit des «vierten Ecks jedes<br />
guten Filmbilds» wenig her.<br />
Hochinteressant nehmen sich Roths<br />
Ausführungen zu den psychischen Aspekten<br />
des Filmerlebnisses aus. Das<br />
dunkle «Innen» des Kinos wie das zauberhafte<br />
Flimmern auf der Leinwand<br />
stellen sich ihm als Präfigurationen des<br />
nie hinreichend erhellbaren Innens der<br />
Psyche, der eigenen Seele dar. Ausgehend<br />
von C.G.Jungs Konzept einer «aktiven<br />
Imagination» beschreibt er das Oszillieren<br />
zwischen inneren und äusseren<br />
Bildern, das ihn immer wieder zu einer<br />
Gleichsetzung von Nacht und Film<br />
bringt. Eine Grundlage dafür findet er in<br />
der Wirkungsmacht einer psychischen<br />
Energie, die über alles individuell oder<br />
kollektiv Unbewusste hinausreicht. Hinaus<br />
–oder hinein –injenen Raum, wo<br />
«die Substanz des Unsichtbaren nichtbegriffen,<br />
aber berührt» werden kann.<br />
Das so persönlich gehaltene, durchweg<br />
autobiografisch grundierte Buch<br />
kann als geglücktes Beispiel für Roths<br />
Ansatz jenes nicht auf Erfindung und<br />
Konstruktion beruhenden Schreibens<br />
gelten, das er selbst als «no fiction» bezeichnet.<br />
Gleichwohl sehen wir einen<br />
Regisseur der Sprache am Werk, dem es<br />
immer wieder gelingt, die «sichtbare<br />
Wirklichkeit auf eine andere, umfassendere<br />
Wirklichkeit hin» zu öffnen. Darin<br />
führt Roth nicht nur den Filmkenner in<br />
jene numinose Zwischensphäre, die wir<br />
Kunst nennen und in der allein wir vollumfänglich<br />
zu uns kommen. ●<br />
KOBAL COLLECTION /IMAGES<br />
10 |NZZ am Sonntag |29. September 2013
E-Krimi desMonats<br />
DieSpurender Sonnentempler<br />
Kurzkritiken Schweizer Buchpreis<br />
Marcus Richmann: Engelschatten.<br />
Gmeiner,Messkirch 2013. 376 Seiten,<br />
Fr.17.90,E-Book 14.90.<br />
HenrietteVásárhelyi: immeer. Roman.<br />
Dörlemann, Zürich 2013. 191 Seiten,<br />
Fr.26.–.<br />
Ralph Dutli: Soutines letzteFahrt. Roman.<br />
Wallstein, Göttingen2013. 272 Seiten,<br />
Fr.28.50,E-Book 19.90.<br />
«Wie viel Leid erträgt ein Mensch?» Mit<br />
dieser Fragefängt die Geschichte an.<br />
Und miteinem qualvollen Sterben:<br />
Iwan Solowjow liegt in der <strong>Zürcher</strong><br />
Liebfrauenkirche nackt auf dem kalten<br />
Boden, und sein Todwirdihm nicht<br />
leichtgemacht. Seine Glieder kann er<br />
nichtrühren, sein Körper ist betäubt.<br />
Wehrlos muss er geschehen lassen, dass<br />
ihm jemand einen Schlauch in die Luftröhreschiebt.<br />
Wasser fliesst, ein Gebet<br />
wird gesprochen, es sind die letzten<br />
Worte, die Solowjow hört, bevor er am<br />
Wasser aus dem Taufbecken ertrinkt.<br />
DerKrimi des Schweizer Autors<br />
MarcusRichmann beginntinder Manier<br />
amerikanischer Thriller:rasant<br />
und brutal. Der<strong>Zürcher</strong> Kommissar<br />
Maxim Charkow –der wieder Autor<br />
russische Wurzeln hat–wirdmit einer<br />
unheimlichen Mordserie konfrontiert.<br />
Alle Opfer sterben in Kirchen und Klöstern.<br />
Beijeder Leiche finden sich Insignien<br />
der heiligen Sakramente.Charkow,<br />
der beziehungsunfähigeKommissar<br />
im Kostüm des einsamen Wolfes,<br />
den seine Schwächen so sympathisch<br />
machen, denkt sofort an einen religiös<br />
motivierten Serientäter. Auch ermittelt<br />
er im Milieu, war doch das ersteOpfer<br />
Solowjow ein schwuler Nobelklub-<br />
Betreiber.Doch der dritteMordweist<br />
auf eine neue Spur.Sie führt Kommissar<br />
Charkow zurück in die Vergangenheit,<br />
zu einer längst vergessen geglaubtenSekte,<br />
die in der realen Kriminalgeschichte<br />
der Schweiz ein schwarzes Kapitelschrieb:<br />
zu den Sonnentemplern.<br />
Am Anfangder fiktivenGeschichte<br />
stehtalso ein reales Drama aus den<br />
neunziger Jahren: In einem Gehöft des<br />
Weilers CheiryimKantonFreiburgfindet<br />
die Polizei 23 in Kultgewänder gehüllteLeichen<br />
in einem Keller.Sie sind<br />
kreisförmig ausgerichtet, der Raum<br />
gleichteiner Kapelle. Tags darauf bietet<br />
sich im Wallis den Polizisten ein ähnliches<br />
Bild. Diesmal findet sie in ausgebranntenChalets<br />
25 Tote,darunter<br />
3Kinder.Nichtalle Mitglieder der Endzeitsektesind<br />
freiwillig aus dem Leben<br />
geschieden.<br />
Was, wenn jemand damals das<br />
Drama überlebt hat? Waswäreaus ihm<br />
geworden?Was, wenn die Polizei<br />
bei den Ermittlungenetwas<br />
übersehen hat? Mitdiesen<br />
Fragen gingKrimiautor<br />
Richmann ans Werk und<br />
konstruierteeinen spannenden<br />
Plot, der sich um<br />
tödliche Abhängigkeitund<br />
um Verlust dreht, um Qual<br />
und um Rache. «Wie viel Leid<br />
erträgt der Mensch?» Die Eingangsfragekönnte<br />
auch anders<br />
lauten: Wieviel Leid<br />
muss jemand erfahren,<br />
damitereinen Mord<br />
begeht?<br />
VonChristine<br />
Brand ●<br />
Henriette Vásárhelyi, die 1977 inOstberlin<br />
geboren wurde, in Mecklenburg aufwuchs<br />
und heutemit ihrer Familie in Biel<br />
lebt, legt mit «immeer» einen eindringlichen<br />
Erstlingvor.Das Meer ist in ihm ein<br />
Leitmotiv – deshalb der eigenwillige<br />
Titel. Eva, die Ich-Erzählerin, trauert um<br />
ihren Lebensgefährten Jan, der an einem<br />
Hirntumor gestorben ist. Sie ergibt sich<br />
ihrer Trauer ganz und gar, lässt sich herausfallen<br />
aus dem Arbeitsalltag, folgt<br />
den Kreisbewegungen der Erinnerung.<br />
Jan und sie haben sich kennengelernt,<br />
als sie dreizehn waren, und in Berlin in<br />
einer Dreier-WG mit dem drogensüchtigen<br />
Heiner gelebt. Wilde Zeiten. Vorbei.<br />
Und dann die Zweifel. Hat Jan wirklich<br />
sie gemeint? War ernicht homosexuell?<br />
Das Befremden darüber, dass nach so<br />
einem Verlust das Leben einfach weitergeht,<br />
prägt den zornigen, unsentimentalen<br />
Text. Er ist eine Zumutung, aber eine<br />
lohnende.<br />
ManfredPapst<br />
Jens Steiner:Carambole. Ein Roman in<br />
zwölf Runden. Dörlemann, Zürich 2013.<br />
223 Seiten, Fr.27.–, E-Book 17.90.<br />
Die Hitze liegt schwer über dem Dorf,<br />
und es scheint so, als bäumten sich die<br />
Menschen in diesem Buch verzweifelt<br />
gegen die natürlich bedingte Trägheit<br />
auf: Eine Fabrik fliegt in die Luft, ein<br />
Mann stirbt, einer verschwindet, eine<br />
junge Frau wird vergewaltigt. In zwölf<br />
Kapiteln erzählt Jens Steiner in seinem<br />
Zweitling «Carambole» nicht nur die Geschehnisse<br />
eines Sommers in der Provinz,<br />
sondern verwebt auch geschickt<br />
die Vergangenheit mit der Gegenwart.<br />
Der 37-jährige <strong>Zürcher</strong> Schriftsteller, der<br />
bereits mit seinem Debüt «Hasenleben»<br />
beeindruckte, tut dies auf unkonventionelle<br />
Weise: Zwölf sich überschneidende<br />
Perspektiven ergeben das Puzzle eines<br />
Dorflebens. Am Ende hat man kein vollständiges<br />
Bild, aber genau das macht<br />
den Reiz dieses Buches aus. Eine poetische<br />
Mutprobe, die der Autor mit Bravour<br />
bestanden hat.<br />
Regula Freuler<br />
Als Lyriker, Essayisten und Übersetzer<br />
kennen wir Ralph Dutli seit vielen Jahren.<br />
Nun legt der 1954 geborene Schaffhauser<br />
seinen ersten Roman vor. Er dreht<br />
sich um den jüdisch-weissrussischen<br />
Maler Chaim Soutine (1894–1943), der in<br />
Paris ein von Krankheit und Armut geprägtes<br />
Leben führt. Seine farbintensive<br />
figürliche Kunst gilt den Surrealisten als<br />
Anachronismus, doch Soutine hält an<br />
seiner Malweise fest. Dutli begleitet den<br />
Maler in seiner letzten Lebensphase, als<br />
er sich auf dem Land vor den Nazis versteckt,<br />
dann aber in einem Leichenwagen<br />
nach Paris gebracht wird, um dort notfallmässig<br />
operiert zu werden. Dutli lässt<br />
das Leben des Malers in dessen Fieberträumen<br />
aufleuchten. Kunstvoll mischt<br />
er Fakten und Fiktionen, geschickt webt<br />
er reale Personen und historische Dokumente<br />
ein. Deranspruchsvolle, intensive<br />
Roman wird seinem Thema auf eigenwilligeWeise<br />
gerecht.<br />
ManfredPapst<br />
Roman Graf: Niedergang. Roman.<br />
Knaus, München 2013. 207 Seiten,<br />
Fr.27.90,E-Book 17.90.<br />
Für seinen Erstlingsroman «Herr Blanc»,<br />
von 2009, erhielt Roman Graf viel Lob<br />
und mehrere Preise. Ein Jahr später liess<br />
der 1978 geborene Winterthurer einen<br />
Band mitGedichtenfolgen. Und nun also<br />
der zweite Roman, «Niedergang». Die<br />
Geschichte ist schnell erzählt: Ein junges<br />
Paar –sie Deutsche, er Schweizer –geht<br />
im Hochgebirge wandern. Eine strapaziöse<br />
Tour ist geplant, die Umstände sind<br />
widrig: Es nieselt und ist kalt. Kurz vor<br />
dem Gipfel will die Frau nichtmehr weiter<br />
und steigt wieder ab, der Mann klettert<br />
aus reiner Sturheitweiter, obwohl er<br />
weiss, dass der Aufstieg unmöglich im<br />
Alleingang zuschaffen ist. –Wie schon<br />
bei seinem Debüt weiss der Autorerneut<br />
durch eine virtuose Sprachkraft zu beeindrucken.<br />
Roman Grafs Prosa ist aussergewöhnlich<br />
lyrisch und entwickelt<br />
eine starke Sogwirkung, der man sich<br />
kaum entziehen kann.<br />
Regula Freuler<br />
NZZ am Sonntag |29. September 2013 | 11
Essay<br />
Brasilien istimOktober Ehrengastander Buchmesse in Frankfurt. Dasgrösste Land Lateinamerikas<br />
verfügt über eine reichhaltigeliterarischeTradition, wieein Streifzugdurch dieletzten anderthalb<br />
Jahrhunderte zeigt.Ein Essayvon GeorgSütterlin<br />
DieandereFacette<br />
vonSüdamerika<br />
Langebevor Gabriel GarcíaMárquez aus Kolumbien<br />
zum bekanntesten Schriftsteller Lateinamerikas<br />
avancierte, war es der Brasilianer Jorge<br />
Amado (1912–2001), der einer Leserschaft im<br />
Norden Träume von südamerikanischem Überschwang<br />
und Lebenslust vermittelte. In Romanen<br />
wie «Gabriela wie Zimt und Nelken» (1958)<br />
oder «Dona Flor und ihre zwei Ehemänner»<br />
(1966) hatAmado das Leben vonSchwarzen und<br />
Mulatten so saftig-sinnlich wie beschönigendexotisierend<br />
evoziert.<br />
Einen erfahrungshungrigen jungen Leser,<br />
mehr an literarisierter Wirklichkeit als an der<br />
künstlerischen Form interessiert, versetzten<br />
solche Romane in einen erwartungsvollen Zustand.<br />
Erst später hat dieser Leser Amados<br />
schriftstellerische Anfänge entdeckt, die in die<br />
dreissiger Jahre zurückreichen und das karge<br />
Leben armer Kleinbauern und Fischer in Amados<br />
HeimatBahia mitdokumentarischem Impetus<br />
zur Darstellung bringen. Es waren diese frühen<br />
Romane –und die Treue zum Kommunismus<br />
–, die Amado in den fünfziger Jahren zum<br />
meistgelesenen Schriftsteller Lateinamerikas<br />
machten: Im Ostblock wurde sein Werk in gewaltigen<br />
Auflagen gedruckt. Aufdie Buchmesse<br />
hin bringt nun der S. Fischer Verlag zwei seiner<br />
Brasilianische Literatur<br />
Brasilien istdieses Jahr Ehrengastder Frankfurter<br />
Buchmesse (9.bis 13. Oktober). Ausdiesem Anlass<br />
erscheinen in deutschen Verlagen zahlreiche<br />
Bücher hierzulande unbekannter,meistjunger<br />
Autorinnen und Autoren. Zudem werden Klassiker<br />
und viele Werkebekannter Schriftsteller neu<br />
übersetzt und aufgelegt,einige erscheinen auch<br />
nur als E-Books.<br />
WerKostproben brasilianischer Literatur sucht,<br />
greift am bestenzueiner der neuen Anthologien<br />
wie «Brasilien erzählt» (S.Fischer), «Microcontos»<br />
(DTV)oder «In so einem Augenblick istalles<br />
möglich» (Die Horen 246).<br />
Eine kommentierte Liste aller deutschsprachigen<br />
<strong>Neue</strong>rscheinungen aus und über Brasilien findet<br />
man auf www.buchmesse.de/de/ehrengast/<br />
12 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013<br />
berühmtesten Werke, teils in neuer Übersetzung,<br />
heraus: «Der Todund der Toddes Quincas<br />
Wasserschrei» sowie «Die Abenteuer des Kapitäns<br />
Vasco Moscoso» (beide 1961).<br />
Brasilien macht rund die Hälfte Südamerikas<br />
aus, und die grossen Städte liegen vorwiegend<br />
im Küstensaum. Dünn besiedeltes und schwach<br />
erschlossenes Hinterland bildet den Löwenanteil<br />
dieses Riesenlandes. Das spiegelt sich auch<br />
in der Literatur. Vor allem der Nordosten, noch<br />
immer von Dürre und feudalen Besitzverhältnissen<br />
geprägt, hateine überraschend reiche Literatur<br />
hervorgebracht. Eines der wichtigen brasilianischen<br />
Bücher handelt in diesem Nordosten.<br />
1897 wurde Euclides da Cunha (1866–1909)<br />
Augenzeuge eines militärischen Vernichtungsfeldzugs<br />
gegeneine religiöse Gemeinschaft. Verlauf<br />
und Hintergründe zeigt er in «Krieg im Sertão»<br />
(1902)auf,einer buchlangenReportage, die<br />
auch erzählende Soziologie und romanhafter<br />
Essayist. DerVerfasser dieses geschliffenen Dokumentartextes<br />
kann durchaus als Vorläufer<br />
jener amerikanischen Journalisten mit literarischem<br />
Flair gelten, die in den 1960er Jahren den<br />
New Journalism begründeten.<br />
Archaische Welten<br />
Beivielen Autorenaus dem Nordosten stehtdie<br />
Beschreibung der Lebenswirklichkeit im Vordergrund.<br />
José Lins do Rego (1901–1957), Sohn<br />
eines Grossgrundbesitzers, hat ineiner Romanserie<br />
den Niedergang der Zuckerbarone geschildert.<br />
«Karges Leben» (1938) von Graciliano<br />
Ramos (1892–1953) ist die Geschichte eines Paares,<br />
das mitseinen Kindern ziellos unterwegs ist<br />
auf der Suche nach einer Existenz. Die Journalistin<br />
Rachel de Queiroz (1910–2003) debütierte<br />
blutjung als Schriftstellerin. Ihr Roman «Das<br />
Jahr 15» (1930) über eine verheerende Dürrekatastrophe<br />
gehört zu den markanten Büchern<br />
Brasiliens.<br />
Die archaische Welt von landlosen Bauern,<br />
Wanderarbeitern, Gutsbesitzern und Gesetzlosen<br />
hat auch João Guimarães Rosa (1908–1967)<br />
verarbeitet, wenngleich literarisch ambitionierter.<br />
In seinem ausufernden, labyrinthischen<br />
Roman «Grande Sertão» (1956) versinken Lebensraum<br />
und Menschen in einer hypnotischen<br />
Zeitlosigkeit. Gleichzeitig fügt Rosa eine Unzahl<br />
von Realien ein, was diesem träumerischen<br />
Monstermonolog eine überraschende Würze<br />
verleiht. Rosa meidet den schlichten Realismus<br />
und gelangt dadurch zu einem tieferen Verständnis<br />
der Wirklichkeit.<br />
Rosa war der Sohn eines begüterten Viehzüchters,<br />
doch wie viele Intellektuelle aus<br />
ländlichen Gegenden suchte er im städtischen<br />
Ambiente Auskommen und Stimulanz. Er<br />
wurde Diplomat und arbeitete später imAussenministerium<br />
in Rio de Janeiro, wo in den<br />
Die Gegensätze zwischen<br />
dem armen Nordostenund<br />
der Metropole SãoPaulo<br />
scheinen auch in der Literatur<br />
Brasiliens auf.<br />
letzten Lebensjahren der Grossteil seines<br />
schriftstellerischen Werks entstand. Eine Dimension<br />
dieses Œuvres bleibt den nichtbrasilianischen<br />
Lesern allerdings verschlossen: die<br />
sprachliche. Rosa jongliert derart hemmungslos<br />
mit Dialekt, Fremdsprachen, Mehrdeutigkeit,<br />
Lautmalerei, Wortschöpfung, dass selbst<br />
einer in Portugal erschienenen Ausgabe von<br />
«Grande Sertão» ein Glossar beigegeben wurde.<br />
Die deutsche Fassung stammt von Curt Meyer-<br />
Clason, der sich während eines halben Jahrhunderts<br />
für die lateinamerikanische und insbesondere<br />
die brasilianische Literatur einsetzte.<br />
Eine Neuübersetzung soll 2015 im Hanser<br />
Verlag erscheinen.<br />
Wie inanderen Kolonialgebieten wurde auch<br />
in Brasilien die Sprache des Mutterlandes durch<br />
vielerlei Einflüsse verändert und vitalisiert. Die<br />
oberen Schichten rümpften über das brasilianische<br />
Portugiesisch des Volkes die Nase, es galt<br />
ihnen als unfein. In den 1920er Jahren traten<br />
dann Künstler und Schriftsteller auf, die eine<br />
Aufwertung alles Brasilianischen betrieben. In<br />
«Macunaíma, der Held ohne jeden Charakter»<br />
(1928) hat Mário de Andrade (1893–1945) das<br />
▲
Brasilien istein Land voller Gegensätze:<br />
Die Welt der Ureinwohner kontrastiert<br />
mit der Moderne.ImBild das vonOscar<br />
Niemeyergeschaffene Museum für<br />
moderne KunstinRio de Janeiro.<br />
ULF ANDERSEN /GETTY<br />
MACELLOMENCAINI /LEEMAGE /IMAGES.DE<br />
GUNNAR KNECHTEL /LAIF<br />
EDER CHIODETTO/FOLHAPRESS<br />
Brasilianische Autoren<br />
und Autorinnen (im<br />
Uhrzeigersinn von<br />
oben): Jorge Amado<br />
(Aufnahme 1984);<br />
Patrícia Melo (1998) und<br />
Antônio Callado (1987).<br />
29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 13
10CFWMIQ7DQAwEX-TTrn1OzjGswqKCqtykCs7_UXthBUNWs3Mc6Q03j_353l9JoLtwLIGRHt6sr8mwRjARHAraRlejcfDPFzAWg9V0BPGbiy6q0tdSRtFmoeYbaNfn_AJgqy6kgAAAAA==<br />
10CAsNsjY0MDAx1TW0MLM0sAAAdvNexA8AAAA=<br />
Essay<br />
gesprochene Brasilianisch mit dem geschriebenen<br />
Portugiesisch verschmolzen. Er öffnete<br />
damit die Tür für eine sorglosere, lebendigere,<br />
volkstümliche Ausdrucksweise in der Literatur.<br />
Hauptfigur dieses vergnüglichen Romans ist ein<br />
Indio, dessen Name und Abenteuer allerdings<br />
den Studien eines deutschen Ethnologen entnommen<br />
sind.<br />
Zur Aufwertung des Autochthon-Brasilianischen<br />
gehörte auch ein wachsendes Interesse<br />
für die Indios, deren Kultur bis anhin zumeist<br />
von ausländischen Gelehrten studiert worden<br />
war.Zuden bekanntenbrasilianischen Ethnologen<br />
zählt Darcy Ribeiro (1922–1997), der in späteren<br />
Jahren zum Schriftsteller wurde. Sein<br />
Roman «Maíra» (1976) fasziniert vor allem deshalb,<br />
weil Darcy Ribeiro Ethnologie und Literatur<br />
verbindet, und es ihm gelingt, eine Ahnung<br />
vom Wesen traditionell lebender Indios zu vermitteln.<br />
Auch Antônio Callado (1917–1997) thematisierte<br />
wiederholt das Brasilien der Eingeborenen.<br />
Callado kam 1952 mitden Waldbewohnern<br />
Amazoniens in Kontakt, als er sich als Journalist<br />
einer Expedition anschloss, die das Verschwinden<br />
des englischen Forschers PercyFawcettaufklären<br />
sollte. Wasdaraus resultierte, kann man<br />
im Bericht «Der Tote imSee» (1953) nachlesen,<br />
der zur Buchmesse 2013 erstmals auf Deutsch<br />
erscheint. In Callados Roman «Expedition Montaigne»<br />
(1982) macht sich ein blauäugiger Journalist<br />
auf, umisoliert lebende Indios gegen Regierungund<br />
Zivilisation aufzuwiegeln. Er merkt<br />
nicht, dass diese nichts sehnlicher wünschen,<br />
als an den materiellen Segnungender invasiven<br />
neuen Kultur teilzuhaben.<br />
▲<br />
Immer mehr Schriftstellerinnen<br />
Einem Bewohner der 20-Millionen-Metropole<br />
SãoPaulo mögen Romane aus dem armen Nordosten<br />
oder über die Ureinwohner des Landes so<br />
fremd erscheinen wie der hiesigen Leserschaft.<br />
In der Tatfrappiert das Nebeneinander krass unterschiedlicher<br />
Lebensweisen wohl jeden Besucher<br />
Brasiliens. Diese schroffen Gegensätze<br />
kommen auch in der Literatur zum Ausdruck. Es<br />
überrascht deshalb nicht, dass auch der Gesellschaftsroman<br />
und der psychologische Roman<br />
auf eine lange Tradition zurückblicken. Mitdem<br />
Werk vonMachado de Assis (1839–1908)erreichte<br />
die urbane Literatur bereits im 19. Jahrhundert<br />
einen ersten Höhepunkt. Man genehmige<br />
sich die köstlichen «Nachträglichen Memoiren<br />
des Bras Cubas» (1881), gewidmet dem «Wurm,<br />
der zuerst an meinem kalten Leichnam nagt»,<br />
wo ein verblichener Hagestolz in durchaus Tristram-Shandy-hafter<br />
Manier sein burlesk-hypochondrisches<br />
Leben aufrollt und dabei aus dem<br />
gut bestückten erzähltechnischen Arsenal seines<br />
Schöpfers gehörig Nutzen zieht.<br />
Auch die Welt der entlang dem Amazonas lebenden<br />
Indios istThema in der brasilianischen Literatur.<br />
Ein paar Generationen später verwendete<br />
João Ubaldo Ribeiro (*1941) in seinem zeitgeschichtlichen<br />
Epos «Brasilien, Brasilien» (1984)<br />
einen ähnlich temperamentvollen Erzählton.<br />
Die Kritik an sozialen und politischen Zuständen<br />
wird dabei im Zuckerguss einer rasanterzählten<br />
Fabel verabreicht. In jungen Jahren hatte Ribeiro<br />
mit seinem in viele Sprachen übersetzten<br />
Kurzroman «Sargento Getúlio» (1971) bereits<br />
dem Nordosten und den sprachlichen Delirien<br />
vonGuimarães Rosa seine Reverenz erwiesen.<br />
In der psychologischen Literatur nimmtClarice<br />
Lispector (1920–1977), eine aus der Ukraine<br />
stammende Jüdin, einen Sonderplatz ein. Ihr<br />
Erstling «Nahe dem wilden Herzen» leuchtete<br />
1943 wie eine Sternschnuppe in der brasilianischen<br />
Literatur auf. InLispectors Romanen erschafft<br />
sich die Sprache ein eigenes Universum,<br />
die äussere Wirklichkeit bleibt schattenhaft,<br />
Thema und Handlungverschwinden in einer Art<br />
Nebel. Bewusstseinsstrom und Wahrnehmung,<br />
Beobachtungund Empfinden, Reflexion und Introspektion<br />
bilden den Stoff dieser melancholischen<br />
Romane und Erzählungen, in denen die<br />
Autorin die Grenzen des Sagbaren und ihrer<br />
selbst auslotet.<br />
Weniger experimentell und doch von erfrischender<br />
Originalität ist das Werk von Lygia Fagundes<br />
Telles (*1923). Die studierte Juristin, die<br />
bereits mit 17Jahren ihre ersten Erzählungen<br />
schrieb,bewegt sich vornehmlich im weiblichen<br />
Universum vonSão Paulo,das sie mitbeträchtlichem<br />
psychologischem Scharfsinn und einem<br />
leichten, transparentenErzählstil seziert.<br />
Es ist nicht zuübersehen, dass auch in Brasilien<br />
die Zahl der Schriftstellerinnen stetig zunimmt.<br />
Patrícia Melo (*1962) hatte mit «O Matador»<br />
(1995) international Erfolg. In diesem irren<br />
DANITADELIMONT STOCK<br />
Rechtfertigungsmonolog hören wir einem Auftragskiller<br />
in São Paulo zu, der bevorzugt aus<br />
dem Weg räumt, was arm und schwarz ist. Basierend<br />
auf Interviews mit gedungenen Mördern,<br />
zeigt Melo diesen aufgeplusterten Vigilanten<br />
als geldgierigen und anerkennungssüchtigenKriminellen.<br />
Dass Melo als Drehbuchautorin<br />
fürs Fernsehen arbeitet, zeigt sich in der flotten<br />
Schnitttechnik und einem unfehlbaren Gespür<br />
für träfeRede.<br />
Städtischausgerichtete Literatur<br />
In Büchern wie jenen von Patrícia Melo sind<br />
Thema und Schauplatz zwar brasilianisch, doch<br />
sprachlich und formal erinnert nichts mehr an<br />
Regionalismus und Folklore. Wie gelungen sich<br />
schriftstellerisches Know-how mit brasilianischer<br />
Thematik verbindet, zeigt auch das Werk<br />
des mit allen literarischen Wassern gewaschenen<br />
Bernardo Carvalho (*1960). In seinem<br />
Roman «Neun Nächte»(2002)beispielsweise recherchiert<br />
der Autor die letzten Tage des nordamerikanischen<br />
Ethnologen Buell Quain, der<br />
sich 1939 während Feldstudien bei den Krahô-<br />
Indios das Leben nahm. Die Verflechtung von<br />
Fakten und Fiktion sowiedie Art und Weise, wie<br />
Bernardo Carvalho sich selber und die Entstehung<br />
seines Buches einbringt, ist packend und<br />
äusserst raffiniert.<br />
Als in den 1970er Jahren die Entdeckung der<br />
südamerikanischen Literatur einsetzte und<br />
schlagartig Dutzende erfrischender, faszinierender<br />
Bücher den Weg ins Deutsche fanden,<br />
war Brasilien in dieser Bücherflut nur schwach<br />
vertreten. Ausgehend vom Werk Gabriel García<br />
Márquez’ und seines Kollegen Miguel Ángel Asturias<br />
aus Guatemala wurde der Literatur eines<br />
ganzen Kontinents das Etikett des magischen<br />
Realismus angeheftet. Doch diese Spielart des<br />
Schreibens hat die brasilianischen Schriftsteller<br />
kaum berührt. Vielleicht hat das damit zutun,<br />
dass der Graben zwischen dem portugiesischsprachigen<br />
Brasilien und den spanischsprachigen<br />
Ländern Lateinamerikas nicht zu unterschätzen<br />
ist. Man nimmt voneinander nur zögerlich<br />
Kenntnis. Doch Brasilien hat sich mit<br />
Autoren wie Murilo Rubião (1916–1991) eine eigene<br />
Variante des Phantastischen und Absurden<br />
geschaffen. Auch dieser Charme wäre bei uns<br />
noch zu entdecken.<br />
Der Leser, dem Amado einst ein Fenster zu<br />
einer verlockenden Welt öffnete, blickt heute<br />
auf eine zunehmend städtisch ausgerichtete<br />
und reichhaltige Literatur, was sich wohl auch<br />
dem wirtschaftlichen Boom des letzten Jahrzehnts<br />
verdankt. Unter den Übersetzungen ins<br />
Deutsche, die dieses Jahr erscheinen, finden<br />
sich denn auch viele neue, unbekannte Namen.<br />
Verlockendes Neuland für alle, die sich Brasilien<br />
auf dem Wegder Literatur nähern möchten. l<br />
Lesen macht Freude! –Besuchen<br />
Sie uns mal wieder.<br />
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14 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013
Kolumne<br />
CharlesLewinskysZitatenlese<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
Die Leutestreitenim<br />
Allgemeinennur<br />
deshalb,weilsie nicht<br />
diskutierenkönnen.<br />
GilbertKeith Chesterton<br />
Henryk M. Broder:Die letzten Tage Europas.<br />
Wiewir eine guteIdee versenken. Knaus,<br />
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DanielaSchwegler,VanessaPüntener:Traum<br />
Alp. Älplerinnen im Porträt. Rotpunkt,<br />
Zürich 2013. 255 Seiten, Fr.42.90.<br />
GAËTAN BALLY/KEYSTONE<br />
Der AutorCharles<br />
Lewinsky arbeitet in<br />
den verschiedensten<br />
Sparten. Sein letztes<br />
Buch «Schweizen.<br />
Vierundzwanzig<br />
Zukünfte»ist im<br />
Verlag Nagel &<br />
Kimche erschienen.<br />
DerSuhrkampf-Verlag…<br />
Ichweiss, ich weiss, er schreibt sich<br />
nichtso, aber das falsche Schluss-F<br />
rutschteinem einfach in die Tastatur,<br />
wenn man an die permanenteninternen<br />
Querelen denkt. Suhrkamp also,jener<br />
legendäreVerlag, den Siegfried Unseld<br />
einst gründete, machtseiteiniger Zeit<br />
mehr Schlagzeilen im Wirtschaftsteil als<br />
in den Literaturbeilagen. Statt der Buchkritik<br />
wird sich wohl irgendwann nur<br />
noch die Kriegsberichterstattungdamit<br />
befassen.<br />
Ichwill in den innerverlaglichen Grabenkämpfen<br />
keine Partei ergreifen. Ich<br />
wunderemich nur,warum vonall den<br />
berühmtenund musengeküssten Suhrkamp-Autorenbis<br />
jetzt noch keiner<br />
einen Roman über die hauseigenen Titanenkämpfegeschrieben<br />
hat. Pamphlete<br />
sind erschienen, ja, und pathetische<br />
Aufrufe auch. Aber wo bleibt der grosse<br />
Roman?<br />
Dabei bietet das Thema doch jede<br />
MengeStoff!Hans Barlach wahlweise<br />
als Herostratoder Michael Kohlhaas,<br />
Ulla Berkéwiczjenach Standpunkt als<br />
Jeanne d’Arcoder Megäre, dazu noch<br />
der verstossene Sohn Joachim Unseld<br />
als Parricida –wenn das nichtMaterial<br />
genug für ein paar hundert Seiten ist…<br />
«Ich wunderemich», habe ich geschrieben,<br />
aber es müssteheissen: «Ich<br />
wundertemich». Denn unterdessen<br />
habe ich im Suhrkamp-Katalog geblättert<br />
und dabei festgestellt: DenRoman<br />
gibt es. Es gibt ihn sogar mehrfach.<br />
Denn durch die richtigeBrille betrachtet<br />
siehteigentlich jeder Suhrkamp-Titel<br />
danach aus.<br />
Waskann IvoAndrics«Derverdammte<br />
Hof» anderes sein als ein Berichtüber<br />
die Kämpfeumdas Erbe des Patriarchen<br />
Unseld? Wenn Isaiah Berlin ein Buch<br />
«Der Igel und der Fuchs» nennt–wen<br />
kann er damitmeinen als Frau Berkéwicz<br />
und Herrn Barlach?<br />
Und was ausser der immer schlechter<br />
werdenden Beziehungzwischen den<br />
beiden kann mitElisabeth Bronfens<br />
«Liebestod und femme fatale» gemeint<br />
sein?<br />
Selbst Dichter, die schon längst tot<br />
waren, als der Rosenkrieg im Hause<br />
Suhrkamp begann, haben –prophetisch,<br />
wiewahreSuhrkamp-Autorendas nun<br />
mal sind –über das Thema geschrieben.<br />
Denn selbstverständlich beziehtsich<br />
Emily Brontës«Sturmhöhe» auf Ulla<br />
Berkéwiczs Berliner Villa mitihren<br />
unkorrekt an den Verlag vermieteten<br />
Räumen.<br />
Und so weiter und so weiter.Wir sind<br />
erst beim Buchstaben B. Ichempfehle<br />
allen Lesern dieser Rubrik, das Spiel selber<br />
weiterzuführen. Man<br />
brauchtdazu nichts als<br />
den Suhrkamp-Katalog<br />
und ein bisschen<br />
Phantasie.<br />
Wer den jüdisch-deutschen Publizisten<br />
Henryk M. Broder,einen Kritiker vonpolitical<br />
correctness und Mitgründer des<br />
Blogs www.achgut.de, nichtliest, ist selber<br />
schuld. Auch sein neustes Buch über<br />
das bürokratisierte und gleichmacherische<br />
«Merkel-Barroso-Draghi-Europa»<br />
funkelt von Einsichten, Einfällen und<br />
Pointen. Sehr real ist der von ihm glossierte<br />
europäische Alltag, der hehre<br />
Brüsseler Visionen Lügen straft. «Der<br />
wahnwitzige Versuch, die Lebensverhältnisse<br />
in 28 Ländern zu homogenisieren,<br />
hatdazu geführt, dass der Abgrund,<br />
der überbrückt werden sollte, immer<br />
breiter und tiefer geworden ist.» Nur<br />
wem zur EU nichts einfalle, spreche<br />
vom Friedensprojekt. Wie weiland die<br />
Sowjetunion, die nach 70 Jahren implodierte.<br />
Wie lange braucht dazu die EU?<br />
Wersich wirklich um Europa sorgt, dem<br />
sei dieses zielgenaue und vergnügliche<br />
Büchlein empfohlen. Broder at his best.<br />
Urs Rauber<br />
UweHinrichs: Multi Kulti Deutsch. WieMigration<br />
die Sprache verändert. C. H. Beck,<br />
2013. 294Seiten, Fr.24.90,E-Book 14.90.<br />
Dass sich jede Sprache im Laufe der Zeit<br />
verändert, ist ein Allgemeinplatz. Der<br />
Sprachwissenschafter UweHinrichs zeigt<br />
auf, welchen Einfluss die Migration auf<br />
das gesprochene Deutsch hat. Nicht nur<br />
das omnipräsente Englisch färbt ab, sondern<br />
auch das Türkische, Russische, Albanische.<br />
Es entstehen Mischsprachen,<br />
die auf das «reine» Deutsch einwirken.<br />
Hinrichs, profunder Sprachenkenner, ist<br />
aber kein Purist. Er wertet nicht, sondern<br />
zeigt auf und erklärt, woher die Veränderungen<br />
kommen, wiesich die gesprochene<br />
Sprache vomgeschriebenen Standarddeutsch<br />
entfernt. Die wichtigsten Veränderungen<br />
sind der Abbau des Kasus’<br />
sowie des grammatischen Zusammenhangs,<br />
die Erosion der Endungen und<br />
Schwankungen beim Artikel. Das Deutsche<br />
werde aber dadurch flexibler, offener<br />
und einfacher. Hochinteressant für<br />
alle, die sich mitSprache beschäftigen.<br />
Geneviève Lüscher<br />
15 Frauen zwischen 20 und 75 Jahren, erstaunlicherweise<br />
viele mit einem akademischen<br />
Hintergrund, erzählen von<br />
ihrem Leben auf der Alp.Vanessa Püntener<br />
hatsie während ihrer Arbeitliebevoll<br />
fotografiert, Daniela Schwegler die Texte<br />
zusammengestellt. Entstanden sind berührende<br />
Porträts ganz unterschiedlicher<br />
Lebensentwürfe, die alle auf die Alp<br />
geführt haben. Die Leserin erfährt, wie<br />
die Frauen käsen und kochen, wie sie<br />
ihre Kühe, Schafe und Lamas pflegen<br />
und auch sich selber, zum Beispiel mit<br />
einem Bad imBrunnentrog. Nicht alles<br />
ist lustig und romantisch. Die Einsamkeit<br />
kann trotz Laptop und Handy am Gemüt<br />
zehren, der Tod ist allgegenwärtig, der<br />
Traum von der Alp liegt ganz nahe am<br />
Alptraum. Leider fehlt dem sonst ansprechenden<br />
Buch ein Vor- oder Nachwort,<br />
welches das Älplerinnendasein in<br />
einen grösseren, einordnenden Zusammenhanggestellt<br />
hätte.<br />
Geneviève Lüscher<br />
Stephen Emmott:Zehn Milliarden.<br />
Suhrkamp,Berlin 2013. 204 Seiten,<br />
Fr.23.90.<br />
Dieses Buch liest sich in weniger als zwei<br />
Stunden –esist der Text eines Stücks,<br />
das letztes Jahr auf einer Londoner<br />
Bühne Triumphe feierte. Sein Autor leitet<br />
ein Microsoft-Labor für computergestützte<br />
Naturwissenschaft und lehrt in<br />
Oxford. Erpräsentiert klare, kurze Sätze<br />
–oft ist es nur ein einziger proSeite –mit<br />
Fakten zum Zustand der Erde, einer<br />
Erde, die, zu heutigen Bedingungen, die<br />
zehn Milliarden Menschen nicht werde<br />
ernähren können, auf die die Weltbevölkerung<br />
bis zum Ende dieses Jahrhunderts<br />
zusteuert. Angesichts der ungebrochenen<br />
Langzeitrends, die Emmott als<br />
Illustration mitliefert, sieht dieser Wissenschafter<br />
keinen Ausweg, seine Botschaft<br />
lautet schlicht «we’re fucked», zu<br />
deutsch: «Wir sind nichtmehr zu retten.»<br />
Natürlich ist auch diese Botschaft, wie<br />
jede Untergangsprophezeiung, ein verzweifelter<br />
Weckruf zur Umkehr.<br />
KathrinMeier-Rust<br />
29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch<br />
Biografie DerSohn derKindheitsforscherin <strong>AliceMiller</strong> (1923–2010) untersucht dieverstecktenSeiten<br />
derLebensgeschichte seiner Mutter:die Ablehnung ihrer jüdischen Wurzeln, dieWut aufdie eigene<br />
Familieund ihr Überleben im Holocaust<br />
«Eswarnichtschön,<br />
dasKindvon<br />
<strong>AliceMiller</strong>zusein»<br />
Martin Miller:Das wahre«Drama des<br />
begabtenKindes». Die Tragödie Alice<br />
Millers. WieverdrängteKriegstraumata<br />
in der Familie wirken. Kreuz Verlag,<br />
Freiburgi.Br. 2013. 175 Seiten, Fr.29.90.<br />
VonKathrin Meier-Rust<br />
16 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013<br />
Die Wirkungdes ersten Buches vonAlice<br />
Miller ist kaum zu überschätzen: Millionenfach<br />
verkauft, in 30 Sprachen übersetzt<br />
hat das «Drama des begabten Kindes»,<br />
erschienen 1979, die westliche Erziehungund<br />
Sichtauf die physische und<br />
psychische Misshandlung von Kindern<br />
für immer verändert.<br />
Die Psychoanalytikerin schrieb danach<br />
noch elf weitere Bücher, brach jedoch<br />
radikal mit der Psychoanalyse und<br />
entzog sich ihrem Ruhm in die Provence,<br />
wo sie schliesslich in selbstgewählter<br />
Isolation nur noch über ihre Webseite<br />
mit ihren Anhängern kommunizierte.<br />
Beiihrem TodimApril 2010 galt sie weitherum<br />
als monomanische Missionarin,<br />
die prophezeite hatte, dass «an den Folgender<br />
Deliktegegen Kinder unsereWelt<br />
vielleicht zu Grunde gehen werde».<br />
Doch das «Drama», liest man heutedarin,<br />
nimmtsofort wieder gefangen: Selten ist<br />
so eindringlich geschildert worden, wie<br />
hellhörig Kinder aus schierer Not die<br />
Wünsche und Erwartungen ihrer Eltern<br />
auch dann noch erfüllen, wenn sie darüber<br />
ihr eigentliches Selbst verlieren.<br />
Mit dem erschütternden Buch ihres<br />
Sohnes Martin, der selber Psychotherapeut<br />
ist, wird nun klar:Alice Miller wusste<br />
wovon sie sprach. Martin Miller erzählt<br />
darin von zwei, ja im Grunde von<br />
drei eng miteinander verwobenen Leben:<br />
Einmal vom eigenen als Sohn, jedenfalls<br />
soweit es seine Eltern betrifft.<br />
Dann vom Leben der berühmten Mutter<br />
Alice Miller, sowie sie es Zeit ihres Lebens<br />
mehr verbarg als darstellte. Und<br />
schliesslich vom Leben der polnischen<br />
Jüdin Alicija Englard, das er erst nach<br />
dem Tod der Mutter kennenlernte und<br />
das die Persönlichkeit von Alice Miller<br />
zutiefst traumatisiert und gespalten hat.<br />
Der Autor trennt die drei Erzählungen<br />
schon im Aufbau seines Buches, unterscheidet<br />
«Meine Kindheit und Jugend»<br />
von «Was meine Mutter erzählte» von<br />
«Was ich herausfand». Ebenso sorgfältig<br />
trennt erFakten von Erinnerungen und<br />
Erklärungen, und unterscheidet immer<br />
wieder zwischen einem nach wievor bewundernswerten<br />
Werk und der gelebten<br />
Wirklichkeit seiner Mutter. Denn eines<br />
Martin Miller,Sohn von<strong>AliceMiller</strong> und Psychotherapeut,schreibtüber<br />
seine triste Kindheit.<br />
ist klar: Ihrer Theorie vermochte Alice<br />
Miller selbst nicht nachzuleben und «es<br />
war nicht schön, das Kind von Alice Miller<br />
zu sein», wie Martin Miller es einmal<br />
formuliert.<br />
Polnische Jüdin<br />
Alice Miller hat ihre Lebensgeschichte<br />
wie ein Geheimnis gehütet. Die äusserst<br />
knappen biografischen Angaben zu ihren<br />
Büchern oder auf ihrer Webseite beginnen<br />
geradezu stereotyp meist so: «Alice<br />
Miller wurde 1923 in Polen geboren und<br />
studierte inBasel Philosophie, Soziologie<br />
und Psychologie.» Dass sie den Zweiten<br />
Weltkrieg als Jüdin in Warschau<br />
überlebt hatte, war zwar Insidern bekannt.<br />
Aber viel mehr wussten selbst<br />
ihre beiden Kinder nicht, der 1950 geborene<br />
Martin und die 1956 mit Downsyndrom<br />
geborene Julika (von der übrigens<br />
das einzig verfügbare, immer gleiche<br />
Foto von Alice Miller stammt, das bis<br />
heute wie eine Ikone alle ihre Produkte<br />
von Büchern bis zu den Youtube-Lesungenziert).<br />
Zu spüren bekam der Sohn allerdings<br />
einiges: eine schon fast hasserfüllte Ablehnungdes<br />
Judentums und eine verbitterteFrustration<br />
über die eigene Familie,<br />
zu der kaum Kontakt bestand, oft habe<br />
eine «masslose Wut» die Erinnerungen<br />
seiner Mutter begleitet. Ansonsten<br />
wurde alles Jüdische und Polnische von<br />
Sohn Martin ferngehalten, der als katholischer<br />
Schweizer aufwachsen sollteund<br />
seine untereinander polnisch sprechenden<br />
Eltern nichteinmal verstand. In diesen<br />
Dingen habe ein «unausgesprochenes<br />
Verbot zu fragen» geherrscht.<br />
Erst ein konfrontatives Interview nach<br />
dem Tod der Mutter liess Martin Miller
daran denken, dieses Frageverbot zu<br />
brechen und bei noch lebenden Verwandten<br />
und Zeitzeugen in Amerika und<br />
Israel nachzuforschen. Die Geschichte,<br />
die er fand, ist erschütternd: Alice Miller<br />
wurde als Alicija Englard inder polnischen<br />
Kleinstadt Piotrkow in eine hochangesehene<br />
und wohlhabende jüdische<br />
Grossfamilie geboren. Sie war ein intelligentes,<br />
aber überaus schwieriges und sozial<br />
einsames Mädchen, das die jüdischen<br />
Regeln und Verbote als unsinnig<br />
empfand und mit den Eltern in einem<br />
Dauerkonflikt lag. Entsprechend setzte<br />
es durch, in eine öffentliche polnische<br />
Schule zu gehen (statt in die jiddisch-jüdische)<br />
und sprach in der Folge ebenso<br />
gut polnisch, wie später, nach zwei in<br />
Berlin verbrachtenJahren, auch Deutsch.<br />
<strong>AliceMiller</strong> mit ihrem<br />
Mann Andreas Miller<br />
in den 1950er Jahren,<br />
bevorsie durch ihr<br />
Buch weltberühmt<br />
wurde.<br />
In Zürich Kultfigur<br />
Dies ermöglichte es dem Teenager mit<br />
gefälschten Papieren unter dem polnischen<br />
Namen Alice Rostovska aus dem<br />
Ghetto zu fliehen, in das die jüdische Bevölkerung<br />
von Piotrkow nach der deutschen<br />
Besetzung gesperrt worden war.<br />
Nicht nur lebt die inzwischen 17jährige<br />
Alice dann unter falscher Identität in<br />
Warschau, ständig von Entlarvung bedroht<br />
und von einem Verfolger erpresst,<br />
sie verdient überdies als Lehrerin Geld,<br />
holt damit auch die ungeliebte Mutter<br />
und die als dumm verachtete jüngere<br />
Schwester aus dem Ghetto und bringt sie<br />
in Sicherheit. DerkrankeVater allerdings<br />
verweigert die Fluchtund stirbt im Ghetto,<br />
bevor Grosseltern und viele andere<br />
Familienmitglieder ins KZ abtransportiert<br />
werden.<br />
Noch vor Kriegsende gelang esAlice<br />
sich auf die russische Seite zu retten.<br />
Nach dem Krieg, sie war nun 22 Jahrealt,<br />
begann sie ein Studium in Lodz und setzte<br />
alles daran, Polen zu verlassen –ein<br />
Stipendium für die Schweiz erwies sich<br />
als einzige Möglichkeit. Einem Verehrer<br />
der klugen und schönen Alice Rostovska<br />
–den Decknamen behielt sie auch nach<br />
dem Krieg bei –gelanges, sie gegenihren<br />
Willen zu begleiten. Dieser katholische<br />
Pole, mit dem sie 1946 in der Schweiz<br />
strandete, wurdeihr Mann.<br />
Beide Ehepartner studierten erfolgreich<br />
und erreichten hochangesehene<br />
Positionen: Andreas Miller als Professor<br />
für Soziologie in St. Gallen, Alice Miller<br />
als führende Figur der Psychoanalyse in<br />
Zürich. Doch es war und blieb, bis zur<br />
späten Scheidung, eine Ehe voller Streit<br />
und Spannung – «gebändigter Hass»<br />
heisst das entsprechende Kapitel des<br />
Sohnes, der von seinem autoritär-unberechenbaren<br />
Vater vor den Augen der<br />
Mutter gedemütigt und geschlagen<br />
wurde.<br />
Erst die Entdeckung des jüdischen<br />
Mädchens, das gar nicht jüdisch sein<br />
wollte, und doch für sein jüdisch sein<br />
verfolgt wurde, erhellt dem Sohn, was<br />
seine Mutter meinte, wenn sie wütend<br />
bemerkte, sie habe «sich umbringen<br />
müssen, um zu überleben.» Lässt ihn<br />
verstehen, wie sich ein vier Jahre dauerndes<br />
lebensgefährliches Versteckspiel,<br />
die hochgefährliche Rettung einer ungeliebten<br />
Familie sowie die Schuld gegenüber<br />
einem nicht-gerettet-sein wollenden<br />
Vaterzum Trauma verbanden. Abgespalten<br />
und verdrängt, beherrschtesdas<br />
Leben, die Gefühlswelt und auch die Arbeit<br />
von Alice Miller vollkommen: nährt<br />
ihren Verfolgungs- und Kontrollwahn,<br />
führt in die besessene Mission für das<br />
überforderteKind und gleichzeitig in die<br />
Unfähigkeit, dem Sohn ein eigenständigesLeben<br />
zuzugestehen.<br />
In einem letzten Brief an diesen Sohn<br />
von 1998 gesteht die nun 75jährige Mutterdiesem<br />
endlich ihreMitschuldander<br />
Misere seiner Kindheit ein. Wie Martin<br />
Miller heute diesen Brief –erwird wie<br />
viele andereZeugnisse im Buch vollständig<br />
wiedergegeben – im Lichte seiner<br />
neuen Erkenntnis interpretiert, wie er<br />
versteht, dass seine Mutter den Sohn mal<br />
mit dem verlassenen Vater, mal mit dem<br />
Verfolger der Nazizeit unbewusst identifizierte<br />
–darin erreicht dieses an differenzierten<br />
Einsichten überreiche Buch<br />
seinen Höhepunkt.<br />
Eine erhellende Diskussion der Theorien<br />
vonAlice Miller im Lichte der heutigen<br />
psychotherapeutischen Praxis und<br />
ein Nachwort des Traumaspezialisten<br />
Oliver Schubbe zur generationenüberdauernden<br />
Langzeitwirkung von Kriegstraumata<br />
beschliessen ein ausserordentliches<br />
Buch, das menschlich ebenso ergreifend<br />
wiehistorisch bedeutsam ist. ●<br />
PRIVAT<br />
29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch<br />
Reisereportage Lebensmut,Improvisation und Optimismus kennzeichnen dasLeben in Brasilien. Doch<br />
RuediLeutholdzeigt,wie vordergründig diese Eindrücke oftsind<br />
NichtimmeristdasLächelnecht<br />
Ruedi Leuthold: Brasilien. DerTraum vom<br />
Aufstieg. Nagel &Kimche,<br />
Zürich 2013. 208 Seiten, Fr.25.90.<br />
VonSebastian Bräuer<br />
Gerade erst haben aufmerksame Leser<br />
von Wirtschaftszeitungen wieder eine<br />
verwirrende Nachricht aufnehmen müssen:<br />
Der amerikanische Ökonom Robert<br />
Shiller, der einst den Zusammenbruch<br />
des US-Immobilienmarktes vorhersagte<br />
und damitRechtbehielt, warntjetzt wieder<br />
vor einer Immobilienblase, diesmal<br />
in Brasilien. Dabei herrschte gerade noch<br />
der Eindruck vor, Brasilien müsse sich<br />
gegen Kapitalabflüsse stemmen, die<br />
Boomjahrehätten also ein jähes Ende gefunden.<br />
Die Boomjahre, in denen Brasilien<br />
plötzlich wie selbstverständlich in<br />
einem Atemzug mit China, Indien und<br />
Russland genannt und zum Hoffnungsträger<br />
der Weltwirtschaft stilisiert<br />
wurde. Jahre, die aber wiederum Jahrzehnten<br />
wirtschaftspolitischer Instabilität<br />
und davongaloppierender Inflationsraten<br />
gefolgt waren, in denen es hiess,<br />
Brasilien werde nie in die Erfolgsspur<br />
und aus der Armut finden.<br />
FAUTRE /LAIF<br />
EinverwirrendesLand<br />
Nicht nur Wirtschaftsexperten tun sich<br />
schwer, Brasiliens Entwicklung zu bewerten,<br />
ohne früher oder spätervon den<br />
Fakten überrollt zu werden. Das Land<br />
lässt sich nicht soeinfach in Raster einordnen.<br />
Selbst, wenn es um Fussball<br />
geht. Wer glaubte, die Fussballbegeisterung<br />
sei im Land des fünffachen Weltmeisters<br />
grenzenlos, wurde imFrühjahr<br />
2013 überrascht, als der Confederations<br />
Cup von heftigen Massenprotesten<br />
überschattet wurde, in denen sich die<br />
Wut über mangelnde Teilhabe genauso<br />
entlud wie die Wahrnehmung der Ressourcenverschwendung<br />
beim Bau von<br />
Fussballstadien.<br />
Wer sich auf die Suche nach einem<br />
besseren Verständnis des begeisternden,<br />
polarisierenden, aber eben vor allem<br />
auch verwirrenden Landes mit seinen<br />
knapp 200 Millionen Einwohnern machen<br />
will, findet in Ruedi Leutholds Reportageband<br />
einen Einstieg. Leuthold,<br />
geboren 1952, ist Schweizer Journalist,<br />
gekrönt mit dem Filmpreis Civis und<br />
dem Columbus-Preis für die beste<br />
deutschsprachigeReisereportage. Er lebt<br />
seit einigen Jahren in Rio de Janeiro.<br />
Damit ist er prädestiniert, kundig über<br />
das Land zu schreiben, ohne gleichzeitig<br />
die Perspektive des Mitteleuropäers zu<br />
ignorieren. Er sei kein Anfänger inBrasilien,<br />
schreibt er selbst. Aber eben auch<br />
kein Eingeweihter. Das werde man nur,<br />
wenn man eine Brasilianerin heirate,<br />
denn die Frauen hüteten die Geheimnisse<br />
des Landes.<br />
Oder,der härtereWeg, indem man Geschäfte<br />
mache, inklusive Kampf mit der<br />
Menschen in Brasilien<br />
zwischen Boom<br />
und Niedergang.<br />
Hier:Fischer im<br />
Naturschutzgebiet<br />
APATinharée<br />
Boipeba.<br />
Bürokratie, Schmier- und Schutzgeld.<br />
Vorerst tut es auch die Lektüre. Wobei es<br />
nicht primär die knappen, manchmal<br />
etwas abrupt eingestreuten Zusammenfassungen<br />
von Geschichte, Politik und<br />
Wirtschaft sind, die das Buch empfehlenswert<br />
machen. Sie sind instruktiv,<br />
bleiben aber aufs Nötigstebeschränkt.<br />
Beeindruckend sind die Porträts von<br />
Personen, denen Leuthold auf seiner<br />
Reise durch Brasilien begegnet. Etwa<br />
von Socorro, der Tochter eines Fischers,<br />
deren Gesichtdurch einen schwerenUnfall<br />
seit früher Kindheit entstellt ist. Die<br />
als Jugendliche in ein Umfeld von Drogen,<br />
Gewalt und Prostitution abgleitet,<br />
später aber Selbstachtung und Zuversicht<br />
entdeckt. Oder von einem Richter,<br />
der mit einem Schiff von einem entlegenen<br />
Dorf zum nächsten fährt, mit einer<br />
zum Gerichtssaal umgebauten Kabine,<br />
um kleinere und grössere Streitigkeiten<br />
zu schlichten, weil für die Dschungelbewohner<br />
juristische Instanzen in unerreichbarer<br />
Ferne sind. Er wird mitBeziehungsproblemen<br />
konfrontiert und mit<br />
Wilderern, die Wasserschweine und<br />
einen Kaiman erlegt haben. Der Richter<br />
fällt salomonische Urteile und kostet<br />
auch mal vomWasserschwein.<br />
Die Erzählungen Leutholds zeugen<br />
von Lebensmut und Improvisationskunst,<br />
zerschmettern aber gleichzeitig<br />
auch das etwas schlichte Klischee, Brasilianer<br />
seien ständig gut gelauntund optimistisch.<br />
«Die soziale Übereinkunft in<br />
Brasilien will, dass man sich fröhlich<br />
zeigt», schreibt Leuthold. «Es ist unanständig,<br />
seine Sorgenzuzeigen.» Das Lächeln<br />
ist nicht immer echt, und hinter<br />
der Fassade tun sich manchmal Abgründe<br />
auf.Wie bei Aparecida, einer Frau, die<br />
alles dafür tut, den Anschein zu erwecken,<br />
sie gehöre zuder rasant wachsenden<br />
Mittelschicht. Die sich die Haare<br />
blond färbt und den Busen vergrössert,<br />
mitGeld, das sie eigentlich nichthat.Die<br />
zu Leuthold sagt, der Körper sei das<br />
Wichtigste. Was geradezu zynisch herüberkommt.<br />
Denn wenn sie eine unvorhergesehene<br />
Ausgabe stemmen muss,<br />
leidet ihreFamilie Hunger.<br />
Wuchernde Korruption<br />
Leutholdgehthart mitden Politikern ins<br />
Gericht, selbst mit dem national wie international<br />
hoch angesehenen ehemaligen<br />
Präsidenten Lula da Silva. Er hält<br />
ihm vor, viele Versprechen vergessen zu<br />
haben, etwa die Sistierung der Zahlungen<br />
anden Internationalen Währungsfonds<br />
(eswar im Sinne der Glaubwürdigkeit<br />
sicherlich eine gute Idee, an den<br />
Zahlungenfestzuhalten).<br />
Leuthold stempelt Politiker zu Lügnern<br />
ab. Eine einfache Arbeitslosenstatistik,<br />
von der Regierung veröffentlicht,<br />
sei ein Meisterwerk der Fiktion. Die Korruption<br />
wucherewie eh und je. Vielleicht<br />
ist ein Teil der Urteile etwas zu pauschal.<br />
Doch darüber lässt sich hinwegsehen,<br />
denn trotz allem wird der wirtschaftliche<br />
Fortschritt zum prägenderen Leitmotiv<br />
des Buches, erzählt anhand vieler Beispiele,<br />
die einen besseren Einblick verschaffen<br />
als jedes Studium ökonomischer<br />
Kennziffern. Ein Fortschritt, der<br />
sich in einem irrwitzigen Tempo abspielt<br />
und auch entlegenste Landstriche erfasst.<br />
Ein neues Brasilien entsteht. ●<br />
18 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013
10CFWMMQ7DMAwDXySDtCLZisYgW9Ch6O6l6Nz_T4G9ZSCOw5HXlVawcpyvz_lOApsJwxU9LazU5qkRxbslgr2CutO0svn20AWLOqYiCGEfNFGu4m1Q58GYY6D8v78bHhamx38AAAA=<br />
10CAsNsjY0MDAx1TW0NDM2sAAAEF-p9A8AAAA=<br />
Rom NostalgischeErinnerungen an Italiens goldene Jahre<br />
AlsAnitaEkbergimTrevi-Brunnen<br />
einBadnahm<br />
MaikeAlbath: Rom, Träume. Moravia,<br />
Pasolini, Gadda und die Zeitder Dolce<br />
Vita. Berenberg, Berlin 2013. 280 Seiten,<br />
Fr.37.90.<br />
VonJanika Gelinek<br />
Im Pantheon berühmter Filmszenen<br />
nimmt Anita Ekberg imTrevi-Brunnen<br />
einen Logenplatz ein: ihre exaltiert in<br />
den römischen Nachthimmel geworfenen<br />
Arme und der an ihrem Busen stammelnde<br />
Marcello Mastroianni sind weltweit<br />
Ikonografie geworden für «La dolce<br />
vita»; jenen Film, mit dem Fellini 1960<br />
römischen Sittenverfall aufs Korn nahm<br />
und Epochengeschichte schrieb.<br />
Dieser Epoche rund um den Film und<br />
seinen zentralen Schauplatz, die Via Veneto,<br />
hat die Kulturwissenschafterin<br />
Maike Albath nun ein Buch gewidmet,<br />
das fünf der massgeblichen Autoren dieser<br />
Jahre inihrem Lebensumfeld porträtiert:<br />
AlbertoMoravia, Elsa Morante,Pier<br />
Paolo Pasolini, Carlo Emilio Gadda und<br />
Ennio Flaiano. Rasch wechseln römische<br />
Topografie der fünfziger Jahre mit heutigenEindrücken<br />
aus dem Testaccio-Quartier<br />
oder vonder Stadtautobahn ab,Schilderungvon<br />
Film- oder Romanszenen mit<br />
knappen literaturwissenschaftlichen<br />
und soziologischen Analysen, statistische<br />
Befunde mit den ausführlichen Anekdoten<br />
vonZeitzeugen –darunterMoravias<br />
langjährige Lebensgefährtin Dacia<br />
Maraini, Pasolinis Cousin Nico Naldini<br />
und der Grosskritiker PietroCitati.<br />
Anders als in Albaths wunderbarem<br />
Buch über die Gründerjahre des Einaudi-<br />
Verlags in Turin liegt dieser manchmal<br />
eklektischen Methode kein eigentliches<br />
Thema zugrunde, vielmehr soll die Atmosphäre<br />
jenes aufregenden Jahrzehnts<br />
zwischen 1950 und 1960 eingefangen<br />
werden, in dem Italien einen beispiellosen<br />
ökonomischen und kulturellen Boom<br />
erlebte, sich Visconti, Fellini und William<br />
Wyler in den römischen Trattorien und<br />
Cinecittà die Klinke indie Hand gaben<br />
und man, so suggerieren Albaths wehmütige<br />
Gesprächspartner, eigentlich täglich<br />
im Café Rosati in hitzigeDebatten mitden<br />
Film- und Literaturgrössen der Zeitgeriet.<br />
BerühmteFilmszene: Marcello Mastroianni und<br />
Anita EkbergimTrevi-Brunnen in Rom(1960).<br />
Ein Buch also für neugierige Nostalgiker<br />
des Dolce Vita, in dem der Autorin<br />
luzide und flüssig geschriebene Porträts<br />
vorallem der intellektuellen Lichtgestalt<br />
Pasolini und des introvertierten Ingenieurs<br />
und grossen Stilisten Gadda gelingen.<br />
Sie lassen für die Dauer einer kurzweiligen<br />
Lektüre die heutige Misere Italiens<br />
in den Hintergrund treten. ●<br />
KEYSTONE<br />
Foto: ©Marco Okhuizen /laif<br />
Foto: ©Isolde Ohlbaum<br />
Foto: ©Bernard vanDierendonck<br />
Foto: ©Annalena McAfee<br />
Leon<br />
de Winter<br />
Ein gutes Herz<br />
Roman·Diogenes<br />
512 Seiten<br />
Leinen<br />
sFr32.90*<br />
UrsWidmer<br />
Reise<br />
an denRand<br />
desUniversums<br />
Diogenes<br />
352 Seiten<br />
Leinen<br />
sFr32.90*<br />
Lukas<br />
Hartmann<br />
Abschied<br />
vonSansibar<br />
Roman·Diogenes<br />
336 Seiten<br />
Leinen<br />
sFr32.90*<br />
Ian McEwan<br />
Honig<br />
Roman·Diogenes<br />
*unverbindliche Preisempfehlung<br />
464 Seiten<br />
Leinen<br />
sFr32.90*<br />
Verspielt, beunruhigend, berührend und<br />
spannend, einfach genial!Ein Roman, der<br />
ins Herz unserer Zeit trifft.<br />
»Leon de Winter kann erzählen wie<br />
kaum ein anderer.« Literaturen, Berlin<br />
»Kein Schriftsteller, der bei Trost ist,<br />
schreibt eine Autobiographie«, lautet<br />
der erste Satz. UrsWidmer hat die eigene<br />
Warnung in den Wind geschlagen<br />
und ein großartiges Erinnerungsbuch<br />
verfasst.<br />
Eine Prinzessin von Sansibar, die mit<br />
einem Hamburger Kaufmann durchbrennt.<br />
Die Saga einer west-östlichen<br />
Familie, in deren Zentrum eine vielschichtige<br />
und leidenschaftliche Frauengestalt<br />
steht.<br />
Sex, Spionage, Fiktion und die Siebziger:<br />
eine schöne Geheimagentin<br />
auf literarischer Mission.<br />
29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 19
10CFWMIQ7DQAwEX-TTrs--i2tYhUUBVblJFNz_o-rKCgbt7BxHesOP536-91cSMBeFmml6eNM5kqFt-kgENwX7g65UOPnnCxijo9dyBCHcimsUQ9n0Yl-FWm-gfa77Cy4qyHSAAAAA<br />
10CAsNsjY0MDAx1TUyMDIxMQIAB-K5cQ8AAAA=<br />
Sachbuch<br />
Urgeschichte Zwei amerikanischeForscher spekulieren über Denken und Fühlen des Neandertalers<br />
Witzereissenkonnteernicht<br />
Thomas Wynn, Frederick L.Coolidge:<br />
Denken wie ein Neandertaler. Zabern,<br />
Darmstadt 2013. 288 Seiten, Fr.44.90.<br />
VonGeneviève Lüscher<br />
Als der moderne Mensch vor rund<br />
150000 Jahren Afrika den Rücken kehrte<br />
und sich rund 100000 JahrespäterinEuropa<br />
niederliess, traf er nicht auf einen<br />
leeren Kontinent. Die Neandertaler<br />
waren schon da, erfolgreiche Jäger, fleissige<br />
Sammlerinnen, alteingesessen, gut<br />
angepasst und eigentlich erfolgreich im<br />
Leben. Dennoch war die alte Spezies<br />
ohne Chance und musste das Feld für<br />
den erfolgreicheren, neuen Homo sapiens<br />
räumen. Sie starb aus.<br />
Der Neandertaler ging zwar unter, geblieben<br />
aber ist sein schlechter Ruf. Die<br />
Umgangssprache sieht hinter dem Neandertaler<br />
einen keulenschwingenden<br />
Höhlenbewohner, bar jeder Kultur,<br />
ziemlich dumm, auf jeden Fall<br />
rückständig. Die beiden Autoren,<br />
der Anthropologe<br />
Thomas Wynn und der<br />
Neuropsychologe Frederick<br />
L. Coolidge,<br />
haben sich an die Rehabilitierung<br />
unseres Vorfahren<br />
gemacht. Ihrer Meinung nach<br />
war der Neandertaler nicht geistig<br />
zurückgeblieben, sondern er ging einfach<br />
grundlegend anders an die Probleme<br />
des Lebens heran, seine kognitiven<br />
Fähigkeiten unterschieden sich von<br />
denen des modernen Menschen.<br />
Wie also war der Neandertaler, was<br />
dachte er? Die Autoren fächern – vergnüglich,<br />
bisweilen gar kurzweilig und<br />
mit Beispielen aus unserer Zeit garniert<br />
– das Leben dieser Spezies vor uns auf:<br />
Wieernährtesie sich, welche Werkzeuge<br />
stellte sie her, welches Familienleben<br />
pflegtesie, wiewaren Klima und Umwelt<br />
am Ende der Eiszeiten?<br />
Ausder Lebensweise und den archäologischen<br />
Fakten schliessen die Autoren<br />
auf die Denkweise des Neandertalers,<br />
rein hypothetisch, versteht sich, denn<br />
SCHOENING /ARCO IMAGES<br />
Der Neandertaler<br />
war<br />
–entgegen<br />
seinem<br />
schlechten<br />
Ruf–kein<br />
kulturloser<br />
Mensch.<br />
beweisen lässt sich hier nichts. Gedankenerhalten<br />
sich nichtimBoden.<br />
Aber das in den Skeletten nachgewiesene<br />
GenFOXP2, das mitder Fähigkeitzu<br />
sprechen verbunden wird, lässt vermuten,<br />
dass der Neandertaler reden konnte.<br />
Auch die anatomischen Gegebenheiten<br />
unterstützen die Vermutung. Darüber<br />
hinaus beherrschte er das Entwickeln<br />
von Jagdstrategien, die für das Erlegen<br />
von Grosswild wie Mammuts nötig<br />
waren, und ausgeklügelteTechniken der<br />
Werkzeugherstellung–was auf ein Kommunikationsverhalten<br />
hinweist. Auch<br />
lachen konnte der Neandertaler mit Sicherheit,<br />
aber einen Witz erzählen, das<br />
ging wohl über seine kognitiven Fähigkeiten.<br />
Er besass Mitgefühl und sorgte<br />
für seine Leute, wenn sie krank oder verletzt<br />
waren. Andererseits scheinen (allerdings<br />
stark umstrittene) Spuren von<br />
Kannibalismus auf einen bisweilen doch<br />
recht lieblosen Umgang untereinander<br />
hinzuweisen.<br />
Die gelegentliche Verwendung von<br />
Pigmentenlassen die Autorenvermuten,<br />
dass der Neandertaler auch schon über<br />
symbolische Fähigkeiten verfügte, ohne<br />
dass sich diese in bildlichen Darstellungen<br />
äusserten. Eine Art Religion sprechen<br />
sie dem Neandertaler hingegen ab,<br />
auch wenn er seine Toten mit Sorgfalt<br />
niederlegte.<br />
Als spekulatives Gedankenexperiment<br />
lassen die Autoren ein Neandertalerbaby<br />
imHeute aufwachsen und ein<br />
heutiges Baby in einer Neandertalergruppe.<br />
Beide würden überleben, das<br />
Neandertalerkind vermutlich besser<br />
als der moderne Mensch,<br />
weil es alle Fähigkeiten erwerben<br />
könnte, umein normales<br />
modernes Leben zu führen.<br />
Die besser entwickelten kognitiven<br />
Fähigkeiten des modernen<br />
Menschenkindes hingegen würden ihm<br />
in der eiszeitlichen Umgebung kaum<br />
Vorteile bringen.<br />
Wenig Überlebenschancen hätten<br />
beide Arten, würde man sie als Erwachsene<br />
in die andere Gruppe verpflanzen.<br />
Dem modernen Menschen fehlt schon<br />
die körperliche Fitness, um im kalten<br />
Klima ohne Heizung und Thermowäsche<br />
zurechtzukommen.<br />
Das Buch ist gespickt mit Spekulationen,<br />
und die Autoren geben manchmal<br />
zu, dass alles auch ganz anders gewesen<br />
sein könnte.Gesichert ist hingegen, dass<br />
der Neandertaler ausstarb. Möglicherweise,<br />
weil seine kognitiven Fähigkeiten<br />
ihm nicht erlaubten, sich an die Klimaerwärmung<br />
amEnde der Eiszeit anzupassen.<br />
Das immerhin könnte uns zu<br />
denken geben. ●<br />
25. —27. Oktober 2013: Internationales Buch- und Literaturfestival<br />
Verleihung Schweizer Buchpreis<br />
www.buchbasel.ch<br />
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013
Urbanität Ein opulenterBildband zeigt Siedlungen derSchweiz in vorindustriellerZeit, als es nochkeine<br />
Autobahnen, Hochspannungsleitungen und Agglomerationen gab<br />
VonderWehmutbeim<br />
BetrachtenalterStadtbilder<br />
Bernd Roeck, Martina Stercken, François<br />
Walter,Marco Jorio (Hrsg.): Schweizer<br />
Städtebilder,Urbane Ikonographien (15.–21.<br />
Jahrhundert). Chronos, Zürich 2013.<br />
528 Seiten, Fr.109.–.<br />
VonTobias Kaestli<br />
Wer wissen will, wie die Städte inder<br />
Schweiz aussahen, als es noch keine Autobahnen,<br />
Eisenbahnen und ausufernden<br />
Einfamilienhausquartieregab,sucht<br />
Bilder aus früheren Zeiten. Berühmtsind<br />
die Kupferstiche von Matthäus Merian<br />
dem Älteren aus der Mitte des 17. Jahrhunderts.<br />
Es sind nach der Natur gefertigte<br />
Bilder von kompakten Städten mit<br />
hohen Dächern und Kirchtürmen, umgeben<br />
vonfesten Wehranlagen. Ausserhalb<br />
der Stadtmauern sind Gärten, Wiesen<br />
oder Rebberge angedeutet.<br />
Neben Merian gibt es eine grosse Zahl<br />
von Kleinmeistern, die in ähnlicher Art<br />
Stadtansichten, sogenannte Veduten,<br />
schufen. Diejenigen des 18.Jahrhunderts<br />
widmeten oft der Umgebung mehr Sorgfalt<br />
als der Stadt. DerenLageinder Landschaft<br />
schien ihnen wichtig. Das hingmit<br />
dem vonRousseau geprägten Begriff der<br />
guten, heilsamen Natur zusammen.<br />
Wiesen, Bäume, Flüsse<br />
Erst spätertratendie technischen Errungenschaften<br />
ins Bild. Die Erfindung der<br />
Fotografie verändertedie Wahrnehmung<br />
der Stadt und der Landschaft. Bis heute<br />
gilt uns aber das Bild von der klar abgegrenzten<br />
Stadt inmitten einer von Wiesen,<br />
Bäumen und natürlichen Flussläufen<br />
geprägten Umgebung als eine Art<br />
Ideal. Deswegen leiden wirander zunehmenden<br />
Zersiedlungund verkehrsmässigen<br />
Intensivnutzung der Landschaft.<br />
Beim Betrachten alter Städtebilder im<br />
grossformatigen, schön gedruckten und<br />
ausgestatteten Bildband kommt fast<br />
zwangsläufig eine gewisse Wehmut auf.<br />
68 Städte und Städtchen der Schweiz<br />
und Liechtensteins sind von ebenso vielen<br />
Autorinnen und Autoren ikonographisch<br />
untersucht worden. Leider konnten<br />
längst nicht alle Bilder, auf die sie<br />
verweisen, abgebildet werden. Pro Aufsatz<br />
sind es vier bis acht. Sie sind, wiedie<br />
Texte, von unterschiedlicher Qualität,<br />
grösstenteils aber hoch interessant und<br />
aufschlussreich. Vordergründig geht es<br />
darum zu zeigen, wie der urbane Raum<br />
einst ausgesehen hat. Aber auch der Laie<br />
wird rasch merken, dass die Absichten<br />
der Herausgeber weit über die blosse Dokumentation<br />
einstiger baulicher Verhältnisse<br />
hinausgehen, dass sie anhand des<br />
Bildmaterials unsere Sehgewohnheiten<br />
und die Besonderheiten früherer Wahrnehmungsarten<br />
aufzeigen wollen.<br />
Bellinzona wuchs aus<br />
einer militärischen<br />
Befestigungsanlage<br />
heraus. Blick auf<br />
das Castelgrande;<br />
Aquarell vonDavid<br />
Alois Schmid aus dem<br />
Jahr 1834.<br />
Den Aufsatz über Zürich hat Mitherausgeberin<br />
Martina Stercken geschrieben.<br />
Sie setzt bei zwei Darstellungen der<br />
Stadt in der «<strong>Zürcher</strong> Chronik» von Gerold<br />
Edlisbach (1454–1530) ein. Hier ist<br />
das Bildindie Chronik der kriegerischen<br />
Ereignisse eingebettet und stellt Zürich<br />
als wehrhafte Stadt dar. Auf einer Darstellung<br />
des 16. Jahrhunderts wird dann<br />
die Stadt selbst zum Bildgegenstand. Das<br />
Rathaus als Ort der Selbstverwaltung ist<br />
ins Zentrum gerückt, die Türme des<br />
Grossmünsters sind unverhältnismässig<br />
hoch gezeichnet. Die Vogelperspektive<br />
lässt das Innenleben der Stadt erkennen.<br />
In einem Stich von 1638 verwendet Matthäus<br />
Merian dagegen viel Sorgfalt auf<br />
die barocke Befestigungsanlage. Seine<br />
Sicht beeinflusste viele spätere Darstellungen.<br />
Wasim18. Jahrhundert neu dazu<br />
kam, waren die exakten Grundrissaufnahmen,<br />
welche die Gebäude und die<br />
Quartiere in den richtigen Grössenverhältnissen<br />
erscheinen liessen. Doch bis<br />
in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />
ist bei manchen Darstellungen eine Idyllisierung<br />
der Stadt in ihrer Einbettung in<br />
die Landschaft ablesbar.<br />
Über Bern schreibt der einstige Denkmalpfleger<br />
Bernhard Furrer. Erweist darauf<br />
hin, dass schon in den frühesten<br />
Darstellungen eine besondere Eigenart<br />
dieser Stadt herausgestellt wurde, nämlich<br />
die Anlagedes Strassennetzes in Anpassungandie<br />
Topografie jenes Felsens,<br />
der vonder Aareumflossen wird und der<br />
Bern jene besondere Gestalt verlieh, die<br />
es zum UNESCO Weltkulturerbe macht.<br />
Auch bei andern Städten wie Genf und<br />
Basel war die Topografie für die Ausgestaltung<br />
der Wehranlagen und damit<br />
auch für die innereForm entscheidend.<br />
Bellinzona ist ein besonders interessantes<br />
Beispiel dafür, wie eine Stadt aus<br />
einer militärischen Befestigungsanlage<br />
herausgewachsen ist. Aber nicht nur die<br />
Kantonshauptorte werden dargestellt,<br />
sondern auch kleine Städtewie Yverdon,<br />
Delémont, Aarwangen, Bischofszell oder<br />
Biel. Erstaunlich, wie viele Veduten vorhanden<br />
sind. Die Aufsätze französischund<br />
italienischsprachiger Autorinnen<br />
und Autoren sind in der Originalsprache<br />
belassen.<br />
EinForschungsprojekt<br />
Das Buch ist im Rahmen eines internationalen<br />
Forschungsprojekts entstanden,<br />
das schon 1989vom französischen Mediävisten<br />
Jacques Le Goff und vom Italiener<br />
Cesare deSeta lanciert wurde. Seta<br />
ist heuteDirektor des «Centrointerdipartimentale<br />
di Ricerca sull’ Iconografia<br />
della Città Europea» in Neapel. Italien,<br />
das eigentliche Geburtsland der «Schönen<br />
Stadt» in der Zeit der Renaissance,<br />
hat wohl den stärksten Anstoss zum europäischen<br />
Projekt einer vergleichenden<br />
Städteikonografie gegeben.<br />
Für den Band zur Schweiz zeichnet<br />
der gebürtige Augsburger Bernd Roeck,<br />
Geschichtsprofessor an der Universität<br />
Zürich, verantwortlich. Sein einleitender<br />
Text öffnet den Blick über die Schweiz<br />
und Europa hinaus und ist eine kurz gefassteGlobalgeschichte<br />
und eine Theorie<br />
der Städteikonografie.<br />
Es lohnt sich, diese Einleitung aufmerksam<br />
zu lesen, denn hier lernt man<br />
die Begriffe und Kategorien kennen, die<br />
es ermöglichen, die Abbildungen zu<br />
den schweizerischen Städten gleichsam<br />
unter einer globalen Perspektive zu erkunden.<br />
●<br />
KLOSTER EINSIEDELN SAMMLUNG DES STIFTES<br />
29.September 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch<br />
Zeitgeschichte Swetlana Alexijewitschverleihtden Menschen in Weissrussland eine Stimme.Dafür<br />
erhältsie am 13.Oktober denFriedenspreis des Deutschen Buchhandels<br />
Jederträumtvoneinem<br />
anderenRusland<br />
Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit.<br />
Leben auf den Trümmern des<br />
Sozialismus. Hanser,Berlin 2013.<br />
576Seiten, Fr.39.90,E-Book 29.90.<br />
VonIna Boesch<br />
Eine Stimmensammlerin wird am 13. Oktober<br />
in der Frankfurter Paulskirche den<br />
renommierten Friedenspreis des Deutschen<br />
Buchhandels entgegennehmen.<br />
Bereits zum zweiten Mal ehrt die Jury<br />
damit ein besonderes literarisches Verfahren:<br />
Wie der letztjährige Preisträger<br />
Liao Yiwu verleiht die Schriftstellerin<br />
Swetlana Alexijewitsch denjenigen Menschen<br />
eine Stimme, die nicht gehört<br />
werden sollen. Gemäss der Jury hat die<br />
65-jährige Weissrussin eine «eigene<br />
literarische Gattung» begründet, den<br />
«Roman in Stimmen».<br />
Alexijewitsch arbeitet seit Mitte der<br />
Achtzigerjahre mit der Methode der Oral<br />
History: Sie führt ausführliche Gespräche<br />
mit Menschen der ehemaligen Sowjetunion,<br />
um «einen Chorus individueller<br />
Stimmen als Collage des tagtäglichen<br />
Lebens zu erstellen». In ihrer ersten Veröffentlichung,<br />
«Der Krieg hatkein weibliches<br />
Gesicht», korrigiertesie das Bildder<br />
Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs;<br />
für «Zinkjungen» führte sie mehr<br />
als fünfhundert Gespräche mit Hinterbliebenen<br />
vonSoldaten, die in Afghanistan<br />
gefallen sind; mitdem Buch «Tschernobyl<br />
–Eine Chronik der Zukunft», in<br />
dem sie Zeugnisse von Opfern und Augenzeugen<br />
der Reaktorkatastrophe versammelt,<br />
wurde sie weltberühmt. Alle<br />
ihreBücher erzählen die Geschichte vom<br />
Untergang des einstigen sowjetischen<br />
Imperiums, und ihr Werk ist in über<br />
dreissig Sprachen übersetzt. Einzig in<br />
ihrer Heimat wird esseit Lukaschenkos<br />
Machtantritt im Jahr 1994 nicht mehr<br />
verlegt.<br />
Zündstoff für Diktatoren<br />
Ob Alexijewitsch das Preisgeld –wie bereits<br />
nach der Verleihung des Leipziger<br />
Buchpreises zur Europäischen Verständigung<br />
–wieder für den Kauf ihrer Bücher<br />
verwenden wird,umsie nach Minsk<br />
zu schmuggeln? Ein gefährliches Unterfangen,<br />
denn die weissrussische Obrigkeit<br />
will die Stimme des Volkes nicht<br />
hören. Zum Beispiel die Stimme einer<br />
Architekturstudentin aus Minsk, der<br />
Swetlana Alexijewitsch für ihr neues<br />
Buch «Secondhand-Zeit» lange zugehört<br />
hat. Als die junge Frau anlässlich der<br />
letzten Präsidentschaftswahlen an einer<br />
Kundgebungteilnahm, wurdesie, wieso<br />
viele, für kurze Zeit verhaftet. Als einschneidende<br />
Erfahrung erwähnt sie jedoch<br />
nichtden Kerker,sondern den Mut,<br />
22 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013<br />
Die Bücher der<br />
65-jährigen Swetlana<br />
Alexijewitsch sind<br />
seit 1994 in ihrer<br />
HeimatWeissrussland<br />
verboten.<br />
innere Fesseln zu sprengen. «Wir sind<br />
auf die Strasse gegangen. Hatten keine<br />
Angst. Das ist das Wichtigste ... das ist<br />
das Allerwichtigste...» Welcher Zündstoff<br />
für einen Diktator. Wenwundert’s,<br />
dass LukaschenkoAlexijewitschs Bücher<br />
verbieten liess.<br />
Die Studentin ist eine von unzähligen<br />
Protagonisten, welche die Autorin zwischen<br />
1991 und 2011 ausführlich interviewthat.InjahrelangerArbeitwolltesie<br />
herausfinden, wer die «Kinder der kommunistischen<br />
Utopie» sind. Ihr ernüchterndes<br />
Fazit: Die Menschen der ehemaligen<br />
Sowjetunion leben in einer «Secondhand-Zeit»,<br />
die keine neuen Gedanken<br />
hervorbringt. Etwas zugespitzt: Der<br />
Kapitalismus habe über den Sozialismus<br />
gesiegt, doch gleichzeitig steckten die Individuen<br />
im stalinistischen Käfig.<br />
Zwangsläufig sind im Buch hoffnungsvolle<br />
Stimmen selten. Die meisten Menschen<br />
waren in der ehemaligen Sowjetunion<br />
der Freiheit so lange entwöhnt,<br />
dass sie es nicht gewohnt sind, die Entwicklungeines<br />
freiheitlichen politischen<br />
Systems voranzutreiben. Die Freiheit,<br />
EKKOVON SCHWICHOW<br />
die sie suchen, ist die «Freiheit Seiner<br />
Majestät Konsum». Das Leitmotiv des<br />
rund fünfhundertseitigen Oratoriums<br />
über den Untergang des Imperiums ist<br />
nicht die Freude, sondern die Trauer<br />
über den Verlust. Eine Stimme fasst das<br />
verbreitete Gefühl zusammen: «Ja, wir<br />
mussten Schlange stehen nach bläulichen<br />
Hühnchen und faulen Kartoffeln,<br />
aber das war unsereHeimat. Ichhabe sie<br />
geliebt.»<br />
MehrstimmigerChor<br />
Solche Aussagen sind für Kenner der<br />
ehemaligen Sowjetunion nicht neu, jedoch<br />
allemal erschütternd. Bestürzend<br />
auch die Tatsache, dass die Hälfte der<br />
Russen unter dreissig Stalin für einen<br />
grossartigen Politiker hält –weil er den<br />
Krieg gewonnen hat. Verständnislos liest<br />
man auch die Erzählung eines alten KP-<br />
Mitglieds, der im Zug der «Säuberungen»<br />
seine Frau verloren und selbst im Gefängnis<br />
gesessen, jedoch seinen Glauben<br />
an Stalin nie verloren hat. Deshalb ging<br />
er an die Front, vonder er hoch dekoriert<br />
nach Hause kam. Seine einzigeSorge war<br />
seine KP-Mitgliedschaft, die er wegen<br />
seiner Verhaftung eingebüsst hatte und<br />
unbedingt zurückerlangen wollte. Im<br />
Gegensatz dazu irritiert zwar eine Bemerkung<br />
des ehemaligen Chefs des Generalstabs,<br />
aber sie ist in seinem Gedankengebäude<br />
nachvollziehbar: «Es fehlte<br />
an Damenstrumpfhosen? Um einen<br />
Atomkrieg zu gewinnen, braucht man<br />
keine Strumpfhosen, sondern moderne<br />
Raketen und Bomber.»<br />
In diesen Chor reihen sich viele Stimmen<br />
ein: etwa die Stimme einer Ärztin,<br />
«die ohne vieles leben kann, nur nicht<br />
ohne das, was war»; einer Typografin,<br />
die ins Kloster ging; einer armenischen<br />
Flüchtlingsfrau, die den falschen Mann<br />
liebt, nämlich einen Aserbeidschaner;<br />
einer Werbemanagerin, die sich über die<br />
neuen Konsummöglichkeiten freut (und<br />
diese auch nutzen kann); Stimmen von<br />
kaukasischen Gastarbeitern, die in Moskauer<br />
Kellern hausen; Stimmen namenloser<br />
Bürgerinnen und Bürger.<br />
Zu viele Stimmen. Wer spricht, fragt<br />
man sich häufig und wünscht sich einen<br />
Stimmführer.<br />
Löblich, dass Swetlana Alexijewitsch<br />
sich zurückhält und der Leserschaft<br />
Raum für eigene Bilder des «homo sovieticus»<br />
lässt. Schwierig hingegen, dass sie<br />
keine Transparenz bezüglich der Auswahl<br />
der abgedruckten Monologe<br />
schafft. Unweigerlich stellt sich der Eindruck<br />
der Beliebigkeit ein –und damit<br />
die etwas magere Erkenntnis: Menschen<br />
machen je unterschiedliche Erfahrungen.<br />
Oder in den Worten einer Stimme<br />
aus dem Buch: «Wir träumen jeder von<br />
einem anderen Russland.» ●
Kalter Krieg Eine frühereAgentin des DDR-SpionagediensteserzähltihreGeschichte als Sekretärin<br />
hochrangiger Politiker in Westdeutschland<br />
DoppellebenfürdieStasi<br />
Günter Ebert(Hrsg.): Die Topagentin.<br />
Johanna Olbrich alias Sonja Lüneburg.<br />
Edition Ost, Berlin 2013. 254Seiten,<br />
Fr.24.40,E-Book 16.–.<br />
VonUrs Rauber<br />
Lichtund Dunkel DieSchweiz in derNacht<br />
Selbstauf Skipistenflackertnachts das Licht –hier die<br />
Scheinwerfer der Pistenfahrzeuge am Männlichen,<br />
im Hintergrund das Schilthorn, aufgenommen vom<br />
Titlis in der Nacht vom16. Februar 2013 mit Mehrfachbelichtung.<br />
Der Pressefotograf Alessandro Della Bella,<br />
geboren 1978,trug schon als Jugendlicher seine Kamera<br />
samt Schlafsack am Abend auf einen Berg, um dortin<br />
einen schwarzen Sucher zu blicken. Heutearbeitet er<br />
mit bis zu fünfKameras, oftbei eisiger Kälte, in einer<br />
Nacht entstehen bis 5000 Fotos. Aufder Website<br />
helvetiabynight.com kann man seine Fotoserien als<br />
Fürden ostdeutschen Spionagechef Markus<br />
Wolf war die Frau «auf dem Weg,<br />
eine Spitzenquelle für unseren Dienst zu<br />
werden». Noch in seinen Erinnerungen<br />
von1997 schrieb er über Johanna Olbrich<br />
(1926–2004) – ohne ihren Tarnnamen<br />
«Sonja Lüneburg» zu nennen, unterdem<br />
sie in der Bundesrepublik zwei Jahrzehnte<br />
unentdeckt als Sekretärin verschiedener<br />
hoher Politiker gearbeitet hatte. Am<br />
Ende war «Lüneburg» elf Jahre lang Mitarbeiterin<br />
vonFDP-Generalsekretär Martin<br />
Bangemann, später Wirtschaftsminister<br />
im KabinettKohl, gewesen.<br />
Die in Ostdeutschland geborene Johanna<br />
Olbrich war eine initiative, selbstbewusste<br />
Frau, die seit ihrer Jugend<br />
gerne gesellschaftliche Verantwortung<br />
übernahm. Voller Idealismus trat die<br />
Junglehrerin mit 20indie Sozialistische<br />
Einheitspartei Deutschlands (SED) ein,<br />
um beim Aufbau einer gerechteren Gesellschaft<br />
mitzuhelfen. Sie sei ein eher<br />
kritisches Parteimitglied gewesen, das<br />
hohle Rituale ablehnte. Etwas verwundert<br />
und neugierig sagte sie zu, als die<br />
Staatssicherheit(Stasi) sie 1965fragte, ob<br />
sie bereit sei, klandestin in den Westen<br />
zu gehen, «um für die DDR zu arbeiten».<br />
Olbrich war damals 39 und alleinstehend,<br />
aber keineswegs «ohne Männer».<br />
Es reizte sie, etwas Ungewöhnliches für<br />
Filme erleben. Der üppige Bildband «Helvetia by night»<br />
versammelt die schönstendieser Nachtaufnahmen: von<br />
der flammend rotenAbenddämmerung am Thunersee<br />
zumLichtermeer der Städteund Seeufer,vom Nebelmeer<br />
im Mondschein zurMilchstrasse,von den Lichtbahnen<br />
der startenden Flugzeuge zurMorgendämmerung<br />
über Lugano.Helvetia mag schlafen –ganz<br />
im Dunkeln liegt sie nie. Kathrin Meier-Rust<br />
Alessandro Della Bella: Helvetia by night.VorwortGuido<br />
Magnaguagno.NZZ Libro,Zürich 2013. 190 Seiten,<br />
100 Farbabbildungen, Fr.84.90.<br />
ihren Staat zu tun. Über die spezielle<br />
Herausforderung, mit zwei Identitäten<br />
zu leben, war sie sich überhaupt nichtim<br />
Klaren. «Ich war entsetzlich blauäugig»,<br />
schreibt sie in ihren postum herausgegebenen<br />
Erinnerungen. Dennoch lernte<br />
Johanna Olbrich rasch das konspirative<br />
Handwerk: mit gefälschten Papieren<br />
leben, Personen observieren, tote Briefkästen<br />
bedienen.<br />
Im Unterschied zur gängigen Bekenntnisliteratur<br />
von Ex-Geheimdienstlern ist<br />
Olbrichs Lebensbericht frei von Pathos,<br />
Eigenstilisierung und Beschönigung,<br />
wenn auch der Wille zur Rechtfertigung<br />
deutlich hervortritt. Schnörkellos beschreibt<br />
die Autorin ihr zweites Leben,<br />
das sie auch gegenüber ihrer eigenen Familie<br />
in der DDR geheim halten musste–<br />
offiziell war sie in einer DDR-Botschaft<br />
im Fernen Osten angestellt und durfte<br />
keinen Besuch empfangen. Finanziell<br />
brachte ihr die Spionagetätigkeit wenig<br />
ein, sie schildert im Gegenteil, wie pedantisch<br />
die Stasi-Buchhalter ihre knappen<br />
Spesen abrechneten.<br />
Olbrich hattedie Identitäteiner realen<br />
Person angenommen, die aus der BRD in<br />
die DDR übergesiedelt war, dort krank<br />
und von der Stasi hospitalisiert wurde.<br />
Die Agentin lernte die echte Sonja Lüneburg<br />
nie kennen. Dass sie kurze Zeit gar<br />
Sekretärin eines anderen Stasi-Informanten,<br />
des FDP-Bundestagsmitglieds<br />
William Borm, wurde, ohne dass die beiden<br />
von der geheimen Tätigkeit des jeweils<br />
anderen wussten, gehört zu den<br />
raffinierteren Spezialitäten der DDR-<br />
Spionage.<br />
Im August 1985 wurde «Sonja Lüneburg»<br />
überstürzt in die DDR zurückbeordert,<br />
weil sie in den Ferien in Rom ihre<br />
Tasche mit Ausweisen liegen gelassen<br />
hatteund um ihreAufdeckungfürchtete.<br />
Sie lebtefortan wieder ihr «erstes» Leben<br />
als Rentnerin in der DDR.<br />
Entdeckt wurde Johanna Olbrich erst<br />
nach dem Mauerfall im Juni 1991. Sie<br />
wurde wegen Nachrichtendienstes zugunsten<br />
eines fremden Staates zu 1¾<br />
Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt.<br />
DerBundesrepublik Deutschland<br />
war gemäss dem Gericht«kein messbarer<br />
Schaden» entstanden. Martin Bangemann<br />
sagte als Zeuge nur Gutes über<br />
seine Mitarbeiterin. Olbrich starb 2004<br />
im Alter von77Jahren; Markus Wolf hielt<br />
die Trauerrede.<br />
Olbrich war eine politische Überzeugungstäterin,<br />
die an den Sozialismus<br />
glaubte und das Ende der DDR zutiefst<br />
bedauerte. Das Buch enthält auch eine<br />
wehmütigeSeite,weil die Frau den autoritären<br />
Staat zwar nicht mochte, aber als<br />
Übergang ineine freiere, gerechtere Gesellschaft<br />
für unvermeidlich hielt. Man<br />
mag diesen Idealismus für naivhalten, in<br />
seiner Aufrichtigkeit nötigt er dennoch<br />
einen gewissen Respekt ab. Störend ist<br />
einzig die hymnische Einleitung durch<br />
den Herausgeber, einen ehemaligen Stasi-Mitarbeiter,<br />
und dessen kniefällige<br />
Haltunggegenüber der DDR. ●<br />
29.September 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 23
Sachbuch<br />
Musik Die400-jährigeEntwicklung einer merkwürdig realitätsfernen Kunstform vomillusionären<br />
Bühnenereignis bis zu ihrem Stillstand im 20.Jahrhundert<br />
EineOpermussdasPublikumbetäuben<br />
Carolyn Abbate, Roger Parker:Eine<br />
Geschichteder Oper. Die letzten<br />
400 Jahre. C. H. Beck, München 2013.<br />
736 Seiten, Fr.57.75.<br />
VonFritz Trümpi<br />
Opern können uns verändern: physisch,<br />
emotional, geistig. «Wir wollen erkunden,<br />
warum das so ist», erklären Carolyn<br />
Abbate und RogerParker.Kurz und bündig<br />
definieren die beiden versierten<br />
Opernspezialisten die Oper als «ein Theaterstück,<br />
bei dem die meisten Figuren<br />
(oder alle) die meiste (oder die ganze)<br />
Zeit singen.» Was dann auf 700 Seiten<br />
folgt, ist eine Geschichte dieser Kunstgattung,<br />
die kaum umfassender sein<br />
könnte:eine Musik-und Werkgeschichte<br />
sowie eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte<br />
zum Phänomen der Oper.<br />
Die Autoren vollbringen das Kunststück,<br />
einem musikalisch bewanderten<br />
Leserkreis noch so manches beizubringen,<br />
ohne <strong>Neue</strong>insteiger im Regen stehen<br />
zu lassen. Und sie tun dies mit viel<br />
Humor und der Bereitschaft, keinen<br />
noch so gefestigten Tatbestand unhinterfragt<br />
zu lassen. So finden sie es etwa<br />
keineswegs selbstverständlich, dass sich<br />
in Italien vor rund 400 Jahren eine<br />
Kunstform entwickelte, in der eine Bühnenhandlung<br />
(fast) ausschliesslich über<br />
den Gesang gestaltet wird. Damit seien<br />
Opern nämlich von vornherein realitätsfern:<br />
«Die Oper kann nie etwas Anderes<br />
sein als unwirklich.» Konsequenterweise<br />
verzichten die Autoren auch auf Notenbeispiele,<br />
denn die Oper bedeutet für sie<br />
weniger trockene Partitur als illusionsbeschwörendes<br />
Bühnenereignis. Nebst<br />
der Darstellung musikalischer Entwicklungsprozesse<br />
widmen sie sich deshalb<br />
auch dem Verlauf der bühnen- und inszenierungstechnischen<br />
sowie den inhaltlichen<br />
<strong>Neue</strong>rungen, die die Oper im<br />
Laufeihrer Geschichte erfahren hat.<br />
Eckpunkte dieser Entwicklung sind<br />
etwa Mozarts verdichtete Psychologisierung<br />
der Figuren, die formalisierte Virtuosität<br />
der Gesangssoli bei Rossini oder<br />
Wagners Verschwindenlassen des Orchesters<br />
im versteckten Graben. Solche<br />
<strong>Neue</strong>rungen verstärkten zwar die von<br />
vornherein bestehende Realitätsferne<br />
von Opernwerken. Sie wirken darum<br />
aber bis heute betäubender und vermögen<br />
das Publikum mit emotionaler, geistiger,<br />
japhysischer Wucht zuerfassen.<br />
Ausserdem wiesen die Opern in ihren<br />
ersten 300 Jahren hohe Aktualitätsbezüge<br />
auf,dajede Saison fast ausschliesslich<br />
brandneue Kompositionen vors Publikum<br />
kamen. Der Erfolgszwang war<br />
darum umso stärker: Ähnlich wie heute<br />
der Film musste jede Oper «auf Anhieb<br />
einschlagen», weshalb sich ernste und<br />
komische Spielarten der Oper ausbildeten,<br />
um unterschiedliche Publikumsschichtenzubedienen.<br />
Erst ab etwa 1850 etablierte sich «einhergehend<br />
mit der zunehmenden Wertschätzung<br />
für die Oper als Kunstwerk»<br />
ein Repertoire aus Klassikern, wie wir es<br />
heutekennen. Im Laufedes 20.Jahrhunderts<br />
verschob sich allerdings der «Proporz<br />
zwischen alten und neuen Werken»<br />
immer stärker zugunsten der Ersteren.<br />
Folge war die gepflegte Langeweile, der<br />
Rossini-Oper «Il Turco<br />
in Italia» mit Cecilia<br />
Bartoli und Ruggero<br />
Raimondi:Aufführung<br />
im Opernhaus Zürich<br />
am 28. April 2002.<br />
Kanon der anerkannten Meisterwerke<br />
war baldallzu vertraut. Davonprofitierte<br />
jedoch nicht das zeitgenössische Opernschaffen,<br />
sondern die «Wiederbelebung<br />
des Alten», wie sie sich etwa in der Händel-Renaissance<br />
zeigte. Während Kompositionsaufträge<br />
für Opern ab der zweitenHälftedes<br />
20.Jahrhunderts praktisch<br />
verschwanden, entwickeltesich die Neuinszenierung<br />
von Opernklassikern zur<br />
eigenen Kunst.<br />
Was müsste geschehen, um die «museale<br />
Leidenschaft» zugunsten eines ak-<br />
Psychologie DerbritischeAnalytiker Stephen GroszerzähltFallgeschichtenvon derCouch<br />
TiefenbohrungenindieSeele<br />
Stephen Grosz: Die Frau, die nicht lieben<br />
wollteund anderewahreGeschichten über<br />
dasUnbewusste.S. Fischer,Frankfurt a. M.<br />
2013. 235 Seiten, Fr.31.90,E-Book 22.–.<br />
VonAnja Hirsch<br />
24 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013<br />
Der Fallbericht, wie Sigmund Freud ihn<br />
schrieb, als literarisches Schmuckstück,<br />
ist aus der Mode gekommen. Dass er<br />
nichtnur als Fingerübungfür den Therapeuten,<br />
sondern auch für Leser von Gewinn<br />
sein kann, zeigt Stephen Grosz mit<br />
seinem Buch «Die Frau, die nicht lieben<br />
wollte und andere wahre Geschichten<br />
über das Unbewusste». Der inAmerika<br />
aufgewachsene, in London praktizierende<br />
Psychoanalytiker, der am University<br />
College lehrt und für die «Financial<br />
Times» schreibt, erzählt erstmals aus 25<br />
Jahren Arbeit und über 50000 Stunden<br />
kurzeEpisoden in einfacher Sprache.<br />
Zum Beispiel die Geschichte eines<br />
jungen Mannes, der nach einem Selbstmordversuch<br />
einige Stunden Patient bei<br />
Grosz ist –bis die Nachricht von seinem<br />
Tod eintrifft. Schon davor hatte Grosz<br />
das Gefühl, der Mann tauche in den<br />
Stunden einfach ab, sobald Nähe entstehen<br />
könnte. Und natürlich macht sich<br />
der Analytiker Vorwürfe, dass er den<br />
Selbstmord nicht hat verhindern können.<br />
Er schläft schlecht. Reichlich Supervision<br />
beruhigt ihn mässig. Da klingelt<br />
irgendwann das Telefon, und der «Tote»<br />
meldet sich zurück: Er lebe noch, ob er<br />
die Analyse fortsetzen könne?<br />
31 solcher Tiefenbohrungen in die<br />
menschliche Psyche sind hier versammelt,<br />
parabelhafte Detektivgeschichten,<br />
die nichtimmer gut ausgehen, in diesem<br />
Falle aber doch, nachdem der Schlüssel<br />
gefunden ist: Hineingeboren in eine unglückliche<br />
Ehe viel zu junger Eltern, die<br />
ihre Aggression auch am Baby entluden,<br />
war Abhängigkeit für den Mann immer<br />
gefährlich. Und so kommt es auch im<br />
Erwachsenenalter immer wieder dazu,<br />
dass er Freundschaften abbricht, sobald<br />
sie zu intim werden – zum Beispiel,<br />
indem er anderevor den Kopf stösst oder<br />
schockiert.<br />
Aber auch unscheinbare Konflikte<br />
sind Grosz der Weitererzählung wert.<br />
Graham etwa verbreitet überall Langeweile.<br />
Das wird ihm vonallen gesagt. Die<br />
Langeweile verhindert den Karrieresprung<br />
und zerstört die Beziehung. Sie<br />
ergreift auch bisweilen den Analytiker,<br />
der verschiedene Vermutungen über<br />
deren Funktion anstellt: Stellt sich der<br />
Patient damit tot? Will er unbequeme<br />
Themen meiden? Ist die Langeweile ein<br />
Instrument gegen emotionale Aufwallung?<br />
Jedes Stichwort ist Grosz Anlass,<br />
das Spielfeld zuumreissen, das im Therapieraum,<br />
auf der Strasse, auch in Grosz’<br />
privatem Leben eine dunkle Ecke ausleuchten<br />
hilft. «Schmerz als Geschenk»,<br />
«Wie man durch Lob Vertrauen verliert»<br />
– hinter solchen Überschriften öffnen<br />
sich Schicksale. Alle erzählen von der<br />
Möglichkeit, etwas zu ändern, und sei es<br />
nur die Einstellungzum Konflikt.
Geschichte John C. G. Röhls Standardwerk über Wilhelm II. erscheintneu<br />
als kompakte Kurzbiografie<br />
DerletztedeutscheKaiser<br />
unddieFolgenfürdieWelt<br />
tuellen Musikschaffens zu unterbinden?<br />
Nach Abbate und Parker reicht esnicht<br />
aus, bloss «auf dem Ritual zu bestehen,<br />
neue Opern in Auftrag zu geben». Ergänzend<br />
dazu wären alte Opern «zu begrenzen,<br />
für immer zu vernichten und deren<br />
Aufführungsorte zumeiden». Die Autoren<br />
fordern dies natürlich nicht ein, sie<br />
haben sich mit dem musealen Charakter<br />
der Oper abgefunden. Aber immerhin<br />
stellen sie kühne Positionen wie diese<br />
zur Diskussion – was eine anregende<br />
Lektüregarantiert. ●<br />
Unbedingt lesenswert aber wird dieses<br />
Buch durch die Haltung, die Stephen<br />
Grosz vermittelt. Psychoanalyse, sagt er<br />
in einem Interview, sei der Versuch, gemeinsam<br />
das Nicht-Wissen zu erkunden.<br />
Die Geschichten sind ja noch da, irgendwo<br />
begraben. Sie müssen nur erzählt<br />
werden. Er siehtsich als Begleiter.<br />
Denn wenn wir sie nicht erzählen,<br />
heisst es einmal, erzählt die Geschichte<br />
uns –mit vielleicht fatalen Folgen. An<br />
dieser ebenso spannenden wie berührenden<br />
Archivarbeit lässt uns Stephen<br />
Grosz in seinen Miniaturen teilhaben. Er<br />
schreibt mitNeugier und Bescheidenheit<br />
auf eine Erkenntnis zu, die er teilen<br />
möchte. Und er verschweigt dabei nicht<br />
die eigenen Ängste und Hilflosigkeit,<br />
sondern nutzt sie, wie jeder gute Therapeut,<br />
als Wegweiser. Passt es, zieht er<br />
auch mal unkonventionell die Literatur<br />
zu Rate, Geschichten wie Herman Melvilles<br />
«Bartleby». Sein Buch macht Mut<br />
zur Veränderung. Ein Ratgeber aber ist es<br />
zum Glück nie. ●<br />
NIKLAUSSTAUSS<br />
DDP IMAGES<br />
John C. G. Röhl: Wilhelm II. C. H. Beck,<br />
München 2013. 144 Seiten, Fr.14.90.<br />
VonAlexis Schwarzenbach<br />
Dreissig Jahre, von 1888 bis 1918, war<br />
Wilhelm II. deutscher Kaiser. Lange hat<br />
das kaum jemanden interessiert, denn<br />
man hielt den Monarchen für politisch<br />
unbedeutend. Das änderte sich, als der<br />
britisch-deutsche Historiker John C. G.<br />
Röhl 1993 mit der Publikation einer aussergewöhnlich<br />
gut recherchierten Kaiser-Biografie<br />
begann, deren letzter Band<br />
2008 erschien. Seither ist klar, dass Wilhelm<br />
II. die deutsche Politik entscheidend<br />
mitprägte, von der Entlassung Bismarcks<br />
bis hin zum Ersten Weltkrieg.<br />
Doch ob der eindrücklichen Länge der<br />
röhlschen Monografie –sie umfasst über<br />
4000 Seiten –haben die meisten Historiker,<br />
darunter auch der Autor dieses Beitrags,<br />
das Magnum opus bisher nur als<br />
Nachschlagewerk genutzt. Es<br />
ist daher sehr erfreulich, dass<br />
nun eine 144-seitige Zusammenfassung<br />
vorliegt, die sich<br />
in kurzer Zeit bequem lesen<br />
lässt.<br />
Wer glaubt, ein Biograf<br />
müsse nach jahrzehntelanger<br />
Beschäftigung mit<br />
einem Subjekt dem<br />
Stockholm-Syndrom<br />
anheimfallen und<br />
seinen Protagonisten<br />
idealisieren,<br />
wird bei Röhl eines<br />
«Unser Kaiser im<br />
Felde»: DasSujet<br />
auf einer Postkarte<br />
zeigt Wilhelm II.<br />
vonPreussen<br />
mit Pickelhaube<br />
(Aufnahmedatum<br />
unbekannt).<br />
Besseren belehrt. Statt den Kaiser in positivesLichtzurücken,<br />
machtder inzwischen<br />
emeritierte Professor deutlich,<br />
dass Wilhelm II. zwar nicht das Monster<br />
war, für das ihn die Entente-Propaganda<br />
im Ersten Weltkriegs ausgab, aber auch<br />
nicht der Spielball seiner Umgebung<br />
oder gar ein bemitleidenswerter Fürst,<br />
dessen politische Fehler mit einer<br />
schlimmen Kindheit und Jugend erklärt<br />
werden könnten. Obwohl er Wilhelms<br />
erste Lebensphase, die von seiner ehrgeizigen<br />
Mutter, der britischen Prinzessin<br />
Victoria, geprägt war, als «Seelenmord<br />
aneinem Thronerben» eindrücklich<br />
schildert, erklärt Röhl, dass sich sein<br />
Kaiserbild auf Grundlage neuester Forschungsergebnisse<br />
«um mehrere Schattierungenverdunkelt»<br />
habe.<br />
Besonders negativ bewertet er den<br />
Einfluss des «Persönlichen Regiments»,<br />
mit dem der Kaiser die Macht imStaate<br />
nicht nur symbolisch, sondern auch realiter<br />
an sich riss. Eine der «folgenschwersten<br />
Entscheidungen» war die<br />
Entlassung von Reichskanzler Bismarck<br />
1890. Mit der Wahl schwacher Nachfolger<br />
verlagerte sich das «Zentrum der<br />
Machtvom Kanzler zum Kaiser,von den<br />
grünen Tischen der Wilhelmstrasse ins<br />
Schloss, vom Staat zum Hof». Wilhelm<br />
umgab sich mit Beratern, die an der<br />
Zentralität seiner politischen Entscheidungsgewalt<br />
nichtzweifeln wollten. Das<br />
führte in den 1900er Jahren zwar zu<br />
einer Reihe von Skandalen, allen voran<br />
um den KaiserfavoritenEulenburg. Doch<br />
schliesslich wurde nur eine Freundesclique<br />
durch eine andere ausgetauscht,<br />
diejenige umden Fürsten Fürstenberg<br />
und den österreichischen Thronfolger<br />
Franz Ferdinand.<br />
Aus diesen Überlegungen heraus ergibt<br />
sich für Röhl «eine schwere Schuld»<br />
des Kaisers am Ersten Weltkrieg. Zwar<br />
zählte Wilhelm in der Julikrise von 1914<br />
nicht zuden Falken, doch habe das Persönliche<br />
Regiment den preussisch-deutschen<br />
Staat dermassen durchdrungen,<br />
dass in den entscheidenden Wochen<br />
keine «umsichtigen Mahner» die Entscheidungen<br />
getroffen hätten, sondern<br />
Kaisergünstlinge,die einen vonWilhelm<br />
selbst immer wieder herbeigeredeten<br />
Entscheidungskrieg mit England unterstützten.<br />
In dieser Einschätzung unterscheidet<br />
sich Röhl vom australischen<br />
Historiker und Preussenspezialisten<br />
Christopher Clark, der in seinem neuen<br />
Buch zum Kriegsausbruch die Wankelmütigkeit<br />
des Kaisers und die Entscheidungsautonomie<br />
der deutschen Regierung<br />
betont. Im Publikations-Tsunami<br />
zum Ersten Weltkrieg, der in den<br />
kommenden Wochen über uns hereinbrechen<br />
dürfte, ist Röhls Buch<br />
trotzdem eine unverzichtbare Navigationshilfe,<br />
da es einen der wichtigsten<br />
Akteure präzis und facettenreich<br />
darstellt. ●<br />
29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch<br />
Prognosen WarumWettervorhersagen eher zutreffenals ökonomischeModellrechnungen<br />
DerwahreProphetleugnetseineGabe<br />
Nate Silver:Die Berechnung der Zukunft.<br />
Warumdie meisten Prognosen falsch<br />
sind und manche trotzdem zutreffen.<br />
Heyne, München 2013. 656Seiten,<br />
Fr.34.90,E-Book 23.40.<br />
VonMichaelHolmes<br />
Der US-Statistiker Nate Silver verdiente<br />
sechsstellige Beträge beim Pokern und<br />
entwickelte eines der besten Prognosesysteme<br />
für Baseball-Karrieren. Vorden<br />
Präsidentschaftswahlen 2012 sagteerauf<br />
seinem «New York Times»-Blog die Gewinner<br />
aller 50 Bundesstaaten korrekt<br />
voraus. Viele seiner Fans feiern ihn wie<br />
einen modernen Propheten, der mit genialen<br />
Statistikprogrammen die verborgene<br />
OrdnungimDatenchaos enthüllt.<br />
Aber in seinem US-Bestseller «Die Berechnung<br />
der Zukunft» warnt Silver eindringlich<br />
vorverlockend einfachen Wundermodellen<br />
und alleserklärenden Weltformeln.<br />
Seine Hauptthese besagt, dass<br />
wir jede kluge Idee in eine gefährliche<br />
Ideologie verwandeln, wenn wirihreErklärungskraft<br />
und Reichweiteüberschätzen.<br />
Seinen Analysen zufolgelagen Fernsehexperten,<br />
die Vorhersagen zu zahlreichen<br />
Themen abgaben, ebenso häufig<br />
richtig wiefalsch.<br />
Silver demonstriert, dass wirdie exponentiell<br />
wachsenden Datenmengen und<br />
Rechenkapazitäten der Computer optimal<br />
nutzen, wenn wir möglichst viele<br />
Theorien, Methoden und Programme<br />
offen diskutieren, streng prüfen und<br />
schrittweise verbessern.<br />
Die grössten Fortschritte habe die<br />
Wettervorhersage vorzuweisen, da der<br />
harte Konkurrenzkampf der Wetterdiensteohne<br />
ideologische Scheuklappen<br />
geführt werde. Ausserdem hätten die<br />
Meteorologen die Stärken und Schwächen<br />
ihrer Computersimulationen erkannt.<br />
Zum Beispiel hatten die Sturmforscher,<br />
Tage bevor der Hurrikan Katrina<br />
New Orleans verwüstete, auf die Evakuierunggedrängt.<br />
Silver erläutert im Detail, warum er<br />
eine Klimaerwärmung um ein bis drei<br />
Grad in den nächsten 100 Jahren für sehr<br />
wahrscheinlich hält. Er legt überzeugend<br />
dar,wie der blinde Glaube an die Modelle<br />
der Ratingagenturen, Banker und Staatsökonomen<br />
zur Subprime-Krise führte.<br />
Auch der Angriff auf Pearl Harbour, die<br />
Terroranschläge vom 11. September und<br />
die Atomkatastrophe von Fukushima<br />
hätten sich seiner Einschätzung nach<br />
eventuell verhindern lassen, wenn die<br />
Verantwortlichen nicht das Seltene mit<br />
dem Unmöglichen verwechselt hätten.<br />
Silver mahnt zuSkepsis, Neugier und<br />
Bescheidenheit inden grossen Streitfragen.<br />
Wird es dem Statistik-Superstar wie<br />
Monty Pythons Brian ergehen? «Ich bin<br />
nicht der Messias!», ruft dieser seinen<br />
Jüngern zu –und die begreifen sogleich:<br />
«Nur der wahrhaftige Messias leugnet<br />
seine Göttlichkeit!» ●<br />
Dasamerikanische Buch Soul Food –Kochen für dieSeele<br />
Die afroamerikanische Tradition hat<br />
der Welt kräftigeAnstösse in Musik,<br />
Kunst und Mode gegeben. Seit den<br />
1970er Jahren «Soul Food» genannt,<br />
findet die Küche der Schwarzen jedoch<br />
weder in den USAnoch international<br />
einen vergleichbaren Anklang. Dabei<br />
hatSoul Food eine erhebliche gesellschaftspolitische<br />
Bedeutungund erlebt<br />
derzeitinRestaurants wiedem «Red<br />
Rooster» in Harlem eine schmackhafte<br />
Renaissance. Durch diese Landschaft<br />
führt mitleichterHand Adrian Miller in<br />
seinem erstenBuch SoulFood: The<br />
Surprising Story of an American Cuisine,One<br />
Plate at aTime (University of<br />
North Carolina Press, 333 Seiten). Von<br />
Haus aus Jurist, war Miller unteranderemfür<br />
Bill Clintontätig und dient<br />
heuteals Geschäftsführer einer Kirchenorganisation<br />
in Denver, Colorado.<br />
In den letzten Jahren hatsich der Absolventder<br />
EliteuniversitätenStanford<br />
und Georgetown auch als Küchenexperteund<br />
Richterbei Barbecue-<br />
Wettbewerben einen Namen gemacht.<br />
In den Rocky Mountains geboren, hat<br />
Miller seine Wurzeln nichtvergessen.<br />
Dafür sorgten die Rezepte, die Millers<br />
Eltern als Migrantenaus den ehemaligenSklavenstaatendes<br />
Südens mitgebrachthatten.<br />
Daran knüpft der Autor<br />
an, wenn er zunächst seine tiefeBindungandie<br />
frittierten Hühnchenteile,<br />
den Grünkohl und kandierten Yams seiner<br />
Kindheitschildert und dann die<br />
historische Entwicklungder afroamerikanischen<br />
Küche nachzeichnet.<br />
Miller erklärt, dass bestimmte Nahrungsmittel<br />
entweder vonversklavten<br />
Afrikanern mitindie heutigen USAgebrachtworden<br />
sind oder ohne deren<br />
Expertise kaum in der <strong>Neue</strong>n Welt Fuss<br />
Auch die schmackhafteBohnensuppe<br />
gehörtzum Soul Food,<br />
der traditionellen<br />
Küche der Schwarzen<br />
in den USA.<br />
AutorAdrian Miller<br />
(unten).<br />
gefasst hätten. Dies gilt besonders für<br />
den Reisanbau an der Küstevon South<br />
Carolina.<br />
Daneben nahm der Verzehr vonHühnern<br />
oder Innereien in der westafrikanischen<br />
Yoruba-Kultur eine zentrale Stellungein,<br />
da diese als Brücken zu spirituellen<br />
Sphären betrachtetwurden. Diese<br />
Tradition konnte in Nordamerika fortleben,<br />
da Hühner und Schweinedärme<br />
verhältnismässig preisgünstig oder<br />
durch eigene Aufzuchtauch für Sklaven<br />
verfügbar waren. Allerdings kamen<br />
beide Speisen bis in das 20.Jahrhundert<br />
vorrangig an Sonn- und Feiertagen auf<br />
den Tisch. Da die Schwarzen im Süden<br />
lange nichtüber einen Herd mitBackofen<br />
verfügten, wurdedas schon in<br />
Westafrika bekannte Frittieren zu einer<br />
bevorzugten Garmethode. Nichtzuletzt<br />
deshalb ist Soul Food bis heutesokalorienhaltig.<br />
Dies erklärt die Skepsis vieler<br />
Amerikaner der schwarzen Küche<br />
gegenüber jedoch nur teilweise. Dazu<br />
kamen –Miller zufolge–rassistische<br />
Vorurteile. So werden Hühner bis heute<br />
zwar als «Gospel Bird» bezeichnet, weil<br />
den schwarzen Pastoren bei ihren sonntäglichen<br />
Hausbesuchen frittierte<br />
Hühnchen vorgesetzt wurden. Diese<br />
Vorliebe entgingden Weissen nicht,<br />
weshalb das Geflügel in bösartigen Karikaturen<br />
auftauchte,die Schwarzeals<br />
dumm und schreckhaft denunzierten<br />
und mit«kopflosen Hühnern» verglichen.<br />
Neben dem Aufkommen vonpreiswerteremFast<br />
Food hatdiese negative Aufladungvielen<br />
Schwarzen den Appetit<br />
auf die Küche ihrer Vorfahren verdorben.<br />
Doch genau aus diesem Grund hat<br />
die Black-Power-Bewegungder 1960er<br />
Jahrediese Esskultur zu einem Symbol<br />
schwarzen Stolzes stilisiert. In jüngster<br />
Zeitkommtbei der Diskussion über<br />
«Chitterlings» (gekochte oder frittierte<br />
Schweinedärme) und Catfish auch akademisches<br />
Besteck zum Einsatz. So<br />
greift Miller bei seiner Darstellungauf<br />
alteKochbücher ebenso zurück, wieauf<br />
die umfangreiche Fachliteratur über<br />
Soul Food. Zudem hater150 einschlägige<br />
Lokale in allen Teilen der USAbesucht.<br />
Dass er in seiner anregenden<br />
Darstellungakademischen Jargonvermeidet<br />
und klassische Rezeptefür<br />
«Black-Eyed Peas» (Augenbohnen) oder<br />
«Hibiscus Aid» (ein rotesSüssgetränk<br />
aus Hibiscus-Blüten) vorstellt, trägt<br />
dem Buch in den USAzuRechtfreundliche<br />
Kritiken ein.<br />
VonAndreas Mink ●<br />
26 ❘NZZ am Sonntag ❘ 29.September 2013
Agenda<br />
Fotoreportage Unterwegsmit SteveMcCurry<br />
AgendaOktober2013<br />
Basel<br />
Mittwoch, 16.Oktober,20Uhr<br />
Michèle Roten: WieMuttersein. Lesung,<br />
Fr.15.–. Thalia Bücher,Freie Strasse 36.<br />
Tel. 061 2642655.<br />
Donnerstag, 17.Oktober,19Uhr<br />
Norbert Gstrein: Eine Ahnung<br />
vomAnfang. Lesung, Fr.17.–.<br />
Literaturhaus, Barfüssergasse<br />
3, Tel. 061 261 29 50.<br />
PETER HASSIEPEN<br />
Freitag, 25., bis Sonntag, 27.Oktober<br />
BuchBasel im Literaturhaus: u.a. mit<br />
Franz Hohler,Barbara Kopp und Naruddin<br />
Farah. Info: www.buchbasel.ch.<br />
Literaturhaus (siehe oben).<br />
STEVE MCCURRY/MAGNUM<br />
Der1950geboreneAmerikanerSteve McCurryzählt zu<br />
den bedeutendstenFotojournalistenunserer Zeit.Erist<br />
Mitglied der Agentur Magnum und arbeitet für internationale<br />
Publikationen wie das «National Geographic<br />
Magazine». Im grossformatigen Band «Untold» erzählt<br />
Steve McCurryinTextund Bild vonder Entstehung einiger<br />
seiner berühmtestenBildreportagen. Wirerleben<br />
mit ihm die indische Eisenbahn (siehe Bild) und den<br />
Monsun in Ländern Südostasiens. Wirbeobachten mit<br />
ihm die Umweltverheerungen des zweiten Golfkriegs<br />
BestsellerSeptember 2013<br />
Belletristik<br />
1<br />
2<br />
AlexCapus:<br />
3<br />
Jojo<br />
4<br />
Franz<br />
5<br />
Jonas<br />
6<br />
Gillian<br />
7<br />
Milena<br />
8<br />
DanBrown:<br />
9<br />
UrsWidmer:Reise<br />
10<br />
Joël Dicker:Die Wahrheit über den Fall Harry<br />
Quebert.Piper. 736Seiten, Fr.36.90.<br />
Der Fälscher,die Spionin und<br />
der Bombenbauer. Hanser. 281 S., Fr.27.90.<br />
Moyes: Ein ganzes halbes Jahr.<br />
Rowohlt. 512 Seiten,Fr. 21.90.<br />
Hohler:Gleis 4.<br />
Luchterhand.224 Seiten,Fr. 27.90.<br />
Jonasson: Der Hundertjährige.<br />
Carl’sBooks. 412Seiten, Fr.21.90.<br />
Flynn: Gone Girl –Das perfekteOpfer.<br />
FischerScherz. 576Seiten, Fr.27.90.<br />
Moser:Das wahre Leben.<br />
Nagel &Kimche. 320 Seiten,Fr. 29.90.<br />
Inferno.<br />
Bastei Lübbe. 685 Seiten,Fr. 36.50.<br />
an den Rand des Universums.<br />
Diogenes.352 Seiten,Fr. 34.90.<br />
Martin Suter:Allmen und die Dahlien.<br />
Diogenes.224 Seiten,Fr. 28.90.<br />
(1991) im Irak, die Tempel vonAngkor Watund die<br />
Ereignisse des 11.Septembers2001inNew York. Und<br />
wermöchtenicht mit ihm zu den Tibetern aufsDach der<br />
Welt steigen?Viele vonSteve McCurrys Bildern sind zu<br />
Ikonen geworden. Bisher unveröffentlichteNotizen und<br />
Dokumenteergänzen den vorzüglich gedrucktenBand.<br />
Manfred Papst<br />
Steve McCurry: Untold. Die Geschichten hinter den<br />
Bildern. Phaidon/Edel Books, Hamburg 2013, 264Seiten,<br />
Fr.74.90.<br />
Sachbuch<br />
ErhebungMedia Control im Auftrag des SBVV;17.9.2013. Preise laut Angaben vonwww.buch.ch.<br />
1<br />
Daniela Widmer,David Och: Und morgen seid ihr<br />
tot. Dumont. 320 Seiten,Fr. 29.90.<br />
2 Duden.DiedeutscheRechtschreibung.<br />
26.Aufl.Bibliogr.Institut. 1216 Seiten,Fr. 39.90.<br />
3<br />
Annemarie Wildeisen: Mein Küchenjahr.<br />
AT.464 Seiten,Fr. 63.50.<br />
4<br />
Bronnie<br />
5<br />
Ruth<br />
6<br />
PeterBieri:<br />
7<br />
Eben<br />
8<br />
Rolf<br />
9<br />
Pascal<br />
10<br />
Ware: 5Dinge,die Sterbende am<br />
meistenbereuen. Arkana.351 Seiten,Fr. 29.90.<br />
Maria Kubitschek: Anmutig älter werden.<br />
Nymphenburger. 156 Seiten,Fr. 29.90.<br />
Eine Artzuleben.<br />
Hanser. 384Seiten, Fr.38.90.<br />
Alexander:Blick in die Ewigkeit.<br />
Ansata. 256 Seiten,Fr. 29.90.<br />
Dobelli: Die Kunstdes klaren Denkens.<br />
Hanser. 246Seiten, Fr.24.90.<br />
Voggenhuber:Kinder in der geistigen<br />
Welt. Giger.200 Seiten,Fr. 35.90.<br />
Rolf Dobelli: Die Kunstdes klugen Handelns.<br />
Hanser. 248Seiten, Fr.24.90.<br />
Bern<br />
Mittwoch, 2. Oktober,19.30 Uhr<br />
AlexGfeller:MingLi. Lesung, musikalische<br />
BegleitungMarco Morelli, Fr.13.–.<br />
Wartsaal, Lorrainestrasse 15.<br />
Reservationen: Tel. 031331 02 28.<br />
Samstag, 19.Oktober,19Uhr<br />
5. Nachtder B-Lesenen mitden Nominierten<br />
des Schweizer Buchpreises: Henriette<br />
Vásárhelyi, Ralph Dutli, Jens<br />
Steiner,Roman Graf und Jonas Lüscher.<br />
Lesungen, Fr.20.–. Kornhausforum,<br />
Kornhausplatz 18.www.b-lesen.ch.<br />
Dienstag, 22.Oktober,20Uhr<br />
Sebastián Marincolo: High. Lesung,<br />
Fr.15.–. Stauffacher Buchhandlungen,<br />
<strong>Neue</strong>ngasse 25/37, Tel. 031313 63 63.<br />
Zürich<br />
Mittwoch, 2. Oktober,19.30 Uhr<br />
Henriette Meyer-Patzelt: Augenweide.<br />
Verena Keller:Silvester in der Milchbar.<br />
ZweiLesungen, Fr.10.–. ZSVForum im<br />
Gartensaal, Cramerstrasse 7.<br />
Info: www.zsv-online.ch.<br />
Freitag, 4. Oktober,20Uhr<br />
Urs Widmer:Reise an den Rand des Universums.<br />
Lesung. BuchhandlungHirslanden,<br />
Freiestrasse 221. Info:<br />
www.buchhandlung-hirslanden.ch.<br />
Mittwoch, 16.Oktober,18.30 Uhr<br />
Hans Widmer:Das Modell des konsequentenHumanismus.<br />
Lesung. rüffer &<br />
rubVerlag, Konkordiastrasse 20.<br />
Reservation: Tel. 044 381 77 30.<br />
Donnerstag, 17.Oktober,20Uhr<br />
Daniel Kehlmann: «F». Lesung,<br />
Fr.25.–. Kaufleuten, Festsaal,<br />
Pelikanplatz 1,<br />
Tel. 044 225 33 77.<br />
Donnerstag, 24., bis Sonntag, 27.Oktober<br />
«Zürich liest». Bekannte Autorinnen und<br />
Autorenlesen in der ganzen Stadt.<br />
Programm: www.zuerich-liest.ch.<br />
BücheramSonntagNr.9<br />
erscheintam27.10.2013<br />
WeitereExemplareder Literaturbeilage «Bücher am<br />
Sonntag» können bestellt werden per Fax044 258 13 60<br />
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind<br />
–solange Vorrat –beim Kundendienstder NZZ,<br />
Falkenstrasse 11,8001Zürich, erhältlich.<br />
HEJI SHIN<br />
29.September 2013 ❘NZZ am Sonntag ❘ 27
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gute Literatur.<br />
Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring<br />
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