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www.<strong>hrr</strong>-<strong>strafrecht</strong>.<strong>de</strong> - Rechtsprechungsübersicht<br />

EGMR Nr. 23541/94 – Urteil vom 13. Februar 2001 (Garcia Alva v. Deutschland)<br />

EGMR Nr. 23541/94 – Urteil vom 13. Februar 2001 (Garcia Alva v. Deutschland)<br />

Recht auf Akteneinsicht bei <strong>de</strong>r Haftprüfung (wesentliche Verfahrensakten; schriftliche Information; faires<br />

Verfahren: kontradiktorisches Verfahren und Waffengleichheit; wirkliche Stellungnahme; mündliche<br />

Verhandlung); Recht auf Freiheit und Sicherheit (Rechtmäßigkeit).<br />

Art. 5 Ab. 1, Abs. 4 EMRK; Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. b EMRK; § 147 StPO<br />

Leitsätze <strong>de</strong>s Bearbeiters<br />

1. Ein Gericht, das eine Haftbeschwer<strong>de</strong> prüft, muss die Garantien eines gerichtlichen Verfahrens bieten. Das<br />

Verfahren muss kontradiktorisch sein und stets Waffengleichheit zwischen <strong>de</strong>n Prozessparteien - <strong>de</strong>m<br />

Staatsanwalt und <strong>de</strong>r Person, <strong>de</strong>r die Freiheit entzogen ist - gewährleisten. Die Waffengleichheit ist nicht<br />

gewährleistet, wenn <strong>de</strong>m Verteidiger <strong>de</strong>r Zugang zu <strong>de</strong>njenigen Schriftstücken in <strong>de</strong>r Ermittlungsakte versagt<br />

wird, die für die wirksame Anfechtung <strong>de</strong>r Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>r Freiheitsentziehung seines Mandanten<br />

wesentlich sind. Im Fall einer Person, <strong>de</strong>ren Freiheitsentziehung unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c fällt, ist eine<br />

mündliche Verhandlung erfor<strong>de</strong>rlich.<br />

2. In einer Strafsache be<strong>de</strong>utet dies, dass sowohl <strong>de</strong>r Staatsanwaltschaft als auch <strong>de</strong>r Verteidigung Gelegenheit<br />

gegeben wer<strong>de</strong>n muss, die von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Prozesspartei vorgelegten Schriftsätze und Beweismittel zur<br />

Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Nach <strong>de</strong>r Spruchpraxis <strong>de</strong>s Gerichtshofs ergibt sich aus <strong>de</strong>m<br />

Wortlaut <strong>de</strong>s Artikels 6 – und insbeson<strong>de</strong>re aus <strong>de</strong>r eigenständigen Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r<br />

,,<strong>strafrecht</strong>lichen Anklage“ beizulegen ist –, dass diese Bestimmung in gewisser Weise auch für Verfahren gilt,<br />

die vor <strong>de</strong>r Hauptverhandlung stattfin<strong>de</strong>n. Es muss dabei gewährleistet sein, dass <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Prozesspartei zur<br />

Kenntnis gelangt, dass Schriftsätze eingereicht wor<strong>de</strong>n sind, und sie wirklich Gelegenheit hat, dazu Stellung zu<br />

nehmen.<br />

3. Nach Auffassung <strong>de</strong>s Gerichtshofs ist es für einen Beschuldigten kaum möglich, die Glaubwürdigkeit einer<br />

Sachverhaltsschil<strong>de</strong>rung durch das für die Untersuchungshaft eintreten<strong>de</strong> Gericht wirksam zu erschüttern,<br />

wenn ihm die ihr zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Beweismittel nicht zur Kenntnis gebracht wur<strong>de</strong>n. Dem Beschuldigten<br />

muss hinreichend Gelegenheit gegeben wer<strong>de</strong>n, Aussagen und an<strong>de</strong>re diesbezügliche Beweismittel wie z.B. die<br />

Ergebnisse polizeilicher und sonstiger Ermittlungen zur Kenntnis zu nehmen, gleichviel, ob <strong>de</strong>r Beschuldigte in<br />

irgen<strong>de</strong>iner Weise darlegen kann, dass die Beweisstücke, zu <strong>de</strong>nen er Zugang begehrt, für seine Verteidigung<br />

relevant sind.<br />

4. Der Gerichtshof erkennt an, dass <strong>strafrecht</strong>liche Ermittlungen effektiv geführt wer<strong>de</strong>n müssen, und dass dies<br />

be<strong>de</strong>uten kann, dass ein Teil <strong>de</strong>r im Rahmen <strong>de</strong>r Ermittlungen zusammen getragenen Informationen geheim zu<br />

halten ist, um zu verhin<strong>de</strong>rn, dass Tatverdächtige Beweismaterial manipulieren und <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Rechtspflege<br />

untergraben. Doch dieses berechtigte Ziel kann nicht unter Inkaufnahme erheblicher Beschränkungen <strong>de</strong>r<br />

Rechte <strong>de</strong>r Verteidigung verfolgt wer<strong>de</strong>n. Informationen, die für die Beurteilung <strong>de</strong>r Rechtmäßigkeit einer<br />

Freiheitsentziehung wesentlich sind, sind <strong>de</strong>m Anwalt <strong>de</strong>s Tatverdächtigen <strong>de</strong>shalb in geeigneter Weise<br />

zugänglich zu machen.<br />

SACHVERHALT<br />

I. DER HINTERGRUND DER RECHTSSACHE<br />

7. Der 1964 geborene Beschwer<strong>de</strong>führer ist peruanischer Staatsangehöriger und von Beruf<br />

Diplominformatiker.<br />

8. Ab einem nicht genannten Datum ermittelten die Berliner Strafverfolgungsbehör<strong>de</strong>n gegen <strong>de</strong>n<br />

Beschwer<strong>de</strong>führer und weitere Personen wegen <strong>de</strong>s Verdachts <strong>de</strong>r Beteiligung am Han<strong>de</strong>l mit Betäubungsmitteln. Im<br />

März 1993 schil<strong>de</strong>rte Herr K., <strong>de</strong>r im Rahmen eines an<strong>de</strong>ren Ermittlungsverfahrens als Zeuge vernommen wur<strong>de</strong> und<br />

<strong>de</strong>r 1992 wegen Han<strong>de</strong>ls mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt wor<strong>de</strong>n war, seine<br />

von ihm seit 1991 in Deutschland betriebenen Rauschgiftgeschäfte und nannte mehrere daran beteiligte Personen,<br />

darunter auch <strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>führer. In einer Vernehmung in Berlin En<strong>de</strong> März machte er weitere Angaben dazu. Er<br />

Bearbeitung: Karsten Gae<strong>de</strong><br />

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EGMR Nr. 23541/94 – Urteil vom 13. Februar 2001 (Garcia Alva v. Deutschland)<br />

sagte unter an<strong>de</strong>rem, <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer habe einmal 16 kg und bei vier weiteren Gelegenheiten 1,5 kg Kokain ein<br />

einer Wohnung in Berlin für einen Dritten verwahrt. Er behauptete ferner, <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer habe ihm zweimal<br />

Kokain verkauft.<br />

9. Am 6. April 1993 wur<strong>de</strong> gegen <strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>führer ein Ermittlungsverfahren wegen <strong>de</strong>s Verdachts<br />

eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz eingeleitet. Am selben Abend wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer<br />

festgenommen.<br />

10. Am Morgen <strong>de</strong>s 7. April 1993 wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer von <strong>de</strong>r Berliner Polizei vernommen. Bei<br />

dieser Vernehmung wur<strong>de</strong> ihm mitgeteilt, dass infolge <strong>de</strong>r Aussagen <strong>de</strong>s Zeugen K. <strong>de</strong>r dringen<strong>de</strong> Verdacht bestehe,<br />

dass er 1991 22 kg Kokain für Herrn A.C. verwahrt habe, dass er zu <strong>de</strong>n von letzterem begangenen Rauschgift<strong>de</strong>likten<br />

Beihilfe geleistet habe und dass er 40 g Kokain an <strong>de</strong>n Zeugen K. verkauft habe. Der Beschwer<strong>de</strong>führer gab daraufhin<br />

an, Herrn A.C. getroffen zu haben und von <strong>de</strong>ssen Verwicklung in <strong>de</strong>n Rauschgifthan<strong>de</strong>l gewusst zu haben. Er machte<br />

auch Aussagen zur Beteiligung Dritter am Rauschgifthan<strong>de</strong>l. Er bestritt die von <strong>de</strong>m Zeugen Herrn K. erhobenen<br />

Beschuldigungen.<br />

11. Noch am 7. April 1993 wur<strong>de</strong> er einem Haftrichter beim Amtsgericht Berlin-Tiergarten vorgeführt, <strong>de</strong>r<br />

nach Anhörung <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers einen Haftbefehl gegen ihn erließ.<br />

12. Laut Haftbefehl wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer verdächtigt, als Dealer 1991 mehrere Lieferungen<br />

Kokain (insgesamt 6 kg) von einem Herrn A.C. erhalten zu haben, gegen <strong>de</strong>n ein geson<strong>de</strong>rtes Strafverfahren anhängig<br />

war, in <strong>de</strong>r Zeit vom 16. bis zum 18. Dezember 1991 weitere Lieferungen (insgesamt 6 kg) erhalten zu haben und 1991<br />

zum Preis von 3.000 DEM zwei Partien Kokain an Herrn K. verkauft zu haben. Im Haftbefehl hieß es, <strong>de</strong>r<br />

Beschwer<strong>de</strong>führer wer<strong>de</strong> aufgrund <strong>de</strong>r Aussage <strong>de</strong>s Herrn K. verdächtigt, <strong>de</strong>r wegen Han<strong>de</strong>ls mit Betäubungsmitteln<br />

vorbestraft war und gegen <strong>de</strong>n ein geson<strong>de</strong>rtes Verfahren wegen neuer Straftaten anhängig war. Dem Beschwer<strong>de</strong>führer<br />

wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>s Haftbefehls mündlich mitgeteilt.<br />

13. Am 8. April 1993 beantragte <strong>de</strong>r Verteidiger <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers bei <strong>de</strong>r Staatsanwaltschaft Berlin<br />

Akteneinsicht. Die Staatsanwaltschaft übersandte ihm Kopien <strong>de</strong>r Aussagen <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers vor <strong>de</strong>r Polizei und<br />

<strong>de</strong>m Haftrichter, <strong>de</strong>s Protokolls über die bei ihm durchgeführte Hausdurchsuchung sowie <strong>de</strong>s Haftbefehls. Bezüglich<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren in <strong>de</strong>n Akten befindlichen Schriftstücke wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Antrag <strong>de</strong>s Verteidigers gemäß § 147 Abs. 2<br />

Strafprozessordnung (StPO) mit <strong>de</strong>r Begründung zurückgewiesen, dass die Akteneinsicht <strong>de</strong>n Untersuchungszweck im<br />

laufen<strong>de</strong>n Ermittlungsverfahren gefähr<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />

14. Danach bestellte <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer Herrn Zieger als seinen neuen Verteidiger, <strong>de</strong>r am 4. Mai 1993<br />

<strong>de</strong>n Antrag erneut stellte. Er stellte außer<strong>de</strong>m einen Antrag auf Haftprüfung. Darauf hin übermittelte die<br />

Staatsanwaltschaft am 13. Mai 1993 <strong>de</strong>m Amtsgericht Berlin-Tiergarten die Haftakte, die zu diesem Zeitpunkt aus<br />

einem einzigen Band bestand.<br />

15. Am 14. Mai 1993 übersandte die Staatsanwaltschaft erneut Kopien <strong>de</strong>r oben genannten Unterlagen<br />

und erklärte hinsichtlich <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Aktenstücke, dass vorläufig keine vollständige Akteneinsicht gewährt wer<strong>de</strong>n<br />

könne, da an<strong>de</strong>rnfalls <strong>de</strong>r Untersuchungszweck im laufen<strong>de</strong>n Ermittlungsverfahren gefähr<strong>de</strong>t wür<strong>de</strong>.<br />

16. Am 27. Mai 1993 ordnete das Amtsgericht Berlin-Tiergarten nach mündlicher Verhandlung in<br />

Anwesenheit <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers, seines Verteidigers und <strong>de</strong>s Staatsanwalts die Fortdauer <strong>de</strong>r Untersuchungshaft<br />

an. Das Amtsgericht stellte unter Berücksichtigung <strong>de</strong>r Ermittlungsergebnisse, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Aussagen <strong>de</strong>s Herrn K.,<br />

<strong>de</strong>r inzwischen erneut vernommen wor<strong>de</strong>n war, fest, dass <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer dringend verdächtig sei, die im<br />

Haftbefehl genannten Straftaten begangen zu haben und auch an organisierter Kriminalität im Zusammenhang mit<br />

Rauschgifthan<strong>de</strong>l beteiligt gewesen zu sein. Das Gericht war <strong>de</strong>r Auffassung, dass K.s Aussage beson<strong>de</strong>rs eingehend<br />

und schlüssig gewesen sei. We<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Beschwer<strong>de</strong>führer noch seinem Verteidiger wur<strong>de</strong> Einsicht in das Protokoll über<br />

K.s Vernehmung gewährt.<br />

17. Am 14. Juni 1993 verwarf das Landgericht Berlin die Beschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers gegen diese<br />

Entscheidung. Das Landgericht, <strong>de</strong>m eine Kopie <strong>de</strong>r Ermittlungsakte zur Verfügung stand, führte zwar aus, dass es zur<br />

Entscheidung über die Beschwer<strong>de</strong> wegen Versagung <strong>de</strong>r vollständigen Akteneinsicht nicht zuständig sei, bestätigte<br />

jedoch, dass Verdunkelungsgefahr bestehe.<br />

18. Am 15. Juli 1993 verwarf das Kammergericht Berlin die weitere Beschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers<br />

gegen die Entscheidung vom 14. Juni 1993. Dem Kammergericht zufolge genügte die mündliche Unterrichtung <strong>de</strong>s<br />

Beschwer<strong>de</strong>führers über die Aussagen <strong>de</strong>s Zeugen K., um ihn in die Lage zu versetzen, sich wirksam zu verteidigen.<br />

Soweit sich <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer auf Artikel 5 Abs.4 <strong>de</strong>r Konvention und das Lamy-Urteil <strong>de</strong>s Europäischen<br />

Gerichtshofs für Menschenrechte berufen hatte, war das Kammergericht <strong>de</strong>r Meinung, <strong>de</strong>r Fall <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers<br />

sei insofern an<strong>de</strong>rs gelagert, als Akteneinsicht nicht vollständig, son<strong>de</strong>rn nur insoweit versagt wer<strong>de</strong>, als dies im<br />

berechtigten öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung erfor<strong>de</strong>rlich sei. Das Kammergericht bestätigte,<br />

dass Verdunkelungsgefahr bestehe. Das Kammergericht grün<strong>de</strong>te seine Entscheidung auf <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>r Zweitakte, die<br />

von <strong>de</strong>r Staatsanwaltschaft für das Beschwer<strong>de</strong>verfahren gefertigt wor<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m Gericht am 7. Juli 1993 zugegangen<br />

war.<br />

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EGMR Nr. 23541/94 – Urteil vom 13. Februar 2001 (Garcia Alva v. Deutschland)<br />

19. Am 9. August 1993 erhob <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> beim<br />

Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht. Außer<strong>de</strong>m beantragte <strong>de</strong>r Verteidiger, die Staatsanwaltschaft solle ihm die belasten<strong>de</strong>n<br />

Passagen aus <strong>de</strong>n Aussagen <strong>de</strong>s Zeugen K. durch Vorlesen o<strong>de</strong>r auf an<strong>de</strong>re Weise bekannt machen. Laut einer<br />

Aktennotiz vom 12. August 1993 war die Staatsanwaltschaft nicht bereit, vollständige Akteneinsicht zu gewähren, da<br />

die Protokolle über die Vernehmung <strong>de</strong>s Zeugen K. Angaben zu weiteren Tatbeteiligten sowie zu an<strong>de</strong>ren<br />

Ermittlungsverfahren enthielten, in <strong>de</strong>nen noch Haftbefehle und Durchsuchungsbeschlüsse zu vollstrecken seien.<br />

20. Am 13. August 1993 erhielt <strong>de</strong>r Verteidiger <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers Kopien <strong>de</strong>r<br />

Vernehmungsprotokolle <strong>de</strong>s Zeugen K., soweit diese <strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>führer betrafen. An<strong>de</strong>re Stellen waren geschwärzt<br />

wor<strong>de</strong>n.<br />

21. Am 23. August 1993 beantragte <strong>de</strong>r Verteidiger erneut vollständige Akteneinsicht, da die ihm<br />

übersandten Ablichtungen infolge <strong>de</strong>r Schwärzungen nicht hinreichend verständlich seien. Außer<strong>de</strong>m beantragte er<br />

weitere Ermittlungen. Der Antrag auf umfassen<strong>de</strong> Akteneinsicht wur<strong>de</strong> am 25. August 1993 abgelehnt. Die beantragten<br />

Ermittlungen wur<strong>de</strong>n durchgeführt.<br />

22. Am 13. September 1993 informierte die Staatsanwaltschaft <strong>de</strong>n Verteidiger <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers,<br />

dass es keine Grün<strong>de</strong> mehr gebe, die vollständige Akteneinsicht zu verweigern; das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht wur<strong>de</strong><br />

hiervon ebenfalls unterrichtet. Angesichts dieser Entwicklung fragte das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht <strong>de</strong>n<br />

Beschwer<strong>de</strong>führer, ob er seine Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> aufrechterhalten wolle. Der Beschwer<strong>de</strong>führer bejahte dies.<br />

Dem Anwalt <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers wur<strong>de</strong> am 17. September 1993 Akteneinsicht gewährt.<br />

23. Am 27. Oktober 1993 lehnte das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht die Annahme <strong>de</strong>r Verfassungsbeschwer<strong>de</strong><br />

zur Entscheidung ab.<br />

24. Am 12. Juli 1994 wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer wegen Beihilfe zum Han<strong>de</strong>ltreiben mit<br />

Betäubungsmitteln in Bezug auf die Lagerung von 16 kg und 6 kg Kokain zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren<br />

verurteilt. Die in Untersuchungshaft verbrachte Zeit wur<strong>de</strong> auf die Strafe angerechnet. Das Urteil wur<strong>de</strong> rechtskräftig.<br />

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT<br />

25. Die §§ 112 ff. StPO betreffen die Verhaftung und Inhaftierung einer Person, die hinreichend<br />

verdächtig ist, eine Straftat begangen zu haben. Nach § 112 darf eine Person in Untersuchungshaft genommen wer<strong>de</strong>n,<br />

wenn <strong>de</strong>r dringen<strong>de</strong> Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen hat, und ein Haftgrund wie Fluchtgefahr o<strong>de</strong>r<br />

Verdunkelungsgefahr besteht. § 116 regelt die Aussetzung <strong>de</strong>s Vollzugs <strong>de</strong>s Haftbefehls.<br />

26. Nach § 117 StPO kann ein Untersuchungsgefangener je<strong>de</strong>rzeit die gerichtliche Prüfung <strong>de</strong>s<br />

Haftbefehls beantragen. Eine mündliche Verhandlung fin<strong>de</strong>t auf Antrag <strong>de</strong>s Untersuchungsgefangenen o<strong>de</strong>r nach<br />

Entscheidung <strong>de</strong>s Gerichts von Amts wegen statt (§ 118 Abs. 1). Ist <strong>de</strong>r Haftbefehl nach mündlicher Verhandlung<br />

aufrechterhalten wor<strong>de</strong>n, so hat <strong>de</strong>r Untersuchungsgefangene Anspruch auf eine weitere mündliche Verhandlung nur,<br />

wenn die Untersuchungshaft min<strong>de</strong>stens drei Monate und seit <strong>de</strong>r letzten mündlichen Verhandlung min<strong>de</strong>stens zwei<br />

Monate gedauert hat (§ 118 Abs. 3). § 120 sieht vor, dass ein Haftbefehl aufzuheben ist, sobald die Voraussetzungen<br />

<strong>de</strong>r Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen o<strong>de</strong>r die weitere Untersuchungshaft unverhältnismäßig erscheint. Je<strong>de</strong><br />

Verlängerung <strong>de</strong>r Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus ist vom Oberlan<strong>de</strong>sgericht zu entschei<strong>de</strong>n (§§ 121 -<br />

122).<br />

27. Die §§ 137 ff. StPO betreffen die Verteidigung eines Beschuldigten, insbeson<strong>de</strong>re die Wahl eines<br />

Verteidigers o<strong>de</strong>r die Bestellung eines Pflichtverteidigers. Nach § 147 Abs. 1 ist <strong>de</strong>r Verteidiger befugt, die Akten, die<br />

<strong>de</strong>m Gericht vorliegen o<strong>de</strong>r diesem im Falle <strong>de</strong>r Erhebung <strong>de</strong>r Anklage vorzulegen wären, einzusehen und<br />

Beweisstücke zu besichtigen. Nach Absatz 2 dieser Bestimmung kann <strong>de</strong>m Verteidiger, solange die Ermittlungen nicht<br />

abgeschlossen sind, die Einsicht in die Akten o<strong>de</strong>r einzelne Aktenstücke o<strong>de</strong>r die Besichtigung <strong>de</strong>r Beweisstücke<br />

versagt wer<strong>de</strong>n, wenn an<strong>de</strong>rnfalls <strong>de</strong>r Untersuchungszweck gefähr<strong>de</strong>t wäre. Über die Gewährung <strong>de</strong>r Akteneinsicht<br />

entschei<strong>de</strong>t während <strong>de</strong>s vorbereiten<strong>de</strong>n Verfahrens die Staatsanwaltschaft, danach <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>r Sache<br />

befassten Gerichts (§ 147 Abs. 5). Mit <strong>de</strong>m Strafverfahrensän<strong>de</strong>rungsgesetz (BGBl. 2000, I, S. 1253) mit Wirkung vom<br />

1. November 2000 wur<strong>de</strong> letztere Bestimmung unter an<strong>de</strong>rem dahingehend geän<strong>de</strong>rt, dass ein in Haft befindlicher<br />

Beschuldigter nunmehr berechtigt ist, die gerichtliche Prüfung <strong>de</strong>r die Akteneinsicht versagen<strong>de</strong>n Entscheidung <strong>de</strong>r<br />

Staatsanwaltschaft zu beantragen.<br />

28. Die §§ 151 ff. StPO regeln die Grundsätze <strong>de</strong>r Strafverfolgung und die Vorbereitung <strong>de</strong>r öffentlichen<br />

Klage. Nach § 151 ist die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung durch die Erhebung einer Klage bedingt. Nach §<br />

152 ist zur Erhebung <strong>de</strong>r öffentlichen Klage die Staatsanwaltschaft berufen, die, soweit nichts an<strong>de</strong>res bestimmt ist,<br />

verpflichtet ist, wegen je<strong>de</strong>r Straftat zu ermitteln, für die hinreichen<strong>de</strong> Verdachtsgrün<strong>de</strong> vorliegen.<br />

29. Die vorbereiten<strong>de</strong>n Ermittlungen führt gemäß §§ 160 und 161 StPO die Staatsanwaltschaft. Diese<br />

entschei<strong>de</strong>t nach § 170 auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Ermittlungen, ob die öffentliche Klage erhoben wird o<strong>de</strong>r ob das<br />

Verfahren eingestellt wird.<br />

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30. Nach Artikel 103 Abs. 1 Grundgesetz hat je<strong>de</strong>rmann vor Gericht Anspruch auf rechtliches Gehör.<br />

Nach <strong>de</strong>r Rechtsprechung <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverfassungsgerichts verlangt diese Vorschrift, dass einer<br />

gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrun<strong>de</strong>gelegt wer<strong>de</strong>n, zu <strong>de</strong>nen die<br />

Beteiligten Stellung nehmen konnten. In Fällen, in <strong>de</strong>nen es um Festnahme und Untersuchungshaft geht, dürfen <strong>de</strong>r<br />

Haftbefehl und alle <strong>de</strong>n Haftbefehl bestätigen<strong>de</strong>n gerichtlichen Entscheidungen nur auf solche Tatsachen und<br />

Beweisstücke gestützt wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Beschuldigten vorher bekannt waren und zu <strong>de</strong>nen er sich äußern konnte<br />

(Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht, Beschluss vom 11. Juli 1994 (NJW 1994, 3219) m.w.N.).<br />

In <strong>de</strong>m vorgenannten Beschluss stellt das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht fest, dass einem Beschuldigten nach<br />

seiner Festnahme <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>s Haftbefehls mitzuteilen und er unverzüglich einem Richter vorzuführen ist, <strong>de</strong>r ihm bei<br />

<strong>de</strong>r Vernehmung von allen relevanten ihn belasten<strong>de</strong>n sowie auch von <strong>de</strong>n ihn entlasten<strong>de</strong>n Beweisen Kenntnis zu<br />

geben hat. Darüber hinaus muss bei einer anschließen<strong>de</strong>n Haftprüfung <strong>de</strong>r Beschuldigte angehört wer<strong>de</strong>n, und es<br />

müssen ihm die relevanten zu diesem Zeitpunkt vorliegen<strong>de</strong>n Ermittlungsergebnisse mitgeteilt wer<strong>de</strong>n, soweit dies die<br />

Ermittlungen nicht gefähr<strong>de</strong>t. In manchen Fällen mag die mündliche Mitteilung nicht genügen. Wenn die Tatsachen und<br />

Beweismittel, die einer Entscheidung in einer Haftsache zugrun<strong>de</strong> liegen, nicht o<strong>de</strong>r nicht mehr mündlich vermittelt<br />

wer<strong>de</strong>n können, müssen an<strong>de</strong>re Mittel <strong>de</strong>r Unterrichtung <strong>de</strong>s Beschuldigten wie z.B. Akteneinsicht angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n.<br />

An<strong>de</strong>rerseits sind gesetzliche Beschränkungen <strong>de</strong>r Akteneinsicht <strong>de</strong>s Beschuldigten während <strong>de</strong>s Ermittlungsverfahrens<br />

hinzunehmen, wenn die wirksame Durchführung <strong>de</strong>r <strong>strafrecht</strong>lichen Ermittlungen dies verlangt. Aber selbst während<br />

dieser Ermittlungen hat ein Beschuldigter, <strong>de</strong>r sich in Untersuchungshaft befin<strong>de</strong>t, das Recht auf Akteneinsicht durch<br />

seinen Anwalt, soweit die in <strong>de</strong>n Akten enthaltenen Informationen seine Position im Haftprüfungsverfahren berühren<br />

könnten und eine mündliche Unterrichtung nicht ausreicht. Wenn in solchen Fällen die Staatsanwaltschaft die Einsicht<br />

in relevante Teile <strong>de</strong>r Akte gemäß § 147 Abs. 2 StPO verweigert, kann das mit <strong>de</strong>r Haftprüfung befasste Gericht seine<br />

Entscheidung nicht auf diese Tatsachen und Beweismittel stützen und muss gegebenenfalls <strong>de</strong>n Haftbefehl aufheben<br />

(Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht, a.a.O.).<br />

VERFAHREN VOR DER KOMMISSION<br />

31. Herr Garcia Alva rief am 4. Januar 1994 die Kommission an. Er rügte unter Berufung auf Artikel 5<br />

Abs. 4 <strong>de</strong>r Konvention, dass ihm im Haftprüfungsverfahren die Einsicht in die Ermittlungsakte verweigert wur<strong>de</strong>. Er<br />

machte ferner geltend, dass unter Verletzung von Artikel 5 Abs. 2 ihm nicht innerhalb möglichst kurzer Frist mitgeteilt<br />

wur<strong>de</strong>, welche Beschuldigungen gegen ihn erhoben wur<strong>de</strong>n. Schließlich beschwerte er sich über die Haftbedingungen.<br />

32. Am 10. April 1997 erklärte die Kommission die Rüge in Bezug auf Artikel 5 Abs. 4 für zulässig und<br />

die Individualbeschwer<strong>de</strong> (Nr. 23541/94) im Übrigen für unzulässig. In ihrem Bericht vom 17. September 1998 (nach<br />

<strong>de</strong>m früheren Artikel 31 <strong>de</strong>r Konvention) vertrat sie mit 27 zu 5 Stimmen die Auffassung, dass eine Verletzung von<br />

Artikel 5 Abs. 4 vorliegt.<br />

ABSCHLIESSENDE STELLUNGNAHMEN AN DEN GERICHTSHOF<br />

33. In ihrer schriftlichen Stellungnahme beantragte die Regierung die Feststellung, dass die<br />

Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland ihre Verpflichtungen aus <strong>de</strong>r Konvention nicht verletzt hat.<br />

34. Der Beschwer<strong>de</strong>führer ersuchte <strong>de</strong>n Gerichtshof, festzustellen, dass seine Rechte nach Artikel 5 Abs. 4<br />

<strong>de</strong>r Konvention verletzt wor<strong>de</strong>n sind, und ihm nach Artikel 41 <strong>de</strong>r Konvention eine Entschädigung für immateriellen<br />

Scha<strong>de</strong>n und Anwalts- und Gerichtskosten zusprechen.<br />

RECHTLICHE WÜRDIGUNG<br />

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 4 DER KONVENTION<br />

35. Der Beschwer<strong>de</strong>führer rügt das Haftprüfungsverfahren während seiner Untersuchungshaft. Er beruft<br />

sich auf Artikel 5 Abs. 4 <strong>de</strong>r Konvention, <strong>de</strong>r wie folgt lautet:<br />

,,Je<strong>de</strong>r Person, die festgenommen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein<br />

Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>r Freiheitsentziehung entschei<strong>de</strong>t und ihre Entlassung<br />

anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist."<br />

A. Vorbringen vor <strong>de</strong>m Gerichtshof<br />

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36. Der Beschwer<strong>de</strong>führer erklärte, das Haftprüfungsverfahren sei kein wirklich kontradiktorisches<br />

Verfahren gewesen. Er legte dar, dass sich <strong>de</strong>r Haftbefehl im wesentlichen auf die Aussagen eines weiteren<br />

Verdächtigen, Herrn K., zur Begründung <strong>de</strong>s Verdachts gegen ihn bezogen habe. Seiner Meinung nach waren die<br />

summarische Auskunft über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen und die seinem Anwalt überlassenen<br />

Aktenstücke keine ausreichen<strong>de</strong> Grundlage für seine Verteidigung. Ohne umfassen<strong>de</strong> Akteneinsicht und ohne Kenntnis<br />

<strong>de</strong>s vollständigen Wortlauts <strong>de</strong>r genannten Aussagen habe sein Verteidiger nicht die Glaubwürdigkeit <strong>de</strong>s Herrn K. in<br />

Zweifel ziehen und ihn gegen <strong>de</strong>n Vorwurf <strong>de</strong>s Rauschgifthan<strong>de</strong>ls verteidigen können.<br />

37. Der Regierung zufolge begrün<strong>de</strong>t Artikel 5 Abs.4 nicht das allgemeine Recht eines<br />

Untersuchungsgefangenen o<strong>de</strong>r seines Verteidigers auf Einsicht <strong>de</strong>r Akten über die gegen ihn geführten Ermittlungen.<br />

Es komme nur darauf an, dass <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Person die Möglichkeit einer effektiven Rechtsverfolgung gegeben sei,<br />

und dies könne auch auf an<strong>de</strong>re Weise geschehen.<br />

Im vorliegen<strong>de</strong>n Fall seien <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer und sein Verteidiger durch die Vorhalte in <strong>de</strong>n<br />

Vernehmungen sowie durch <strong>de</strong>n Haftbefehl umfassend über die Tatvorwürfe, Tatzeiten und Tatorte informiert gewesen,<br />

soweit sie zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt waren. Darüber hinaus hätten sie aus <strong>de</strong>n Vorhalten gegenüber <strong>de</strong>m<br />

Beschwer<strong>de</strong>führer auch <strong>de</strong>n wesentlichen Inhalt <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>führer belasten<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m Haftbefehl vom 7.<br />

April 1993 zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Aussagen <strong>de</strong>s K. vom 17. und 30. März 1993 gekannt. Des weiteren seien Kopien<br />

sowohl <strong>de</strong>s Haftbefehls als auch <strong>de</strong>s Protokolls über die Vernehmung <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers bereits im April 1993 <strong>de</strong>m<br />

ersten Verteidiger <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers überlassen wor<strong>de</strong>n (siehe Nr. 13). Die Vorwürfe seien auch nicht so komplex<br />

gewesen, dass eine mündliche Mitteilung <strong>de</strong>r Tatsachen und Beweismittel nicht ausreichend gewesen wäre.<br />

Die Versagung <strong>de</strong>r Einsicht in die Ermittlungsakten sei durch <strong>de</strong>n Umstand begrün<strong>de</strong>t gewesen, dass die<br />

Ermittlungen gegen <strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>führer Bestandteil eines Verfahrenskomplexes gewesen seien, <strong>de</strong>r sich gegen<br />

mehrere Beschuldigte im Umfeld <strong>de</strong>r kolumbianischen Drogenmafia gerichtet habe. Gera<strong>de</strong> in einem Fall wie <strong>de</strong>m<br />

vorliegen<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m eine Verdunkelungsgefahr angenommen wer<strong>de</strong>, müsse es möglich sein, <strong>de</strong>m Beschuldigten bzw.<br />

seinem Verteidiger Einsicht in die Ermittlungsakten zu versagen, um zu verhin<strong>de</strong>rn, dass sie auf an<strong>de</strong>re Zeugen<br />

einwirken. Die Ermittlungsakten über <strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>führer hätten Hinweise sowohl auf noch ausstehen<strong>de</strong><br />

Ermittlungen in seinem Verfahren wie auch in parallel gegen an<strong>de</strong>re Beschuldigte laufen<strong>de</strong>n Verfahren enthalten.<br />

38. Die Kommission schloss sich im wesentlichen <strong>de</strong>r Auffassung <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers an. Sie war <strong>de</strong>r<br />

Meinung, dass in Anbetracht <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>r Aussage <strong>de</strong>s K. im Haftprüfungsverfahren zukam, <strong>de</strong>m<br />

Beschwer<strong>de</strong>führer bzw. seinem Verteidiger hätte Gelegenheit gegeben wer<strong>de</strong>n müssen, diese vollständig zu lesen, um<br />

ihnen zu ermöglichen, die Glaubwürdigkeit <strong>de</strong>r Aussage wirksam in Zweifel zu ziehen.<br />

B. Würdigung durch <strong>de</strong>n Gerichtshof<br />

39. Der Gerichtshof erinnert daran, dass Personen, die von Festnahme o<strong>de</strong>r Freiheitsentziehung betroffen<br />

sind, Anspruch auf eine Haftprüfung haben, die Bezug nimmt auf die verfahrens- und materiellrechtlichen<br />

Voraussetzungen, die für die ,,Rechtmäßigkeit" ihrer Freiheitsentziehung im Sinne <strong>de</strong>r Konvention wesentlich sind.<br />

Dies be<strong>de</strong>utet, dass das zuständige Gericht ,,nicht nur zu prüfen hat, ob die innerstaatlichen Verfahrenserfor<strong>de</strong>rnisse<br />

erfüllt sind, son<strong>de</strong>rn auch, ob die Festnahme auf einen hinreichen<strong>de</strong>n Verdacht gegrün<strong>de</strong>t und das mit <strong>de</strong>r Festnahme<br />

und <strong>de</strong>r anschließen<strong>de</strong>n Freiheitsentziehung verfolgte Ziel rechtmäßig ist".<br />

Ein Gericht, das eine Haftbeschwer<strong>de</strong> prüft, muss die Garantien eines gerichtlichen Verfahrens bieten. Das<br />

Verfahren muss kontradiktorisch sein und stets ,,Waffengleichheit" zwischen <strong>de</strong>n Prozessparteien - <strong>de</strong>m Staatsanwalt<br />

und <strong>de</strong>r Person, <strong>de</strong>r die Freiheit entzogen ist - gewährleisten. Die Waffengleichheit ist nicht gewährleistet, wenn <strong>de</strong>m<br />

Verteidiger <strong>de</strong>r Zugang zu <strong>de</strong>njenigen Schriftstücken in <strong>de</strong>r Ermittlungsakte versagt wird, die für die wirksame<br />

Anfechtung <strong>de</strong>r Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>r Freiheitsentziehung seines Mandanten wesentlich sind. Im Fall einer Person, <strong>de</strong>ren<br />

Freiheitsentziehung unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c fällt, ist eine mündliche Verhandlung erfor<strong>de</strong>rlich (siehe u.a.<br />

Urteil Lamy ./. Belgien vom 30. März 1989, Serie A Band 151, S. 16-17, Nr. 29 und Urteil Nikolova ./. Bulgarien [GK],<br />

Nr. 31195/96, Nr. 58, ECHR 1999-II).<br />

Diese Anfor<strong>de</strong>rungen leiten sich aus <strong>de</strong>m in Artikel 6 <strong>de</strong>r Konvention verankerten Recht auf ein<br />

kontradiktorisches Verfahren her; in einer Strafsache be<strong>de</strong>utet dies, dass sowohl <strong>de</strong>r Staatsanwaltschaft als auch <strong>de</strong>r<br />

Verteidigung Gelegenheit gegeben wer<strong>de</strong>n muss, die von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Prozesspartei vorgelegten Schriftsätze und<br />

Beweismittel zur Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Nach <strong>de</strong>r Spruchpraxis <strong>de</strong>s Gerichtshofs ergibt sich aus<br />

<strong>de</strong>m Wortlaut <strong>de</strong>s Artikels 6 - und insbeson<strong>de</strong>re aus <strong>de</strong>r eigenständigen Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r<br />

,,<strong>strafrecht</strong>lichen Anklage" beizulegen ist -, dass diese Bestimmung in gewisser Weise auch für Verfahren gilt, die vor<br />

<strong>de</strong>r Hauptverhandlung stattfin<strong>de</strong>n (siehe Urteil Imbrioscia ./. Schweiz vom 24. November 1993, Serie A Band 275, S.<br />

13, Nr. 36). Daraus folgt, dass angesichts <strong>de</strong>r dramatischen Folgen einer Freiheitsentziehung für die Grundrechte <strong>de</strong>s<br />

Betroffenen grundsätzlich auch in Verfahren nach Artikel 5 Abs. 4 <strong>de</strong>r Konvention die Grundanfor<strong>de</strong>rungen an ein<br />

faires Verfahren, wie z.B. das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren, in einem unter <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n eines<br />

laufen<strong>de</strong>n Ermittlungsverfahrens größtmöglichen Maß erfüllt sein sollen. Wenngleich innerstaatliches Recht dieser<br />

Bearbeitung: Karsten Gae<strong>de</strong><br />

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EGMR Nr. 23541/94 – Urteil vom 13. Februar 2001 (Garcia Alva v. Deutschland)<br />

Anfor<strong>de</strong>rung in verschie<strong>de</strong>ner Weise genügen kann, so soll doch mit je<strong>de</strong>r gewählten Metho<strong>de</strong> gewährleistet sein, dass<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Prozesspartei zur Kenntnis gelangt, dass Schriftsätze eingereicht wor<strong>de</strong>n sind, und sie wirklich Gelegenheit<br />

hat, dazu Stellung zu nehmen (siehe sinngemäß Urteil Brandstetter ./. Österreich vom 28. August 1991, Serie A Band<br />

211, S. 27, Nr. 67).<br />

40. Im vorliegen<strong>de</strong>n Fall wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Beschwer<strong>de</strong>führer bei seiner Festnahme mit allgemeinen Worten<br />

die gegen ihn vorliegen<strong>de</strong>n Verdachtsgrün<strong>de</strong> und Beweise sowie die Haftgrün<strong>de</strong> bekannt gegeben. Auf Antrag <strong>de</strong>s<br />

Anwalts wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Verteidigung zwar Kopien <strong>de</strong>s Protokolls über die Vernehmung <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers durch die<br />

Polizei und <strong>de</strong>n Haftrichter, <strong>de</strong>s Protokolls über die bei ihm durchgeführte Hausdurchsuchung sowie <strong>de</strong>s gegen ihn<br />

ergangenen Haftbefehls zur Verfügung gestellt, aber die Staatsanwaltschaft lehnte zum damaligen Zeitpunkt <strong>de</strong>n Antrag<br />

<strong>de</strong>s Verteidigers auf Einsicht <strong>de</strong>r Ermittlungsakten und insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Aussagen von Herrn K. mit <strong>de</strong>r Begründung<br />

ab, die Einsicht in diese Unterlagen gefähr<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Untersuchungszweck.<br />

Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten kam seinerseits auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>s Inhalts <strong>de</strong>r Ermittlungsakten -<br />

weitgehend auch <strong>de</strong>r Aussagen von Herrn K. - sowie <strong>de</strong>r Stellungnahmen <strong>de</strong>r Prozessparteien zu <strong>de</strong>m Ergebnis, dass <strong>de</strong>r<br />

Beschwer<strong>de</strong>führer dringend verdächtig sei, die in Frage stehen<strong>de</strong>n Straftaten begangen zu haben. Die diesbezüglichen<br />

Beschwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers wur<strong>de</strong>n vom Landgericht Berlin und vom Kammergericht Berlin im Juni bzw. Juli<br />

1993 verworfen; bei<strong>de</strong>n Gerichten hatten auch Zweitakten vorgelegen.<br />

41. Der Inhalt <strong>de</strong>r Ermittlungsakte und insbeson<strong>de</strong>re die Aussagen von Herrn K. scheinen <strong>de</strong>mnach für die<br />

Entscheidung <strong>de</strong>s Amtsgerichts über die Fortdauer <strong>de</strong>r Untersuchungshaft <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers ausschlaggebend<br />

gewesen zu sein. Sie waren zwar <strong>de</strong>m Staatsanwalt und <strong>de</strong>m Amtsgericht bekannt, aber ihr genauer Inhalt war <strong>de</strong>m<br />

Beschwer<strong>de</strong>führer bzw. seinem Anwalt zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zur Kenntnis gebracht wor<strong>de</strong>n. Folglich<br />

hatte keiner von bei<strong>de</strong>n Gelegenheit, die Erkenntnisse, auf die sich <strong>de</strong>r Staatsanwalt und das Amtsgericht gestützt<br />

haben, in geeigneter Weise anzugreifen und insbeson<strong>de</strong>re die Glaubwürdigkeit bzw. Schlüssigkeit <strong>de</strong>r Aussagen von<br />

Herrn K., <strong>de</strong>r vorbestraft war und gegen <strong>de</strong>n in an<strong>de</strong>rem Zusammenhang wegen Drogenhan<strong>de</strong>ls ermittelt wur<strong>de</strong>, in<br />

Zweifel zu ziehen.<br />

Der Haftbefehl enthielt zwar, wie die Regierung vorträgt, einige Angaben in Bezug auf <strong>de</strong>n Sachverhalt,<br />

auf <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Tatverdacht gegen <strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>führer grün<strong>de</strong>te. Doch die so zur Verfügung gestellten Informationen<br />

waren nur eine Sachverhaltsschil<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>m Verständnis <strong>de</strong>s Amtsgerichts auf <strong>de</strong>r Grundlage aller ihm von <strong>de</strong>r<br />

Staatsanwaltschaft zugänglich gemachten Informationen. Nach Auffassung <strong>de</strong>s Gerichtshofs ist es für einen<br />

Beschuldigten kaum möglich, die Glaubwürdigkeit einer solchen Schil<strong>de</strong>rung wirksam zu erschüttern, wenn ihm die ihr<br />

zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Beweismittel nicht zur Kenntnis gebracht wur<strong>de</strong>n. Voraussetzung ist, dass <strong>de</strong>m Beschuldigten<br />

hinreichend Gelegenheit gegeben wird, Aussagen und an<strong>de</strong>re diesbezügliche Beweismittel wie z.B. die Ergebnisse<br />

polizeilicher und sonstiger Ermittlungen zur Kenntnis zu nehmen, gleichviel, ob <strong>de</strong>r Beschuldigte in irgen<strong>de</strong>iner Weise<br />

darlegen kann, dass die Beweisstücke, zu <strong>de</strong>nen er Zugang begehrt, für seine Verteidigung relevant sind.<br />

42. Dem Gerichtshof ist bewusst, dass <strong>de</strong>r Staatsanwalt die beantragte Akteneinsicht nach § 147 Abs. 2<br />

StPO mit <strong>de</strong>r Begründung abgelehnt hat, dass an<strong>de</strong>rnfalls <strong>de</strong>r Erfolg <strong>de</strong>r laufen<strong>de</strong>n Ermittlungen, die, wie es heißt, sehr<br />

komplex waren und zahlreiche weitere Tatverdächtige betrafen, gefähr<strong>de</strong>t wäre (siehe Nr. 13 und 19).<br />

Der Gerichtshof erkennt an, dass <strong>strafrecht</strong>liche Ermittlungen effektiv geführt wer<strong>de</strong>n müssen, und dass<br />

dies be<strong>de</strong>uten kann, dass ein Teil <strong>de</strong>r im Rahmen <strong>de</strong>r Ermittlungen zusammen getragenen Informationen geheim zu<br />

halten ist, um zu verhin<strong>de</strong>rn, dass Tatverdächtige Beweismaterial manipulieren und <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Rechtspflege<br />

untergraben. Doch dieses berechtigte Ziel kann nicht unter Inkaufnahme erheblicher Beschränkungen <strong>de</strong>r Rechte <strong>de</strong>r<br />

Verteidigung verfolgt wer<strong>de</strong>n. Informationen, die für die Beurteilung <strong>de</strong>r Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung<br />

wesentlich sind, sollten <strong>de</strong>m Anwalt <strong>de</strong>s Tatverdächtigen <strong>de</strong>shalb in geeigneter Weise zugänglich gemacht wer<strong>de</strong>n.<br />

43. Unter diesen Umstän<strong>de</strong>n und in Anbetracht <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>r Ermittlungsakte und<br />

insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>n Aussagen von Herrn K., die vom Beschwer<strong>de</strong>führer nicht angemessen angegriffen wer<strong>de</strong>n konnten,<br />

weil sie ihm nicht zur Kenntnis gebracht wur<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r Argumentation <strong>de</strong>r Berliner Gerichte beigemessen wur<strong>de</strong>, hat<br />

das Verfahren vor <strong>de</strong>n genannten Gerichten, in welchem die Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>r gegen <strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>führer<br />

verhängten Untersuchungshaft überprüft wur<strong>de</strong>, die Garantien nach Artikel 5 Abs. 4 nicht erfüllt. Diese Bestimmung ist<br />

also verletzt wor<strong>de</strong>n.<br />

II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION<br />

…<br />

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT:<br />

1. Artikel 5 Abs. 4 <strong>de</strong>r Konvention ist verletzt wor<strong>de</strong>n.<br />

Bearbeitung: Karsten Gae<strong>de</strong><br />

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...<br />

[Nichtamtliche <strong>de</strong>utsche Übersetzung aus <strong>de</strong>m Englischen durch das Bun<strong>de</strong>sministerium <strong>de</strong>r Justiz, Berlin]<br />

Bearbeitung: Karsten Gae<strong>de</strong><br />

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