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Ein Essay von Anselm Gerhard

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Der<br />

Unterschätzte<br />

Die Opern <strong>von</strong> Vincenzo Bellini haben mehr zu bieten als schönen Gesang.<br />

Das gilt besonders für die selten gespielte «Straniera»<br />

<strong>von</strong> <strong>Anselm</strong> <strong>Gerhard</strong><br />

Er war eine hoch aufgeschossene, schlanke<br />

Gestalt, die sich zierlich, ich möchte sagen<br />

kokett bewegte. Seine Züge hatten etwas Vages,<br />

Charakterloses, etwas wie Milch, und<br />

in diesem Milchgesichte quirlte manchmal<br />

süsssäuerlich ein Ausdruck <strong>von</strong> Schmerz. Dieser Ausdruck<br />

des Schmerzes ersetzte in Bellinis Gesichte den mangelnden<br />

Geist.» So hat Heinrich Heine den Komponisten Vincenzo<br />

Bellini beschrieben. Das bösartige Porträt zeigt, wie schon<br />

vor Liszt und Wagner Strategien der Selbstinszenierung<br />

künstlerischen Erfolg begleiteten: Vincenzo Bellini war der<br />

Meister des «Ausdrucks <strong>von</strong> Schmerz», und als solcher ein<br />

gern gesehener Gast in den aristokratischen Salons.<br />

<strong>Ein</strong> unglaublicher sozialer Aufstieg zeigt sich an den<br />

Daten <strong>von</strong> Bellinis Karriere wie an seinem Lebensstil: 1819<br />

konnte er als Stipendiat der sizilianischen Provinz entkommen<br />

und sich im musikalischen Zentrum Süditaliens, in<br />

Neapel weiterbilden. 1827 wurde er mit der Uraufführung<br />

<strong>von</strong> Il pirata an der Mailänder Scala sprichwörtlich über<br />

Nacht zum neuen Stern am Opernhimmel. 1831 setzte er,<br />

der nun den Librettisten seine Wünsche und den Theaterdirektoren<br />

seine Bedingungen diktierte, für La sonnambula<br />

eine Gage durch, die Rossinis Spitzenhonorar <strong>von</strong> 1823 glatt<br />

verdoppelte. Und schon seit 1828 hatte er die Ehefrau eines<br />

lombardischen Grossindustriellen zur Geliebten.<br />

Der Erfolg des jungen Stars aus Sizilien drang sogar<br />

bis nach Berlin. 1832 schrieb Carl Friedrich Zelter, ein der<br />

Spätaufklärung verhafteter Musikkenner, nach dem Besuch<br />

<strong>von</strong> Il pirata einem illustren Freund in Weimar: «Die Musik<br />

ist das zufälligste Gespreu <strong>von</strong> <strong>Ein</strong>fällen. Man ist zwischen<br />

Aug’ und Ohr, Gefühl und Verstand, die sich beissen und<br />

kratzen, hin und her geworfen. Dabei hat der Kerl Talent,<br />

Dreistigkeit, und beherrscht Orchester und Sänger aufs<br />

Impertinentste. Ich war einige Male in Verzweiflung zum<br />

“<br />

Bellini machte schnell Karriere und<br />

erlebte innerhalb <strong>von</strong> zehn Jahren einen<br />

unglaublichen sozialen Aufstieg<br />

”<br />

Da<strong>von</strong>laufen und eh ich mich ganz erheben können, kam<br />

etwas, das mich auf meinen Sitz wieder zurück drückte. Am<br />

Ende war ich wie zerquetscht.» Dass dem greisen Goethe<br />

kurz vor seinem Tod <strong>von</strong> diesem «noch unbekannten» Komponisten<br />

berichtet wurde – mit Beobachtungen, die für die<br />

ein Jahr jüngere Straniera mindestens ebenso triftig sind –,<br />

scheint mehr als Zufall, vielmehr ein Fanal angesichts der


Bedeutung Bellinis für eine neue, dezidiert «romantische»<br />

Kunstperiode.<br />

Mit guten Gründen sind wir misstrauisch gegen Versuche,<br />

alle Phänomene einer Epoche unter ein einziges Schlagwort<br />

zu zwingen. Aber dass für die sogenannte «Romantik»<br />

ein Gefühl der Fremde entscheidend war, steht doch ausser<br />

Frage. 1827 liess Franz Schubert das poetische Ich seiner<br />

Winterreise singen: «Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’<br />

ich wieder aus.» Und zwei Jahre später, am 14. Februar<br />

1829, feiert Bellini in der zum selben Habsburger-Reich<br />

gehörenden Stadt Mailand Triumphe mit einer Oper, die<br />

den Titel La straniera («Die Fremde») trägt.<br />

«Hämmere Dir mit diamantenen Lettern in Deinen<br />

Kopf: Das Musikdrama muss durch den Gesang zum Weinen,<br />

Schaudern, Sterben bringen.» Bellinis Aufforderung an einen<br />

seiner Librettisten steht für eine radikal neue Ästhetik des<br />

dramma per musica. Anderthalb Jahrzehnte vor Verdi bemühte<br />

Bellini systematisch die Kolportage, um die Kontraste<br />

zuzuspitzen, die das Publikum jener Zeit so gierig aufsog. Er<br />

wählte eine Geschichte über die verbannte Frau des Königs<br />

Philippe August <strong>von</strong> Frankreich als Opernstoff und schrieb<br />

nach Neapel: «Das Sujet ist überreich an Situationen, die alle<br />

neu und grossartig sind». In La straniera begegnet uns gleich<br />

in der Exposition ein solcher Clou, wenn die geheimnisvolle<br />

Titelheldin zunächst aus dem Off mit einer melancholischen<br />

Romanze zu hören ist – vom Tenor mit Worten kommentiert,<br />

die der ganzen Partitur als Motto dienen könnten: «Meste<br />

come il suo cor son le sue note» («Traurig wie ihr Herz sind<br />

ihre Noten»). Im Sinne einer Dramaturgie, die nicht eine<br />

schlüssig wirkende Intrige, sondern die Traumatisierungen


sich selbst fremd gewordener Figuren in den Vordergrund<br />

stellt, gingen Bellini und sein Librettist Romani aufs Ganze:<br />

In grell kontrastierenden Bildern, mitunter gar fragmentarisch<br />

wirkenden Grossaufnahmen werden die verzweifelten<br />

Seelenzustände der Protagonisten exponiert. Fétis, der<br />

gefürchtete Pariser Musikkritiker, schrieb 1829 voller Genugtuung,<br />

Bellini scheine «mit seiner Musik die dramatische<br />

Philosophie der französischen Schule einführen zu wollen».<br />

Damit war eine wahrhaft frenetische Romantik gemeint,<br />

wie schon aus dem Vorwort zu D’Arlincourts Erfolgsroman<br />

L’étrangère <strong>von</strong> 1825, der Vorlage der Oper, hervorgeht:<br />

«Wenn das Romantische die leidenschaftliche Begeisterung<br />

einer grossen und religiösen Seele für das Erhabene und<br />

Unendliche bedeutet und sein hauptsächlicher Gegenstand<br />

“<br />

In vielen Soli <strong>von</strong> «La straniera»<br />

entwickelt Vincenzo Bellini ein<br />

anti-lineares Zeitgefühl<br />

”<br />

das Vertiefen in die Geheimnisse der Seele und das Entfalten<br />

der grossen Leidenschaften des Herzens ist, dann gehört<br />

Herr d’Arlincourt dieser Schule an.»<br />

Bellini hat in seiner Musik eine Entsprechung für<br />

diese «leidenschaftliche Begeisterung» gefunden; in keiner<br />

anderen seiner zehn Opern ging er so radikal vor. Er fragmentierte<br />

geschlossene Formen, sah sprunghafte Brüche im<br />

harmonischen Ablauf vor und liess in den Ensembleszenen<br />

die Stimmung auf ebenso schroffe wie unerwartete Weise<br />

umschlagen.<br />

Wie in der berühmten Arie «Casta Diva, che inargenti»<br />

aus Norma manifestiert sich auch in vielen Soli <strong>von</strong> La<br />

straniera ein neues, anti-lineares Zeitgefühl, das manche<br />

Parallelen in Schuberts Instrumentalmusik hat. Fast mutet<br />

es an, als seien es gerade die vordergründigen Knalleffekte<br />

des «romantischen» Dramas, die der Musik Raum geben<br />

zum selbstvergessenen Hingleiten in narkotisierenden Melodien,<br />

in denen die Zeit stillzustehen scheint. Aber auch<br />

jenseits <strong>von</strong> Schubert, dessen Werke Bellini kaum gekannt<br />

haben dürfte, weisen diese selbstvergessenen Melodien auf<br />

merkwürdige Wechselbeziehungen zwischen Instrumental-<br />

und Vokalmusik: Denn offensichtlich knüpft Bellini an<br />

die langgezogenen Melodien des irischen Klaviervirtuosen<br />

John Field an, der in den 1810er Jahren die aristokratischen<br />

Salons mit seinen Nocturnes verzaubert hatte.<br />

«Ärmlich ist Bellini, das ist wahr, in der Instrumentation<br />

und Harmonie, aber reich an Empfindung und mit<br />

einer gänzlich und nur ihm eigenen melancholischen Färbung!<br />

Selbst in seinen weniger bekannten Opern, in der<br />

Straniera, in Pirata gibt es lange, lange, lange Melodien,<br />

wie sie niemand vor ihm gemacht hat.» 1898 rühmte der<br />

greise Verdi neidlos die Qualitäten dieser erst heute wieder<br />

entdeckten Opern. Bellinis Kunst, endlos wirkende Melodien<br />

zu gestalten, stellte eine Herausforderung dar. Wie<br />

man der «Quadratur des Rhythmus» entgehen könne, die<br />

Richard Wagner im Rückblick als Grundübel einer allzu<br />

voraussehbaren Opernmusik diagnostiziert hatte, war auch<br />

am Ende des 19. Jahrhunderts nicht wirklich geklärt. Trotz<br />

seines Ressentiments gegen alles «Welsche» verhehlte auch<br />

der Erfinder der «unendlichen Melodie» seine Begeisterung<br />

für den «sanften Sizilianer» nicht, als es längst zum guten<br />

Ton gehörte, ihm – in Hanslicks Worten – «einen wahren<br />

Heiligenschein <strong>von</strong> Langeweile» zuzuerkennen.<br />

«Vorher hatte R. einzelne italienische Themen gespielt,<br />

aus Straniera, Norma, und gesagt: ‹Das ist bei aller Pauvretät<br />

wirkliche Passion und Gefühl. Ich habe da<strong>von</strong> gelernt, was<br />

die Herrn Brahms & Cie nicht gelernt haben, und was ich<br />

in meiner Melodie habe.» Cosimas Wagners Aufzeichnung<br />

aus dem Jahre 1878 belegt ein weiteres Mal, welch eminente<br />

Bedeutung Bellini für die Entwicklung des europäischen<br />

Musiktheaters hatte. Dies gilt nicht zuletzt für die <strong>von</strong> Verdi<br />

wie <strong>von</strong> Wagner so hochgelobte und radikalste Partitur Bellinis,<br />

die nun – als letzte der schon in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts in Vergessenheit geratenen Erfolgsopern<br />

des sizilianischen «Romantikers» – endlich auf der Bühne<br />

wiederentdeckt werden kann.<br />

<strong>Anselm</strong> <strong>Gerhard</strong> ist Professor für historische Musikwissenschaft an<br />

der Universität Bern. Er ist Herausgeber u.a. des Verdi-Handbuches

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