Predigt 1. September 2013
Predigt 1. September 2013
Predigt 1. September 2013
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Gottesdienst am <strong>1.</strong> <strong>September</strong> <strong>2013</strong> in der Stadtkirche<br />
Bad Cannstatt im Rahmen des Musikfestes Stuttgart<br />
<strong>Predigt</strong> über <strong>1.</strong> Mose 28,10-22 von Prälat Ulrich Mack<br />
Liebe Mitfeiernden, die wir jetzt eine Gottesdienstgemeinde sind, sind Sie neugierig?<br />
Ich frage das, weil das Thema des Musikfestes in diesem Jahr „Neugier“ heißt.<br />
Sind wir, sind Sie neugierig hierhergekommen? Vielleicht darauf, wie die „Canti di<br />
Prigionia“ klingen, die „Gesänge der Gefangenschaft“ von Luigi Dallapiccola, die wir<br />
eben so eindrücklich gehört haben. Oder neugierig auf die Bach Motette, die nachher<br />
erklingen wird?<br />
Neugier kann mit gespannter Erwartung zu tun haben. Und eine solche Neugier hat<br />
im Gottesdienst durchaus ihren Platz. Wir sehen das nachher noch genauer.<br />
Für viele hat Neugier aber auch einen negativen Klang. Wenn man doch gern mitbekommen<br />
will, was da in der Nachbarfamilie so abgeht, ob durch Zimmerwände<br />
oder offene Fenster oder über den Gartenzaun hinweg: was gibt es da an Streit und<br />
Neid und Leid? An Lug und Betrug? Wie oft kann einen da Neugier fesseln.<br />
Nun - heute und hier darf sie das! Nein ich will jetzt nicht über andere tratschen. Ich<br />
will Ihnen nichts aus Klatschspalten erzählen. Ich lese auch nichts aus Stuttgarts<br />
Familiengeschichten. Sondern ich lese aus den Bibelgeschichten, eine Familienstory.<br />
Sie ist uralt und doch modern. Sie ist voller Gier und auch Neu-Gier. Und sie ist voller<br />
Neid und Betrug.<br />
Gehen wir in der biblischen Erzählung weit zurück. Erinnern Sie sich an Abraham?<br />
Der hatte einen Sohn Isaak, und der und seine schöne Frau Rebekka hatten zwei<br />
Kinder, Zwillinge - den Esau und den Jakob. Und wie es so geht: der Erstgeborene<br />
war der starke und wilde Esau; er war der Liebling des Vaters. Und der eher<br />
schmächtige und listige Jakob war der Liebling der Mutter. Und nun kennen Sie<br />
vielleicht die Story: Erst ergaunert sich Jakob das Erstgeburtsrecht, als Esau mal<br />
hungrig von der Jagd kommt. Linsen spielten da eine Rolle, vielleicht waren auch<br />
Spätzle und Saitenwürste dabei - für Schwaben also verständlich, dass Esau alles<br />
dafür gibt. Aber es bleibt Gaunerei. Dann will der alte Isaak, fast blind geworden, den<br />
Esau segnen, aber Jakob gibt sich mit Hilfe seiner Mama als Esau aus und<br />
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erschleicht sich den Erstgeburtssegen, darum muss Jakob fliehen, sonst bringt ihn<br />
Esau um. So hat es ihm sein Bruder angedroht.<br />
Ein Familienkrach erster Güte. Nun sehen wir also in Gedanken den Jakob auf der<br />
Flucht. Er ist ziemlich durcheinander, die Zukunft ungewiss, Esau ist sauer, der Vater<br />
desolat, die Mutter traurig, und der Himmel ist weit weg – mit Gott hat das alles<br />
anscheinend nichts zu tun – meint man zuerst, aber nun lese ich den Bibeltext<br />
(<strong>1.</strong>Mose 28,10-22):<br />
10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran<br />
11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war<br />
untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen<br />
Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. 12 Und ihm träumte, und siehe,<br />
eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe,<br />
die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 13 Und der HERR stand oben<br />
darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks<br />
Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14<br />
Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst<br />
ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch<br />
dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet<br />
werden. 15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und<br />
will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich<br />
alles tue, was ich dir zugesagt habe.<br />
16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR<br />
ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! 17 Und er fürchtete sich und sprach:<br />
Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die<br />
Pforte des Himmels. 18 Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein,<br />
den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal<br />
und goss Öl oben darauf 19 und nannte die Stätte Bethel; vorher aber hieß die<br />
Stadt Lus. 20 Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wird Gott mit mir sein und<br />
mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen geben und<br />
Kleider anzuziehen 21 und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater<br />
bringen, so soll der HERR mein Gott sein.<br />
Liebe Gemeinde,<br />
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vielleicht denken Sie jetzt: Das hättest du kürzer machen können. Du hättest einfach<br />
sagen brauchen: Unser Text ist Jakobs Traum von der Himmelsleiter. Das hätte<br />
genügt.<br />
Nun, interessant wäre bestimmt gewesen, wenn wir dann einmal einander erzählt<br />
hätten, an was wir uns denn noch unter dem Stichwort "Jakobs Traum" erinnern.<br />
Vermutlich hätten wir dann folgendes zusammenbekommen:<br />
Da ist Jakob unterwegs, und dann legt er sich abends hin und träumt von einer<br />
Leiter, an der Engel auf- und niederschweben, und am Morgen macht Jakob noch<br />
was mit dem Stein und geht weiter. Das wäre die ganze Geschichte.<br />
Ist es die ganze Geschichte?<br />
Wenn man sie so erzählt und wenn man dann noch die Überschrift "Jakobs Traum"<br />
darüber setzt, da könnte man ja auf den Gedanken kommen, dass da allein in Jakob,<br />
in seiner Seele oder in seinem Gehirn etwas vor sich geht - und der Gedanke liegt<br />
dann nahe: Da träumt der Jakob etwas, er erträumt sich seinen Gott, so wie viele ja<br />
heute denken: Gott sei eine Traumgestalt. So hat es der Philosoph Ludwig Feuerbach<br />
im vorletzten Jahrhundert gemeint: Gott sei ein Gebilde der menschlichen<br />
Phantasie. Der Mensch, so sagte er, befinde sich in einem Gefühl der Ohnmacht und<br />
Sinnleere, und darum projiziert er wie mit einem Diaprojektor oder einem Beamer<br />
seine unerfüllten Wünsche und Gedanken an eine Art himmlischer Leinwand, und er<br />
erfindet sich seinen Gott, erträumt sich all das, was er nicht hat, in ein höheres<br />
Wesen hinein.<br />
Das ist ein anscheinend so einleuchtender Gedanke, dass viele Menschen damit die<br />
ganze Frage nach Gott für erledigt halten. Da bleibt dann keine Sensibilität für Göttliches<br />
mehr geschweige denn eine Neugier darauf, wie sich Gott erweisen könnte.<br />
Wer aber so urteilt, hat vielleicht übersehen, dass Träume oft eine tiefere Wirklichkeit<br />
widerspiegeln können. Und wer die Frage nach Gott, ja auch so was wie die Neugier<br />
nach Gott für erledigt hält, hat die Botschaft dieser Geschichte verpasst. Denn das<br />
Gerede vom erträumten Gott hat mit dem Traum Jakobs nichts zu tun. Man sieht das<br />
schon an der Reaktion des Jakob am nächsten Morgen. Dem Jakob lief ein Schauer<br />
über den Rücken, ein Entsetzen vor dem Heiligen. Da ist etwas geschehen, womit er<br />
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nicht gerechnet hat. Gott, der Heilige Gott, tritt da in sein Leben, tritt ihm, dem<br />
Fliehenden in den Weg, öffnet ihm, dem Erzgauner, den Himmel.<br />
Gott lässt den Jakob eine Leiter sehen, genauer übersetzt: Eine Art Rampe vom<br />
Himmel auf die Erde. Und Gott zeigt damit dem Jakob: Da gibt es noch eine<br />
Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen mir und dir, zwischen dem<br />
heiligen, ewigen Gott und dem Menschen, der schuldbeladen vor dem Bruder flieht.<br />
Ausgerechnet dieser betrügerische Gauner schaut den offenen Himmel.<br />
Darüber kann Jakob am nächsten Morgen nur staunen: Fürwahr, der HERR ist an<br />
dieser Stätte, und ich habe es nicht gewusst! - Der Herr an dieser Stätte. Man muss<br />
sich das vorstellen: da flieht Jakob voll Angst, die Zukunft dunkel, der Weg ist<br />
schwer, eine Wüstenstrecke im Leben des jungen Mannes. Gott an dieser Stätte –<br />
gemeint ist damit nicht nur der lokale, sondern auch der biografische Ort, dieser<br />
Lebensmoment.<br />
Solche biografischen Orte kennen wir. Sie sind nicht nur auf dem Jakobsweg damals<br />
zu finden. Da gehen Menschen heute belastet durch ihre Tage und Jahre, erleben<br />
ihre Familien- oder Ehedramen, und nun wollen sie fliehen vor ihrer Vergangenheit.<br />
Und da sagt die Geschichte das, was Jakob erstaunt feststellen kann: der Herr ist an<br />
dieser Stelle, auch an dieser dunklen und friedlosen Stelle, auch wenn ein Mensch<br />
es gar nicht weiß und erst gar nicht merkt. Aber im Rückblick können manche<br />
staunend dem Jakob zustimmen: da in jener Krise oder in der Krankheit oder Trauer<br />
- da war ja Gott bei mir. Ich habe es nicht geahnt, aber Gott war an dieser Stelle,<br />
auch da, wo mein Leben ins Ungewisse führte.<br />
Ihnen, die gerade auf einem solchen Weg sind, sagt die Geschichte vom Traum des<br />
Jakob: Es steht in Gottes Macht, eine Rampe zu bauen. Er kann neu die Pforten des<br />
Himmels öffnen. Er kann seine Boten senden. Er kann es. Wir können den Himmel<br />
nicht öffnen und brauchen es auch nicht zu können. Hier ist Gott am Werk. Die Himmelsleiter<br />
geht sozusagen von oben nach unten, nicht umgekehrt. Wenn es nur ein<br />
Traum des Jakob wäre, dann würde Jakob sich selbst die Leiter emporsteigen<br />
sehen. Aber hier geht der Traum des Himmels von oben nach unten. Er geht<br />
erdwärts. Und nicht nur hier.<br />
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Gott hat ja bei Jakob nicht aufgehört, den Himmel zu öffnen. Er hat ihn noch weiter<br />
aufgemacht. O Heiland, reiß die Himmel auf – das haben die Hirten in der Weihnacht<br />
erlebt. Da war Bethel in Bethlehem. Jesus hat einmal selbst über sich gesagt: Ihr<br />
werdet den Himmel offen sehen.<br />
Selbst im Dunkel des Karfreitag, als Jesus am Kreuz rief: Es ist vollbracht, da wurde<br />
auf diesem Hügel Golgatha die Himmelsleiter des Kreuzes eingerammt, Himmelsleiter<br />
für die Welt. Und als Jesus am Ostermorgen auferstand, da öffnete sich der<br />
Himmel und das Licht eines neuen Lebens leuchtet hell. Und darum: wo immer ein<br />
Wort von Jesus in unser Leben kommt, wo immer wir Kraft von ihm erbitten, wo wir<br />
uns ihm anvertrauen und führen lassen, da ist die Pforte des Himmels über uns<br />
offen.<br />
Wo das zu erfahren ist? Ich habe es in Festgottesdiensten erlebt und an Sterbebetten,<br />
in Seelsorgegesprächen und im stillen Gebet, im Getragenwerden durch<br />
Ungewissheit und in biografisch wichtigen Entscheidungen – und oft in der Musik.<br />
Vor einer Woche war Bundespräsident Gauck hier in Stuttgart beim Stabwechsel der<br />
Leitung der Internationalen Bachakademie. Da berichtete er von einem Konzert mit<br />
Helmuth Rilling und der Gächinger Kantorei in Rostock – noch zu tiefen DDR-Zeiten.<br />
Die h-moll-Messe von Bach war zu hören, mehr noch: zu erleben. Damals, so der<br />
Bundespräsident, der zu der Zeit Pfarrer in Rostock war, damals kamen Tage nach<br />
dem Konzert Menschen auf ihn zu und sagten, sie hätten bei dieser h-Moll-Messe<br />
Engel in der Kirche gesehen. Alles nur Einbildung? Oder tiefere Bildung darin, dass<br />
Gott auch in der Musik den Himmel öffnen kann: Gott ist an dieser Stelle …<br />
Vorhin haben wir die Canti di Prigionia gehört, Gesänge der Gefangenschaft. Der<br />
Italiener Luigi Dallapiccola hat sie im Jahr 1941 komponiert, in dunklen Kriegszeiten,<br />
im Erschrecken über menschliche Schuld, ein Schrei wird darin laut, „dies irae“ klingt<br />
an, aber viel mehr noch wird in den leisen Tönen Hoffnung laut und Glaubensgewissheit:<br />
„Ich fürchte nichts, da ich auf DICH, o Gott, meine Hoffnung gesetzt habe, da<br />
DU meine Hoffnung bist“. Der Bogen zur Motette von Johann Sebastian Bach Komm,<br />
Jesu, komm liegt nahe.<br />
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Trauen wir es Gott zu, dass er auch in solchen Momenten uns den Himmel öffnet –<br />
über alles Zweifeln und Fragen hinaus und auch in Zeiten der Todesnähe, wie sie in<br />
der Bach-Motette anklingt?<br />
Am Morgen stellt Jakob einen Stein auf. Einen Erinnerungsstein. Damit will er zeigen:<br />
Das soll nicht vergessen sein: Gott kann den Himmel öffnen. Es ist gut, solche<br />
Erinnerungssteine zu haben. Das können Kirchengebäude sein oder andere Orte,<br />
das können auch Momente im Leben sein, die nachklingen und nachwirken beim<br />
Weitergehen.<br />
Jakob geht dann weiter.<br />
War alles doch nur ein Traum, den sich Jakob selbst träumte?, so werden manche<br />
mit moderner Skepsis fragen. Könnte sich dieses nächtliche Sehen nicht doch als<br />
mächtige religiöse Selbsttäuschung entpuppen?<br />
Sehen wir genau hin: Da geschieht noch etwas, bevor Jakob weiter geht. Gott hatte<br />
ihm im Traum ja zugesagt: Ich werde mit dir sein und dich behüten.<br />
Daran erinnert sich Jakob – und nun tut er etwas Interessantes. Er sagt nicht einfach<br />
ok, schön und gut. Sondern er nimmt Gott beim Wort. Er schlägt ihm fast eine Wette<br />
vor: Wenn, so sagt er, wenn Gott mit mir sein wird und mich behütet auf dem Wege,<br />
den ich reise, und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen und mich mit<br />
Frieden wieder heim zu meinem Vater bringt, so soll der HERR mein Gott sein.<br />
Darf man so glauben? Mit Gott, das zeigt die Bibel auch, mit Gott kann man ja nicht<br />
so einfach verhandeln. Aber Jakob wagt etwas Elementares: Er öffnet sich für Gott,<br />
gibt ihm eine Chance, er ist in gewisser Weise neugierig auf das, was Gott mit ihm<br />
weiter vorhat. Zu einer solchen Neugier macht die Geschichte Mut.<br />
Jakob macht dann in seinem Leben die Erfahrung, dass Gott mit ihm geht, dass er<br />
segnet, auch in Tiefen. Und dass er Versöhnung schenkt mit Esau. Einige Seiten<br />
später berichtet die Bibel, dass sich die Brüder im Arm liegen und versöhnen.<br />
So wird aus dem Erzgauner doch noch ein Erzvater. So wird aus seiner Flucht am<br />
Ende ein Anfang. So wird aus seiner Traum-Geschichte eine Mutmachgeschichte<br />
des Glaubens. Denn Gott ist an dieser Stätte. Amen<br />
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