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ZEIT FORUM der Wissenschaft – 21 - Die Zeit

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<strong>ZEIT</strong> <strong>FORUM</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> – <strong>21</strong>.03.2006<br />

„Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“<br />

Elmar Lüth<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Namen <strong>der</strong> <strong>ZEIT</strong>-Stiftung Ebelin<br />

und Gerd Bucerius möchte ich Sie alle heute Abend ganz herzlich begrüßen.<br />

Anfang des Jahres konnte man durch einen Blick in den englischen „Economist“<br />

lernen, dass von den drei wissenschaftlichen Revolutionären des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>ts nur noch einer am Leben sei, nämlich Charles Darwin. <strong>Die</strong><br />

an<strong>der</strong>en beiden, Karl Marx und Sigmund Freud, seien mausetot. Da Totgesagte<br />

bekanntlich länger leben, begehen wir in diesem Jahr zumindest Freuds<br />

150. Geburtstag und fragen uns, was von ihm bleibt.<br />

Für den Schriftsteller Vladimir Nabokov ist <strong>der</strong> Fall klar. „Ich habe meine<br />

ältesten Träume nach Aufschlüssen und Fingerzeigen durchwühlt“, schreibt er<br />

in seinen Erinnerungen, „und ich möchte gleich sagen, dass ich die vulgäre,<br />

schäbige, durch und durch mittelalterliche Welt Freuds mit ihrer spinnerten<br />

Suche nach sexuellen Symbolen und ihren verbitterten Embryos, die von ihrem<br />

natürlichen Unterschlupf aus das Liebesleben ihrer Eltern bespitzeln, ganz und<br />

gar ablehne.“<br />

Sie sehen, Freud ist ein historischer Plural, <strong>der</strong> seit seinen ersten Arbeiten<br />

heftig umkämpft wird. In den vergangenen Jahrzehnten galt Freud als ebenso<br />

intellektuell schick wie wissenschaftlich unerheblich. Der Wiener Nervenarzt,<br />

<strong>der</strong> auf die Deutungsbedürftigkeit menschlicher Natur aufmerksam machte, ist<br />

mithin historisch geworden. Dennoch ist er heute noch, glaubt man <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>nen <strong>Wissenschaft</strong>, alles an<strong>der</strong>e als mausetot.<br />

Freud ahnte, dass die Geheimnisse <strong>der</strong> Psyche in <strong>der</strong> Verschaltung des Hirns<br />

verschlüsselt sind. Er konnte dies allerdings auf dem Stand <strong>der</strong><br />

zeitgenössischen Neurologie nicht nachweisen. Heute könnte ein<br />

Nervenheilkundler wohl seine Arbeiten nahezu bruchlos an dem Punkt<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 1


fortsetzen, an dem er sie unterbrochen hat. <strong>Die</strong> grobe Struktur des Gehirns ist<br />

aufgeklärt, das menschliche Genom entziffert. Wichtige biochemische<br />

Stellschrauben sind bekannt. In <strong>der</strong> Hirnforschung gilt heute als ausgemacht,<br />

dass drei Annahmen Freuds zutreffend sind. Das Unbewusste hat mehr<br />

Einfluss auf das Bewusste als umgekehrt. Das Unbewusste entsteht zeitlich vor<br />

den Bewusstseinszuständen und das bewusste Ich hat wenig Einsicht in die<br />

Grundlagen seiner Wünsche und Handlungen.<br />

An<strong>der</strong>erseits wird die für Freud elementare Bedeutung des Sexuellen für die<br />

individuelle Entwicklungsgeschichte bis heute relativiert. In <strong>der</strong><br />

Geschlechterforschung gilt Freuds Vorstellung von Weiblichkeit längst als<br />

antiquiert. <strong>Die</strong> Literaturwissenschaft hält Freuds Kurzschluss zwischen Dichtung<br />

und leibhaftigem Dichter weitgehend für eine Auffassung, die den<br />

Kunstcharakter von Texten verfehlt. In therapeutischer Hinsicht nicht zuletzt hat<br />

die Psychoanalyse ihr Monopol auf Haltungsanspruch seit langem eingebüßt.<br />

Auch Freuds gepriesene Erkenntnis, dass in den ersten Lebensjahren die<br />

wichtigsten biologischen Fundamente gelegt werden, findet durch die Befunde<br />

von Entwicklungspsychologen, Genetikern und Hirnforschern ihre Bestätigung.<br />

Allerdings lässt sich daraus kein unausweichliches Schicksal ableiten. Nicht<br />

jede Frau, die einen abweisenden Vater hat, wird neurotisch. Und nicht je<strong>der</strong><br />

Mann, <strong>der</strong> seine Mutter einmal nackt sah, hat – wie manche Psychoanalytiker<br />

glauben machen – ein Leben lang daran zu knabbern.<br />

Wurden die Patienten bei Freud noch auf einen üppigen Überwurf aus<br />

Perserteppichen gebettet, so hat sich die Therapieform <strong>der</strong> Psychoanalyse seit<br />

Freuds <strong>Zeit</strong>en so stark verän<strong>der</strong>t, dass man die sprichwörtliche Couch wohl<br />

augenzwinkernd als ihre einzige Konstante bezeichnen könnte. Auf ihr landen<br />

heutzutage nur noch acht Prozent <strong>der</strong> gesetzlich versicherten Patienten, die<br />

sich zu einer Psychotherapie entschließen.<br />

Wie viel Freud in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Medizin steckt, welche Gültigkeit Freuds<br />

Psychoanalyse mit ihren Triebkräften Selbsteroberung, Selbstbeherrschung<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 2


und Selbstrechtfertigung heute noch besitzt, diese und an<strong>der</strong>e Fragen<br />

diskutieren heute Abend Andreas Sentker von <strong>der</strong> <strong>ZEIT</strong> und Ulrich Blumenthal<br />

vom Deutschlandfunk mit ausgewiesenen Experten.<br />

Für die <strong>ZEIT</strong>-Stiftung und den <strong>ZEIT</strong>-Verlag danke ich den Podiumsteilnehmern<br />

und Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihr Kommen. Ich wünsche uns allen<br />

einen angenehmen und erkenntnisreichen Abend. Herr Blumenthal, Herr<br />

Sentker, Sie haben das Wort.<br />

Mo<strong>der</strong>ation<br />

Meine Damen und Herren, feiern wir ein Geburtstagskind, indem wir es zu<br />

Grabe tragen, wie <strong>der</strong> britische „Economist“ schreibt? Doch welcher Freud ist<br />

da eigentlich gemeint? Der Neurologe, <strong>der</strong> Analytiker, <strong>der</strong> Arzt, <strong>der</strong><br />

Schriftsteller? <strong>Die</strong> mo<strong>der</strong>ne Hirnforschung scheint den Vordenker des<br />

Unbewussten gerade neu zu entdecken. In den Augen <strong>der</strong> Feuilletonisten war<br />

er ohnehin nie tot. Tot? Nicht tot? Wer hat Recht und wer ist in dieser Frage<br />

eigentlich <strong>der</strong> Schiedsrichter?<br />

Über die Bedeutung und das Wirken von Sigmund Freud im <strong>21</strong>. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

diskutieren hier auf dem Podium beim <strong>ZEIT</strong>-<strong>FORUM</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> in <strong>der</strong><br />

Berlin-Brandenburgischen Akademie <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>en folgende<br />

<strong>Wissenschaft</strong>ler: Frau Prof. Marianne Leuzinger-Bohleber, Psychoanalytikerin<br />

und Lehranalytikerin, Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am<br />

Main; Prof. Hans Markowitsch, Professor für physiologische Psychologie an <strong>der</strong><br />

Universität in Bielefeld; Prof. Peter Riedesser, Ärztlicher Leiter, Klinik und<br />

Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am<br />

Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf; Prof. Frank Rösler, Professor für<br />

Allgemeine und Biologische Psychologie an <strong>der</strong> Philipps-Universität Marburg,<br />

Mitglied <strong>der</strong> Berlin-Brandenburgischen Akademie <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>en und<br />

Mitverfasser des Manifests „Hirnforschung im <strong>21</strong>. Jahrhun<strong>der</strong>t“; Prof. Hans<br />

Förstl, Direktor <strong>der</strong> Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am<br />

Klinikum rechts <strong>der</strong> Isar <strong>der</strong> TU in München.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 3


Frau Prof. Leuzinger-Bohleber, was ist Freuds größte Leistung? Was ist Freuds<br />

größte Fehlleistung?<br />

Marianne Leuzinger-Bohleber<br />

Ich bin selber klinische Psychoanalytikerin und kenne mich am besten in<br />

diesem Bereich aus. Ich finde, er hat eine Methode ins Leben gerufen und<br />

geschaffen, die sich in den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren sehr ausdifferenziert hat,<br />

aber sich heute noch eignet, Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen<br />

– das sind die acht Prozent, die auf <strong>der</strong> Couch landen, und noch einige an<strong>der</strong>e<br />

mehr, die wir mit einer an<strong>der</strong>en Technik im Sitzen behandeln – immer noch<br />

sehr nachhaltig und gut zu behandeln. Das ist für mich die wichtigste Leistung.<br />

Aber das Faktum, dass wir heute noch so über ihn streiten, zeigt wahrscheinlich<br />

auch seine Größe. Wenn Sie mich als einzige Frau hier auf dem Podium nach<br />

den Fehlern fragen. Ich glaube, in Sachen Weiblichkeit war er natürlich schon<br />

auch Mann seiner <strong>Zeit</strong>. Da haben wir inzwischen auch in <strong>der</strong> internationalen<br />

Psychoanalyse über die Weiblichkeit sehr viel dazu gelernt und gelehrt.<br />

Hans Förstl<br />

<strong>Die</strong> größte Leistung war sicher seine Leistung als kulturhistorisches Phänomen.<br />

Bei uns in Bayern wurde Freud im katholischen Religionsunterricht <strong>der</strong><br />

Oberstufe gelehrt, weil wir die Religionslehre schon kannten. Er hat es bis<br />

dorthin geschafft und stellte für uns eine Ersatzreligion dar. Zumindest fanden<br />

es die Religionslehrer interessanter als ihr eigenes Fach. Aber ich sehe viele<br />

Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Disziplinen, zwischen <strong>der</strong> Theologie<br />

einerseits und <strong>der</strong> Psychoanalyse Sigmund Freuds.<br />

Inhalte <strong>der</strong> Psychoanalyse – und das halte ich für das eigentlich Tragische an<br />

Sigmund Freud – er verstellt uns die Entwicklung dieser Inhalte. Vieles von<br />

dem, was er erfolgreich zusammengeschrieben hatte, gab es schon vorher. Ich<br />

zweifle strikt die Leistung Freuds im Sinne eines Entdeckers irgendeines<br />

Phänomens, das vorher noch nicht bekannt gewesen sei, an. Ich zweifle auch<br />

daran, dass es in <strong>der</strong> klinischen Praxis hilft davon auszugehen, dass dem<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 4


Menschen ohne fremde Hilfe bestimmte Dinge unentdeckbar seien, dass es zur<br />

rechten Würdigung <strong>der</strong> Dinge, die unbewusst seien, <strong>der</strong> professionellen Hilfe<br />

eines Psychoanalytikers bedarf.<br />

Peter Riedesser<br />

Es kommt immer darauf an, vor welchem Hintergrund man die Leistung einer<br />

Persönlichkeit sieht. Vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Situation um die<br />

Jahrhun<strong>der</strong>twende 1900, als es eine biologistisch triviale Psychiatrie gab, als<br />

die innere Konfliktwelt von Menschen, vor allen Dingen von Kin<strong>der</strong>n, völlig<br />

unbekannt war, da hat Freud eine Theorie für die psychische Entwicklung von<br />

Kin<strong>der</strong>n und das psychische Funktionieren aufgebaut, wo er aus allen<br />

möglichen Gebieten beste Informationen zusammengetragen hat. Alles war<br />

irgendwie natürlich bekannt, aber er hat eine neue Gestalt <strong>der</strong> Sicht auf die<br />

menschliche Entwicklung geschaffen, auf die innere Welt von Kin<strong>der</strong>n und<br />

Erwachsenen. Es ist eine grandiose Leistung, dass er uns für die innere<br />

Konfliktwelt von Kin<strong>der</strong>n und Erwachsenen sensibilisiert hat vor dem<br />

Hintergrund einer damals bestehenden statischen Psychiatrie, wo Karl Jaspers,<br />

einer <strong>der</strong> großen Väter <strong>der</strong> traditionellen Psychiatrie, übrigens ein Feind <strong>der</strong><br />

Psychoanalyse, gesagt hat: Das war so trivial, dass es ihn selber fast geschämt<br />

hat. Da hat Freud eine nicht triviale Entwicklungstheorie, Konflikttheorie und<br />

Theorie <strong>der</strong> Heilung und Praxis <strong>der</strong> Therapie entwickelt. Das ist seine größte<br />

Leistung.<br />

<strong>Die</strong> größte Fehlleistung ist die Einführung des Konstrukts Todestrieb. Damit<br />

kann ich überhaupt nichts anfangen. Wenn man weiß, wie die kindliche<br />

Entwicklung von pro-sozialem Verhalten, von destruktivem Verhalten entsteht<br />

und wie dann auch die verschiedenen komplexen Interaktionen funktionieren im<br />

gesellschaftlichen und individuellen Rahmen, bis dann z.B. Kriege entstehen,<br />

dann weiß man, das kann man herleiten. Das können wir aus <strong>der</strong><br />

Verhaltensbiologie, <strong>der</strong> Psychoanalyse und <strong>der</strong> Sozialpsychologie, aus <strong>der</strong><br />

Ideologieforschung sehr gut herleiten. Dafür brauchen wir keinen Todestrieb.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 5


Mo<strong>der</strong>ation<br />

Herr Markowitsch, <strong>Die</strong>ter E. Zimmer hat einmal sehr zugespitzt formuliert: Wer<br />

so viel schreibe wie Freud, schreibe rein statistisch auch mal was Richtiges.<br />

Was lässt sich aus dem Freudschen Werk aus Sicht <strong>der</strong> Neurowissenschaften<br />

inzwischen bestätigen? Was können Sie sehen, wenn Sie Patienten in den<br />

Kernspintomographen schieben? Entdecken Sie den Penis-Neid?<br />

Hans J. Markowitsch<br />

Was wir bestätigen können ist die Bedeutung <strong>der</strong> frühkindlichen Entwicklung.<br />

Wir sehen, es ist sehr wichtig, was in Kindheit und früher Jugend geschieht.<br />

Das wirkt sich aufs Erwachsenenalter aus. Wir bestätigen ebenfalls die<br />

Bedeutung des Unbewussten und sagen jetzt auch, es wird im Gehirn<br />

wesentlich mehr unbewusst als bewusst verarbeitet. Dazu kommt noch die<br />

Wechselwirkung zwischen Emotion und Kognition, was in <strong>der</strong> Psychologie<br />

lange <strong>Zeit</strong> rein als Behaviorismus, Kognitivismus lief, die jetzt stärker integriert<br />

wird mit den Affektzuständen, die als wichtig erkannt werden. Mithilfe <strong>der</strong><br />

Kernspintomographie, können wir erkennen, was tatsächlich auf unbewusster<br />

Ebene abläuft und was an Interaktion zwischen Emotion und Kognition auf<br />

Hirnebene repräsentiert ist.<br />

Nachfrage Mo<strong>der</strong>ation Ich weiß von einem Ihrer Patienten, Sie selbst haben<br />

den Fall in einem Buch geschil<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> bei einem Brand einen<br />

Gedächtnisverlust erlitt, weil er schon einmal als Kind ein sehr schreckliches<br />

Erlebnis mit Feuer hatte. Würden Sie sagen, hier findet sich die Vokabel des<br />

Freudschen Verdrängens wie<strong>der</strong>?<br />

Man kann verschiedene Ausdrücke benutzen, aber es ist schon richtig, dass für<br />

den Patienten, <strong>der</strong> als Kind mit ansehen musste, wie jemand im Auto<br />

verbrannte, offenes Feuer etwas Lebensbedrohliches war. Als er dann als<br />

Erwachsener in seinem eigenen Haus einen Brand erlebte, hat ihn das<br />

offensichtlich so geschockt, dass er danach sein Gedächtnis teilweise verloren<br />

hat, das heißt, die letzten sechs Lebensjahre. Wir denken, da ist die Brücke<br />

gegeben zu dem, was Freud erkannt hat, dass die frühe Kindheit sich schon ins<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 6


Hirn einbrennt, dass die prägend wirkt und dass ähnliche Ereignisse, die später<br />

einsetzen, auf das Gehirn eine an<strong>der</strong>e Wirkung haben, als wenn in <strong>der</strong> frühen<br />

Kindheit nicht so ein prägendes Ereignis da gewesen wäre.<br />

Heute postulieren wir noch dazu: Es passiert auf <strong>der</strong> Hirnebene einiges, wenn<br />

die Person im Erwachsenenzustand <strong>der</strong>artige Situationen erlebt. Wir sagen,<br />

dass da Stresshormone freigesetzt werden, dass die Stresshormone bestimmte<br />

Bereiche im Gehirn blockieren, dass durch die Blockade dann <strong>der</strong><br />

Gedächtnisverlust erklärbar wird. Aber hinter all dem steht natürlich, dass sich<br />

die Umwelt tatsächlich aufs Gehirn auswirkt, was Freud im Grunde auch schon<br />

so formulierte. Das heißt, eine gesunde Umwelt in <strong>der</strong> Kindheit ist die beste<br />

Voraussetzung für ein gesundes Dasein im Erwachsenenzustand.<br />

Mo<strong>der</strong>ation<br />

Herr Rösler, Herr Markowitsch hat gerade die Vokabel einbrennen benutzt, als<br />

würde das richtig physisch in meinem Gehirn passieren bei bestimmten<br />

Erlebnissen. Stimmt das so?<br />

Frank Rösler<br />

Unser Gehirn ist unglaublich plastisch. Das haben wir in den letzten 15, 20<br />

Jahren in <strong>der</strong> Hirnforschung gelernt. Als ich studierte, hat man gelernt, das<br />

Nervensystem bildet sich heraus. Dann ist es fertig und dann gibt es noch so<br />

was wie eine Software, die da drauf läuft. Wir wissen inzwischen, dass sich<br />

funktionell und strukturell das Gehirn im Laufe des Lebens verän<strong>der</strong>t, natürlich<br />

in bestimmten Phasen ganz beson<strong>der</strong>s, aber auch noch im Erwachsenenalter.<br />

Wir gehen aus dieser Diskussion hier nicht mit dem gleichen Gehirn raus. Wir<br />

werden Gedächtnisspuren mit uns rausnehmen. <strong>Die</strong> laufen nicht nur als<br />

elektrische Erregung irgendwo weiter, son<strong>der</strong>n einige davon werden sich<br />

wahrscheinlich auch biochemisch einbrennen. Das ist unser Gedächtnis. Unser<br />

Gedächtnis ist letztlich unsere Persönlichkeit.<br />

Sie haben vorhin gefragt, was wir in unseren Untersuchungen heute sehen<br />

können. Freud war sicherlich sehr, sehr weitsichtig. Er hat einige interessante<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 7


Ideen geäußert. Nur glaube ich, dass vieles dann doch durch an<strong>der</strong>e Methoden<br />

und an<strong>der</strong>e experimentelle Herangehensweisen erst belegt worden ist. Wenn<br />

man etwa sagt, die frühkindliche Entwicklung ist entscheidend, Freud hat das<br />

aufgeschrieben, er hat Fallbeobachtungen gemacht. Aber er hat natürlich nicht<br />

das alles schon vorweg genommen, was uns etwa die mo<strong>der</strong>ne<br />

Entwicklungspsychologie – auch unter Einbeziehung von tierexperimentellen<br />

Befunden – alles gelehrt hat.<br />

Hans Förstl<br />

Ich frage mich immer: Was hat das mit Freud zu tun? Ich bin bei <strong>der</strong><br />

Anmo<strong>der</strong>ation erschrocken, wo wir schon gehört haben, dass jetzt die Thesen<br />

Freuds durch die Neurobiologie belegt, unterfüttert würden, nachdem es ihnen<br />

vorher ein wenig an Substanz mangelte.<br />

Nun, sie sind so groß, sie waren so leer. Und sie sind so groß, dass sie kaum<br />

falsifizierbar sind. Was an all dem, was sie formuliert haben, könnte denn falsch<br />

sein? Was von all dem wusste man denn im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t noch nicht? Worin<br />

besteht denn die Lebensleistung Freuds?<br />

Frank Rösler<br />

Er war zumindest Katalysator in dieser <strong>Zeit</strong>, wo es doch auch eine gewisse<br />

Prü<strong>der</strong>ie, sexuelle Verklemmtheit etc. gab, das sieht man natürlich auch in <strong>der</strong><br />

Literatur aus dieser <strong>Zeit</strong>. Das hat jemand aufgeschrieben, ausgesprochen. Ich<br />

denke, da liegt für mich eigentlich die größte Leistung von Freud, die<br />

kulturhistorische Bedeutung von ihm. Für die mo<strong>der</strong>ne Psychologie, für das,<br />

was ich heute als Experimentalpsychologe, als biologischer Psychologe mache,<br />

ist eigentlich wenig da. Man kann jetzt sagen, wir finden das Unbewusste o<strong>der</strong><br />

wir finden Einflüsse unbewusster Informationsverarbeitung, aber das ist nicht<br />

nur Freud gewesen. Das steht bei William James. Wir haben<br />

experimentalpsychologische Untersuchungen, die das viel, viel eindrucksvoller<br />

zeigen, als etwa eine psychoanalytische Falldarstellung von Sigmund Freud.<br />

Das muss man dann auch oft glauben, dass das wirklich so war. Ich kann das<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 8


mit Experimenten wirklich sehr gut nachweisen, dass bestimmte Informationen,<br />

die ich unterschwellig darbiete, nachher eine Handlungskonsequenz haben.<br />

Hans Förstl<br />

Wir sitzen hier alle im Leibniz-Saal. Es gab den <strong>Zeit</strong>genossen Descartes, <strong>der</strong><br />

sehr stolz war auf das Denken. Leibniz hat aber gesagt, es sind die kleinen<br />

Empfindungen, wenn Sie so wollen, das Unbewusste o<strong>der</strong> das wenig Bewusste<br />

– lange vor Freud. Aber diese Verknüpfung mit Freud und ihm als Lehrer <strong>der</strong><br />

Psychoanalyse, <strong>der</strong> ja <strong>der</strong> Trick gelungen ist, für sich wirklich einen Begriff zu<br />

reservieren. Einen größeren Begriff als Psychoanalyse gibt es nicht. Was <strong>der</strong><br />

Mensch ein Leben lang macht, ist Psychoanalyse. Wir denken ständig darüber<br />

nach, was in unseren eigenen Köpfen und in den Köpfen an<strong>der</strong>er Leute<br />

vorgeht. Der Clou da draufzukommen, diesen Begriff reserviere ich für meine<br />

Kirche, ist natürlich eine geniale Leistung.<br />

Mo<strong>der</strong>ation<br />

Aber Herr Markowitsch, wenn es diese kräftigen Bil<strong>der</strong> von Freud gab –<br />

Penisneid, Ödipuskomplex, Traumdeutung – finden Sie denn irgendwo mit den<br />

neuen, mit den technischen Methoden, irgendeins dieser kräftigen Bil<strong>der</strong> auch<br />

in den Farben Ihrer Computertomographenaufnahmen? O<strong>der</strong> verblasst alles?<br />

Hans J. Markowitsch<br />

Ich glaube, das wird keiner in <strong>der</strong> Form finden können. Der ganze Bereich, <strong>der</strong><br />

mit Sexualität zu tun hat, <strong>der</strong> Elektrakomplex, Ödipuskomplex u.ä., das ist<br />

wirklich ureigenste, freudianische Theorie. Da würde man auch sagen, da sind<br />

eher die Fehlleistungen anzusiedeln bzw. da war Freud recht starrköpfig und<br />

eindimensional dogmatisch. Das wird auch in <strong>der</strong> Form von den<br />

Neurowissenschaften gar nicht untersucht. Da kommen gar nicht <strong>der</strong>artige<br />

Fragen auf, es könnte überhaupt irgendetwas dahinter stehen, was man über<br />

Bildgebung sichtbar machen kann.<br />

Frank Rösler<br />

Ich denke, man muss bei <strong>der</strong> Bildgebung außerordentlich vorsichtig sein, was<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 9


man da eigentlich sehen kann. Was wir dort de facto sehen, ist nichts an<strong>der</strong>es<br />

als eine Durchblutungsän<strong>der</strong>ung. Das ist alles. Was wir damit machen, ist eine<br />

Interpretation in Abhängigkeit von <strong>der</strong> Experimentalanordnung. Ich kann eine<br />

Experimentalanordnung so bauen, dass ich emotionale Reize unterschwellig<br />

darbiete und sehe dann, dass bestimmte Bereiche im Gehirn aktiv sind. Ob dort<br />

wirklich eine Repräsentation ist, was für eine Repräsentation wirklich da ist,<br />

weiß ich alles mit dieser Methode nicht. Das muss man sich klarmachen, da<br />

wird sie auch weit überschätzt.<br />

Marianne Leuzinger-Bohleber<br />

Sie sprechen mir aus dem Herzen. <strong>Die</strong>se Diskussion ist ein bisschen schief.<br />

Das ist eine Diskussion, die jetzt mehr <strong>der</strong> Polemik dient, Herr Förstl. Wenn<br />

Freud von Penisneid o<strong>der</strong> auch Todestrieb redet, sind das Konstrukte, die er im<br />

Bereich <strong>der</strong> Theorie gebildet hat, um gewisse Phänomene zu erklären. Das<br />

macht jede <strong>Wissenschaft</strong>. Er hat eine sehr provokative Sprache gewählt. Das<br />

ist kulturhistorisch vielleicht gar nicht so schlecht gewesen. Damit hat er auch<br />

etwas bewegt.<br />

Ob wir heute mit diesen Begriffen noch arbeiten können, ist eine ganz an<strong>der</strong>e<br />

Frage. Das ist eine Frage des Erklärungsgehaltes, die diese Konzepte haben,<br />

um heute mit Patienten zu arbeiten. Da findet natürlich eine dauernde<br />

wissenschaftliche Diskussion in unserer Zunft statt. Das ist das eine Argument.<br />

Das an<strong>der</strong>e Argument: Warum haben Sie etwas dagegen, dass Freud ein<br />

Konzept des Unbewussten entwickelt, was es unbestritten in <strong>der</strong> romantischen<br />

Philosophie und <strong>der</strong> Literatur natürlich vorher gab? Das ist doch immer so. Aber<br />

es ist eine wissenschaftliche Leistung, dieses Konzept aufzugreifen, neu zu<br />

füllen und zu einem Erklärungsgehalt bezüglich klinischer Phänomene zu<br />

machen. Ich finde, das hat er in exzellenter Weise gemacht. Wir haben das<br />

natürlich weiterentwickelt. Aber das Konzept des dynamisch Unbewussten ist<br />

völlig was an<strong>der</strong>es als das deskriptive Unbewusste, etwas an<strong>der</strong>es als das<br />

Unbewusste, was man im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t in <strong>der</strong> Romantik verstanden hat. Er<br />

hat diese Linien natürlich aufgenommen, aber er hat sie neu integriert. Das<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 10


machen immer alle <strong>Wissenschaft</strong>ler. Sie fangen nicht aus luftleerem Raum an.<br />

Einsteins Relativitätstheorie hatte natürlich auch Vorläufer und er hat den Wurf<br />

gemacht. Was ärgert Sie denn so?<br />

Hans Förstl<br />

Wissen Sie, was mich verärgert? Da kommt jemand daher und behauptet, ich<br />

weiß mehr über dich als du selbst und ich weiß, wie ich dein Geheimnis lüfte.<br />

Peter Riedesser<br />

Ich würde aus dem Glashaus <strong>der</strong> Psychiatrie nicht mit Steinen auf die<br />

Psychoanalyse werfen.<br />

Einwurf Hans Förstl<br />

Psychiatrie ist eine <strong>Wissenschaft</strong>.<br />

Denn die Psychiatrie kann nicht nur sagen, es ist eine <strong>Wissenschaft</strong>, son<strong>der</strong>n<br />

die Psychiatrie setzt sich auch pluralistisch zusammen aus hochinteressanten<br />

Aspekten und aus großem Unsinn. Insofern sollten wir mit großer<br />

Bescheidenheit noch mal über die großen Geister unserer Fächer sprechen.<br />

Dazu gehört Freud insofern auch, als er ja in <strong>der</strong> Traumdeutung, wo er noch<br />

mal seine Entwicklungspsychologie darstellt, einen neuen Raum zur<br />

Darstellung <strong>der</strong> familiären Welt aus <strong>der</strong> Perspektive des Kindes eröffnet.<br />

Natürlich, wenn ein Kind mit vier, fünf Jahren sieht, es hat eine Mutter und<br />

einen Vater, gibt es verschiedene Varianten von Koalitionen. Es ist eine<br />

Dreiergruppe. Dann kann entwe<strong>der</strong> das Kind, <strong>der</strong> Junge mit <strong>der</strong> Mutter, mal<br />

eine Koalition mit dem geliebten Vater bilden o<strong>der</strong> mal mit dem Vater gegen die<br />

Mutter. Es sind alles triadische Systeme, die bis zu den späteren Ehekrisen mit<br />

einem Dritten vielleicht weitergehen und schon ganz früh vor dieser <strong>Zeit</strong> in den<br />

ersten Jahren im neuen Konzept <strong>der</strong> Triangulierung zu beobachten sind. Was<br />

Freud damals schon zur Geschwisterrivalität beschrieben hat, ist jetzt noch<br />

aktuell. Das können Sie jetzt noch nachlesen, wo er beschrieben hat, wie sich<br />

das Positive und Negative zwischen den Geschwistern entfaltet.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 11


Natürlich hat Freud die Sprache und Metaphern seiner <strong>Zeit</strong> benutzt, aber das<br />

sich Hineinversetzen in die innere Welt diente dazu, nicht um denen was<br />

einzureden, son<strong>der</strong>n um etwas zu verstehen. Es ist doch nicht so, dass zu uns<br />

Patienten kommen und wir sagen, wir wissen, was mit euch los ist, im<br />

Gegenteil. Patienten sagen, wir wissen nicht, was mit uns los ist und ich möchte<br />

gerne verstehen o<strong>der</strong> ich möchte gerne meine Symptome losbekommen. Wir<br />

bieten Verständnishilfen an, in aller Bescheidenheit. Das gilt nur, wenn es <strong>der</strong><br />

Patient akzeptiert.<br />

Aber die Psychoanalyse war doch immer eine behutsame Form des Hörens,<br />

des Verstehens und des Zusammenfassen von Verständnis, welches dann <strong>der</strong><br />

Patient entwe<strong>der</strong> akzeptiert o<strong>der</strong> nicht.<br />

Mo<strong>der</strong>ation<br />

Herr Förstl, Sie sind jetzt von rechts und links eingekreist.<br />

Hans Förstl<br />

Ich fühle mich ganz wohl in dieser Position. Denn Sie sprechen den<br />

wesentlichen Unterschied an. Der Patient <strong>der</strong> Psychoanalyse sucht sich seinen<br />

Therapeuten selbst, wenn er es sich leisten kann.<br />

Einwurf Leuzinger-Bohleber – na, na, na!<br />

Und <strong>der</strong> Patient, <strong>der</strong> in die Psychiatrie kommt, ist oft in großer Not. Er wird<br />

gebracht und ihm muss geholfen werden, ob er das selbst wünscht o<strong>der</strong> nicht,<br />

weil er so krank ist. Aber in <strong>der</strong> Psychoanalyse besteht bis heute eine Selektion<br />

zwischen den Psychotherapeuten und ihren Patienten. Es ist eine kleine<br />

Gruppe, die davon profitiert. Einigen davon geschieht es heute noch, dass<br />

ihnen nach Monaten, nach Jahren <strong>der</strong> Therapie gesagt wird, Sie sind<br />

therapieunfähig.<br />

Peter Riedesser<br />

Das sind Zerrbil<strong>der</strong>. Wenn wir uns klinische Beispiele anschauen, haben wir<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 12


natürlich mit sehr schwer kranken Patienten zu tun. Ich als Kin<strong>der</strong>- und<br />

Jugendpsychiater habe mit schwerstkranken Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen zu tun,<br />

die gebracht werden. Wenn ich versuche zu verstehen, was ist in diesem Kind,<br />

in dieser Familie los, was läuft da bewusst o<strong>der</strong> nicht bewusst ab, in welche<br />

Tragik sind die verkettet und verklammert – auf <strong>der</strong> Freudschen Überlegung, es<br />

gibt Unbewusstes in den Beziehungen –, dann habe ich den Eindruck, ich<br />

bringe diesen Familien und diesen Kin<strong>der</strong>n ein enormes Hilfsangebot des<br />

Verständnisses. Oft reicht es natürlich nicht. Oft kommen wir mit <strong>der</strong><br />

Möglichkeit, etwas zu verstehen zu spät. Manche wollen nichts mehr verstehen.<br />

<strong>Die</strong> nehmen lieber Drogen o<strong>der</strong> Alkohol o<strong>der</strong> werden delinquent, als dass sie<br />

sich die psychische Arbeit machen, mit uns zu verstehen, was ihnen denn so<br />

viel inneren Schmerz, Unruhe o<strong>der</strong> Symptome macht. Natürlich, viele Patienten<br />

können wir nicht mehr erreichen. Aber das teilen wir mit <strong>der</strong> gesamten<br />

Psychiatrie.<br />

Marianne Leuzinger-Bohleber<br />

Darf ich noch eine Bemerkung dazu machen, damit hier nicht Vorurteile<br />

ausgebreitet werden. Entschuldigung, Herr Kollege. Wir haben eine<br />

repräsentative Studie gemacht von einer sehr großen Population ehemaliger<br />

Patienten, die in psychoanalytischen Langzeittherapien waren. Zu unserem<br />

Erstaunen waren da 9,2 % Psychotiker, die in ambulanten Praxen sind in sehr<br />

regem Austausch mit psychiatrischen Kliniken – eine relativ große Gruppe. Das<br />

war die größte Gruppe, über 50 % schwerer Persönlichkeitsstörungen, vor<br />

allem in Kombination mit schweren depressiven Erkrankungen. Das sind keine<br />

Luxuspatienten.<br />

Dass wir in Deutschland heute noch die Möglichkeit haben, dass auch<br />

ambulante Psychotherapie bezahlt wird, und zwar nicht nur von<br />

Psychoanalytikern, finde ich ein großes Privileg. Aber das sind keine<br />

Luxuspatienten.<br />

Frank Rösler<br />

Sie haben angesprochen, dass das Verstehen eine wichtige Rolle spielt. Man<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 13


könnte natürlich auch ein an<strong>der</strong>es Modell haben. Freud hat selber davon<br />

gesprochen, dass die frühkindliche Entwicklung eine große Rolle spielt. <strong>Die</strong><br />

Entwicklungspsychologie hat es auch belegt. Als Experimentalpsychologe, als<br />

Lernpsychologe würde ich ein ganz an<strong>der</strong>es Modell haben. Ich würde sagen,<br />

das ist gelernt. Wir werden konditioniert. Wir haben operante Konditionierung,<br />

klassische Konditionierung. Wir haben natürlich auch kognitive Konditionierung,<br />

wenn man so will. Ich denke, man kann Patienten vielleicht doch nur sehr<br />

begrenzt helfen – ich bin kein klinischer Psychologe, muss ich dazu sagen –,<br />

wenn man sagt, ich will ihn nur verstehen. Ich muss meiner Ansicht nach<br />

trainieren. Das macht die Verhaltenstherapie. Warum ist eigentlich die<br />

Verhaltenstherapie offensichtlich weltweit inzwischen erfolgreicher geworden?<br />

Hans J. Markowitsch<br />

<strong>Die</strong> Frage will ich jetzt nicht beantworten, obwohl ich auch eine These dazu<br />

hätte, aber lassen Sie mich noch mal eine Lanze für Freud aus einer an<strong>der</strong>en<br />

Richtung brechen: Bei Patienten, die plötzlich ihr Gedächtnis verlieren, sagt<br />

man normalerweise, man verliert sein Gedächtnis, seine Erinnerung, wenn man<br />

eine Hirnschädigung hat. <strong>Die</strong> haben aber keine Hirnschädigung, son<strong>der</strong>n<br />

frühkindlich Probleme gehabt. Ich denke, da hat Freud zumindest von seinen<br />

Theorien her unsere Hypothesen mit formuliert und geschärft: Was ist bei den<br />

Patienten an<strong>der</strong>s? Freud hat z.B. von Verdrängung, von Repression<br />

gesprochen, was man im Grunde auch nicht bewusst beeinflusst, nicht bewusst<br />

kontrollieren kann, wo wir aber als Ergebnis sehen, es ist keine Erinnerung o<strong>der</strong><br />

keine bewusstmachbare Erinnerung mehr da. In <strong>der</strong> Richtung, denke ich, hat<br />

Freud uns geholfen Patienten zu verstehen, die wir gegenwärtig haben und wo<br />

wir vor einem Rätsel stehen. Warum kann man denen ihr Gedächtnis nicht<br />

zurückgeben, wo doch auf Hirnebene im Grunde keine Schädigung da ist.<br />

Einwurf Frank Rösler Das verstehe ich jetzt nicht. Warum soll da keine<br />

Schädigung auf Hirnebene da sein? Wenn da ein Transmitterdefizit ist, ein<br />

Cortison-Überangebot, das ist doch auch ein Defizit im Gehirn. Das ist doch<br />

nichts an<strong>der</strong>es.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 14


Du hast sicher Recht. Das ist etwas, was wir mit <strong>der</strong> Bildgebung finden. Es<br />

findet eine Verän<strong>der</strong>ung statt, aber nicht eine Verän<strong>der</strong>ung im herkömmlichen<br />

Sinn in Form eines Schlaganfalls o<strong>der</strong> einer offenen Schädelverletzung,<br />

son<strong>der</strong>n etwas, was umweltinduziert ist und wo sich umweltinduziert, das hat<br />

Freud auch betont, das Hirn än<strong>der</strong>n muss. Er sagte, irgendwann werden wir für<br />

alles eine somatische Basis finden. Da sind wir jetzt gerade dran, die zu finden.<br />

Dennoch ist es ja eine eigenständige Art von Patienten, die im Grunde dem<br />

Freudschen Modell, dass sich frühkindliche Fehlentwicklungen im späteren<br />

Leben auswirken können und in einer vorhersagbaren Weise auswirken,<br />

nämlich dass es zu Problemen selektiv in <strong>der</strong> Autobiographie kommt und nicht<br />

was Weltwissen, Faktenwissen angeht.... Ich denke, da hat er unsere<br />

Modellbildung schon beeinflusst und schärfen können.<br />

Mo<strong>der</strong>ation<br />

Was unser menschliches Gehirn beeinflusst, scheint sehr komplex zu sein –<br />

beginnend von <strong>der</strong> Ernährungssituation <strong>der</strong> Mutter während <strong>der</strong><br />

Schwangerschaft bis hin zu traumatischen Ereignissen, ich sehe ein Feuer als<br />

kleines Kind. Entsprechend komplex scheint aber auch das zu sein, was da<br />

therapeutisch angeboten wird, wenn es mir nicht mehr gut geht. Wo ist<br />

eigentlich <strong>der</strong> Dschungelführer Psychotherapie?<br />

Herr Rösler, Sie haben angedeutet, die Verhaltenstherapie sei sehr erfolgreich.<br />

Herr Riedesser und Frau Leuzinger-Bohleber haben mit dem Kopf gewiegt und<br />

werden jetzt wahrscheinlich auch gleich ein Plädoyer dafür halten können,<br />

warum die klassische Psychoanalyse bei einigen Ansätzen sehr erfolgreich sein<br />

kann.<br />

Gibt es nicht nach wie vor vielleicht einen eitlen Kampf <strong>der</strong> Schulen, <strong>der</strong> dem<br />

Patienten, dem Bedürftigen ein bisschen den Blick darauf verstellt, wer ihm<br />

eigentlich helfen könnte – und sei es die klassische Couch?<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 15


Peter Riedesser<br />

Ja, das ist ein großes Problem, dass wir einen Pluralismus von Ansätzen<br />

haben. Man kann das negativ sehen. Man kann es positiv sehen. Es gibt<br />

sozusagen keine Metaebene, die momentan in Deutschland zuschreibt, wer zu<br />

welchem Therapeuten in Therapie gehen soll. Das geht ungeordnet und oft<br />

durch Mund-zu-Mund-Propaganda, o<strong>der</strong> durch Zufälle kommt man in die<br />

therapeutische Richtung. Aber es gibt natürlich schon einen Unterschied von<br />

Patienten, die kommen, auch Jugendliche übrigens, die sagen, ich möchte die<br />

Muster verstehen, warum ich mich so verhalte und warum ich dann plötzlich<br />

diesen bulimischen Anfall bekomme, genau in <strong>der</strong> Beziehungskiste, die ich mit<br />

meinem Freund in <strong>der</strong> Familie erlebe. <strong>Die</strong> wollen das verstehen. <strong>Die</strong> wollen<br />

keine Medikamente und es auch nicht primär abtrainiert bekommen, son<strong>der</strong>n<br />

sie wollen es verstehen, um die Muster aufzulösen, um alternative Fühl-, Denkund<br />

Verhaltensmöglichkeiten zu schaffen. <strong>Die</strong> suchen dann vielleicht doch eher<br />

die tiefenpsychologisch, psychoanalytisch, psychodynamisch orientierten<br />

Therapeuten.<br />

An<strong>der</strong>e suchen an<strong>der</strong>e Therapieformen, die dann auch nützen können. Es ist –<br />

glaube ich – gar nicht mehr gefragt, die Verhaltenstherapie, die Psychoanalyse,<br />

die Psychopharmakologie soll alles behandeln. Wenn in meiner Klinik eine<br />

Patientin eine sehr schwere Anorexie hat, dann werde ich mit <strong>der</strong> nicht<br />

tiefenpsychologisch orientierte Gespräche führen, wenn sie einen solchen<br />

Gewichtsverlust erlitten hat, dass sie erst mal mit verhaltenstherapeutischen<br />

Methoden aufgepäppelt werden muss. Wir nennen das ja jetzt multimodal, dass<br />

man für verschiedene Störungen verschiedene Therapieformen primär<br />

empfiehlt. Jemandem mit einer psychotischen Erkrankung geben wir in unserer<br />

Klinik natürlich Medikamente. Wir sind sehr an einer optimalen<br />

Psychopharmakologie interessiert.<br />

Das schließt aber nicht aus, son<strong>der</strong>n ermöglicht erst mal, dass man auch mit<br />

psychotischen, also schizophrenen Jugendlichen, in die innere Welt hineingeht.<br />

Ich erinnere mich an einen Patienten, den ich seit zwölf Jahren wöchentlich<br />

ungefähr eine Stunde betreue. Der hat eine chronisch psychotische Erkrankung<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 16


gehabt. Er bekommt natürlich Medikamente. Das ist die Basis für die ganzen<br />

Gespräche. Und ich rede mit ihm über sein inneres Erleben und versuche seine<br />

Bewältigungsmöglichkeiten für diese Situation mit ihm zu stärken. Es schließt<br />

sich also überhaupt nicht aus, son<strong>der</strong>n das Optimale wäre eine gute Synthese.<br />

Vielleicht stehen wir in zehn, 20, 30, 40 Jahren mit neuen theoretischen<br />

Konstrukten viel näher beieinan<strong>der</strong> als es momentan zu sein scheint.<br />

Mo<strong>der</strong>ation<br />

Besteht nicht die Gefahr, dass demnächst ganz an<strong>der</strong>e entscheiden, wer das<br />

Rennen macht? Wir führen eine Diskussion, die Finanzierung des<br />

Gesundheitswesens. Herr Riedesser, Sie sprechen von zwölf Jahren, in denen<br />

Sie einen Patienten relativ regelmäßig sehen. Besteht nicht die Gefahr, dass<br />

die Krankenkassen demnächst entscheiden werden, wir gucken ganz genau,<br />

wer wie viel Stunden braucht, um den Patienten geheilt zu entlassen?<br />

Marianne Leuzinger-Bohleber<br />

Ich glaube, psychodynamisch, psychoanalytisch wird immer mit <strong>der</strong> großen<br />

Psychoanalyse gleichgesetzt. In unserer repräsentativen Studie hat sich<br />

gezeigt, dass zahlenmäßig weitaus mehr Patienten von nie<strong>der</strong>gelassenen<br />

Analytikern kurztherapeutisch zur Krisenintervention nie<strong>der</strong>frequent behandelt<br />

werden. <strong>Die</strong> leisten also auch einen großen Beitrag zur Versorgung <strong>der</strong><br />

Bevölkerung.<br />

Ich glaube, was Sie ansprechen, ist wirklich schwierig, dass sich oft eine<br />

politische Ebene mit <strong>der</strong> wissenschaftlichen vermischt. Ich bin selber eine große<br />

Vertreterin <strong>der</strong> differenziellen Indikation, wie sie Herr Riedesser gerade<br />

beschrieben hat. Es gibt unterschiedliche Menschen. <strong>Die</strong> können mit einem<br />

unterschiedlichen Modell ihre Probleme unterschiedlich gut bearbeiten. So weit<br />

waren wir mal in wissenschaftlichen Diskursen in den 1980er Jahren. Dann kam<br />

die Verknappung <strong>der</strong> Mittel im Gesundheitswesen. Das führt dazu, dass sich oft<br />

ein berufspolitischer Machtkampf entwickelt, <strong>der</strong> aber eigentlich mit<br />

wissenschaftlichen Erkenntnissen nichts zu tun hat. Da wünsche ich mir als<br />

Forscherin, aber auch als Praktikerin, dass wir das wie<strong>der</strong> besser trennen und<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 17


dann überlegen, für welche Patienten sich welche Methode am ehesten<br />

anbietet.<br />

Hans J. Markowitsch<br />

Es gibt ja die These, im Grunde sind alle Therapien gleichwertig, nur die<br />

Psychoanalyse ist teurer als die an<strong>der</strong>en. Ich glaube, dabei ist zu beachten,<br />

dass ganz wesentlich die Therapeutin o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Therapeut eine Rolle spielt. Das<br />

haben viele Studien inzwischen gefunden, dass das Verhältnis zwischen<br />

Patient und Therapeuten den wesentlichen Therapieerfolg ausmacht und<br />

weniger die Technik, die angewendet wird.<br />

Frank Rösler<br />

Sie haben nach dem Führer durch den Dschungel gefragt. Ich meine, man<br />

muss sich fragen, nach welchen Kriterien man eigentlich vorgeht.<br />

Psychotherapie ist letztlich medizinisches Handeln. Jedes Medikament muss<br />

hinsichtlich seiner Wirksamkeit und natürlich auch hinsichtlich seiner<br />

differenziellen diagnostischen Anwendbarkeit überprüft werden. Ich würde also<br />

nicht sagen, dass in jedem Fall eine standardisierte Verhaltenstherapie das<br />

Nonplusultra ist. Es gibt sicherlich Unterschiede. Auch, was Herr Markowitsch<br />

gerade sagte, dass das Therapeutenverhalten wahrscheinlich eine ganz<br />

wesentliche Variable ist, ist vollkommen richtig.<br />

Aber ich denke, jede dieser psychotherapeutischen Handlungen muss sich <strong>der</strong><br />

Erfolgskontrolle stellen. Das haben an<strong>der</strong>e Therapien früher und intensiver<br />

getan als die Psychoanalyse. Auch die Nachweise sind, zumindest nach den<br />

Kriterien, die wir heute als empirische <strong>Wissenschaft</strong>ler akzeptieren, in diesen<br />

an<strong>der</strong>en therapeutischen Formaten sicherlich besser belegt.<br />

Hans Förstl<br />

<strong>Die</strong> Psychoanalyse gibt sich jetzt nach hun<strong>der</strong>t Jahren auch Mühe. Und die<br />

Methode <strong>der</strong> Psychoanalyse war narrativ. Der Psychotherapeut hat also mit<br />

seinem Patienten dagesessen und hat was Gutes getan – jetzt wechsle ich mal<br />

die Seiten. Ich bin mir über eins im klaren: Wenn jemand Psychoanalytiker wird,<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 18


ist er selbst enorm leidensfähig und er ist enorm willig, seinem Patienten zu<br />

helfen. Natürlich wird er häufig ein sehr guter Therapeut, Psychologe o<strong>der</strong> Arzt<br />

sein und <strong>der</strong> Patient profitiert davon. Ich bezweifle nicht, dass das in vielen<br />

Fällen <strong>der</strong> Fall ist. Warum? Weil am Gedächtnis gearbeitet wird und weil <strong>der</strong><br />

Therapeut für den Patienten <strong>Zeit</strong> investiert. Mein Seitenwechsel besteht jetzt<br />

darin, dass ich sage, so schön die wissenschaftlichen Belege für die<br />

Wirksamkeit <strong>der</strong> Verhaltenstherapie sind, sie existieren tatsächlich für<br />

bestimmte Probleme, natürlich. Da sollte man verhaltenstherapeutisch<br />

vorgehen.<br />

Aber <strong>der</strong> Patient fühlt sich vielfach bei einer Verhaltenstherapie, die nicht sehr<br />

stark symptomorientiert ist, son<strong>der</strong>n doch mehr Probleme bewältigen soll, nicht<br />

ernst genommen. Das leisten die Psychoanalytiker garantiert, dass die dem<br />

Patienten <strong>Zeit</strong> widmen und dass sie eine symbolische Beziehung zum Patienten<br />

therapeutisch aufgreifen. Das ist eine wichtige Leistung. Aber wir sprechen ja<br />

über Freud. Ich frage mich, wie gute Therapeuten wären Sie, wenn Sie sich<br />

nicht dem Lehrgebäude Freuds unterwerfen würden und wenn Sie in Ihrem<br />

Zugang zu den Patienten noch flexibler wären.<br />

Nachfrage Mo<strong>der</strong>ation Herr Förstl, würden Sie denn Ihre Meinung o<strong>der</strong> Ihre<br />

Ablehnung än<strong>der</strong>n, wenn man therapeutische Erfolge sichtbar machen könnte,<br />

wenn also die Freudschen Therapien im Tomographen o<strong>der</strong> wo auch immer<br />

sichtbar werden würden? Wäre das ein Beleg?<br />

Ich habe Zweifel dran, dass man Freud beweisen kann, weil seine Konzepte<br />

viel zu global sind, um empirisch überprüft zu werden. Aber man kann schauen,<br />

ob Patienten bei einem Therapeuten gesund werden. Das geschieht jetzt in<br />

großen Studien und das ist wichtig.<br />

Wir machen keine Big Science in <strong>der</strong> Diagnostik und Therapie. Es ist sehr<br />

pragmatisch. Da gilt immer das Diktum, wer heilt, hat Recht. Wenn eine<br />

Therapie validiert wird, wenn bewiesen wird, dass sie hilft, dann wählen wir die<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 19


natürlich. Und keiner sollte sich einer – verzeihen Sie, ich will Sie noch mal<br />

provozieren – Religion verpflichtet fühlen.<br />

Marianne Leuzinger-Bohleber<br />

Ich bin nicht religiös. Ich habe eine analytische Ausbildung gemacht, weil ich<br />

aus einem religiösen Background komme und habe es als große Befreiung<br />

erlebt.<br />

Einwurf Förstl<br />

Als ein Ersatz.<br />

Nein, nein. Ich mache <strong>Wissenschaft</strong>, seit ich groß bin. Das ist auf unserem<br />

Gebiet schwierig, ist methodisch anspruchsvoll. Mich ärgert einfach dieser<br />

Mythos. <strong>Die</strong> ersten empirischen Studien wurden von Analytikern gemacht,<br />

nämlich von Alexan<strong>der</strong> 1923. <strong>Die</strong> ersten Versuche <strong>der</strong> Erfolgskontrolle ...<br />

Nachfrage Mo<strong>der</strong>ation<br />

Welche Kriterien hat man da herangezogen?<br />

Ja, das waren 1923 noch an<strong>der</strong>e Kriterien als jetzt. Wir stellen uns im Moment<br />

auch zähneknirschend diesen großen randomisierten Studien, weil wir denken,<br />

wir müssen. Aber wir werden natürlich auch das Methodendiktum genau<br />

angucken. Es ist nicht so einfach, den Erfolg zu definieren. Wenn Sie natürlich<br />

Symptomreduktion sagen, klar, wenn die Kassen zahlen, wollen wir das auch.<br />

Das Kriterium <strong>der</strong> Nachhaltigkeit, die ganzen Studien zeigen, dass die<br />

Verhaltenstherapien und die psychoanalytischen Kurztherapien ungefähr zu<br />

gleichem Erfolg führen. Aber bei Langzeitbehandlungen muss man lange<br />

Katamnesen machen, da muss man zum Teil methodisch an<strong>der</strong>s vorgehen.<br />

Das ist eine große Herausfor<strong>der</strong>ung für alle seriösen <strong>Wissenschaft</strong>ler, auch für<br />

die Verhaltenstherapeuten.<br />

Mo<strong>der</strong>ation<br />

Herr Riedesser, wie misst man erfolgreicher Therapien? Schließlich kann die<br />

Psychoanalyse nicht hingehen und sagen, wir machen jetzt einen<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 20


Doppelblindversuch – <strong>der</strong> Therapeut weiß nicht, ob er therapiert und <strong>der</strong> Patient<br />

weiß nicht, ob er therapiert wird.<br />

Peter Riedesser<br />

Das ist ein großes Problem. Wir haben eine Komplexitätsexplosion, wenn wir<br />

Langzeittherapien machen und – jetzt mal polemisch den<br />

Verhaltenstherapeuten gesagt – wenn es nicht nur um die Reduktion einer<br />

Spinnen- o<strong>der</strong> Schlangenphobie ginge...<br />

Einwurf Hans Förstl<br />

Aber das ist doch albern.<br />

Ich will ja nur sagen, wenn es um hochkomplexe Biographien,<br />

Beziehungskonstellationen geht. Das ist die Krux des Ganzen. Wie kann man<br />

den einen Fall mit dem an<strong>der</strong>en vergleichen? Denn eines ist mir nach 35<br />

Berufsjahren klar. Es gibt praktisch keine Routine in den Fällen. Ich habe jedes<br />

mal eine neue Lebensgeschichte, eine Kindheitsgeschichte, eine neue<br />

Familienkonstellation. Wo finde ich das Gemeinsame, um dann auch hieb- und<br />

stichfest beweisen zu können, dass die Therapie gewirkt hat. Das wäre das<br />

Ziel, aber ich weiß ja wie schwierig das ist. Sie wissen, wie schwierig es auch<br />

bei den Pharmastudien ist. Wie lange brauchte man, um herauszufinden,<br />

welches Medikament antipsychotisch wie wirkt? Da gibt es je nach<br />

Pharmaunterstützung manchmal verschiedene Meinungen, obwohl es nur<br />

einfache Parameter sind. Das ist eine Krux <strong>der</strong> Forschung, die wir bei solchen<br />

komplexen Variablen haben. Was ist Erfolg? Wer definiert das? Definiert das<br />

<strong>der</strong> Patient kurzfristig? Definieren es die Eltern? Definieren es die Familien?<br />

Wie sieht es nach einem Jahr, nach zwei, nach drei Jahren aus?<br />

Ich glaube, da kann man sich nur weiter annähern. Aber Sie sehen zu Recht,<br />

dass das eine große Herausfor<strong>der</strong>ung ist und weltweit – übrigens für alle<br />

Therapieschulen – noch unzureichend gelöst ist.<br />

Mo<strong>der</strong>ation<br />

Herr Förstl ist noch nicht zufrieden. Ich sehe ihn mit dem Kopf schütteln.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ <strong>21</strong>


Hans Förstl<br />

Nein, ich war jetzt so nett und habe gesagt, die Psychoanalyse nicht, aber die<br />

Psychoanalytiker sind engagierte Therapeuten. Und jetzt sind Sie so gemein<br />

und setzen die Psychiatrie mit Psychopharmakologie gleich. Das ist es sicher<br />

nicht.<br />

Peter Riedesser<br />

Nein, das sicher nicht. Ich bin doch auch ein Psychiater. Ich bin aber Psychiater<br />

und Psychoanalytiker. Deswegen versuche ich integrativ zu wirken und sage,<br />

wir brauchen alles von allen verschiedenen Möglichkeiten, um unseren<br />

Patienten zu helfen. Dass wir es heute Abend ein bisschen zuspitzen, das darf<br />

ja ruhig mal sein, damit Denkprozesse schneller in Gang kommen.<br />

Frank Rösler<br />

Man kann natürlich für bestimmte Symptomgruppen o<strong>der</strong> Krankheitsbil<strong>der</strong><br />

gucken, welche Therapieform – natürlich mit großen Zahlen, man kann das<br />

nicht mit einem einzelnen Therapeuten machen – unter bestimmten<br />

Effektivitätskriterien wirksamer ist. Schneller ist eine Frage, muss nicht<br />

unbedingt immer das Richtige sein, kurz muss nicht immer gut sein, aber auch<br />

nachhaltig usw.<br />

Ich glaube, wir haben mittlerweile schon Instrumente in <strong>der</strong> psychologischen, in<br />

<strong>der</strong> empirischen Forschung, mit denen wir so etwas nachweisen können. Der<br />

verstorbene Kollege Grawe in <strong>der</strong> Schweiz hat riesige Analysen gemacht. Er<br />

hat betont, dass die Persönlichkeit des Therapeuten auch sehr wichtig ist. Das<br />

ist vollkommen richtig.<br />

Mein Plädoyer von vorhin zielte eigentlich nur darauf, dass man für alle<br />

Pharmaka einen klaren Wirkungsnachweis hat, und in dem Bereich <strong>der</strong><br />

Psychotherapie ist das immer noch ein größeres Problem, sich diesem<br />

Wirkungsnachweis so zu stellen.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 22


Mo<strong>der</strong>ation<br />

Ich möchte noch einmal zuspitzen. Vieles von dem, was ich heute gehört habe,<br />

erinnert mich an Studien über den Placeboeffekt. Also, wenn <strong>der</strong> Chefarzt ein<br />

Placebo verabreicht, wirkt es in Studien besser, als wenn es die<br />

Krankenschwester tut. Wenn man es mit mehr Worten, mehr Erklärung und<br />

intensiverem Zugehen auf den Patienten macht, wirkt es auch besser, als wenn<br />

man es nur mal auf den Nachttisch stellt.<br />

Kann es sein, Herr Riedesser, dass die Psychoanalyse ein einziger großer<br />

Placeboeffekt ist?<br />

Peter Riedesser<br />

Ich glaube, wir müssen noch viel mehr als bisher Placeboforschung machen im<br />

Bereich <strong>der</strong> Psychopharmakologie, im Bereich <strong>der</strong> verschiedenen<br />

Therapieschulen, weil wir dann versuchen können herauszufinden, was macht<br />

den möglichen Placeboeffekt o<strong>der</strong> den Nocebo-Effekt, es können ja auch<br />

Kopfschmerzen durch Placebo entstehen o<strong>der</strong> sonstige Nebenwirkungen<br />

negativer Art, aus? Da können wir wie<strong>der</strong> verschiedene Modelle versuchen zu<br />

integrieren. Wie verstehe ich, dass ein Kind, wenn ich ihm Placebo gebe,<br />

einschläft. Was bedeutet es, wenn die Mutter dem Kind ein bisschen Tee o<strong>der</strong><br />

Baldrian gibt und das Kind schläft dann, wird ganz müde. Das hat doch was mit<br />

<strong>der</strong> Beziehung <strong>der</strong> Mutter zum Kind zu tun. Damit sind wir plötzlich wie<strong>der</strong> bei<br />

einer Beziehungsmedizin im psychopharmakologischen Bereich. Also, wir<br />

können also nie das Pharmakologische und das Beziehungsmäßige in unserer<br />

Beziehungsmedizin trennen. Das gilt es auch weiter zu integrieren.<br />

Frank Rösler<br />

Den Placeboeffekt sollten Sie nicht so runterspielen. Das ist ein Faktum. Das<br />

finde ich hochinteressant, wieso sich letztlich eine verbale Instruktion so<br />

auswirken kann, dass sich letztlich auch im Gehirn wie<strong>der</strong> was verän<strong>der</strong>t. Da<br />

sind wir nämlich wie<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Stelle, dass das ein sehr plastisches und auf alle<br />

Einflüsse, die auf uns einströmen, wie<strong>der</strong>um reagibles System ist.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 23


Hans J. Markowitsch<br />

Ich will auf ein Beispiel hinaus, das zeigt, wo Unterschiede sind. Bei<br />

Waschzwang als Krankheitsbild würde die Verhaltenstherapie einfach sagen,<br />

o.k., wir müssen irgendwie den Patienten von seinem Waschzwang kurieren.<br />

Dann würde die klassische Psychoanalyse aber an<strong>der</strong>s vorgehen müssen, weil<br />

sie die Idee hat, dass dahinter eine sexuelle Problematik steckt, zumindest<br />

nach Freud.<br />

Da wäre jetzt meine Frage an Sie? Würden Sie das Theoriegebäude weiterhin<br />

aufrecht erhalten o<strong>der</strong> nicht?<br />

Peter Riedesser<br />

Da sprechen Sie jetzt jemanden an, <strong>der</strong> von Therapie von zwangsneurotischen<br />

o<strong>der</strong> zwangsgestörten Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen gewisse Erfahrungen hat.<br />

Es ist beides. Bei einem acht-jährigen Mädchen habe ich einmal ein schweres<br />

Zwangssystem, welches über an<strong>der</strong>thalb Jahre zu Waschzwang geführt hat,<br />

innerhalb weniger Stunden aufgelöst, weil es mir gelungen war, in einer Krise<br />

an die Entwicklungsgeschichte dieses Symptoms zu kommen. Und das<br />

Mädchen ist geheilt und studiert jetzt Jura in Berlin.<br />

Ich habe an<strong>der</strong>e Patienten, die ein so fixiertes Zwangssystem haben, da<br />

komme ich mit meiner Methode des rein verbalen Versuches <strong>der</strong> Auflösung<br />

dieser Symptomatik nicht mehr weiter. Da brauche ich Psychopharmakologie,<br />

Verhaltenstherapie. Da müssen wir im Sinne einer Differenzialindikation<br />

schauen, wo wir hier welchem Patienten mit welcher Methode am besten<br />

helfen.<br />

Nachfrage Hans J. Markowitsch Aber Sie gehen nicht mal grundsätzlich<br />

davon aus, was Freud formuliert hat, dass dahinter steht, dass die Person<br />

Sexuelles als was Schmutziges ansieht?<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 24


Nicht sexuell, aber es gibt auch an<strong>der</strong>e Probleme, die dahinterstehen können,<br />

z.B. die Angst des Persönlichkeitszerfalls bei präpsychotischen Patienten. <strong>Die</strong><br />

Entwickeln Zwangssymptome. Da muss ich an<strong>der</strong>s vorgehen. O<strong>der</strong> es gibt<br />

Kin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Jugendliche, die Angst haben vor ihrer eigenen Destruktivität.<br />

Damit muss ich an<strong>der</strong>s umgehen. Das hat mit Sexualität nichts zu tun. Ich habe<br />

aber auch einen Patienten gehabt, <strong>der</strong> hat mit zehn Jahren immer die<br />

Zwangsidee gehabt, ich muss meine Mutter bumsen und ging immer zur Mutter,<br />

ich muss dich bumsen. Da würde ich sagen, das riecht nach Sexualität.<br />

Marianne Leuzinger-Bohleber<br />

Das wäre ein an<strong>der</strong>es Thema, was wir von Freud jetzt inhaltlich in <strong>der</strong> heutigen<br />

Psychoanalyse noch sehen. Ich glaube, wir haben gelernt, dass man jeden<br />

Patienten viel, viel individueller sehen muss. Bei manchen hat das eine sexuelle<br />

Konnotation. Vielleicht hatte Freud also auch in dieser Beziehung mehr Recht,<br />

als wir jetzt im Moment denken. Was wir therapeutisch gelernt haben, ist eine<br />

absolut radikale individuelle Sichtweise. Ich glaube, da haben wir schon einen<br />

Unterschied zu den verhaltenstherapeutisch-lerntherapeutischen Konzepten,<br />

obschon auch die individueller gucken. Aber das hat bei einem Patienten mit<br />

Zwangssymptom mit einem präpsychotischen Zustand zu tun, beim an<strong>der</strong>en mit<br />

sexuellen Phantasien und bei dritten vielleicht mit einer schweren<br />

Traumatisierung. Da gucken wir heute sehr viel individueller hin.<br />

Hans Förstl<br />

Wir waren bei <strong>der</strong> Frage, wann Therapie hilft. Ob Placebo o<strong>der</strong> Verum, richtige<br />

Tablette o<strong>der</strong> Psychotherapie, ganz wichtig ist natürlich die Autorität und<br />

Authentizität des Therapeuten und die gemeinsame Arbeit am<br />

Patientengedächtnis. Ich glaube, darüber Bewusstsein zu schaffen, dass bei<br />

dieser Verän<strong>der</strong>ung auch Erinnerungen und Vergangenheit neu geschaffen<br />

werden, ist etwas ganz Wichtiges. Es ist auch ganz wichtig, dass <strong>der</strong> Therapeut<br />

eine eigene Vergangenheit mitbringt, nämlich diese Erfahrung in seinem Beruf<br />

und ein Lehrgebäude, z.B. die Psychoanalyse. Also, wenn wir es nur glauben<br />

könnten, dass das alles so ist, wie Sigmund Freud und Nachfahren geschaffen<br />

und dann präzisiert haben, wenn wir es glauben könnten, wäre es für die<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 25


Patienten unglaublich gut. Das ist <strong>der</strong> Punkt, wo ich sagen muss: Vielleicht tun<br />

wir hier nichts Gutes, wenn wir an diesem Gebäude anfangen zu graben und<br />

das zu erschüttern.<br />

Marianne Leuzinger-Bohleber<br />

Warum sind denn unsere Ausbildungen lang und länger geworden? Es ist ja<br />

gerade, weil das eben nicht mehr hält. Eine Idealisierung, eine Führerfigur gibt<br />

es auch in <strong>der</strong> Psychoanalyse längst nicht mehr. Das heißt nicht, dass wir uns<br />

an seinem Theoriegebäude nicht immer noch abarbeiten.<br />

Hans Förstl<br />

Es gibt sicher Patienten, die Psychoanalyse suchen und sich darin sehr ernst<br />

genommen und gewürdigt fühlen. Es gibt an<strong>der</strong>e Patienten, die sehr die<br />

Symbolik einer Tablette suchen und sehr die Erklärung mitgeteilt bekommen<br />

wollen, wie funktioniert das eigentlich biochemisch in meinem Gehirn und was<br />

kann man da machen, also, ein Generationswechsel auch unter den Patienten.<br />

Peter Riedesser<br />

Der Härtetest, ob wir Therapeuten Unsinn reden o<strong>der</strong> nicht, sind im Zweifel<br />

Kin<strong>der</strong> und Jugendliche. Erwachsene sind als Patienten vielleicht gläubiger,<br />

aber Kin<strong>der</strong> und Jugendliche glauben zunächst gar nicht. <strong>Die</strong> sagen, Quatsch,<br />

was du da sagst. Das heißt, ich rede mit Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen nicht in<br />

psychoanalytischem Jargon, son<strong>der</strong>n ich spreche in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong><br />

Alltagskultur. Weil ich auch aus einem religiösen Hintergrund gekommen bin<br />

und Freud auch als Aufklärer kennen gelernt habe, glaube ich, sollten wir, wenn<br />

wir uns nicht mehr gut einigen können, versuchen, wie<strong>der</strong> auf die Metaphern<br />

<strong>der</strong> Alltagssprache zurückzukommen. Ich habe Psychoanalyse immer auch so<br />

verstanden, dass es ein Instrument ist, besser zu verstehen, was in Menschen<br />

o<strong>der</strong> in Gruppen, in Familien vor sich geht, und dass ich das dann mit einfachen<br />

Worten meiner Muttersprache ausdrücken kann.<br />

Wir würden uns wahrscheinlich viel einiger sein, wenn wir jetzt über einen<br />

konkreten Jugendlichen sprechen würden, einen 18-Jährigen, <strong>der</strong> an <strong>der</strong><br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 26


Grenze unseres Fachgebietes ist, <strong>der</strong> einen Selbstmordversuch unternommen<br />

hat, <strong>der</strong> eine wahnsinnige Kindheit hatte, dann endlich zu Hause raus wollte<br />

und versucht hat eine Freundin zu finden, mit <strong>der</strong> er sich dann verwickelt hat.<br />

Jetzt versuchen wir zu verstehen, was da los war. Wie können wir ihm helfen?<br />

Was hat er für ein Selbstwertproblem? Warum kriegt er keinen Wutanfall,<br />

son<strong>der</strong>n schluckt Tabletten o<strong>der</strong> beschädigt sich?<br />

Ich glaube – das ist meine auch klinische Erfahrung – dass wir uns<br />

psychoanalytisch, psychodynamisch so verstehen können, dass wir versuchen<br />

besser zu verstehen, was die Dichter ja immer gemacht haben. Tolstoi,<br />

Dostojewski und alle Dichter sind uns doch um Längen voraus. Da müssen wir<br />

als Psychiater o<strong>der</strong> Psychoanalytiker uns noch wahnsinnig anstrengen, um<br />

differenzierte Konfliktkonstellationen intrapsychisch und in Beziehungen so<br />

formulieren zu können. Das sind doch die hervorragendsten Psychologen. Sie<br />

haben doch Maßstäbe gesetzt.<br />

Wir haben die Sorge, wenn wir in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Erwachsenenpsychiatrie nicht<br />

aufpassen, dass wir trivial werden und zum Schluss weit hinter dem<br />

Alltagsverständnis unserer Kultur zurück sind. Wir müssen doch verstehen, was<br />

in Menschen, in Gruppen, in Familien abläuft. Da hat die Psychiatrie eine<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung, die Psychoanalyse jenseits. Und die Verhaltenstherapie muss<br />

auch verstehen können, warum in dieser Ehekrise plötzlich die Familie zerfällt.<br />

Da hilft die Lerntheorie auch nur begrenzt weiter. Medikamente helfen da auch<br />

auf Dauer nicht. Auch Sozialpädagogik reicht nicht, wenn Sie zu einem so<br />

verkeilten Familiensystem kommen. Da müssen Sie verstehen, was da für<br />

Muster ablaufen, und den Menschen helfen, aus diesen verquasten o<strong>der</strong><br />

schlimmen Mustern herauszukommen.<br />

Da kann die Psychoanalyse, das psychodynamische Denken eine enorme Hilfe<br />

sein. Ich bin nicht gläubig für Psychoanalyse, son<strong>der</strong>n ich habe dort ein<br />

Instrument gefunden. Da bin ich ein guter Kostverwerter. Ich nehme von allen<br />

möglichen Theorieteilen <strong>der</strong> Psychoanalyse und an<strong>der</strong>er Theorien immer das<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 27


Beste für mich, und habe da bei Freud sehr Gutes gefunden, nicht alles, aber<br />

sehr Gutes.<br />

Hans Förstl<br />

Herr Riedesser, was Sie gerade formuliert haben, ist eigentlich, dass die<br />

Psychoanalyse ein Kondensat <strong>der</strong> Literatur <strong>der</strong> letzten zwei-, dreitausend Jahre<br />

war, angefangen bei den Mythen <strong>der</strong> Griechen. Natürlich ist es so, natürlich<br />

werden in diesen Literaturstellen grundlegende menschliche existenzielle<br />

Probleme beschrieben, die er alle versucht hat in seine Lehre zu integrieren.<br />

Also, er ist ein großer Sammler und ein bedeutendes kulturhistorisches<br />

Phänomen.<br />

Ja, aber was hat er uns hinterlassen an prüfbaren Hypothesen, die wirklich<br />

dann zu erfolgreichen innovativen Therapieansätzen führen? Ich glaube nicht,<br />

dass das Zuhören, das Sie pflegen, und das Einigen auf ein gemeinsames<br />

Mantra nach Wochen, Monaten, vielleicht Jahren <strong>der</strong> Therapie, wirklich etwas<br />

Innovatives ist, son<strong>der</strong>n es ist eine grundsätzliche Eigenschaft eines<br />

menschlichen Dialogs.<br />

Peter Riedesser<br />

Aber er hat gegenüber dem psychotherapeutischen Nihilismus <strong>der</strong> traditionellen<br />

Psychiatrie, die über hun<strong>der</strong>t Jahre wirklich nichts entwickelt hat – ich weiß es,<br />

ich habe zwei Bücher über Militärpsychiatrie in Deutschland geschrieben – eine<br />

Psychologie <strong>der</strong> mitmenschlichen Zusammenhänge, <strong>der</strong> intrapsychischen<br />

Konflikte, <strong>der</strong> Phantasien entwickelt, was die psychische Welt im Innersten<br />

zusammenhält. Das muss weiterentwickelt werden, selbstverständlich. Aber <strong>der</strong><br />

Grundgedanke, dass wir uns von <strong>der</strong> Kindheit, von <strong>der</strong> Wiege bis zur Bahre in<br />

Entwicklungen befinden, dass wir in Konflikten leben – aggressiven, sexuellen<br />

Konflikten, Beziehungskonflikten – sind doch alles aktuelle Sachen, wo die<br />

Psychiatrie auch davon profitiert hat. Es heißt ja jetzt auch<br />

Entwicklungspsychiatrie, und wo man doch sagen könnte: Es gibt doch gar<br />

keine Polarisierung, die ist doch gar nicht nötig. Wir integrieren hingegen das<br />

Ganze und versuchen da für unsere Patienten das Beste rauszuholen.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 28


Publikumsfrage<br />

Hier wurde sehr viel von <strong>der</strong> Vergangenheit des Einzelnen gesprochen,<br />

entwicklungspsychologisch bis in die frühe Kindheit. Welche Rolle spielt die<br />

Zukunft des Individuums, das in die Therapie kommt? <strong>Die</strong> Offenheit des<br />

Menschen spielt doch offenbar auch eine Rolle in <strong>der</strong> Therapie. Wenn Herr<br />

Rösler vorhin sagte, Sie gehen aus dieser Diskussion an<strong>der</strong>s weg als Sie<br />

reingegangen sind, weil Sie neue Reize und Erfahrungen hatten, wie sieht das<br />

dann eigentlich auf den therapeutischen Effekt, im Hinblick auf die Zukunft des<br />

Patienten aus?<br />

Peter Riedesser<br />

Ich habe täglich mehrere Stunden mit Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen zu tun. Da ist<br />

die Zukunft doch noch weit und das Entscheidende. Wenn es mir gelingt, in<br />

dem verzweifelten, depressiven, vielleicht auch psychotischen Kind o<strong>der</strong><br />

Jugendlichen wie<strong>der</strong> einen Zukunftsentwurf zu sehen, den ich zunächst mal<br />

vielleicht fürs Kind o<strong>der</strong> den Jugendlichen und die Familie sehen muss, die es<br />

noch nicht sehen. Und wenn es mir gelingt, diesen Zukunftsentwurf wie<strong>der</strong><br />

lebendig werden zu lassen, dass wir sagen können, wie wir zusammenarbeiten<br />

können, dass wie<strong>der</strong> Entwicklung möglich wird, dann ist es ganz wichtig, dass<br />

ich als Kin<strong>der</strong>- und Jugendlichenpsychotherapeut sozusagen das Prinzip<br />

Hoffnung repräsentiere. Wenn ich das habe, finde ich auch die richtigen Worte,<br />

um das dann in <strong>der</strong> Therapie auch rüberbringen zu können.<br />

Hans Förstl<br />

Ich glaube, dass uns wirtschaftliche Zwänge dazu nötigen werden, dass wir in<br />

<strong>der</strong> Zukunft noch ökonomischer – auch lei<strong>der</strong> im psychotherapeutischen<br />

Bereich – bei psychisch Kranken handeln. Und ich glaube, es kann für eine<br />

große Zahl <strong>der</strong> Patienten nur so ausschauen, dass wir uns vorab überlegen,<br />

wer profitiert von welcher Kombination von Maßnahmen am ehesten – von <strong>der</strong><br />

Sozialpädagogik, von <strong>der</strong> Kunsttherapie, von Musiktherapie, von<br />

Psychopharmaka und von welcher Form <strong>der</strong> Psychotherapie.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 29


Wir werden drauf kommen, dass das Gehirn eigentlich ein sehr gut<br />

angepasstes System ist, das mit den allermeisten Konflikten und Belastungen<br />

bis zu einem gewissen Grade selbst zurecht kommt. Es werden auch bei den<br />

psychisch Kranken viele dabei sein, die sozial so gut integriert und so<br />

kompensationsfähig sind, dass sie mit einem kleinen Anheben ihrer<br />

Leistungsfähigkeit durch eine <strong>der</strong> vorhin genannten Maßnahmen und nicht<br />

durch eine große Psychotherapie weiterkommen. Es wird ein Rest von<br />

Patienten bleiben, wo wir ganz gezielt symptomorientiert<br />

verhaltenstherapeutisch werden vorgehen müssen, o<strong>der</strong> bei Patienten, bei<br />

denen wir spüren, dass sie keine ausreichenden Bindungen haben, dass<br />

Vertrauen wie<strong>der</strong> hergestellt werden muss. Das kann nicht an<strong>der</strong>s geschehen<br />

als im Dialog.<br />

Marianne Leuzinger-Bohleber<br />

Ich habe ein kleines Unbehagen, weil etwas vom Stachel Freud, von seiner<br />

Wi<strong>der</strong>spenstigkeit in dieser Einigkeit, die Sie jetzt herstellen – ich würde das<br />

auch unterschreiben, was Sie gesagt haben –, verloren geht. Ich glaube, in<br />

dieser Frage könnte das drin stecken.<br />

Freud war eben auch ein Kulturtheoretiker und hat einen kritischen Blick auf die<br />

Kultur gebracht. Das haben wir auch in <strong>der</strong> Alltagspraxis. Wenn wir versuchen<br />

Menschen zu verstehen, haben wir natürlich immer die biographischindividuelle<br />

Optik, aber wir haben immer auch einen Blick auf die Kultur. <strong>Die</strong><br />

Zunahme <strong>der</strong> Depressionen ist im Moment nicht nur ein individuelles Problem,<br />

son<strong>der</strong>n sie zeigt auch eine gesellschaftliche Schattenseite <strong>der</strong> Prozesse, in<br />

denen wir drin stecken. Das ist etwas, von dem ich auch glaube, dass man es<br />

bedenken müsste, wenn man von Freud redet.<br />

Psychische Krankheit ist manchmal auch ein Hinweis auf den<br />

Machbarkeitswahn, in dem wir leben. <strong>Die</strong>se Illusion, wir könnten menschliches<br />

Leiden schneller, billiger und vielleicht auch wissenschaftlicher wegtherapieren,<br />

würde ich gern Freudsch auch noch mal hinterfragen.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 30


Nachfrage Mo<strong>der</strong>ation Freud hat aber auch sinngemäß gesagt, die<br />

Gesellschaft zahlt die Unterordnung <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> unter die gesellschaftlichen<br />

Normen mit Neurosen. Wo sind wir eigentlich? Wir haben eine<br />

Individualisierung, dadurch eine Abnahme <strong>der</strong> Neurosen o<strong>der</strong> haben wir eine<br />

verstärkte Unterordnung? Lassen wir das Sexuelle jetzt mal raus. Wie würden<br />

Sie dann die Entwicklung momentan charakterisieren wollen?<br />

Marianne Leuzinger-Bohleber<br />

Ich kann es vielleicht auf die Frage <strong>der</strong> Zunahme <strong>der</strong> Depression einschränken.<br />

<strong>Die</strong> Depression ist auch eine Krankheit <strong>der</strong> Sinnhaftigkeit, auch des <strong>Zeit</strong>gefühls.<br />

Wir diskutieren im Moment sehr, ob uns nicht die depressiv Erkrankten auch<br />

einen Spiegel vorhalten, dass nicht alles so beschleunigt werden kann, wie das<br />

im Moment in den gesellschaftlichen Prozessen <strong>der</strong> Fall ist. Das ist das eine, ob<br />

sie uns nicht den Spiegel vorhalten in Sachen Sinnhaftigkeit, in Sachen Zukunft,<br />

also wo die ganze Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Beziehungsstrukturen in den westlichen<br />

Gesellschaften sicher eine entscheidende Rolle spielt.<br />

Dann die Konfrontation mit diesen ganzen verschiedenen Wertesystemen: Wir<br />

haben jetzt als eine ganz an<strong>der</strong>e Generation noch mal darauf hingewiesen, was<br />

für uns die Befreiung von einer engen religiösen Bindung (bedeutet). Für unsere<br />

Generation war das so. Viele heutige Menschen leiden eher unter <strong>der</strong><br />

Orientierungslosigkeit im Wertebereich. Dazu kommen viele Gebiete wie <strong>der</strong><br />

Umgang mit <strong>der</strong> neuen Biotechnologie. Ich habe vorhin die Amniosynthese<br />

erwähnt. Das sind alles neue Herausfor<strong>der</strong>ungen, wo man das Gefühl hat, da<br />

könnte das Individuum o<strong>der</strong> vielleicht auch die Gesellschaft ein stückweit<br />

überfor<strong>der</strong>t sein.<br />

In einer depressiven Reaktion, also, dass man die psychische Erlebniszeit mal<br />

verlangsamt, weil man eben noch nicht so schnelle Lösungen o<strong>der</strong> das Gefühl<br />

hat, die schnellen Lösungen sind falsch, könnte vielleicht etwas sehr Gesundes<br />

stecken, um das provokativ zu sagen.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 31


Mo<strong>der</strong>ation<br />

Ich möchte den kulturhistorischen Faden noch mal aufgreifen. Sigmund Freud<br />

prägt in seiner <strong>Zeit</strong> gerade das therapeutische Interesse am Individuum,<br />

sozusagen das Entdecken des Ichs, in einer Epoche, die auch von gewaltigen<br />

Umbrüchen geprägt ist – auch damals geschah das, was heute wie<strong>der</strong> neu<br />

beklagt wird: Auflösung <strong>der</strong> Großfamilien, Verän<strong>der</strong>ung gesellschaftlicher<br />

Zusammenhänge. In dem Moment kommt die Stärkung und Entdeckung des<br />

Individuums durch Freud.<br />

Jetzt gibt es wie<strong>der</strong> eine neue Debatte, die Großfamilie muss wie<strong>der</strong> her. <strong>Die</strong><br />

Frau muss wie<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> kriegen. Wir Deutschen sterben aus und müssen jetzt<br />

richtig ran. Als Individuum sind wir eigentlich Luxuswesen, die diese<br />

Gesellschaft eigentlich nicht brauchen kann.<br />

Hans J. Markowitsch<br />

Als Gedächtnisforscher sage ich: Zukunft geht nicht ohne Vergangenheit. Ich<br />

will ein Beispiel bringen, wie wichtig die Vergangenheit für die Zukunft von<br />

Individuen ist.<br />

Da gab es letzten November eine Studie in Amerika, bei <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> im Alter von<br />

vier bis sieben Jahren untersucht wurden, die in den ersten drei, vier<br />

Lebensjahren in rumänischen und russischen Waisenhäusern unter sehr<br />

schlechten Verhältnissen gelebt haben und die dann von amerikanischen<br />

Familien adoptiert wurden. <strong>Die</strong> Forscher haben bei den Kin<strong>der</strong> einmal einfach<br />

so und einmal in einer sozialen Situation – das Kind war bei <strong>der</strong> Mutter auf dem<br />

Schoß – untersucht, wie viele Hormone freigesetzt werden, Hormone Oxytocin,<br />

Vasopressin, die für die kindliche Bindung an die Eltern wichtig sind. Oxytocin<br />

ist aber auch wichtig überhaupt für die Bindung und wird beispielsweise auch<br />

beim Geschlechtsverkehr ausgeschüttet, um die beiden Partner mehr<br />

aneinan<strong>der</strong> zu binden.<br />

Was da gefunden wurde, war, dass im Vergleich zu den eigenen Kin<strong>der</strong>n, die<br />

von Anfang an in dem Elternhaus aufwuchsen, die ehemaligen Waisenkin<strong>der</strong><br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 32


unter <strong>der</strong> Standardbedingung und unter <strong>der</strong> sozialen Bedingung auch nach<br />

Jahren noch wesentlich weniger von dem Bindungshormon ausgeschüttet<br />

haben. Das heißt, die Zukunft von Kin<strong>der</strong>n kann tatsächlich schon massiv durch<br />

die Vergangenheit beeinflusst werden. Ich denke, das ist zumindest im Grunde<br />

mit den Freudschen Ideen vereinbar, wie weit frühe Kindheit sich auf das<br />

spätere Leben auswirkt. Nur die heutige Neurowissenschaft kann da auch<br />

Belege beispielsweise von <strong>der</strong> biochemischen Seite liefern.<br />

Frank Rösler<br />

<strong>Die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Zukunft würde ich gerne noch ein bisschen an<strong>der</strong>s<br />

beantworten. Unser Gedächtnis nimmt das auf, was wir erlebt haben, aber es<br />

ist irgendwo auch ein Schneeball, und zwar in dem Sinne, dass es in eine ganz<br />

bestimmte Richtung dann wie<strong>der</strong> weiter sucht. Wir nehmen das so auf, wie wir<br />

es vorher gelernt haben, so dass eigentlich auch je<strong>der</strong> Kontakt – nehmen wir<br />

die Psychotherapie und alles an<strong>der</strong>e – uns wie<strong>der</strong> prägt, was wir als nächstes<br />

tun. Das sind ganz minimale Verän<strong>der</strong>ungen. Man kann auch mittlerweile<br />

zeigen, dass etwa so ein Gespräch jetzt hier vielleicht hinterher zur Folge hat,<br />

dass ich einen bestimmten Artikel in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>ung eher lese als wenn ich dieser<br />

Diskussion nicht gefolgt wäre. Das hat dann wie<strong>der</strong> weitere Wirkungen. Das<br />

heißt, man muss sich wirklich vorstellen, dass sich das ständig verän<strong>der</strong>t.<br />

Mo<strong>der</strong>ation<br />

Herr Riedesser, lösen wir einen traumatischen Stress bei den vorrangig Müttern<br />

aus, wenn wir jetzt darüber diskutieren, dass sie mehr Kin<strong>der</strong> kriegen sollen,<br />

dass mehr Frauen sich für das Kind entscheiden, ein Stress, <strong>der</strong> sich dann<br />

auch auf die Kin<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> auswirkt? Produzieren wir mit unserer heutigen<br />

Diskussion über unsere Generationenzukunft nicht schon die, die dann<br />

irgendwann mal auf <strong>der</strong> Couch sitzen werden und ihre Vergangenheit<br />

abarbeiten?<br />

Peter Riedesser<br />

<strong>Die</strong>se Frage zu beantworten, würde noch einen weiteren Abend erfor<strong>der</strong>n. Aber<br />

Freud hat eine Beziehungswissenschaft entwickelt, wo die Frühbeziehungen<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 33


und auch die späteren Beziehungen doch von größter Bedeutung sind. Wenn<br />

es gelingt, die Beziehungszufriedenheit und die Beziehungssolidarität in<br />

unserer Bevölkerung zu erhöhen, dann – könnte ich mir vorstellen – werden<br />

auch mehr Singles wagen wie<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zu haben. <strong>Die</strong> Voraussetzung ist, dass<br />

man sich verarmt fühlt, weil man eine eigene gute Familie hatte, weil man sich<br />

verarmt fühlt, wenn man selber keine Familie gründet. Wenn ich aber das<br />

Gefühl habe, meine Familie war so scheußlich, dass ich das nicht mehr freiwillig<br />

erzeugen möchte, dann führt das in <strong>der</strong> Tat zum Aussterben einer ganzen<br />

Population. Wenn es aber Beziehungslust, auch wie<strong>der</strong> Sexualität – mit Freud –<br />

Beziehungsfreude, Durchsaftung <strong>der</strong> menschlichen Beziehungen gibt,<br />

Solidarität, dann gibt es – wie es heutzutage heißt – wie<strong>der</strong> mehr Fertility<br />

Cluster in bestimmten Stadtteilen, in bestimmten Regionen. Dann wird das, was<br />

Freud Libido genannt hat, in einer Gesellschaft zunehmen. Libido ist nämlich<br />

Nähe, Freude, Lust, Sexualität, Hoffnung, Spaß, Ideologiearmut.<br />

Einwurf<br />

Also eigentlich das Leben.<br />

Mo<strong>der</strong>ation<br />

Wir verabschieden uns mit einem Blick auf das ganz normale Leben aus dem<br />

Saal <strong>der</strong> Berlin-Brandenburgischen Akademie <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> hier in Berlin.<br />

Vielen Dank an die Dame auf dem Podium, vielen Dank an die Herren hier auf<br />

dem Podium. Vielen Dank, dass Sie dabei waren.<br />

<strong>ZEIT</strong>-Forum <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>: „Sigmund Freud: Das Rätsel <strong>der</strong> menschlichen Psyche“ 34

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