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Gut vorbereitet nähere ich<br />
mich dem Schalter. Das<br />
Flugticket und der Pass<br />
sind griffbereit, ebenso<br />
ein ganzes Arsenal von<br />
Ausreden, Halbwahrheiten<br />
und eine ausgefeilte<br />
Rhetorik, die ich, falls nötig, zur Anwendung<br />
bringen werde. Mein Adrenalinspiegel steht<br />
mir bis zum Hals, der Puls ist erhöht. Beantworte<br />
ich die Frage falsch, ist meine Reise hier<br />
zu Ende: «Können Sie laufen?» Ich schlucke<br />
kurz: «Ja natürlich, den Rollstuhl brauche ich<br />
nur für längere Strecken. Zur Bordtoilette kann<br />
ich selbst gehen.» Eine glatte Lüge. Ohne rot<br />
zu werden, beherrsche ich es noch immer nicht.<br />
Dessen ungeachtet glaubt die Dame am Schalter<br />
meinem Flunkern. Mir bleibt ja keine Wahl,<br />
ich muss sie belügen. Rollstuhlfahrern ohne<br />
Sinnesorgan, das sie lenkt? Gierig sauge ich auf,<br />
was ich sehe, docke das Handbike an meinen<br />
Rollstuhl, gebe meinem indischen Freund Nagender,<br />
der mich schon oft auf Reisen begleitet<br />
hat, die Kamera. Er ist Fotograf und Kameramann,<br />
auch diesmal mit dabei und wird die<br />
Reise zur Quelle des Mekong dokumentieren.<br />
Dann stürze ich mich im Vertrauen auf Vietnams<br />
ungeschriebene Gesetze in den Verkehr.<br />
Das geht gut, bis ich links abbiegen will und<br />
um ein Haar von einem Bus überrollt werde.<br />
Was habe ich falsch gemacht?<br />
Mein zweiter Versuch endet fast in einer Massenkarambolage.<br />
Dann die Erleuchtung: Blickkontakt,<br />
ein Lächeln und der unbedingte Wille,<br />
die Harmonie zu bewahren. Dazu das rechte<br />
Augenmass für die passende Lücke. Das sind<br />
die Zutaten zum Überleben. Plötzlich entsteht<br />
ein Flow, als hätte Buddha seine Hand im Spiel.<br />
Begleitperson kann der Flug verweigert werden.<br />
Tatsächlich wird die Bordtoilette in den<br />
kommenden fünfzehn Stunden für mich unerreichbar<br />
bleiben. Nicht einen Schritt kann<br />
ich gehen. Nur dank wochenlangem Darmtraining<br />
und mehreren Wegwerf-Urinalen überstehe<br />
ich den Flug von Deutschland nach Vietnam.<br />
Der ganz normale Wahnsinn. Ho Chi Minh<br />
City toppt sogar meine Erfahrungen in indischen<br />
Grossstädten. Was sich vor meinen Augen<br />
abspielt, will nicht in den Verstand: ein<br />
Meer aus Mopeds. Doch das ist nicht das Unglaubliche.<br />
Linksabbieger steuern scheinbar<br />
ungebremst in den gegenläufigen Verkehr.<br />
Nicht einer, nicht zehn – hunderte Geisterfahrer!<br />
Doch es passiert nichts, obwohl die Ampeln<br />
ignoriert werden, der Kreisverkehr links<br />
herum abgekürzt wird und zur Not der Bürgersteig<br />
herhalten muss. Wenn es irgendwo auf<br />
der Welt so etwas wie Harmonie im Chaos des<br />
Strassenverkehrs gibt – die Vietnamesen haben<br />
das Rezept dafür. Oder ist es ein Wunder? Besitzen<br />
diese Menschen ein mir unbekanntes<br />
Wie ein Fisch im Wasser werde ich vom<br />
Schwarm davongetragen. Jetzt der Härtetest:<br />
bei Rot über die Ampel fahren und in den<br />
Querverkehr eintauchen – es funktioniert.<br />
Welch ein Start für eine Reise vom Mündungsdelta<br />
des Mekong bis zu seiner Quelle im<br />
ewigen Eis des Himalaya! Wir verlassen Ho<br />
Chi Minh City auf einer der grossen Ausfallstrassen<br />
Richtung Can Tho. Nagender sitzt auf<br />
einem geliehenen Moped, ich am Handbike,<br />
einem Vorspannfahrrad für den Rollstuhl.<br />
Sanitäre Anlagen, die Rollstuhlfahrern auf Reisen<br />
in exotischen Ländern erst Kopfschmerzen<br />
und dann Bauchkneifen bereiten, wird es für<br />
mich nur selten geben. Ich habe vorgesorgt und<br />
ein einfaches Loch im Sitzbezug des Rollis angebracht.<br />
So habe ich mein Klo immer dabei<br />
und bleibe von negativen Schwingungen im<br />
Magendarmtrakt verschont.<br />
Schon bald ist es vorbei mit der schönen<br />
Harmonie. LKW-Fahrer überholen mich sehr<br />
knapp, ich muss aufpassen, dass sie mir nicht<br />
den Arm wegblasen. Sie hüllen mich in Staub,<br />
der sich mit dem Schweiss zu einer braunen<br />
Pampe auf Stirn und Hals vereint. Das einzig<br />
Gute daran: Sie geben mir bei ihren Überholmanövern<br />
jedes Mal einen kräftigen Schub<br />
Rückenwind.<br />
Wir durchqueren das Mekongdelta und fahren<br />
zwischen Reisfeldern, auf denen zwei Mal<br />
im Jahr geerntet wird. Das Land ist extrem dicht<br />
In Ho Chi Minh<br />
City scheint es so<br />
etwas wie Harmonie<br />
im Verkehrschaos<br />
zu geben.<br />
besiedelt. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit<br />
gehen wir auf die Suche nach einem geeigneten<br />
Schlafplatz und entscheiden uns für einen idyllisch<br />
gelegenen Bauernhof links der Strasse, der<br />
bevölkert ist von einer Schar Kinder jeglichen<br />
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